Die unblutige Eroberung von Weimar am 12.April1945

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DOI10.2371/DgS8/2/2015/185 Weimar Jena : Die große Stadt 8/2 (2015) S. 192–216 © Verlag Vopelius http://www.verlagvopelius.eu D as Kriegsende 1945 in Weimar ist in den 45 Jahren danach vereinzelt, im zurückliegenden Vierteljahrhundert seit der friedlichen Revolution und der deutschen Wiedervereinigung wiederholt Gegenstand historischer Betrachtung und Dokumentation gewesen. Als „Tag der Befreiung“ wurde in der DDR nur der 8. Mai 1945 begangen, weil an diesem Tag im Hauptquartier der Roten Armee in Berlin-Karlshorst die Kapitulationserklärung der deutschen Wehrmacht unter- zeichnet worden war. Die bereits einen Monat vor dem offiziellen Kriegsende begonnene amerikanische Besetzung Thüringens seit dem 1. April, dem Ostersonn- tag des Jahres 1945, durfte allerdings nicht als Befreiungserlebnis verstanden wer- den. Akzeptiert wurde lediglich das Erlebnis der „Selbstbefreiung“ des Konzentra- tionslagers Buchenwald vor den Toren Weimars auf dem Ettersberg am 11. April 1945. Den Tag der amerikanischen Besetzung Weimars, den 12. April 1945, nahm man bis zum Ende der DDR indessen nur marginal zur Kenntnis. Die Dramatik dieser „Befreiung“ – die „unblutige Eroberung“ der thüringischen Landeshaupt- stadt durch die US-Army 1 – blieb weitgehend unbeachtet, nur das historische Fak- tum ihrer Besetzung durch westalliierte Streitkräfte wurde seinerzeit registriert und dürftig kommentiert. 2 Eine noch im April 1945 entstandene Betrachtung von Leonhard Moog und Alphons Gaertner, den Gründervätern einer neuen demokratischen Partei in Thü- ringen, beleuchtet unter dem Titel „Ostern in Weimar 1945“ die damalige histori- sche Situation: „In Goethes Wohn- und Sterbehaus haben Bomben große Verwüs- tungen angerichtet. Schillers Wohnhaus ist schwer beschädigt. Der intime Reiz des Wittumspalais‘ und des Kirmß-Krackowhauses ist dahin. Die Herderkirche und das Nationaltheater sind zerstört. Die edle Patina einer klassischen Zeit ist vernich- tet. […] Die Front rückt näher, man hört aus der Ferne Geschützdonner. Die Auf- regung in der Bevölkerung nimmt zu. Tiefflieger vermehren die Unruhe. Alle bewegt die Frage: Wird Weimar verteidigt, wird ganz Weimar, die Stadt hoher deut- scher Kultur, in Schutt und Asche sinken? […] Das Ende. Einsichtige Bürger und Vertreter der Weimarer Kultur nehmen Einfluß auf den Oberbürgermeister. Sie stellen ihm vor, daß die Verteidigung Weimars verbrecherischer Wahnsinn sei. Er ist diesen Vorstellungen zugänglich, er sieht, daß seine ‚Führer‘ zur Flucht bereit oder schon geflohen sind. Er fährt den amerikanischen Truppen entgegen und bie- tet die Kapitulation an.“ 3 Zu diesen „Rettern“ von Weimar gehört der Leiter der klassischen Stätten, Prof. Dr. Hans Wahl, der „in der Woche vor dem Einmarsch der Amerikaner es auf sich nahm, im Namen der Bürgerschaft, vor allem der Müt- Die unblutige Eroberungvon Weimar am 12. April 1945 Eine Dokumentation Volker Wahl

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Weimar–Jena : Die große Stadt8/2 (2015) S. 192–216© Verlag Vopeliushttp://www.verlagvopelius.eu

