Die Tore nach Thulien, Buch VII: Vergessene Welten: Wilderland

57
1

description

Von den Geschehnissen in Shar Haluth gezeichnet, gehen Tristan und seine Truppe in eine ungewisse Zukunft. Als Gefangene der Zwölf Stämme werden sie nach Falkenwacht gebracht, wo die Versammlung der Ältesten über sie richten soll. Felian erfährt derweil am eigenen Leib, dass die Hellen keinen Unterschied zwischen dem Reich der Herrin und den Stämmen Thuliens machen. Er beschließt seinem Volk die Augen zu öffnen, muss jedoch schon bald erkennen, dass die wahre Bedrohung gar nicht außerhalb der Stammlande zu suchen ist. Der Feind im Innern greift nach dem Vorsitz im Rat und das Ringen um die Macht zwischen Bär und Hirsch beginnt.

Transcript of Die Tore nach Thulien, Buch VII: Vergessene Welten: Wilderland

1

Jörg Kohlmeyer

Die Tore nach Thulien

Fantasy Roman

Jörg Kohlmeyer

Die Tore nach Thulien

7. Episode – Vergessene Welten

(WILDERLAND)

Coverhintergrund und Logogestaltung: Diana Rahfoth

Published by Null Papier Verlag, Deutschland

Copyright © 2014 by Null Papier Verlag

1. Auflage, ISBN 978-3-95418-547-4

www.null-papier.de/tnt

Inhaltsverzeichnis

In die Wildnis..........................................................................9

Böses Erwachen.....................................................................24

In Feindeshand.......................................................................38

Wenn der Wind sich dreht.....................................................57

Nächtlicher Besuch................................................................71

Das Wort der Fürsten.............................................................82

Neue Freunde.......................................................................104

Ein Dankeschön...................................................................119

Überraschende Wendung.....................................................132

Neue Hoffnung....................................................................151

4

Zum Buch

Danke, dass du mit dem Kauf dieses ebooks das Indie-Litera-tur-Projekt »Tore nach Thulien« unterstützt! Das ist aber erst der Anfang. Lass Dich von uns zu mehr verführen…

Was sind die »Tore nach Thulien«?

Die »Tore nach Thulien« sind Dein Weg in die phantastische, glaubwürdige und erwachsene Fantasy-Welt von Thulien. Sie werden Dir die Möglichkeit geben, mit uns gemeinsam an den großen Geschichten zu arbeiten und der Welt mehr und mehr Leben einzuhauchen.

Unter www.Tore-nach-Thulien.de kannst du uns besuchen und Näheres erfahren. Wir freuen uns auf Dich!

Wie kannst du uns heute schon helfen?

Nimm einfach an den regelmäßigen Abstimmungen teil!

Per Mehrheitsentscheid machen wir am Ende der Abstim-mungen dann den nächsten Schritt auf unserem gemeinsamen Weg durch Thulien. Wir würden uns freuen, wenn du uns be-gleitest!

5

Autor

Jörg Kohlmeyer, geboren in Augsburg, studierte Elektrotech-nik und arbeitet heute als Dipl.-Ing. in der Energiewirtschaft. Schon als Kind hatte er Spaß am Schreiben und seine erste Abenteuergeschichte mit dem klangvollen Namen »Die drei magischen Sternzeichen« passt noch heute bequem in eine Hosentasche.

Der faszinierende Gedanke mit Bücher interagieren zu kön-nen ließ ihn seit seinem ersten Kontakt mit den Abenteuer Spielbüchern nicht mehr los und gipfelte im Dezember 2012 in seinem ersten Literatur-Indie-Projekt »Die Tore nach Thu-lien«. Immer dann wenn neben der Familie noch etwas Zeit bleibt und er nicht gerade damit beschäftigt ist, seinen älte-sten Sohn in phanatasievolle Welten zu entführen arbeitet er beständig am Ausbau der Welt »Thulien«.

www.Tore-nach-Thulien.de

6

7

8

In die Wildnis

ristan betrachtete immer wieder seine verwundete Hand. Außer dem Daumen konnte er keinen der Finger bewe-

gen, und selbst wenn es ihm gelänge, er würde freiwillig dar-auf verzichten. Der Schnitt schmerzte höllisch und machte ihm ungemein zu schaffen. Derart verwundet, war er noch nie aus einem Gefecht gegangen. Gesehen hatte er schon Vieles, doch außer oberflächlichen Schnitten und Schrammen bisher nichts Vergleichbares am eigenen Leib erfahren. Die Klinge des Hellen hatte ihn genau zwischen Ring- und Mittelfinger erwischt. Sie war mit ungeheurer Wucht eingedrungen, hatte Fleisch und Knorpel sauber getrennt und war erst kurz vor dem Handballen zum Stehen gekommen. Ihren Zweck erfüllt hatte die halsbrecherische Aktion aber dennoch. Er war am Leben, und das allein zählte.

T

Linwen hatte sich gleich um seine Hand gekümmert. Das inzwischen mit allerlei Flechten, Harz und krustigem Blut verschmierte Wolltuch presste die Finger beiderseits des Schnittes noch immer fest zusammen. Es hatte die Blutung gestoppt und verhinderte nun ein Aufklaffen der Wunde. Die Wanderpredigerin hatte den Stoff sehr gut gewickelt, und Tri-stan konnte seinen Arm beinahe normal bewegen. Bei der Schwere der Verletzung wirklich eine Meisterleistung.

Es war noch nicht lange her, dass sie die alte Ruine durch den Spalt im Mauerring verlassen hatten. Vielleicht ein halbes Stundenglas, wenn überhaupt. Der Turm war schnell aus dem Blickfeld verschwunden, und jetzt arbeiteten sie sich durch

9

das Dickicht des Waldes nordwärts. Die fremden Krieger blieben auf Abstand und ließen sie weitestgehend frei laufen. Trotz aller Unwägbarkeiten hielten sie den Kreis um Tristan und seine Leute jedoch geschickt aufrecht. Sie sahen sich auf-merksam um, hatten aber immer auch ein Auge auf die Ge-fangenen. Trifteten die zu weit auseinander, zogen sie den Kreis einfach enger und bestimmten die Richtung neu. Tristan fiel auf, dass sich die Krieger sehr selbstsicher und gekonnt durch den Wald bewegten. Ganz im Gegensatz zu seiner Truppe, schlängelten sie sich zielstrebig und elegant durch den Irrgarten aus umgefallenen Bäumen, mannshohen Sträu-chern und plötzlich auftauchenden Findlingen. Unbestritten waren sie oft in dieser Wildnis unterwegs, wenn nicht gar in ihr zu Hause. In jedem Fall aber kannten sie sich hervorra-gend aus.

Er hingegen stolperte, auch Dank der unbrauchbaren Hand, mehr schlecht als recht vorwärts. Das Laufen fiel ihm durch den Blutverlust schwer und er war froh, noch einiger-maßen mithalten zu können. Der Herrin sei Dank gewöhnte er sich jedoch irgendwann an den eher rhythmischen und ge-schmeidigen Lauf der unbekannten Krieger. Die Schmerzen in der Hand ebbten auf ein fast erträgliches Maß ab, und er fand sogar wieder die Kraft, die Füße bewusst einen vor den anderen zu setzen. Das Gefühl der allgegenwärtigen Bedro-hung ging vorbei, und nach und nach schoben sich die Bilder der letzten Stunden wieder in den Vordergrund.

»Wann starten wir den ersten Versuch?«, erklang plötzlich eine inzwischen wohlbekannte Stimme. Er wandte den Kopf und erkannte Berenghor. Der Riese lief schräg hinter ihm und sah ihn in einer Mischung aus Langeweile und Ungeduld an.

»Was meinst du damit?« Tristan hatte keinen blassen Schimmer, was der Hüne von ihm wollte.

10

Der stieß auf herablassende Art und Weise die Luft aus und warf ihm einen kritischen Blick zu. »Ich dachte, das Schwert des hellen Bastards hat dich an der Hand und nicht am Kopf getroffen.«

Tristan seufzte. Auf diesen Berenghor hatte er im Moment wirklich keine Lust. Er sah wieder nach vorne und konzen-trierte sich auf den Weg.

Der ehemalige Söldner aber ließ nicht locker. »Keine Ah-nung, wie’s dir geht, ich aber hab nicht vor, mich noch länger planlos durch den Wald führen zu lassen. Ich mach mich bald vom Acker. Meine Reise ist in diesem grünen Drecksloch de-finitiv noch nicht zu Ende. Deine sollte das übrigens auch nicht.«

Tristan zog verwundert eine Braue nach oben. Was wollte dieser Dickschädel von einem Söldner? Sich aus dem Staub machen? Bei der Herrin, wie stellte er sich das vor? Natürlich war ihre Reise noch nicht zu Ende, aber momentan blieb ih-nen ja wohl nichts anderes übrig, als den unbekannten Krie-gern zu folgen.

Er zuckte seufzend mit den Schultern. »Sag mir einfach Bescheid, wenn du soweit bist. Das gute Dutzend Wachen wird dich bestimmt nicht davon abhalten. Warum sollten sie auch? Sich wegen einem ungehobelten Fleischberg wie dir die Mühe machen?« Kurz schüttelte er verständnislos den Kopf und winkte dann ab.

Berenghor hob einen Finger und schloss nun vollends zu ihm auf. Mit einem Seitenblick auf die Wachen senkte er die Stimme. »Komm schon! Allein schaff’ ich das natürlich nicht. Aber zusammen könnten wir was erreichen. Ich dachte mir, du könntest ja vielleicht …« Weiter kam er nicht. Tristan unterbrach ihn unwirsch.

11

»Was könnte ich vielleicht? Diese bemalten Krieger etwa mit meiner verwundeten Hand verjagen? Oder sie fragen, ob sie uns nicht einfach gehen lassen wollen?« Er schüttelte ge-nervt den Kopf. Auf dieses Geschwätz hatte er nun wirklich keine Lust. Außerdem ahnte er, worauf Berenghor anspielte. Davon aber, wollte er nun wirklich nichts wissen.

»Nur die Ruhe Tristan.« Berenghor hob beschwichtigend eine Hand. »Das, was du vorhin im Turm getrieben hast, das wirkt vielleicht auch bei den Kerlen hier. Keine Ahnung, wie du’s angestellt hast, aber bei den Hellen hat’s funktioniert. Warum also nicht ein zweites Mal versuchen?«

Tristan blieb stehen und sah ihn entgeistert an. Es genügte wohl nicht, dass sich Linwen und die anderen bereits hinter vorgehaltener Hand die Mäuler über diese seltsame Energie-welle zerrissen. Nein, jetzt fingen sie auch schon an, ihn dafür verantwortlich zu machen. Zornig verengte er die Augen zu schmalen Schlitzen.

»Was hat Linwen dir erzählt?«

Berenghor zuckte mit den Schultern. »Na, was soll sie schon erzählt haben. Eben das, was vorgefallen ist.«

»Und was ist vorgefallen?« Tristan hatte da so eine Ver-mutung, und die gefiel ihm überhaupt nicht. Wut stieg in ihm auf.