Das Kriegsende 1945 in Weimar ist in den 45 Jahren danach vereinzelt, imzurückliegenden Vierteljahrhundert seit der friedlichen Revolution und der

deutschen Wiedervereinigung wiederholt Gegenstand historischer Betrachtungund Dokumentation gewesen. Als „Tag der Befreiung“ wurde in der DDR nur der8. Mai 1945 begangen, weil an diesem Tag im Hauptquartier der Roten Armee inBerlin-Karlshorst die Kapitulationserklärung der deutschen Wehrmacht unter-zeichnet worden war. Die bereits einen Monat vor dem offiziellen Kriegsendebegonnene amerikanische Besetzung Thüringens seit dem 1. April, dem Ostersonn-tag des Jahres 1945, durfte allerdings nicht als Befreiungserlebnis verstanden wer-den. Akzeptiert wurde lediglich das Erlebnis der „Selbstbefreiung“ des Konzentra-tionslagers Buchenwald vor den Toren Weimars auf dem Ettersberg am 11. April1945. Den Tag der amerikanischen Besetzung Weimars, den 12. April 1945, nahmman bis zum Ende der DDR indessen nur marginal zur Kenntnis. Die Dramatikdieser „Befreiung“ – die „unblutige Eroberung“ der thüringischen Landeshaupt-stadt durch die US-Army1 – blieb weitgehend unbeachtet, nur das historische Fak-tum ihrer Besetzung durch westalliierte Streitkräfte wurde seinerzeit registriert unddürftig kommentiert.2

Eine noch im April 1945 entstandene Betrachtung von Leonhard Moog undAlphons Gaertner, den Gründervätern einer neuen demokratischen Partei in Thü-ringen, beleuchtet unter dem Titel „Ostern in Weimar 1945“ die damalige histori-sche Situation: „In Goethes Wohn- und Sterbehaus haben Bomben große Verwüs-tungen angerichtet. Schillers Wohnhaus ist schwer beschädigt. Der intime Reiz desWittumspalais‘ und des Kirmß-Krackowhauses ist dahin. Die Herderkirche unddas Nationaltheater sind zerstört. Die edle Patina einer klassischen Zeit ist vernich-tet. […] Die Front rückt näher, man hört aus der Ferne Geschützdonner. Die Auf-regung in der Bevölkerung nimmt zu. Tiefflieger vermehren die Unruhe. Allebewegt die Frage: Wird Weimar verteidigt, wird ganz Weimar, die Stadt hoher deut-scher Kultur, in Schutt und Asche sinken? […] Das Ende. Einsichtige Bürger undVertreter der Weimarer Kultur nehmen Einfluß auf den Oberbürgermeister. Siestellen ihm vor, daß die Verteidigung Weimars verbrecherischer Wahnsinn sei. Erist diesen Vorstellungen zugänglich, er sieht, daß seine ‚Führer‘ zur Flucht bereitoder schon geflohen sind. Er fährt den amerikanischen Truppen entgegen und bie-tet die Kapitulation an.“3 Zu diesen „Rettern“ von Weimar gehört der Leiter derklassischen Stätten, Prof. Dr. Hans Wahl, der „in der Woche vor dem Einmarschder Amerikaner es auf sich nahm, im Namen der Bürgerschaft, vor allem der Müt-

Die „unblutige Eroberung“ von Weimaram 12. April 1945Eine Dokumentation

Volker Wahl

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ter mit Kindern, den damaligen Oberbürgermeister aufzufordern, alles daran zusetzen, daß die Stadt außerhalb der Kampfzone bleibe […].“4

Diese kritische Situation war am 11./12. April 1945 gegeben, als der Vormarschder Alliierten das Weichbild von Weimar erreichte. Aus dem Stab des zur 80. US-Infanteriedivision gehörenden 319. Infanterieregiments, der sich seit dem 11. Aprilin dem nahe der Autobahn gelegenen Dorf Troistedt befand, war in den Morgen-stunden des 12. April der dortige Bürgermeister Richard Weyde (1887–1961) alsFahrradkurier mit der amerikanischen Kapitulationsforderung nach Weimarsgeschickt worden.5 Die amerikanische Tageszeitung „The New York Sun“ titeltezu diesem historischen Ereignis „Bicyclist Arranges Surrender of Weimar“.6

Bemerkenswert ist für uns der in dem Kapitulationsdokument und auch in diesemKorrespondentenbericht zum Ausdruck kommende Respekt des amerikanischenMilitärs vor der Geschichte und Kultur Weimars. Kampflos übergeben hat die Stadtder damalige Oberbürgermeister Otto Koch (1902–1948), der nach der Flucht derbisherigen politischen und militärischen Repräsentanten des NS-Regimes die ein-zige autoritäre Stelle in der Gau- und Landeshauptstadt Thüringens war.7 Er wardem an den militärischen Befehlshaber von Weimar gerichteten Ultimatum gefolgtund zusammen mit dem als Dolmetscher dienenden Ehepaar Fischer – Dr. PaulThomas Fischer und Dr. Erica Fischer, letztere eine Deutschamerikanerin – imAuto nach Troistedt gefahren und übergab um 9.30 Uhr in der dortigen Poststelle

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Abb. 1. Der Text des Ultimatums des Kommandeurs des 319. US-Infanterie-Regiments, Colonel Nor-mando A. Costello, an die Stadt Weimar vom 11. April 1945. Ausschnitt aus dem „After Action Report“der 80. US-Infanterie-Division. Im Original ist am unteren Rand der dort zuvor befindliche Stempel-aufdruck SECRET flächig getilgt. [Sammlung Bernd Schmidt (Weimar)]

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die Stadt Weimar kampflos an Oberst Normando Antonio Costello (1905-1985).Das Oberkommando der Wehrmacht meldete hingegen am folgenden Tag: „Wei-mar fiel nach hartem Kampf in Feindeshand.“8

Die „unblutige Eroberung“ Weimars durch das 319. US-Infanterieregiment am12. April 1945 markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte unserer Stadt. Eswar ihr „Tag der Befreiung“, der den am 1. Mai 1945 neu ernannten Oberbürger-meister Dr. Fritz Behr sogar dazu veranlasste, den amerikanischen Stadtkomman-danten die Umbenennung der bisherigen „Straße der SA“ (seit 1936, zuvor Kaise-rin-Augusta-Straße) in „Straße des 12. April“ vorzuschlagen.9 Da die Militärregie-rung aber bezweifelte, ob man eine Straße nach einem Datum benennen könne undden Vorschlag deshalb zurückwies, wurde daraus die Steubenstraße, benannt nachdem amerikanischen General mit deutschen Wurzeln, Freiherr Friedrich Wilhelmvon Steuben, aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Es hätte auch heutenoch etwas Faszinierendes an sich, wenn der spontane Entschluss des damaligenOberbürgermeisters für eine „Straße des 12. April“ in Weimar hätte durchgesetztwerden können, ob er aber dann nach dem Besatzungswechsel ab Juli 1945 nochBestand gehabt hätte, ist indessen mehr als fraglich.

Der 12. April 1945 ist das historische Datum der „unblutigen Eroberung“ Wei-mars durch die amerikanische Armee – ein „Tag der Befreiung“ für die KulturstadtWeimar – 26 Tage vor dem offiziellen Kriegsende infolge der bedingungslosendeutschen Kapitulation in Reims und in Berlin. Der 12. April 1945 ist das wich-tigste historische Datum der Stadt Weimar im 20. Jahrhundert. An diesem Tag warWeimars Schicksal herausgefordert, stand in gewisser Weise in den Sternen – nichtnur in denen des amerikanischen Militärs, das unter dem Sternenbanner fern derHeimat mit den Alliierten gegen Hitlerdeutschland kämpfte. Es forderte auchBekenntnis und Mut bei deutschen Verantwortungsträgern, die in dem historischenGeschehen vor nunmehr 70 Jahren dazu bestimmt wurden, über Weimars Rettungoder Untergang zu entscheiden. Am 12. April 1945 wurde Weimar – der amerika-nische Korrespondentenbericht von Edward Donald Ball (1904-1992) für diegroße Nachrichten- und Presseagentur Associated Press (gegründet 1848) in NewYork City spricht vom „birthplace oft the German republic in 1919“ – nach einemamerikanischen Ultimatum in dem Dorf Troistedt hinter der Autobahn kampf- undbedingungslos an die US-Armee übergeben.

Erst 55 Jahre nach Kriegsende wurde im Jahr 2000 in Weimar und im benach-barten Troistedt in besonderer Weise dieses historischen Ereignisses gedacht, wel-ches das Schicksal beider Orte an einem Punkt zusammenführte, der in der End-phase des Zweiten Weltkrieges Rettung oder Untergang hieß. An das „unblutige“Geschehen bei der Kapitulation der Stadt Weimar am 12. April 1945 erinnern seitden Oktobertagen 2000 zwei steinerne Gedenktafeln an der ehemaligen Poststellein dem Dorf Troistedt und im Rathaus zu Weimar. Die am 7. Oktober 2000 in Wei-mar angebrachte Gedenktafel stifteten Veteranen der 80. US-Infanteriedivision,unter deren Oberkommando 1945 die Stadt erobert worden war. Sie lautet: ImGedenken an die ehrenhafte und unblutige Übergabe von Weimar an die 80. Ame-rikanische Infanteriedivision am 12. April 1945. Die Troistedter Erinnerungstafelwurde von der Stadt Weimar gestiftet und einen Tag später enthüllt. Ihre Inschrift

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lautet: In diesem Haus erfolgte am 12. April 19457 die kampflose Übergabe derStadt Weimar an die 80. US-Infanteriedivision – Zur Erinnerung an den deutschenKurier für die Übergabeverhandlungen Bürgermeister Richard Weyde (1887–1961).