»Na, du hast die Hellen mit dieser«, Berenghor machte große Augen und fuchtelte beschwörend mit den Händen her-um, »mit dieser Kraft vernichtet. Du hast deine blutige Hand auf den Altar gelegt und dann die Mächte des alten Turms entfesselt. Das Blut, sagte sie«, er hob belehrend einen Finger, und Tristan fand, dass er in diesem Moment unglaub-lich dämlich aussah, »das Blut war ausschlaggebend. Nur we-nige tragen den Schlüssel dafür in sich.«

12

Tristan glaubte seinen Ohren nicht zu trauen. Wie kam Linwen nur dazu, so einen blasphemischen Unsinn zu erzäh-len? Blutmagie in der heutigen Zeit? Und dann auch noch durch ihn? Verdammt, wusste sie nicht, was sie da sagte? Oder noch schlimmer: was sie damit anrichten konnte? Dass natürlich ausgerechnet Berenghor diese haarsträubende Ge-schichte auch noch für bare Münze hielt, brachte das Fass bei-nahe zum Überlaufen.

»Sie denkt, ich war das?« Seine Augen wurden groß. Ver-blüfft, und den aufkeimenden Zorn gerade noch so unter-drückend, zeigte er mit dem Finger auf sich selbst. Als Be-renghor nichts darauf entgegnete, ging er entschlossen weiter und nickte zornig.

»Ich verstehe. Und einen Moment später behauptet sie wahrscheinlich auch noch, der Segen der Alten Götter sei in mich gefahren, und nur ihm sei es zu verdanken gewesen, dass die Hellen überhaupt vernichtet wurden.« Obwohl ihm nicht danach zumute war, musste er bei diesem absurden Ge-danken lachen.

»Ja, genau das hat sie gesagt.« Berenghor versuchte eifrig, mit ihm Schritt zu halten.

Jetzt blieb Tristan stehen und packte ihn mit der gesunden Hand an der Schulter. »Ausgemachter Blödsinn, Berenghor. Ich bin Mitglied der Stadtwache, und der Herrin im Glauben treu ergeben. Die alten Götter würden mich niemals für ihre Zwecke einspannen. Abgesehen davon ist das sowieso alles vollkommener Humbug. Das Geschwätz einer Ketzerin. Nichts weiter. Höre nicht auf sie!« Er machte eine Pause und sah den Söldner eindringlich an.

»Die alten Götter wurden samt ihrer abscheulichen Blut-magie vor über fünfhundert Jahren vernichtet. Die Herrin ver-

13

trieb sie und den kläglichen Rest ihrer Anhänger aus Thulien, und mit ihnen ihren falschen und schrecklich fehlgeleiteten Glauben. Die Zeiten der Götzenanbetung und des Chaos sind vorbei! Und daran wird auch eine Ketzerin wie Linwen nichts ändern.«

Berenghor hob beschwichtigend beide Hände. »Schon gut, schon gut, reg dich bloß nicht auf! Eins aber lass’ dir gesagt sein: Irgendwas ist in dem Turm geschehen und hat dafür ge-sorgt, dass wir beide jetzt hier stehen und uns besonders däm-lich über das Wie und Warum streiten können. Und vollkom-men gleich, was am Ende dabei rauskommt, wir sollten tun-lichst dafür sorgen, dass diese Kraft auch beim nächsten Mal auf unserer Seite steht. Ehrlich gesagt ist es mir sogar scheißegal, ob uns deine Herrin oder die alte Götter unter die Arme greifen, Hauptsache, wir kommen mit dem Leben da-von. Dieser Mist ist nämlich noch lange nicht vorbei. Ganz im Gegenteil, meine Knochen sagen mir, dass er gerade erst begonnen hat.« Wütend trat Berenghor nach einer wilden Blume und begrub ihre blaurote Blüte unter seinen schweren Soldatenstiefeln.

Tristan, von der ungewohnt ernsten und weitsichtigen Art des Söldners überrascht, wollte gerade etwas entgegnen, als ihn zwei hölzerne Speerschäfte unsanft daran erinnerten, dass nicht er, sondern seine Bewacher das Tempo vorgaben. Missmutig ging er weiter und rieb sich das malträtierte Schul-terblatt. Der brennende Schmerz verschwand schnell, Bereng-hors markige Worte hingegen blieben.

Die Dämmerung war weit vorangeschritten, als die Truppe zum ersten Mal eine Rast einlegte. Von Minute zu Minute wurde es dunkler, und vom Tageslicht war kaum mehr als ein

14

blasser Schein am nächtlichen Himmel geblieben. Fackeln wurden entzündet, und sofort sprenkelten lange Schatten den mit altem Herbstlaub übersäten Boden. Erschöpfung zeichne-te sich auf den Gesichtern der Gefangenen ab. Stumm setzten sie sich hin und sprachen nur das Nötigste. Einzig Shachin und Berenghor schienen noch im Vollbesitz ihrer Kräfte zu sein. Die Schattenkriegerin hatte ihre alte Stärke zurücker-langt und verhielt sich still, wie immer. Bei Berenghor war es wohl der aufgestaute Ärger, der ihn nicht schlafen ließ. Er kö-chelte langsam vor sich hin, und selbst die Rast schien nichts an seiner schlechten Laune ändern zu können. Er ging Tristan aus dem Weg und brummelte immer wieder leise vor sich hin.

Tristan nahm es ihm nicht übel und ließ ihm seine Ruhe. Berenghor war nicht ganz zu Unrecht verärgert, und meistens dauerte es sowieso nur ein paar Stunden, bis er wieder der Alte war. Seine unbeherrschten Worte taten Tristan deswegen aber nicht weniger leid. Vor allem, weil gerade er es gewesen war, der sich einfach so mit der neuen Situation abgefunden hatte, und nicht der Söldner. Berenghor hatte nach einem Ausweg aus der Gefangenschaft gesucht, er nur nach einer Antwort auf das Rätsel im Turm. Auf jeden Fall aber hatte Berenghors Rede Wirkung gezeigt. Tristan war zwar nach wie vor davon überzeugt, nichts mit der seltsamen Kraft des Turms zu tun zu haben, kam aber nicht umhin, sich einzuge-stehen, dass Berenghor in einem Punkt Recht hatte. Die frei-gesetzte Macht war gewaltig gewesen. So gewaltig, dass sie es wert war, gesucht zu werden. Er nahm sich fest vor, noch einmal mit ihm darüber zu sprechen.

Tristan saß ganz vorne auf einem abgestorbenen Stamm und blickte gedankenverloren in die Dunkelheit. Die Nacht war frisch, und sein Atem kondensierte zu weißem Dampf. Ein Stück abseits des provisorischen Lagers erkannte er zwi-

15

schen den Bäumen einen der fremden Krieger. Lautlos und ohne Fackel stand er da. Er lehnte gut verborgen hinter einem Stamm und spähte in die undurchdringliche Schwärze des nächtlichen Waldes. Plötzlich erklang der Ruf eines Grau-käuzchens und der Krieger gab Handzeichen.

Tristan merkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Kerl zwischen den Bäumen war eine Art Vorposten, und augen-scheinlich hatte er etwas entdeckt. Die Bestätigung folgte auf dem Fuß. Kaum war der angenehm tiefe Ruf des Käuzchens verklungen, sprang auch schon eine Handvoll seiner Kamera-den wie aus dem Nichts herbei und bezog Stellung. Bogen-sehnen wurden gespannt und lange Dolche gezogen. Die An-führerin mit ihrer dunkelblauen Bemalung folgte kurz darauf. Alle Gesichter waren ernst und konzentriert.

Erst geschah gar nichts, außer, dass die anderen Gefange-nen die jähe Veränderung ebenfalls bemerkten und still wur-den. Keiner sprach mehr ein Wort. Berenghor war aufgestan-den. Er streckte sich kurz und bewegte sich dann in den Rücken der Krieger. Tristan entging nicht, dass er einen guten Stand suchte und sich spannte. Instinktiv tat der Söldner ge-nau das Richtige. Er bereitete sich auf einen Kampf vor. Zur Not eben auch nur mit seinen Fäusten.

Tristan stand nun ebenfalls auf. Er sah sich verstohlen um, und ging dann zu ihm rüber. Bei einem ernsthaften Kampf konnte er zwar nicht viel ausrichten, den Söldner alleine ste-hen lassen wollte er aber auch nicht. Shachin nickte ihm ver-stehend zu und blieb bei Riana und den Frauen.

»Da stimmt was nicht«, flüsterte Tristan und stierte ange-strengt in die Dunkelheit hinaus.

16

»Sieh mal einer an! Unser junger Leutnant hier hat das auch schon bemerkt«, kam es von Berenghor schnippisch zu-rück.

Tristan ignorierte die Spitze. Eigentlich hatte er sie ja ver-dient. »Da draußen ist etwas.«

»Wer weiß, vielleicht hecken die alten Götter ja wieder ir-gendeine Schweinerei aus. Blutmagie und so einen Firle-fanz.« Diesmal verzog Berenghor spöttisch den Mund. Tri-stan konnte es im flackernden Schein der Fackeln deutlich se-hen.

»Wenn dem so ist, müssen wir gut aufpassen. Vielleicht können wir Kapital daraus schlagen.«

»Na also, dass ist der Tristan den ich kenne.« Von der einen auf die andere Sekunde wirkte Berenghor zufrieden. Die Auseinandersetzung von vorhin schien vergessen. »Was macht die Hand?«

»Ist erträglich. Zum Kämpfen aber reicht sie nicht. Ich kann nichts greifen.«

Berenghor machte eine wegwischende Geste. »Ach, das wird schon wieder. Linwen wird sich gut darum kümmern. Aber jetzt bleib erstmal hinter mir. Könnte gefährlich wer-den.« Er zwinkerte Tristan zu, und diesmal mussten beide schmunzeln.

Im nächsten Moment tat sich etwas. Es knackte und knarzte im Unterholz. Jemand kam. Der Späher, eben noch angestrengt in die Nacht starrend, löste sich langsam vom Baum. Vorsichtig ging er Schritt für Schritt in Richtung Fackelschein zurück. Seinen Speer im Anschlag, drehte er sich dabei nicht um. Kurz strahlte sein Gesicht im Lichtkegel der Fackeln auf. Es war leichenblass. Sofort trat die Anführe-

17

rin auf ihn zu und zischte etwas in ihrer unbekannten Sprache. Mit einer eindeutigen Geste wies sie ihn dann an, sich einzu-reihen. Der Mann gehorchte ohne Widerworte. Offenbar hatte er trotz allem noch mehr Respekt vor seiner Anführerin als vor dem, was da draußen in der Dunkelheit lauerte.

»Verdammt, Berenghor! Was ist da los?«, flüsterte Tri-stan. Das Verhalten des Mannes beunruhigte ihn. Die Lage war offenbar sehr ernst.

Der Riese zuckte mit den Schultern. »Ich hab keine Ah-nung. Aber wenn ich wetten müsste, würde ich sagen, die Welle am Turm hat doch nicht alle Hellen erledigt. Der Kerl da vorne macht sich fast in sein Fell. Er hat eine Scheiß-angst!«

Wieder knackte etwas, und jetzt konnte Tristan deutlich ein paar graue Schemen erkennen. Sie schälten sich aschfahl aus dem dunklen Hintergrund und kamen bis auf wenige Schritte heran. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals und er wagte nicht, sich zu rühren. Dann trat die erste Gestalt in den schwachen Fackelschein.

»Bei der Herrin. Das gibt’s doch nicht!«, hauchte Tristan. Sein Blick klebte förmlich auf der groß gewachsenen Kreatur.

»Schau dir das an!«, bestätigte ihm Berenghor. »Ein paar der Bastarde haben also tatsächlich überlebt.« Der Söldner stemmte die Arme in die Hüften und starrte unentwegt gera-deaus.