Das historische Geschehen um dieses schicksalsträchtige Datum im Jahr desKriegsendes 1945 ist weitgehend bekannt.10 Es waren im Wesentlichen drei Quel-len, die uns bisher für den Ablauf zur Verfügung standen, darunter der Bericht desamerikanischen Kriegskorrespondenten Edward D. Ball vom 12. April 1945 ineiner amerikanischen Zeitung.11 Heute wissen wir, dass es nicht der einzige Kor-respondentenbericht für die Presseagenturen in den USA gewesen ist.12 Als deut-sche Quellen liegen zwei Erinnerungsberichte vor, zunächst der Erinnerungsbe-richt des damaligen Oberbürgermeisters Otto Koch, der Weimar am 12. April 1945in Troistedt an die US-Armee übergab. Er wurde allerdings erst am 19. Oktober1945 verfasst. Hinzu kommt der Erinnerungsbericht des seinerzeitigen Bürger-meisters von Troistedt, Richard Weyde, über seine Kurierfahrt im Auftrag des ame-rikanischen Truppenkommandos, der noch später, am 5. Juni 1946, niedergeschrie-ben wurde. Nicht berücksichtigt wurden bisher die originären amerikanischenMilitäraufzeichnungen zu diesem Geschehen, die weitere Präzisierungen zulassen,

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Abb. 2. Das einzige Fotodokument von der Übergabe der Stadt Weimar am 12. April 1945 in Troistedtaus dem Nachlass von Colonel Normando A. Costello. Von links: Regimentskommandeur Colonel Nor-mando A. Costello, Oberbürgermeister Otto Koch, das Ehepaar Dr. Erica Fischer und Dr. Paul ThomasFischer (halb verdeckt); ganz rechts Bürgermeister Richard Weyde. [Sammlung Bernd Schmidt (Weimar)]

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da bis jetzt in historischen Veröffentlichungen immer nur allgemein von Einheitender 80. US-Infanteriedivision die Rede war. Und nicht zuletzt wird dadurch einweiteres wichtiges historisches Dokument im Wortlaut zugänglich. Nachdem bis-her von dem amerikanischen Übergabeultimatum nur ein fragmentarischer Textaus dem Kriegskorrespondentenbericht von Edward D. Ball bekannt war und derehemalige Oberbürgermeister Koch den Inhalt lediglich nach seiner Erinnerungwiedergegeben hat, weil ihm das Originaldokument nach seiner Internierung am14. April 1945 abgenommen wurde, so ist die Ermittlung des tatsächlichen Wort-lautes dieser Kapitulationsaufforderung für Weimars Stadtgeschichte mehr als nurvon marginaler Bedeutung.13

Bevor im Folgenden diewichtigsten Quellen ediertwerden, muss zum besserenVerständnis zunächst einBlick auf die historischeSituation, insbesondere dieKriegslage in Thüringenim Frühjahr 1945 gewor-fen werden, nachdem am1. April amerikanische Mili-täreinheiten die hessisch-thüringische Landesgrenzeüberschritten hatten. Thü-ringen wurde innerhalb von16 Tagen von ihnen über-rannt, da sie wegen desschwachen deutschen Wi-derstandes gegen die Opera-tionen der westalliiertenStreitkräfte in Mitteldeutsch-land unerwartet große Ge-ländegewinne verbuchenkonnten.14 Die Eroberung

Thüringens erfolgte seit dem 1. April 1945, als der mitteldeutsche Raum in derAngriffsrichtung der 12. US-Armeegruppe und ihrer Armeen lag. An der Beset-zung des Landes Thüringen und des preußischen Regierungsbezirks Erfurt, die inder staatlichen Verwaltung sowie politisch und militärisch dem Gauleiter, Reichs-statthalter und Reichsverteidigungskommissar in Thüringen, Fritz Sauckel, unter-standen, waren die Corps der Dritten US-Armee unter General George S. Pattonbeteiligt. Drei US-Corps – das VIII., das XII. und das XX. Corps – sollten etwa aufgleicher Höhe in den thüringischen Raum von Westen her einmarschieren. DieOperationsdirektiven für Pattons Dritte Armee zielten auf die Eroberung des vonden amerikanischen Militärs im Herzen Thüringens vermuteten geheimen deut-schen Nachrichtenzentrums im Raum Ohrdruf – Gotha – Erfurt – Weimar ab;gemeint war das keineswegs funktionsfähige, sondern im Bau steckengebliebene