Die Kreatur stand vollkommen still da. Sie sah die mit Speeren, Bögen und Dolchen bewaffneten Krieger stumm an und legte ihren Kopf dabei leicht schief. Das Haar fiel ihr in langen Strähnen pechschwarz bis weit über die Schultern und verdeckte einen Teil des über und über mit Tätowierungen versehenen Oberkörpers. An den Unterarmen trug sie silberne

18

Armschienen, und hinter dem Rücken kreuzten sich die Griffe zweier leicht gekrümmter Schwerter.

Tristan hatte sofort das Gefühl, einem Anführer der Hel-len gegenüber zu stehen. Er wirkte erfahren, kräftig und alt, sehr alt. Unwillkürlich musste er an Alaefs Geschichte den-ken, und erschauderte. Sollten diese Dinger wirklich die Le-benskraft anderer anzapfen können, dann war es gut möglich, dass dieser hier weit über hundert Jahre alt war. Nicht auszu-denken, über welch enorme Erfahrung und Kampfkraft er ver-fügen mochte.

Von all dem unbeeindruckt, machte die Kriegerfrau einen Schritt nach vorne. Sie hob ihren Speer und warf dem Hellen ein paar Worte in ihrer Sprache entgegen. Dessen Kopf ruckte augenblicklich herum. Jetzt musterte er nur noch sie allein. Nach einer gefühlten Ewigkeit hob er das Kinn und öffnete den Mund.

»Weiche!« Obwohl verständlich gesprochen, klang das Wort schrecklich deformiert und verzerrt, gar so, als hätte er diese Art der Kommunikation schon lange nicht mehr be-nutzt.

Tristan zog verwundert eine Braue nach oben. Er konnte den Hellen verstehen.

Nach einem flüchtigen Augenblick offensichtlicher Irrita-tion bekam der Helle von ihr nicht mehr, als ein bestimmen-des Kopfschütteln zur Antwort. Ob ihm die Reaktion gefiel, war nicht zu sehen. Seinen milchig trüben Augen fehlte jeder-lei Gefühl.

»Weiche!« Wieder diese gutturale Missgeburt eines Wor-tes. »Jetzt!« Das zweite Wort presste er förmlich zwischen den Lippen hindurch.

19

Abermals schüttelte die Frau den Kopf und unterstrich ihre Geste mit ein paar deutlichen Worten. Diesmal aber wechselten die restlichen Krieger unsichere Blicke. Augen-scheinlich wussten sie nichts mit der Situation anzufangen. Kurz darauf kam ein weiterer hinzu und blieb direkt neben der Frau stehen. Er begann leise, aber vehement, auf sie ein-zureden. Tristan erkannte ihn wieder. Es war der Kerl aus der Baumkrone, der Kerl, dem sie alle ihr Leben verdankten.

Die Anführerin ließ sich von ihm nicht beeinflussen. Was er auch sagte, es zeigte keine Wirkung. Offenbar schien er aber mit den Hellen genauso ein Problem zu haben wie Tri-stan. Jedenfalls zeigte er immer wieder auf die vorderste Ge-stalt und dann auf sich selbst und die anderen.

Ein unangenehmer Verdacht kam ihm plötzlich in den Sinn und griff eiskalt nach ihm. Ging es hier womöglich um sie? Waren die Hellen etwa gekommen, um ihre schon sicher geglaubte Beute zurückzufordern? Tristan wurde schlagartig unruhig, denn ausliefern lassen wollte er sich in keinem Fall. Lieber würde er sterben.

Irgendwann gab es der Krieger schließlich auf und stellte sich stumm neben die Frau. Sie war hart geblieben, und er hatte sich schlussendlich ihrem Willen unterworfen. Ob das nun gut oder schlecht war, konnte Tristan nicht sagen.

Plötzlich zuckte einer der Männer sichtlich zusammen. Es war der Späher von vorhin. Er machte einen Schritt nach vor-ne, senkte seine Waffe und ging beängstigend gleichgültig auf die Hellen zu. Er wirkte auf komische Art und Weise desin-teressiert, ja, regelrecht teilnahmslos. Seine Reaktion war so überraschend, dass die anderen das groteske Schauspiel im er-sten Moment nur verwundert mit ansehen konnten. Einzig die Kriegerfrau behielt einen kühlen Kopf. Sie fing sich als Erste

20

und bellte einen Befehl. Tristan verstand nicht, was sie sagte, konnte sich aber gut vorstellen, worum es ging.

Davon unbeeindruckt lief der Krieger einfach weiter. Er ließ seinen Speer fallen und hielt unbeirrt auf die Kreaturen zu. Erst, als er den Anführer der Hellen schon fast berührte, blieb er stehen. Was dann folgte, ging erschreckend schnell vonstatten.

Zwei andere Helle sprangen vor, packten den Krieger und rissen ihn mit sich in die Dunkelheit des Waldes. Im selben Moment spannte sich auch ihr Anführer. Er wirbelte herum und verschwand blitzschnell im Unterholz. Lautes Knacken und ein dumpfer Schlag folgten, dann war Stille.

Augenblicklich machte sich Hektik breit. Einige der Krie-ger wollten die Verfolgung aufnehmen, die Frau aber hielt sie vehement zurück. Tristan verstand nicht warum. Was ging hier vor? Der unverhoffte Helfer, der sie noch vor wenigen Stunden überhaupt erst zum Turm geführt hatte, fing an, sich zu beschweren. In einer Mischung aus Zorn und Angst redete er wild gestikulierend auf sie ein. Er sprach laut und ent-schlossen. Er wollte die Verfolgung aufnehmen, so viel konn-te Tristan seiner Gestik und Mimik entnehmen. Irgendwann schnitt ihm die Frau jedoch das Wort ab und brachte ihn mit einem vernichtenden Blick zum Schweigen. Sie atmete tief ein und seufzte. Es war offensichtlich, dass ihr nicht gefiel, was er wollte. Sehr zu Tristans Überraschung nickte sie dann aber doch und rief etwas in ihrer Sprache. Sofort sprang eine Handvoll Krieger herbei und wartete stumm auf weitere An-weisungen. Dann deutete sie auf den Kerl vor ihr und sein Gesicht hellte sich auf. Rasch machte er einen Schritt zurück, prüfte den Sitz seiner Waffen und lief dann entschlossen in die Dunkelheit hinaus. Die fünf Krieger folgten ihm.

21

Plötzlich brach auch hinter ihnen Tumult aus. Tristan und Berenghor wirbelten herum. Ihre Bewacher auf dieser Seite redeten lautstark und wild durcheinander, und zeigten immer wieder auf die Gefangenen. Sie waren verärgert und offenbar uneins. Tristan wusste erst nicht, was sie wollten, als er dann aber zu zählen begann wurde ihm schnell klar, worum es ging: Ein Gefangener fehlte. Es war Matruk. Er war ver-schwunden!

»Na ganz toll. Jetzt macht uns dieser Dreckskerl auch noch vor, wie man sich ungesehen verdrückt.« Zornig schlug sich Berenghor mit der Faust in die offene Hand.

»Was regst du dich auf?«, entgegnete Tristan. »Sei doch froh, dass wenigstens ihm die Flucht gelungen ist.«

»Pah … Flucht gelungen.« Berenghor spuckte aus. »Noch ist nicht raus, wie weit er kommt. Und außerdem habe ich meine Meinung geändert. Am liebsten hätte ich ihn jetzt ganz nah bei mir. Da kriege ich wenigstens mit, wenn er auf dum-me Gedanken kommt.«

Tristan seufzte. »Das hatten wir doch schon, Berenghor. Warum fängst du wieder damit an?«

»Ich weiß nicht.« Der Riese zuckte ein wenig hilflos wir-kend mit den Schultern. »Ist nur so ein Gefühl. Ich hab das in den Knochen, weißt du. Mit diesem Kerl stimmt etwas nicht, und ich denke, wir haben ihn nicht zum letzten Mal gesehen.«

Tristan sagte nichts dazu. Er schüttelte bloß genervt den Kopf und setzte sich zurück auf den abgestorbenen Baum-stamm. Wiedermal nur die alten Knochen eines ehemaligen Söldners.

Die Aufregung unter den fremden Kriegern legte sich rasch, als ihre Anführerin ein paar Befehle schnarrte. Schnell

22

rückten sie zusammen und zogen den Kreis um die verbliebe-nen Gefangenen deutlich enger. Vermutlich hatten sie nach der überraschenden Attacke kein Interesse daran, ihre Kräfte weiter aufzuteilen. Die Verfolgung der Hellen war ihnen wichtiger, und das Fenster zur Flucht für Tristan und die an-deren damit verschwunden.

23

Böses Erwachen

eit nach vorne gebeugt rannte Felian durch den abend-lichen Wald. Noch war die Dunkelheit nicht vollkom-

men und er konnte ausreichend gut sehen. Als Wächter und Markenläufer waren seine Augen an das Laufen in der einset-zenden Dämmerung gewöhnt und er hatte auf eine Fackel verzichtet. Sie hätte ihn nur behindert und den Seelenlosen außerdem, einem Leuchtfeuer gleich, stets seine Position ver-raten. Lediglich den mit Kerben und Malereien versehenen Knochengriffdolch hielt er, mit der Klinge nach hinten, in der linken Hand bereit. Nachdem, was er bisher gesehen hatte, waren diese Seelenlosen hervorragende Krieger, nicht wie die trägen und willenlosen Gestalten, die er von den Markenläu-fen her kannte. Sie waren anders, und er wollte vorbereitet sein.

W

Mit jedem Schritt peitschten ihm Zweige und Äste unsanft übers Gesicht. Den großen wich er noch gekonnt aus, den kleinen hingegen war er schutzlos ausgeliefert. Jedes Mal hin-terließen sie kleine Striemen und Schnitte auf der Haut und ir-gendwann glaubte er, nur mehr die zerfurchte Borke eines al-ten, verwitterten Baumes im Gesicht zu tragen. Es brannte und zog fürchterlich. Zeit, sich lange mit dem Schmerz aus-einander zu setzen, hatte er jedoch keine. Seine Gedanken waren einzig und allein auf den entführten Falkenkrieger ge-richtet. Sie mussten den Mann finden. Schnell. Wenn es sich bei den Wiedergängern wirklich um Seelenfänger handelte, war mehr als nur sein Leben in Gefahr.

24

Außerdem, und das war beinahe noch wichtiger, auch wenn Felian sich dafür schämte, war der Krieger der lebende Beweis dafür, dass das große Unheil des Südens wohl doch nicht einfach so vor den Marken der Zwölf Stämme Halt ma-chen würde. Schon allein diese kleine Gruppe Wiedergänger bereitete ihnen außerordentliche Schwierigkeiten, und er frag-te sich voller Grauen, zu was erst ein ganzes Heer von ihnen im Stande sein würde. Vielleicht hatte Nimriss ja Recht, und sie waren wirklich nur zwischen die Fronten des geweissag-ten Konflikts geraten, aber irgendwie wollte er nicht so recht daran glauben. Die Prophezeiung schien jedenfalls nicht ganz so gnadenlos unanfechtbar zu sein, wie von den meisten bis-her angenommen.

Felian hielt kurz inne und orientierte sich. Die Spur war frisch, und die Geräusche ließen keine Zweifel offen: Er war auf der richtigen Fährte. Es mussten drei oder vier sein, die da vor ihm, und nur einen Speerwurf weit entfernt, durch das Dunkel des Waldes rannten. Sofort sprang er auf und hastete weiter. Er kam ihnen näher. Zwar nur langsam, dafür aber be-ständig.

Plötzlich hörten die Geräusche auf und Felian blieb aber-mals stehen. Lautlos ging er in die Hocke und hob die rechte Faust, das stille Zeichen an die anderen, es ihm gleich zu tun. Kurz schloss er die Augen und lauschte angestrengt. Jetzt be-reute er es, sich in seiner Zeit als Anwärter nicht intensiver mit den Übungen befasst zu haben. Innerlich fluchend, ver-wünschte er seine laxe Haltung und den Mangel an Selbstdis-ziplin. Wenn doch bloß Nimriss bei ihnen wäre! Seine Schwester würde die Seelenfänger mit geradezu schlafwand-lerischer Sicherheit hören. Genau wie die Kaiths vor ein paar Nächten. Er aber vernahm nichts als das leise Knacken der

25

Bäume und das zaghafte Rascheln der Blätter im Wind. Es half nichts, diesmal musste es auch ohne sie gehen!

Vorsichtig richtete er sich etwas auf. Sein Instinkt meldete sich und warnte ihn, sagte ihm, es sei besser nicht weiter zu gehen und stattdessen umzudrehen. Etwas war dort vorne, im Dunkeln. Es lauerte, wartete ab. Es verhielt in aller Stille und machte sich bereit zum Sprung. Er konnte es ganz deutlich spüren, und doch, er wollte weiter. Wenn er jetzt umdrehte, war das Leben des Falkenkriegers verwirkt und die Gelegen-heit, den Stämmen die Augen zu öffnen, vertan. Er durfte jetzt nicht umkehren, er musste weiter.

Langsam setzte er einen Fuß vor den anderen. Er wählte jeden Tritt mit Bedacht und es überraschte ihn, wie lautlos er sich, wenn er denn musste, tatsächlich fortbewegen konnte. Beeindruckend, zu welch unverhofften Leistungen sein Kör-per in Zeiten der Not im Stande war. Einen Moment später hielt er kurz inne, öffnete zaghaft die Hand und spreizte die Finger weit auseinander. Das Zeichen für die Männer sich zu lösen und auszuschwärmen. Er wollte, dass sie breit gefächert vorgingen und die Flanken dabei im Auge behielten.

Als Bewegung in die Krieger kam, machte auch er wieder ein paar entschlossene, aber vorsichtige Schritte. Plötzlich er-klang etwas weiter vorne ein Geräusch. Irgendwo im wilden Durcheinander zwischen den Bäumen, Büschen und Sträu-chern. Er spannte sich.

Ein unterdrücktes Gurgeln zu seiner Linken ließ ihn ur-plötzlich zusammenfahren. Er riss den Kopf herum und sah, dass der Falkenkrieger ganz außen in die Knie ging. Wie von Geisterhand gefällt, sackte er zusammen und kippte nach vor-ne weg. Fast zeitgleich brüllte jemand auf der anderen Seite einen Warnruf, und sofort war das Chaos perfekt. Weiße Ge-

26

stalten brachen aus dem Unterholz hervor und warfen sich un-versehens auf die Krieger des Falkenstammes. Von allen Sei-ten fielen sie über sie her, und es waren mehr als nur drei oder vier.

Einer von ihnen ging Felian an. In der fast vollständigen Dämmerung verwischten seine Konturen und lediglich das verräterische Aufblitzen von Klingen verriet Felian den be-vorstehenden Angriff. Der Seelenlose sprang vor und hieb mit seinen beiden Schwertern nach ihm. Felian reagierte instink-tiv. Ohne lange zu überlegen, tauchte er unter dem Hieb hin-durch, huschte blitzschnell in den Rücken des Seelenlosen und stach ihm den Dolch ins Rückgrat. Wenn ihn der Stich nicht tötete, so machte er ihn zumindest kampfunfähig.

Plötzlich traf ihn etwas schwer im Nacken. Er spürte einen jähen Schmerz, wurde von den Füßen gerissen und wirbelte, ohne zu wissen wie ihm geschah, wild durch die Luft. Eine Sekunde später prallte er mit dem Gesicht gegen etwas Har-tes, Knorriges. Verzweifelt versuchte er sich festzuhalten und fühlte die borkige Rinde eines alten Baumes unter den Fingern. Der Atem wurde ihm unsanft aus den Lungen ge-presst und er rutschte halb benommen am Stamm nach unten. Die Geräusche ebbten sofort ab, verstummten aber nicht ganz. Eisern kämpfte er gegen die aufkeimende Ohnmacht. Er stemmte die Hände in den Waldboden und versuchte sich auf-zurappeln. Leider vergebens. Seine Arme zitterten kurz und versagten ihm dann den Dienst. Noch einmal versuchte er es, und wieder drohte er an seinen Muskeln zu scheitern. Einzig die nackte Todesangst sorgte am Ende dafür, dass es ihm doch gelang. Mühsam hob er den Kopf und sah sich um.

Der Kampf war genauso schnell vorbei, wie er begonnen hatte. Von den fünf Kriegern standen nur noch zwei, und selbst die konnten sich kaum mehr auf den Beinen halten. Sie

27

bluteten aus vielen Wunden und schnauften schwer. Einem hing der Arm blutüberströmt und nutzlos von der Schulter herab, und dem anderen zog sich ein fingerdicker Schnitt quer übers Gesicht. Blut lief ihm in die Augen und er zwinkerte unentwegt. Drei Helle, einer davon war der tätowierte Anfüh-rer, hatten den Angriff überlebt. Der Rest, insgesamt fünf, lag zwischen den Falken reglos am Boden.

Die verbliebenen Seelenlosen taxierten die Falkenkrieger und ließen sie nicht aus den Augen. Ihre unglücklichen Opfer erkannten irgendwann die aussichtslose Lage und senkten die Waffen. Der Anführer der Hellen tat es ihnen augenblicklich gleich, nur seine beiden Vasallen nicht. Die bauten sich zu beiden Seiten der schwer verwundeten Krieger auf und warte-ten ab.

Plötzlich, und wie auf ein stummes Geheiß hin, packten sie die beiden Gefangenen und zwangen sie auf die Knie. Wi-derstandslos fügten die sich ihrem Schicksal.

Der Tätowierte trat auf sie zu und hob eine Hand. »Alles gut. Keine Angst.« Wie schon vorhin beim Überfall, presste er die Worte seltsam gezwungen hervor. Diesmal aber in der Sprache der zwölf Stämme.

Du weißt, wer wir sind, erkannte Felian erschrocken. Er beobachtete alles vom Boden aus und wagte nicht sich zu rühren.

Die unnatürlich klingende Art zu sprechen ließ den Täto-wierten angestrengt aussehen, und machte ihn dabei noch un-heimlicher, als er es eh schon war. Er löste den Stammeskrie-ger mit dem verwundeten Arm aus dem Griff des Seelenlosen und half ihm auf. Sein Kamerad, fortan gleich von zwei Hel-len in Schach gehalten, senkte den Kopf. Der Anführer ent-fernte sich ein paar Schritte mit dem Krieger, und Felian hatte

28

schon Angst, er würde ihn direkt zu ihm führen. Am Ende aber hatte er Glück. Der Seelenlose blieb stehen, und fasste dem halbtoten Falkenkrieger in einer fast schon zärtlich an-mutenden Geste an den Kopf. Die Augen geschlossen, hielt der sich nur noch mit Mühe aufrecht.

Plötzlich ertönte ein leises Zischen und der Falke riss den Mund auf. Er verkrampfte sich und drehte die Augen so weit nach hinten, dass nur noch das Weiß der Augäpfel zu sehen war. Dann erlahmten seine Kräfte und er fiel leblos zu Boden.

Bei den Göttern! Felian hielt den Atem an. Er wusste ge-nau, von welch grausamen Schauspiel er gerade, mehr oder weniger freiwillig, Zeuge geworden war. Den Schrecken über das eben Gesehene nahm ihm das Wissen aber trotzdem nicht. Er kannte die Geschichten über die Prophezeiung gut genug und hatte sie unzählige Male gehört. Jedes Kind kannte sie, waren doch die Alten niemals müde geworden, davon zu berichten. Der Seelenlose hatte sich der Lebenskraft des Krie-gers bedient. Er hatte danach gegriffen und sich ihrer be-mächtigt. Einfach so. Und nun war er gestärkt, sein Reservoir wieder aufgefüllt. Er war bereit, seinen Auftrag bedingungs-los weiterzuverfolgen. Bis zum Ende. Selbst, wenn es das sei-ne bedeuten würde.

Felian klopfte das Herz bis zum Hals. Die Prophezeiung jahrelang immer und immer wieder gebetsmühlenartig vorge-halten zu bekommen, hatte den unheimlichen Texten ihren Schrecken genommen. Sie waren irgendwann alltäglich ge-worden, und damit war auch das eigentlich Geheimnisvolle um die Alte Macht verschwunden. Nun jedoch selbst zu se-hen, wie jemandem die Lebenskraft geraubt wurde, wischte das Alltägliche mit einem Schlag beiseite. Eine längst vergan-gen geglaubte Angst erfasste ihn, kroch ihm unter die Haut und griff nach seinem Herzen. Sie war wirklich und wahrhaf-

29

tig, und entwickelte gerade ein Eigenleben. Schlimmer noch, sie fing an, sich ihrer einstigen Stärke zu besinnen. Er wusste nicht warum, aber einem tobenden Raubtier gleich drohte sie, sich von ihrer uralten Kette loszureißen und über ihn herzu-fallen. Der Herrin sei Dank hielten die Glieder. Noch.

Kaum war der Falkenkrieger auf den Boden geschlagen, interessierte sich der Tätowierte nicht mehr für ihn. Seine vol-le Aufmerksamkeit galt nun dem anderen Gefangenen. Der hatte sehr wohl mitbekommen, was geschehen war und wand sich panisch im Griff seiner Bewacher. Er wusste, was ihn er-wartete.

Felian verspürte den unbändigen Drang davonzulaufen. Er wollte hier weg. Er wollte nicht sehen, was gleich ein zweites Mal geschah, und doch zwang er sich zu bleiben. Um vor dem Rat der Stämme berichten zu können, musste er noch mehr sehen, denn nur dann hatte er überhaupt eine Chance, die Ältesten von der Gefährlichkeit der Prophezeiung zu überzeugen. Klar war schon jetzt, dass sich diese Seelenlosen auch gegen die Stammeskrieger wandten, und somit keinen Unterschied zwischen den Menschen aus dem Reich der Her-rin und ihnen machten. Nimriss war mit ihrer Vermutung im Unrecht. Sie waren nicht nur zwischen die Fronten geraten, sie waren Teil der Front. Hätten die Seelenlosen wirklich nur die Gefangenen gewollt, so wäre das auch ohne Tot und den Raub von Lebenskraft möglich gewesen. Aber sie wollten eben nicht nur die Gefangenen. Für ihn stand deshalb fest, dass die Stammlande nicht mehr sicher waren. Wie befürch-tet, machte der große Konflikt alles andere als vor den Mar-ken halt. Genauso wenig, wie der Seelenlose vor dem am Bo-den knienden Krieger.

30

Vorsichtig rutschte Felian ein Stück zurück. Es galt, zu beobachten und nicht entdeckt zu werden. Die Seelenlosen hielten ihn offenbar für tot, und er wollte, dass es so blieb.

Plötzlich, und für ihn völlig überraschend, erschien wie aus dem Nichts der entführte Stammeskrieger. Er wirkte selt-sam verklärt, fast wie in Trance. Die Anwesenheit der Seelen-losen störte ihn nicht, und er machte auch keine Anstalten zu entkommen.

Felian stöhnte innerlich auf. Bis gerade hatte er noch ge-hofft, nun aber wusste er, dass es dafür keinen Grund mehr gab. Der Falkenkrieger war kein Mensch mehr. Er hatte sich verwandelt und gehorchte fortan nur noch seinem Herrn: ei-nem Seelenfänger.