Abb. 3. Der Kommandeur der Dritten US-Armee, General GeorgeS. Patton (1885–1945), und Colonel Normando A. Costello.Fotografie aus dem Nachlass von Colonel Normando A. Costello.[Sammlung Bernd Schmidt (Weimar)]

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angebliche Führerhauptquartier im Jonastal bei Arnstadt. Sie sahen außerdemeinen raschen Vormarsch auf die thüringische Gau- und Landeshauptstadt Weimarvor, die Sitz der obersten Behörden des Landes wie auch der entscheidenden mi-litärischen Kommandostellen des Reichsverteidigungskommissars für Thüringenwar.

Die amerikanische Besetzung Thüringens begann am 1. April 1945, als dieersten Einheiten der 4. Panzerdivision des XII. Corps bei Creuzburg westlich vonEisenach über die Werra gingen. Panzerdivisionen des VIII. Corps operierten am3. April und in den folgenden Tagen im Raum Gotha – Ohrdruf, die des XII. Corpsbereits südlich des Thüringer Waldes im Gebiet von Meiningen – Schmalkalden –Suhl. Diese Einheiten der 11. Panzerdivision verließen danach Thüringen undbewegten sich weiter nach Süden in Richtung Coburg und Bayreuth. Zur gleichenZeit drängten Panzerdivisionen des XX. Corps in Richtung Mühlhausen nachNordthüringen vor. Zu dieser Zeit, am Ende der ersten Aprilwoche, hatte sich dieDritte Armee einem Keil gleich am weitesten nach Osten vorgeschoben. Daraufhinerhielt General Patton den Befehl, nach Erreichen der Linie Meiningen – Ohrdruf– Gotha – Mühlhausen stehenzubleiben und das Aufschließen der außerhalb Thü-ringens im übrigen Mitteldeutschland von Westen her vorrückenden Ersten undNeunten US-Armee abzuwarten. Dadurch verzögerte sich der Vormarsch der Pat-ton-Armee um mehrere Tage.

Am 8. April standen die Spitzen der drei Corps an der befohlenen Haltelinie inThüringen. Für die Besetzung Mittelthüringens war zu diesem Zeitpunkt einewichtige Entscheidung durch die Umgliederung der 80. Infanteriedivision in dasXX. Corps und die am 6. April vollzogene Verlegung von Kassel in den RaumGotha gefallen, um entlang der „Reichsautobahn“ den Angriff auf Erfurt, Weimar,Jena, Gera und Chemnitz voranzutreiben. Die Besetzung der nordthüringischenStadt- und Landkreise erfolgte nach dem 9. April. Seit dem 12. April konzentrier-te sich der Vormarsch der amerikanischen Truppen auf den Raum von Erfurt –Weimar – Jena. Erfurt als Verwaltungssitz eines preußischen Regierungsbezirkes(seit August 1944 dem Reichsstatthalter in Thüringen unterstellt) und Weimar, diethüringische Landeshauptstadt seit 1920, wurden am 12. April besetzt, die Univer-sitätsstadt Jena am 13. April eingenommen. Das im Mittelabschnitt der Front ein-gesetzte VIII. US-Corps stieß weiter in die ostthüringischen Stadt- und Landkrei-se vor und besetzte sie bis zum 16. April, als der am weitesten im Osten gelegeneLandkreis Greiz erreicht wurde. Die amerikanische Eroberung Thüringens warnach etwas mehr als zwei Wochen vollzogen. Danach erhielt das Hauptquartierder Dritten Armee neue Operationsdirektiven, die eine Schwenkung nach Süden –in Richtung Franken und Bayern und in die Tschechoslowakei – vorsahen. In Thü-ringen verblieben das VIII. Corps der Dritten Armee und von der Siebenten Armeedas XXI. Corps, das in Mittel- und Nordthüringen den preußischen Regie-rungsbezirk Erfurt besetzte. Das VIII. Corps kontrollierte den größten Teildes heutigen Freistaates und verlegte Ende April sein Hauptquartier nach Wei-mar, wo es bis zum 2. Juli 1945 stationiert blieb. Hier wurde Anfang Juni die fürdas gesamtthüringische Gebiet zuständige amerikanische Militärregierung in-stalliert.