Er erschauderte, und das Raubtier von eben, die unbändi-ge Angst, machte sich wieder bemerkbar. Lauter und heftiger als noch zuvor. Es zog und zerrte an seinen Ketten, biss wild und geifernd um sich und starrte ihn mit rot unterlaufenen Augen an.

Also doch ein Seelenfänger! Felian schluckte, kroch er-neut ein Stück zurück, und korrigierte sich in Gedanken. Der Tätowierte war kein einfacher Seelenloser, sondern ein See-lenfänger. Eine Kreatur, die in den Geist anderer eindringen, und ihnen dadurch befehlen konnte. Eine Kreatur, die ihm un-wahrscheinlich große Angst machte. Das Zeugnis der heuti-gen Nacht hatte sie aus den Tiefen der Legenden und Mär-chen gerissen, und sie mit einem Schlag zurück in die Realität katapultiert.

Im nächsten Moment ging der vom Seelenfänger kontrol-lierte Falke in die Knie, und legte seine Hände in ähnlicher Art und Weise, wie der Tätowierte eben, auf den Kopf des Gefangenen. Der erkannte seinen Waffenbruder natürlich und

31

fing an zu bitten und zu betteln. Er rief ihn beim Namen und wurde von Sekunde zu Sekunde verzweifelter. Blanke Todes-angst stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Als er den Kopf nach hinten warf und die Augen krampf-haft verdrehte, wusste Felian, dass sein Flehen vergebens ge-wesen war. Auch ihm wurde die Lebenskraft ausgesaugt und sein Leben im nächsten Moment beendet. Der noch immer unter der Kontrolle des Seelenfängers stehende Falke stieß ein Zischen aus und stöhnte. Er hatte das erste Mal von der Lebenskraft eines anderen gekostet, und würde nun niemals mehr darauf verzichten. Er war gerade zu einem Seelenlosen geworden.

Felian beschloss, dass er genug gesehen hatte. Die Pro-phezeiung erfüllte sich tatsächlich, keine Frage, aber durchaus auf andere Art und Weise, wie von den meisten gedacht. Ge-rade, als er sich weiter nach hinten schieben wollte, wurde noch ein Gefangener zum Seelenfänger gebracht. Felian hielt inne und duckte sich abermals ins Unterholz. Leider konnte er nicht erkennen, um wen es sich dabei handelte, merkte aber schnell, dass ihn die Seelenlosen mehr oder weniger in Ruhe ließen. Sie hatten ihm die Hände gebunden und führten ihn an den beiden ausgesaugten Leichen vorbei. Eine Warnung, was geschah, wenn man sich ihnen widersetzte? Vielleicht. Der grausame Gedanke aber, dass sie ihn nur als Reiseproviant mitschleppten, war da schon viel wahrscheinlicher. Felian lief es kalt den Rücken runter.

Kurz darauf verschwanden die Seelenlosen zwischen den Bäumen. Felian hatte vier gezählt. Ihr Anführer war der Letz-te. Er stieg langsam über die Leichen der im Kampf Gefalle-nen, bückte sich hier und da, und streckte ab und an die Hand nach unten. Erst, als auch er längst gegangen war, wurde Feli-an klar, dass der Seelenfänger dafür gesorgt hatte, dass auch

32

wirklich alle tot waren. Er hatte selbst den Schwerverwunde-ten und Todgeweihten das letzte Bisschen Lebenskraft ge-raubt.

Nimriss war entsetzt, als Felian allein zurückkehrte. Man sah es ihr nicht an, aber Felian kannte seine Schwester gut genug, um zu wissen, wie es ihr ging. Sie hörte ihm aufmerksam zu, und mit jedem Wort wurde ihre Miene düsterer. Die Falken-krieger hingegen waren schockiert und machten keinen Hehl daraus. Sie hatten sechs ihrer Brüder verloren, und einer da-von war auch noch zu einem Seelenlosen geworden. Bisher etwas Unvorstellbares. Ängstlich tauschten sie Blicke aus und steckten immer wieder die Köpfe zusammen. Erst, als Nim-riss den Befehl zum Weiterlaufen gab, hörten die Mutmaßun-gen und wilden Spekulationen auf. Der Schock über die dra-matische Entwicklung aber blieb, dass sah man ihnen an.

»Mach dir keine Sorgen, Bruderherz!« Nimriss ging voran und führte die zusammengeschmolzene Truppe gen Nordwe-sten. »Der Seelenfänger sah eine Bedrohung in uns und hat darauf reagiert. Jetzt aber sind er und seine Seelenlosen weg und der Zwillingshort ist zum Greifen nahe. Aris, der Herr al-len Seins, ist uns wohlgesonnen.«

»Die Götter sind das Letzte, worüber du dir jetzt Gedan-ken machen solltest, Nimriss! Fünf Falken sind tot, und einer wandelt im Gefolge eines Seelenfängers durch die Marken der Stämme.« Felian war entsetzt. Seine Schwester schien im-mer noch nicht zu verstehen, worum es hier ging.

»Wenn ich mich recht erinnere, warst du es, der mich ge-beten hat, die Hellen zu verfolgen, nicht die Götter.«

Das hatte gesessen. Felian öffnete den Mund und schnappte nach Luft. Der Sache nach hatte sie Recht, aber

33

wollte sie ihm wirklich die Schuld am Tod der Krieger ge-ben? Vom Schicksal der Männer sichtlich ergriffen, suchte er nach den richtigen Worten.

»Ja, das habe ich. Und der Preis dafür war hoch. Glaub ja nicht, dass es mir leicht gefallen ist, den Männern beim Ster-ben zuzusehen.« Trotz der gefährlichen Mischung aus Trauer und Wut versuchte er, ihre Anklage so gut es ging auszublen-den. Es gelang ihm nicht wirklich.

»Aber weißt du überhaupt, warum ich es getan habe?« Als Nimriss eher beiläufig den Kopf schüttelte wallte Zorn in ihm auf. »Ich weiß jetzt sicher, dass der große Konflikt des Sü-dens nicht im Süden bleibt. Die Seelenlosen machen keinen Unterschied zwischen uns und den Anhängern der Herrin. Auf ihrer Nahrungssuche werden sie auch in den Norden kommen, und dann ist ihnen jedes Leben Recht.«

Nimriss stieß ungehalten die Luft aus. »Das ist ausge-machter Blödsinn. Der große Krieg wird einzig und allein im Süden wüten. Wir müssen nichts weiter tun, als dafür zu sor-gen, dass ihm da unten niemand entgeht. Wir sind das ausge-wählte Volk, Felian. Die Seelenlosen kämpfen für unsere Freiheit. Hast du das vergessen?«

Felian lachte leise auf. »Ich hab gesehen, wie sie für uns kämpfen. Einen nach dem anderen haben sie getötet. Am Ende, als alles schon vorbei war, hat der Seelenfänger dann sogar noch nach der Lebenskraft der Sterbenden und Schwer-verwundeten gegriffen.« Er schüttelte angewidert den Kopf. »Oh nein, Nimriss, die Seelenlosen kämpfen nicht für unsere Freiheit, die kämpfen allein für sich.«

Nimriss stöhnte auf und verzog genervt den Mund. »Na, dann sag mir doch mal, was du jetzt am liebsten machen wür-dest. Was würdest du an Vaters Stelle tun?«

34

»Ich würde genau beobachten, was sich im Reich der Her-rin tut. Ich würde unsere Grenzen bewachen und dafür sor-gen, dass diese Kreaturen soweit wie möglich von den Stammlanden entfernt bleiben. Und ich würde Vorkehrungen treffen. Sollten die Seelenlosen die Marken wirklich über-schreiten, müssen wir vorbereitet sein. Denk nur an den An-führer der Flüchtlinge. Du hast doch selbst gesehen, was in Shar Haluth passiert ist. Die Macht des Turms hat viele der Kreaturen getötet.«

Nimriss winkte ab. »Mit Shar Haluth und seiner entfessel-ten Macht müssen sich die Ältesten der Stämme befassen. Vielleicht wissen sie, was die Götter damit bezwecken. Ich maße mir das jedenfalls nicht an, und das solltest du auch nicht. Ich sorge nur dafür, dass der Anführer der Flüchtlinge sicher zu den Stämmen gebracht wird. Und das ist mehr, als sie von uns erwarten können. Wäre Shar Haluth nicht gewe-sen, würden sie schon längst bei ihrer Herrin weilen. Ver-flucht soll das Weib sein!« Nimriss spuckte aus.

»Nur, weil du ausnahmsweise nicht sofort tötest, heißt das noch lange nicht, dass du jetzt alles richtig machst.« Wütend presste Felian die Lippen aufeinander. »Hast du dich nie ge-fragt, welchen Zweck der Turm der Wacht einst erfüllt hat? Gerade jetzt, da wir seine Macht gesehen haben, müssen wir erst recht hinter sein Geheimnis kommen.«

»Was gibt es da zu fragen?« Nimriss zuckte mit den Schultern. »Shar Haluth birgt die Macht der alten Götter in seinen Mauern. Er ist heilig und wird uns einst helfen, den Süden, unsere alte Heimat, zurück zu gewinnen. Die Anführer der Stämme werden Rat wissen.«

35

Felian fuhr sich verbittert durchs Haar. »Was, meinst du, wird wohl im Süden auf uns warten, wenn der Krieg vorüber und das Reich der Herrin untergegangen ist?«

Nimriss, inzwischen wieder mehr als nur sichtlich ge-nervt, blieb stehen und sah zu ihm rüber. »Das wirst du mir bestimmt gleich sagen.«

Felian hielt ebenfalls an, erwiderte ihren bohrenden Blick und nickte. »Tausende und Abertausende Seelenlose. Und sie alle werden nur von einem getrieben sein: Der Gier nach star-ker, gesunder Lebenskraft.« Er machte eine kurze Pause und blickte traurig zu Nimriss.

»Wenn es soweit ist, werden sie nach Norden schauen.«

Nimriss Lippen zuckten, und für den Bruchteil einer Se-kunde sah er ihr an, dass ihr unerschütterlicher Glaube an die Prophezeiung wankte. Wenigstens für einen kurzen Augen-blick. Dann aber machte sie eine wegwischende Geste.

»Hör endlich auf mit deinem Gerede! Man könnte ja fast meinen, du siehst den Untergang der Zwölf Stämme am Hori-zont aufziehen.«

Felian sagte nichts. Er sah sie nur an. Offenbar war ihr das Antwort genug.

»Bei Aris! Du meinst das wirklich ernst!« Nimriss’ Augen wurden groß. Es schien das erste Mal zu sein, dass sie seine Sicht der Dinge überhaupt erst in Erwägung zog.

Felian nickte kraftlos. Als Nimriss nicht sofort darauf rea-gierte, nutzte er die Gunst der Stunde aus. Ihm fehlte langsam aber sicher der lange Atem für diese Diskussionen. Er wollte es zu Ende bringen.

36

»Lass uns nach Falkenwacht gehen, Schwesterchen. Schicke die schnellsten Läufer voraus und bitte um eine Rats-versammlung. Niemand wird sie dir abschlagen. Du bist Nim-riss, die Tochter von Kelmar, dem Hirschfürsten. Dich wer-den sie ernst nehmen. Die Zeit drängt. Im Zwillingshort wird nichts entschieden. Entscheidungen aber sind es, die wir jetzt brauchen.« Müde, beinahe resignierend sah er sie an. »Bitte!«

Kurz zögerte Nimriss, dann aber stimmte sie zu. »Also gut. Wir gehen zur Falkenwacht.«

Felian war froh und lächelte sie dankbar an. Die Entschei-dung schien ihr wirklich nicht leicht gefallen zu sein, aber sie hatte sie getroffen, und das allein zählte. Vielleicht ein erster Schritt in die richtige Richtung.

37

In Feindeshand

ls Folge von Matruks Verschwinden hatte man ihnen die Hände auf den Rücken gebunden. Schlanke Seile schnit-

ten jetzt stechend in ihre Gelenke und machten ein Entkom-men unmöglich. Der Wald wurde dichter, und an eine Flucht war, ohne die nötige Armfreiheit, nicht mehr zu denken. Au-ßerdem lag nun vollkommene Dunkelheit auf dem Land. Und herrschte schon am Tage nur trübes Zwielicht zwischen den Bäumen, so war es in der Nacht geradezu stockfinster. Selbst wenn es ihnen gelänge, sich unbemerkt zu entfernen, am Ende würden sie sich im unbekannten Terrain ohnehin nur hoffnungslos verirren. Für heute mussten sie sich also ge-schlagen geben, und Berenghor gab Tristan die Schuld daran. Hätte sich der junge Leutnant weniger mit der Kraft des ver-fluchten Turms, und mehr mit ihrer momentanen Lage aus-einandergesetzt, dann würden sie jetzt vielleicht nicht mehr im Gänsemarsch durch dieses grüne Meer in Gefangenschaft ziehen. So aber blieb ihnen nichts anders übrig, als sich in Geduld zu üben. Und das nervte Berenghor gewaltig.

A

Nachdem nur einer der Fremden von der Verfolgung der Hellen zurückgekehrt war, hatte sich die Stimmung ihrer Be-wacher verändert. Sie waren vorsichtiger geworden und lie-ßen die Umgebung nicht mehr aus den Augen. Außerdem achteten sie jetzt auf ein zügigeres Vorankommen. Sie zogen das Tempo an und trieben die Hinteren immer öfter mit den Schäften ihrer Speere vorwärts. Der Überfall der Hellen hatte sie beeindruckt, und Berenghor meinte sogar, Angst in ihren

38

Augen zu sehen. Einzig die Anführerin zeigte nichts derglei-chen. Sie war noch genauso abgebrüht wie beim Turm, und ließ sich auch von dem Kerl, der ihnen geholfen hatte, nicht aus der Ruhe bringen. Die beiden bekamen sich oft in die Haare und stritten viel. Obwohl Berenghor kein Wort ver-stand, war dieser Umstand kaum zu übersehen. Aber wer weiß, vielleicht würde sich daraus ja noch eine Möglichkeit zur Flucht ergeben. Uneinigkeit unter seinen Feinden war ihm nur Recht.

Sie waren schon wieder eine geraume Weile unterwegs, als der Trupp abermals Halt machte. Diesmal lag es offen-sichtlich daran, dass sich die Anführerin und der Kerl aus dem Baum nicht auf den weiteren Verlauf des Weges einigen konnten. Im fahlen Schein der Fackeln sah Berenghor deut-lich, wie die Frau ständig in die eine, und der Kerl aus dem Baum vehement in die andere Richtung zeigte. Gerade, als er schon meinte, sie würde sich wieder mit einer herrischen Ge-ste durchsetzen und ihm das Wort abschneiden, lenkte sie überraschender Weise ein. Ihr Ton wurde versöhnlicher und schließlich nickte sie. Kurz darauf gab sie das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt änderten die Männer die Richtung und mach-ten einen großen Schwenk nach rechts. Berenghor tippte auf Osten, konnte es aber nicht mit Bestimmtheit sagen. Das Blattwerk der Bäume verhinderte jede Orientierung am nächt-lichen Himmel.

Nach ein paar mühevollen Stunden voller umgestürzter Bäume und endlosem Dickicht schlugen sie endlich ein Lager auf. Die Frauen aus Schwarzenfels und Holmann’s Hall konn-ten keinen Schritt mehr gehen. Sie ließen sich auf den Boden fallen und schliefen augenblicklich ein. Einzig Riana hielt tapfer durch und wechselte noch ein paar Worte mit Linwen. Kurze Zeit später aber übermannte auch sie der Schlaf.

39

Berenghor legte sich als Letzter schlafen. Er warf sich un-ter eine große Fichte und schloss die Augen. Wenigstens mal eine Nacht ohne Wache. Wider Erwarten verging sie schnell, und er schlief ohne Probleme bis zum nächsten Morgen.

Erfrischt aber hungrig startete er in den neuen Tag. Zu es-sen bekam keiner etwas, dafür aber gingen schmale Leder-schläuche mit Wasser durch die Reihen. Ein schwaches Schimmern am Himmel und zwischen den Bäumen verriet ihm, dass sie mit dem beginnenden Sonnenaufgang weiter marschierten.

Kaum unterwegs trieben sie ihre Bewacher genauso hart an wie gestern, und Berenghor blieb keine Zeit, sich über das fehlende Frühstück zu beschweren. Auf den ersten Metern machte er sich noch etwas Luft und giftete sein Murren in Richtung der Krieger. Irgendwann aber wurde es ihm zu lang-weilig und er schwieg.

Gut zwei Stunden nach dem Aufbruch erreichten sie ein Lager der Waldmenschen. Berenghor hatte in einem Anfall aus Trotz und wütender Hilflosigkeit beschlossen, sie fortan so zu nennen. Tristan sprach immer von Stammeskriegern, er aber wollte ihnen die ehrenvolle Bezeichnung Krieger erst gönnen, wenn er sich selbst von ihrem Können überzeugt hat-te. Bis dahin waren sie für ihn einfach nur wilde, unzivilisier-te Waldmenschen. Den Fehler, sie zu unterschätzen, machte er aber nicht. Es ging ihm lediglich um jedwede Art des prin-zipiellen Widerstands, selbst, wenn es sich nur um die richti-ge Bezeichnung handelte.

Das Lager war auf den ersten Blick gar nicht als solches zu entdecken. Es fügte sich so unauffällig in die Umgebung des Waldes ein, dass man seine Mauern erst sah, als man schon direkt davor stand. Wobei Mauern hier definitiv der

40

falsche Ausdruck war. Dichtes Gestrüpp aus gewaltigen Bü-schen und kleinen Bäumen, gespickt mit fingerlangen, mes-serscharfen Dornen natürlichen Wuchses, bildete eine grün-braune Wand. Außer für Kleingetier war sie undurchdringlich und maß gut und gerne fünf Schritte Höhe. Zwei Türme, die ebenso wie die Wände aus Bäumen und Astwerk bestanden, hoben sich etwas markanter vom Rest der natürlichen Palisa-de ab. Wie groß und ausgedehnt die Anlage war, konnte er von hier aus nicht sagen.

Berenghor blieb stehen und maß die Konstruktion in einer überheblichen Mischung aus Überraschung und Geringschät-zung. Das war kein befestigtes Dorf, ja, noch nicht mal ein halbwegs vernünftiges Wehrlager! Bäume, und Äste, und Dornen? Er schüttelte verständnislos den Kopf. Fehlten bloß noch die immergrünen Blumen und Blüten, und der Traum ei-nes jeden Mädchens würde wahr werden. Diese Waldmen-schen lebten wirklich wie die Wilden. Kein Vergleich zu den steinernen Trutzburgen im Reich der Herrin.

»Jaltrr!«, zischte es hinter ihm, als er den Schaft eines Speeres zum wiederholten Male im Rücken spürte. Der Schmerz riss ihn aus seinen Gedanken und schürte plötzlich aufkeimenden Zorn. Trotzig blieb er stehen und rührte sich nicht.

»Jaltrr, Jaltrr!«, wieder ein Schlag, diesmal schon deutlich fester als noch eben.

Jetzt wurde es Berenghor zu bunt. Er wirbelte blitzschnell herum, trat den Speer mit einem Fuß zur Seite und schlug dem Waldmenschen die Stirn voll ins Gesicht. Stöhnend ging der zu Boden und hielt sich die blutende Nase.

41

Sofort kamen drei seiner Kameraden angesprungen und zielten mit ihren Speeren auf Berenghor. Sie brüllten und rie-fen, und fuchtelten wild vor ihm herum.

»Das war einmal zu viel, ihr dummen Waldgeister!«, zischte er wutentbrannt. »Na? Wer ist der Nächste?« Böse funkelte er sie an.

»Das reicht, Berenghor!« Tristans Stimme donnerte durch die Luft. Rasch kam der Leutnant angelaufen und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich denke, sie haben verstanden. Lass dich nicht noch weiter provozieren!«

Erst wollte Berenghor widersprechen, besann sich dann aber eines Besseren. Er machte kehrt und ließ sich von Tri-stan sogar ein paar Meter mitziehen. Schimpfend und vor sich hin murmelnd, verschob er diesen Groll auf später. Vergessen war er nicht.

Kurz darauf hielt die ganze Kolonne an. Bisher hatte Be-renghor vergebens nach einem Tor Ausschau gehalten, und jetzt wusste er auch, warum: Es gab keins. Der Zugang er-folgte über eine große, mit festen Sprossen versehene Strick-leiter. Sie wurde von einem der versteckten Türme herabge-lassen und unten schräg verzurrt. Jetzt, da er wusste worauf er achten musste, konnte er immer mehr Türme und Verteidi-gungsplattformen entlang der immergrünen Palisade ent-decken. Sie waren, ebenso wie die Mauer selbst, geschickt angelegt und nur schwer zu entdecken.

Der Aufstieg zur Mauerkrone ging ihm leichter als ge-dacht von der Hand. Ohne die nervigen Fesseln an den Hand-gelenken zog er sich Sprosse um Sprosse nach oben und blickte kurz verstohlen über die Schulter. Wider Erwarten ein sehr gutes Schussfeld. Am meisten aber überraschte ihn, dass die grüne Wand des Lagers deutlich robuster war, als zu-

42

nächst angenommen. Unter Druck gab sie etwas nach, und hier und da konnte man sogar hindurch sehen. Das alles konn-te jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich jeder ein-zelne Ast und Zweig in dem undurchdringlichen Gewirr selbst bei der geringsten Berührung wie harter Stahl anfühlte.

Am Scheitelpunkt angekommen, hatte Berenghor kurz Zeit zum Verschnaufen und korrigierte seine Einschätzung von vorhin. Ganz so sinn- und wehrlos war die natürliche Pa-lisade nicht. Derlei kräftiges Holz hatte er jedenfalls noch nie gesehen.

Der Weg nach unten erwies sich als deutlich einfacher. Eine breite Treppe aus grob behauenen Planken, die über star-ke Äste gelegt und festgebunden waren, führte vom Turm bis auf den Boden. Sie war klug angelegt und bot ausreichend Platz. Langsam kam Berenghor nicht mehr umhin, das Ge-schick der Waldmenschen im Umgang mit den Bäumen anzu-erkennen. Mochte die Befestigung auch noch so primitiv sein, sie schien ihren Zweck zu erfüllen. Natürlich konnte sie ei-nem ernst gemeinten Angriff auf Dauer nicht standhalten, aber wer sollte einen derartigen schon versuchen? Für schwe-res Gerät war das Gelände viel zu unwegsam, und überhaupt musste das Lager erst einmal gefunden werden. Und genau darin lag auch seine eigentliche Stärke. Es war nahezu un-sichtbar.