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Die nachfolgenden Dokumente werden bei den deutschen Quellen nach der Ori-ginalüberlieferung im Stadtarchiv Weimar [2] und im Thüringischen Hauptstaats-archiv Weimar [3] ediert. Die in Auszügen edierten amerikanischen Militärberich-te [1] sind durch Veröffentlichung im Internet nach den Originalen in den NationalArchives in Washington zugänglich. Die Übersetzungen wurden vom Verfasser desBeitrages angefertigt.

Dokumente

[1] Auszüge aus den Militärberichten („After Action Report“)der an der Eroberung Weimars beteiligten Einheiten der US-Armeevom April 1945

[1.1] 80th Infantry DivisionHeadquarters 80th Infantry Division, G-2 [Intelligence Section]After Action Report 1 – 30 April 1945[by Richard R. Fleisher, Lt. Colonel, GSC, AC of S, G-2]

I General Summary

April 1945 proved to be one of the most active, productive und colorful months ofthe 80th Infantry Division’s history. The course of combat carried the DivisionNorth from WIESBADEN to KASSEL, with its great arsenal; thense South andEast to GOTHA and along the Reichsautobahn at breakneck speed through the railcenter of ERFURT; WEIMAR (birthplace of the German Republic) with itsBUCHENWALD concentration camp; JENA with its ZEISS works; Gera, key traf-fic Center of GERMANY, and to the outskirts of CHEMNITZ, Germany’s textilecapital. Then a switch to the south brought us to rest in the Nazi shrine of NÜRN-BERG. From here we attached South to REGENSBURG; crossed the „Blue“DANUBE and continued pursuit South across the ISAR River vicinity LANDS-HUT. […]III Attack of Erfurt, Weimar, Jena, Gera and Chemnitz (6–17 April 1945)6–7 April no contact with enemy was made during the 80th Division’s move to anew sector East of GOTHA, preparatory to one of the most important and effectivedriven through Germany in the Division’s colorful history.On 8 April the 80th continued the attack to the East. Small groups of enemyinfantry were observed along the Division front. Small arms and bazooka fire werereceived from South of GIERSTADT (J1675). Enemy tanks were observed on theDivision front and enemy air was active troughout the day.April 9–12, small arms, automatic weapons, anti-aircraft and mortar fire met ourforces attacking the North, West and South approaches of ERFURT. The ERFURTgarrison consisted of a divisional size combat team under the name of FELLER.

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C[ombat]T[eam] FELLER consisted of C[ombat]T[eam] OPITZ, C[ombat]T[eam]GRAU, 71st P[an]z[er] Grenadier Replacement Battalion, 105th March Battalion,Z.b.v. [Zur besonderen Verwendung] 124 Airport Op[eratio]ns Co[mpany], AlarmCo[mpany] HINDERSLEBEN and other miscellaneous units.Stiff and determined resistance was encountered; two enemy counter-attacks ofinfantry and armor were launched from the South against KILIANI and a third wasreceived at the Southern outskirts of ERFURT at 11[April]1745B. All counter-attacks were repulsed and by nightfall of April 11th, our forward elements werefighting their way into the Southern outskirts of the town, clearing the town ofenemy the following evening after fierce fighting during the day.On 12 April at 1300B, WEIMAR, seat of the defunct WEIMAR REPUBLIC, prod-uct of World War I, surrendered without a fight to the 319th Infantry after the fol-lowing ultimatum had been given the commander of the garrison defending thetown:

HEADQUARTERS AMERICAN TROOPSbeforeWEIMAR11 April 1945

To Commander of Troops, District of Weimar, German Army.The Third Army advances once more triumphantly. We propose to passthrough this district and through the historic city of Weimar.Inasmuch [In as much] as our superiority is now overwhelming, as your highleaders are requiring you to fight needlessly, the honorable but uncondition-al surrender of Weimar and of the troops in its vicinity is demanded forth-with.Therefore, in order to save the city of Weimar unnecessary destruction andto prevent the further shedding of blood, you will accept this offer at once.Send an emissary at once to the place directed by the bearer.The rules of the Geneva Convention will be strictly adhered to in all matters.An affirmative answer must be received at the place directed by the bearerat 0830, 12 April 1945 or Weimar will be destroyed.