Als alle die grüne Wand überwunden hatten, wurden sie mitten durchs Lager geführt. Eigentlich hatte Berenghor da-mit gerechnet, nur Männer vorzufinden, doch gleich zu Be-ginn wurden sie von einer Traube kleiner Kinder begleitet. Sie riefen wild durcheinander und fingen an, mit Zapfen und kleinen Stecken nach ihnen zu werfen. Bald schon schlossen sich auch Erwachsene an, und die Zapfen und Stecken wur-den größer. Es waren hauptsächlich Frauen und ältere Män-

43

ner, die ihnen ihre freundlichen Willkommensgrüße entge-genschleuderten.

»Verdammt! Was haben wir denen getan?«, zischte Be-renghor wütend, als sie ungefähr die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht hatten, und ihn ein besonders großer Tannen-zapfen direkt an der Nase traf. Jubel brandete derweil unter den Kindern auf, und anfeuernde Rufe wurden laut.

»Wir kommen aus dem Reich. Das genügt!«, rief Tristan als Antwort zurück. Er hob den Arm und wehrte einen gut platzierten Stecken ab.

Berenghor brüllte und verzog sein Gesicht zu einer Fratze. »Hört auf damit, ihr kleinen Ratten, oder ich zieh euch das Fell über die Ohren!« Das brachte ihm nur noch mehr Zapfen und Stecken ein.

Die Stammeskrieger hatten zusehends Schwierigkeiten, die deutlich angewachsene und inzwischen auch sichtlich auf-gebrachte Menge zurückzuhalten. Längst fanden nicht mehr nur Zapfen und Stecken ihr Ziel, sondern auch die ein oder andere Faust. Schwer hatten es vor allem die Frauen, und da war es gut, dass Berenghor den größten Teil der Aufmerk-samkeit auf sich zog.

Irgendwann wurden die Übergriffe schließlich so heftig, dass die Anführerin des Trupps lautstark einen Befehl bellte. Sie sprang vor und schob die Menschen einen nach dem an-deren zurück. Besonders Hartnäckige bekamen sogar den Schaft ihres Speers zu spüren.

Der Gang durch das Lager hatte sich mittlerweile zu ei-nem regelrechten Spießrutenlauf entwickelt. Berenghor war froh, den ebenfalls aus dichten Ästen, Zweigen und Dornen bestehenden Käfig endlich vor sich zu sehen. Dem Hünen lief Blut aus der Nase, und eine große, blaue Beule zeichnete sich

44

auf seiner Stirn ab. Alles nichts Ernstes, dafür aber umso är-gerlicher.

Grimmig schob er sich durch die schmale Tür und blieb direkt hinter dem krummen und windschiefen Geflecht ste-hen. Trotzig starrte er nach draußen.

»Ja, ja! Hier bin ich!« Außer sich vor Wut schlug er mit dem Fuß gegen einen besonders dicken Ast. Der Käfig erzit-terte und ein paar grün gemaserte Blätter raschelten zu Bo-den. »Kommt rein und ich zeig euch, was man im Reich der Herrin mit euch macht!« Nochmal trat er mit voller Wucht gegen den Käfig.

»Hör’ endlich auf damit, Berenghor! Das hilft nieman-dem. Und sprich nicht von der Herrin! Das provoziert sie noch.« Tristan sah ihn wütend an.

»Und ob das jemandem hilft: mir! Es hilft mir sogar sehr.« Jetzt griff er nach einem Zapfen und warf ihn durch die natürlich gewachsenen Gitterstäbe auf eine Horde Kinder.

»Wenn du meinst.« Tristan zuckte mit den Schultern.

»Ja, mein ich! Und seit wann darf ich in deiner Gegenwart nicht mehr von der Herrin sprechen? Du bist hier doch ihr größter Verfechter.« Berenghor sah ihn wütend an und kniff die Augen zusammen. »Leugnest du sie etwa, sobald auch nur ein Hauch von Gefahr in der Luft liegt?« »Nein, natürlich nicht.« Tristan schüttelte den Kopf. »Aber zu glauben bedeu-tet noch lange nicht dumm zu sein.«

»Wie wär’s dann mit feige?« Berenghor hatte keine Lust, sich von diesem dahergelaufenen Soldatenbürschchen beleh-ren zu lassen. Schon gar nicht, wenn dasselbe Soldaten-bürschchen auch noch für die verpasste Fluchtmöglichkeit verantwortlich war.

45

»Es zeugt nicht gerade von großer Willenskraft, sich von einer Horde Kindern aus der Fassung bringen zu lassen. Ge-schweige denn, ihnen zu drohen. Setz’ dich hin und ruh’ dich aus. Ich glaube, du hast es nötig.« Die Worte kamen nicht von Tristan, sondern von einem verwaschenen Schatten im Halb-dunkel der hinteren Ecke.

Berenghor erstarrte. Eigentlich hatte er sich nach Shachins Verwundung vorgenommen, etwas nachsichtiger mit ihr zu sein, aber offenbar waren mit ihren Kräften auch ihre dum-men Kommentare zurückgekehrt. Er drehte sich um. Seine Augen funkelten. »Noch vor ein paar Tagen warst du es, die wieder zu Kräften kommen musste.«

»Ja, aber nicht, um am Ende Kinder damit zu er-schrecken.«

Bei der Herrin! Dieses vermaledeite Weib. Es war noch gar nicht lange her, da hatte er sich dabei erwischt, Mitleid mit ihr zu empfinden. Dumm wie er war, hatte er sich doch tatsächlich Sorgen um sie gemacht. Und was passierte jetzt? Fiel sie ihm zum Dank dafür etwa in den Rücken? Ihm fehl-ten die Worte.

»Das … das waren nicht nur Kinder!« Jetzt rang er wirk-lich um Fassung. Er kochte und musste sich mehr als nur zu-sammenreißen. Ganz plötzlich aber meldete sich eine Stim-me, die ihm sagte, dass Shachin Recht hatte. Das waren wirk-lich nur Kinder. Kinder, und ihre hässlichen, hinterwäldleri-schen Waldbewohner von Eltern. Was konnte man von denen schon erwarten? Voller Unbehagen merkte er, wie die Wut verrauchte und einem seltenen Anflug von Reue Platz mach-te. Zeigen würde er das natürlich nicht, und ihr Recht geben schon gleich gar nicht. Klein beigeben? Niemals!

46

Laut schnaufte er aus und rieb sich die demolierte Nase. »Bleib mir mit deinen Moralpredigten vom Leib. Sie stehen dir und deinesgleichen nicht.« Damit drehte er sich um und ging auf die andere Seite des Käfigs.

Erst zur Mittagszeit verließ Berenghor seine trotzige Lethar-gie. Man hatte ihn in Ruhe gelassen, und er war dankbar da-für. Es war die Gefangenschaft, die ihm so zusetzte. Er kannte sie nicht, und als Söldner war es ihm bisher immer gelungen, diesem Schicksal zu entgehen. Er fühlte sich entmündigt und bevormundet. Gefühle, mit denen er seit seiner Kindheit nicht mehr konfrontiert worden war. Zumindest nicht in diesem Ausmaß. Ihm wurde plötzlich klar, wie sehr er doch die Frei-heit liebte, die Chance, jederzeit hingehen zu können wo er wollte und sein eigener Herr über Leben und Tod zu sein. Das alles fehlte jetzt. Er war diesen nichtsnutzigen Waldmenschen vollkommen ausgeliefert, und das Gefühl der absoluten Hilf-losigkeit machte ihn verrückt.

Irgendwann stieg ihm der Duft von Essen in die Nase und brachte ihn, nach langen Stunden des trübsinnigen Grollens, endlich auf andere Gedanken. Sein Magen meldete sich, und nun, da er daran erinnert wurde, kam es ihm vor, als sei die letzte richtige Mahlzeit schon Tage her.

»Ob wir auch was davon abbekommen?«, wollte Odoak von ihm wissen. Der Leuenburger Stadtgardist stand neben ihm und starrte hungrig zwischen den Ästen ins Freie.

Berenghor streckte sich und gähnte ausgiebig. »Keine Ah-nung. Vermutlich aber nicht. Vielleicht ein paar Reste, wenn wir Glück haben.«

»Reste sagst du?« Odoak verschränkte empört die Arme vor der Brust. »Da brutzeln die Kerle ein Festmahl für ihre

47

Anführer und wir sollen nur den Abfall von der Tafel bekom-men? Frechheit! Gefangene hin oder her, bei uns im Reich würde man sie anständig behandeln.«

»Bei uns im Reich würden sie auf dem Scheiterhaufen landen, und nicht das Essen«, korrigierte ihn Berenghor ohne mit der Wimper zu zucken. »Das ist ein kleiner, aber feiner Unterschied.«

Odoak druckste herum. »Also gut, ja, wahrscheinlich hast du Recht. Aber prinzipiell behandeln wir unsere Gefangenen besser. Linwen zum Beispiel hatte es im Wagen wirklich nicht schlecht.«

Berenghor verdrehte genervt die Augen. Dieser Schwach-kopf von einem Stadtgardisten brauchte unbedingt eine kleine Lektion. Ohne Vorwarnung klatschte er ihm mit der Hand auf den Hinterkopf.

»Au! Verdammt, was…« Irritiert blickte Odoak auf.

Berenghor knurrte. »Linwen ist keine Gefangene, und war auch nie eine. Merk dir das!«

Als Odoak nickte, wurde Berenghors Miene sofort wieder versöhnlicher. »Aber jetzt sag mal … was meinst du mit Sie brutzeln ein Festmahl? Woher weißt du, was die treiben?«

»Tja, ich sperre meine Ohren eben auf, wenn’s wichtig wird.« Odoak grinste ihn schadenfroh an. Ein weiteres, deut-lich lauteres Knurren von Berenghor war die Folge. »Als du allein in deiner Ecke gestanden hast, hat der Kerl aus dem Baum mit Leutnant Tristan gesprochen. Der kann nämlich auch unsere Sprache.«

»Und? Was hat er gesagt?«

48

»Na, dass ihre Anführer zusammenkommen, und dass ein großes Festmahl veranstaltet wird.«

Berenghor knurrte wieder. Dass man diesem Kerl aber auch alles aus der Nase ziehen musste. »Verdammt, komm endlich auf den Punkt, oder ich werde denen sagen, was du im Reich mit ihnen machen würdest!«

»Ich mit ihnen machen? Was, zum Henker …«

»Bei der Herrin, raus mit der Sprache! Um was geht’s da wirklich. Nur zum Essen werden die sich nicht treffen.«

»Die Anführer kommen zusammen, um über uns Gericht zu halten. Die behaupten, wir hätten ihre Grenzen ungefragt überschritten.«

Berenghor nickte spöttisch. »Ihre Grenzen überschritten, soso.« Die Zornesröte stieg ihm ins Gesicht. »Diese Wilden haben ihr Revier ja auch so eindeutig markiert, und hinter je-dem Baum wartet nur einer von denen auf Gäste aus dem Sü-den.« Übellaunig wandte er sich wieder an Odoak. »Was hat dieses Eichhörnchen auf zwei Beinen noch gesagt?«

Odoak zuckte erschrocken zurück und hob entschuldigend beide Hände. »Das musst du Leutnant Tristan fragen. Ich hab nicht alles mitbekommen.«

Sofort stapfte Berenghor auf die andere Seite des Käfigs. Tristan lehnte an der Gitterwand und beobachtete angestrengt das Vorfeld. Die verwundete Hand hielt er sich dabei an die Brust.

»Was soll das mit dem Gerichtsverfahren? Wann hattest du gedacht, mir davon zu erzählen?«

49

Tristan sah nicht auf. Er zuckte mit den Schultern. »So-bald deine schlechte Laune vorbei gewesen wäre. Aber so wie es aussieht, weißt du ja schon Bescheid.«

Berenghor knurrte. »Ja, schon gut. Meine schlechte Laune ist vorbei. Jetzt erzähl’ schon!«

Tristan richtete sich auf. Die Schmerzen seiner Hand stan-den ihm ins Gesicht geschrieben. Er sah nicht gut aus. »Der Krieger, der uns zum Turm brachte, spricht unsere Sprache. Sein Name ist Felian. Die grimmige Anführerin des Trupps ist seine Schwester. Die beiden gehören irgendwelchen Wächtern an und beobachten die Grenzen ihres Landes. Die haben wir offenbar, ohne es zu merken, überschritten, und nun wird sich der Rat der Zwölf Stämme zusammenfinden und über uns richten.«

Berenghor hörte aufmerksam zu und rieb sich nachdenk-lich das Kinn. »Mal abgesehen von diesem ganzen Humbug, von dem ohnehin die Hälfte erstunken und erlogen ist, wer sind diese Zwölf Stämme? Ich dachte, hier oben gibt es nichts als öde, menschenleere Landschaften und jede Menge gefrä-ßiges Viehzeug.«

»Diese Menschen sind Nachfahren der Ketzer, die sich einst im Norden vor der Macht der Herrin versteckten. Die Kirche weiß um ihre Existenz und schickt ab und an einen Er-löser zu ihnen. Wäre die Zollfeste nicht gefallen, hätten wir ihr Gebiet nicht mal gestreift. Ich hatte sie schon ganz verges-sen.«

»Vermute ich richtig, dass dieser Erlöser dann mit einem größeren Gefolge Bewaffneter loszieht? Nur zu seinem eige-nen Schutz versteht sich.« Berenghor hatte keine Ahnung, was die Kirche hier oben wirklich trieb, doch war allgemein

50

bekannt, dass sich Ketzer nicht einfach so bekehren ließen. Zumindest nicht freiwillig.

Tristan nickte.

Berenghor presste die Lippen aufeinander. »Dachte ich’s mir doch. Das erklärt wenigstens ihren Hass auf uns. Diese dummen Pfaffen lassen Schwert und Feuer sprechen, und nicht die alten Schriften.«

»Sprich nicht so abfällig über die Erlöser! Die Kirche weiß, was sie tut.« Tristan senkte die Stimme und sah sich verstohlen um. »Das sind Heiden und Anhänger von Blutma-gie. Sie töten Menschen, um den alten Göttern gefällig zu sein. Die Kirche kann da nicht einfach zusehen. Man muss ih-nen Einhalt gebieten und mit aller Härte begegnen.«

Berenghor verdrehte die Augen. »Ja, ja, schon gut. Ich hab keine Lust, mich mit dir zu streiten.« Er winkte ab. »Fest steht aber, und das kannst auch du nicht bestreiten, dass die Kirche hier oben ganz schön gewütet haben muss.«

Tristan runzelte die Stirn.

»Na warum sonst holen die wegen uns armseligen Gestal-ten gleich alle Anführer zusammen? Wir haben keinen Erlö-ser dabei, eher im Gegenteil, der einzig wirklich Fromme hier bist du. Nicht besonders hochkarätig würd ich sagen.«

Tristan schüttelte den Kopf und fuhr sich müde durch das fettige Haar. Ein rötlicher Schimmer lag in seinen Augen. Die Verwundung machte ihm zu schaffen. »Da steckt was anderes dahinter. Ich glaube fast, die haben Angst.«

Berenghor lachte laut auf. »Angst? Vor wem? Vor dir?«

Tristans Miene verfinsterte sich kurz. »Nein, oder … doch, vielleicht sogar das, aber das meine ich nicht.« Er

51

machte eine wegwischende Geste mit der kaputten Hand und verzog sogleich schmerzhaft das Gesicht. »Ich glaube, die ha-ben Angst vor dem, was in diesem Turm geschehen ist. Wenn ich das richtig verstehe, dann ist das alte Gemäuer eine Art Heiligtum für sie.«

Wieder lachte Berenghor. »Ich verstehe. Und dann kommst du, ein Leutnant aus dem Reich im Süden, ein von der Herrin Gesalbter, und führst ihnen ihre eigene Macht aus-gerechnet in ihrer Lieblingsruine vor Augen.«

»Verdammt, Brenghor, hör auf damit! Das war kein blas-phemisches Ritual, auch wenn Linwen das vielleicht behaup-tet. Das war die Macht der Herrin. Wahrscheinlich wird der Rat genau das besprechen wollen. Die bloße Grenzüber-schreitung ist da Nebensache. Vermutlich glauben sie, die Macht der Herrin hat ihr Heiligtum entweiht oder Ähnliches.«

»Na prima, dann werden wir für den Mist, den du gebaut hast, den Kopf hinhalten dürfen.« Berenghor rieb sich mit der Hand über die Stirn.

»Die Herrin hat im Norden keine Macht! Der Norden ge-hört einzig und allein den Göttern!«, erklang plötzlich eine fremde Stimme.

Erschrocken drehten sich Berenghor und Tristan nach links. Hinter der seitlichen Käfigwand stand ein Stammes-krieger. Es war der Mann aus dem Baum, dieser Felian. Wie sich der Kerl so lautlos hatte anschleichen können, war Be-renghor ein Rätsel.

»Du hast Shar Haluth entfesselt.« Er deutete auf Tristan. »Shar Haluth ist kein Ort der Herrin. Er birgt die Macht der Götter.«

52

»Die Herrin ist das Licht. Sie ist es, die mich leitet, und nicht irgendwelche falschen Götzen«, widersprach Tristan ve-hement.

Berenghor sog scharf die Luft ein. Eigentlich war ER doch die Axt im Walde und für Fettnäpfchen zuständig. Tri-stan sollte sich lieber ein wenig zurückhalten.

Der Stammeskrieger blieb vollkommen ruhig. »Benutzt ihr im Süden etwa auch Feuer, um Wasser zu Eis erstarren zu lassen? Denn genau dazu müsstest du im Stande sein, wenn du behauptest, die Herrin hat dich und deine Freunde in Shar Haluth gerettet.«

Berenghor verzog anerkennend den Mund. »Ich muss schon sagen, da ist was dran.«

Tristan lächelte kalt. »Du kannst mich mit deinen lästerli-chen Reden nicht beeinflussen. Die Herrin unterscheidet nicht zwischen Nord und Süd, Ost und West.«

»Vielleicht nicht die Herrin, die alten Götter aber sehr wohl. Du bist in ihrem Land, in ihrem Territorium. Deine Herrin ist weit weg.«

»Die Herrin ist hier drin.« Tristan tippte sich mit der ge-sunden Hand auf die Brust. »Sie wird mich beschützen und vor deinen falschen Göttern bewahren.« Er zitterte und kleine Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Berenghor wusste nicht, ob er sich über die Äußerungen dieses Waldmenschen so aufregte, oder ob es an der Verlet-zung lag. Tristan schien es jedenfalls nicht gut zu gehen.

»Wenn du und deine Freunde unbedingt sterben wollen, dann werde ich deine Worte gerne an die Ältesten weitertra-gen. Ich rate dir aber davon ab. Außerdem solltest du etwas dankbarer sein. Immerhin haben dich die Götter vor dem

53

Schlimmsten bewahrt. Hättest du Shar Haluth nicht entfesselt, wäret ihr bereits tot oder Schlimmeres. Entweder hätten euch die Seelenlosen geholt, oder aber meine Schwester. Sie ist nicht wie ich, müsst ihr wissen. Ihre Welt ist wesentlich«, er überlegte kurz und suchte nach dem richtigen Wort, »einfa-cher.«

»Ich bin dir für deine Hilfe im Wald dankbar. Ohne dich hätten wir diesen Turm niemals gefunden und wären vermut-lich schon alle tot. Das ändert aber nichts an meiner Sicht der Dinge.«

»Dein Glaube ist deine Sache, da gebe ich dir Recht. Möge er dir hilfreich sein. Dein Dank mir gegenüber hinge-gen wird dir nichts nützen. Meine Stimme hat im Rat kein Gewicht.« Er machte eine kurze Pause und sah zu Boden. »Wenn sie überhaupt gehört wird.«

Berenghor runzelte sachte die Stirn. Hörte er da etwa Un-zufriedenheit heraus? Irgendwas schien den Waldmensch zu bedrücken, und er wüsste nur zu gerne, was es war.

Kurz darauf hob Felian den Kopf und starrte auf Tristans Hand. Er beäugte die Verletzung kritisch.

»Wenn die Wunde nicht bald gereinigt wird, ist es egal, wie sich die Ältesten entscheiden. Ich werde dir jemanden schicken, der sich darum kümmert.« Damit machte er kehrt und verschwand genauso lautlos wie er gekommen war.

»Götter hin, Götter her, wir haben überhaupt nichts getan. Das ist ausgemachter Blödsinn! Außerdem hat der Baum-mensch Recht, Tristan. Die Wunde sieht nicht gut aus. Je-mand muss sich darum kümmern.«

Tristan machte einen Schritt zurück und setzte sich mit ei-nem Stöhnen auf den Boden. »Nach unseren Maßstäben ha-

54

ben wir tatsächlich nichts getan.« Er hob die verwundete Hand und fing an das Tuch zu lösen. »Mach du das hier, Be-renghor. Es ist nur eine Fleischwunde, und du hast bei deinen alten Söldnerkameraden sicher schon ganz anderes versorgt und verbunden.«

»Ich? Nein!« Berenghor schüttelte vehement den Kopf. »Ich fass das nicht an. Selbst wenn’s gut gehen sollte, ver-lierst du am Ende vielleicht noch deine Hand und ich bin dann dran schuld. Ne, ne, mein Junge. Da muss Linwen ran. Dumm nur, dass sie ihr ganzes Zeug im Wagen gelassen hat.«

»Weder Linwen noch diese Götzenanbeter werden mich mit ihrer Blutmagie anfassen, Berenghor. Die würden alles nur noch schlimmer machen.«

Berenghor sah im Augenwinkel, wie sich Felian und eine zweite Person dem Käfig näherten. Es war eine über und über mit seltsamen Symbolen bemalte Frau. Das musste die Heile-rin oder Schamanin sein, oder wie auch immer diese Wald-menschen dazu sagten.

»Geht klar, Tristan. Ich werde mich darum kümmern. Beug’ dich mal ein bisschen nach vorne, damit ich besser se-hen kann.«

Tristan tat wie ihm geheißen. Berenghor hatte natürlich nicht vor, selbst Hand an ihn zulegen. Vielmehr nahm er für das, was er jetzt vorhatte, genauestens Maß. Einen gezielten Faustschlag in den Nacken später fiel Tristan ohnmächtig auf den Waldboden und rührte sich nicht mehr.

Berenghor nickte in Felians Richtung und wartete ab, bis zwei weitere der Waldmenschen ankamen und den Leutnant an die Seite legten. Dann stellte er sich wieder an den Rand des Käfigs und stierte nach draußen.

55

»Was hast du getan?«, wollte Linwen plötzlich von ihm wissen. Die Wanderpredigerin stand neben ihm und sah zu Tristan. Das Geflüster und Getuschel der anderen war ver-stummt. Sie alle wollten wissen, was gerade geschehen war und lauschten gespannt.

Nachdenklich runzelte Berenghor die Stirn. »Ich habe ihm das Leben gerettet. Hoffe ich zumindest.«

56

Das ganze E-Book erhalten Sie unter:

null-papier.de/273

57