The American Commander of Troops

13 April our forward elements approached the outskirts of JENA, a key industrialcity of central Germany. Local strong points and defended roadblocks harassed ouradvance with small arms, automatic weapons and bazooka fire. By evening JENAhad fallen to friendly forces.14 April our forces approached the perimeter of GERA where stubborn oppositionwas encountered until the town was cleared in the early afternoon. Considerablesniper fire was met from isolated bands of enemy in woods and key points alongour axis of advance and in scattered localities. Direct fire weapons harassed ourforces in the Northern portion of the Division’s zone. A large enemy ammunitionsupply point estimated ten kilometers square, was captured in the vicinity ofTAUTENHAIN.

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15–17 April, the 80th Division continued its attack to the outskirts of CHEMNITZ.[…]

Quelle: Internetveröffentlichung unterhttp://www.80thdivision.com/AfterActionReports/AAR_G-2_APR45.pdf

Übersetzung

I Allgemeine Zusammenfassung

Der April 1945 erwies sich als einer der aktivsten, produktivsten und bewegtestenMonate in der Geschichte der 80. Infanteriedivision. Der Kampfverlauf führte dieDivision aus dem Norden von Wiesbaden nach Kassel, mit seiner großen Waffen-fabrik, dann nach Süden und Osten nach Gotha und entlang der Reichsautobahnmit hoher Geschwindigkeit durch den Eisenbahnknotenpunkt von Erfurt; durchWeimar (Geburtsstätte der deutschen Republik) mit seinem KonzentrationslagerBuchenwald; durch Jena mit seinen Zeiss-Werken; durch Gera, ein Hauptverkehrs-zentrum von Deutschland, und an die Peripherie von Chemnitz, DeutschlandsTextilmetropole. Dann brachte uns ein Wechsel nach dem Süden eine Pause in derNazi-Kultstätte Nürnberg. Von hier gelangten wir im Süden nach Regensburg,überquerten die „blaue“ Donau und setzten unsere Verfolgung im Süden über dieIsar bis in die Umgebung von Landshut fort. […]III Angriff auf Erfurt, Weimar, Jena, Gera und Chemnitz (6.–17. April 1945)6.–7. April ohne Kontakt mit dem Feind wurde die 80. Division in einen neuen Sek-tor im Osten von Gotha verlegt, um sich auf einen der wichtigsten und erfolgreichs-ten Vorstöße durch Deutschland in der abwechslungsreichen Geschichte der Divi-sion vorzubereiten.Am 8. April wurde der Angriff der 80. Division nach Osten fortgesetzt. KleineGruppen feindlicher Infanterie wurden entlang der Divisionsfront wahrgenommen.Kleinkalibriges Feuer und von Panzerabwehrbüchsen erhielten wir im Süden vonGierstädt. Feindliche Panzer wurden an der Divisionsfront beobachtet, und derFeind in der Luft war den ganzen Tag über aktiv.9.–12. April, Kleinwaffen-, Automatikwaffen-, Fliegerabwehr- und Granatwerfer-feuer begegnete unseren Kräften im Norden, Westen und Süden bei der Annäherungauf Erfurt. Die Erfurter Garnison bestand aus dem Divisionssitz eines Kampfver-bandes unter dem Namen Feller. […]Heftiger und entschlossener Widerstand wurde vorgefunden; zwei feindlicheGegenangriffe der Infanterie und Panzer wurden abgewehrt vom Süden gegen Kili-ani [Ortsteil von Gispersleben], und ein dritter wurde am südlichen Stadtrand vonErfurt am 11. [April] um 17.45 Uhr empfangen. Alle Gegenangriffe wurden abge-wehrt und bei Einbruch der Nacht am 11. April erkämpften sich unsere Voraustrup-pen ihren Weg in die südlichen Außenbezirke der Stadt, säuberten nach heftigenKämpfen während des Tages die Stadt vom Feind am folgenden Abend.Am 12. April um 13.00 Uhr kapitulierte Weimar15, Sitz der nicht mehr existieren-den Weimarer Republik, Ergebnis des 1. Weltkrieges, ohne Kampf vor dem 319. In-

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fanterieregiment, nachdem das folgende Ultimatum an den Kommandeur der Gar-nison zur Verteidigung der Stadt übergeben worden war:

Hauptquartier der amerikanischen Truppen vor Weimar11. April 1945

An den Kommandeur der Truppen im Gebiet von Weimar, Deutsche ArmeeDie Dritte Armee rückt weiter siegreich vor. Wir beabsichtigen, diesesGebiet und die historische Stadt Weimar zu passieren.Weil unsere Überlegenheit nunmehr überwältigend ist und Ihre hohen Füh-rer Sie unnötig aufgefordert haben zu kämpfen, wird die ehrenvolle aberbedingungslose Kapitulation von Weimar und von den Truppen in seinerUmgebung unverzüglich gefordert.Deshalb, um die Stadt Weimar vor nicht notwendiger Zerstörung zu schüt-zen und weiteres Blutvergießen zu verhindern, werden Sie dieses Angebotsofort annehmen. Senden Sie auf der Stelle einen Emissär an den Ort, denIhnen der Überbringer nennt.Die Bestimmungen der Genfer Konvention werden in allen Belangen strikteingehalten. Eine bestätigende Antwort muss an diesem Ort am 12. April1945 bis 8.30 Uhr eingegangen sein oder Weimar wird zerstört werden.

Der amerikanische Truppenkommandeur

13. April, unsere Voraustruppen näherten sich den Außenbezirken von Jena, eineSchlüsselindustriestadt in der Mitte Deutschlands. Lokale Verteidigungspunkte undStraßensperren bedrängten mit Handfeuerwaffen, automatischen Waffen und Pan-zerabwehrfeuer unseren Vorstoß. Bis zum Abend war Jena glücklich besiegt.14. April, unsere Kräfte erreichten die Grenze von Gera, wo uns hartnäckigerWiderstand entgegentrat, bis die Stadt am frühen Nachmittag davon frei gemachtwurde. Erhebliches Scharfschützenfeuer von vereinzelten feindlichen Truppen inden Wäldern und in Schlüsselstellungen entlang unserer Vormarschlinie und aneinzelnen Orten wurde angetroffen. Direktes Abwehrfeuer bedrängte unsere Kräf-te im Nordteil der Divisionskampfzone. Ein großes Munitionsversorgungslager vongeschätzten zehn Quadratkilometern wurde in der Nähe von Tautenhain erbeutet.15.–17. April, die 80. Division setzte ihren Angriff auf die Außenbezirke von Chem-nitz fort. […]

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[1.2] 80th Infantry Division

Headquarters 80th Infantry Division, G-3 [Operations Section] AfterAction ReportApril 1945[by A. G. Elegar, Lt. Col., GSC, AC of S, G-3]

ERFURT – WEIMAR – JENA– GERA – CHEMNITZ8 April thru 17 April

On April 8 the 80th Inf[antry]Div[ision] began the attack to the East which was toresult in the capture of the cities of ERFURT, WEIMAR; JENA and GERA, and tocarry the Division as far East as CHEMNITZ before a change in mission was recei-ved and the Division moved to the South. [...]12 April 317th Inf[antry Regiment]: [...] The 2d B[attalio]n moved forward during the dayand late in the afternoon relieved El[e]m[ent]s of the 319th Inf[antry Regiment] inWEIMAR. The 2d B[attalio]n was charged with the maintenance of law and orderin WEIMAR. […]319th Inf[antry Regiment]: An ultimatum was delivered to the city of WEIMAR bythe 319th Inf[antry Regiment] calling for the immediate and unconditional surren-der of the city. The Burgemeister of WEIMAR surrendered the city late in the mor-ning and the 2d B[attalio]n of the 319th Inf[antry Regiment] immediately movedforward and occupied the city until relieved of this mission by 2d B[attalio]n of the317th Inf[antry Regiment] during the late afternoon. With the fall of WEIMAR, thenotorious concentration camp of BUCHENWALD was taken over by the 80th

Inf[antry]Div[ision] and all possible steps were immediately taken for the relief ofthe inmates.The 1st and 3d B[attalio]ns by-passed WEIMAR and advanced rapidly to theE[nemy] to take up positions to assault the city of JENA. The 1st Bn reachedGROTTERN [Göttern] and the 3d B[attalio]n reached NYDERSYNDERSTEDT[Niedersynderstedt].13 April [...] 317th Inf[antry Regiment]: [...] The 2d B[attalio]n continued to occupy WEI-MAR. [...]14 April […] 317th Inf[antry Regiment]: […] The 2d B[attalio]n continued to occupy WEI-MAR until relieved by the 5th Ranger B[attalio]n late in the afternoon. […]

Quelle: Internetveröffentlichung unterhttp://www.80thdivision.com/AfterActionReports/AAR_G-3_APR45.pdf

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Übersetzung

ERFURT – WEIMAR – JENA – GERA – CHEMNITZ8. April bis 17. April

Am 8. April begann die 80. Infanteriedivision ihren Angriff nach Osten mit demResultat der Eroberung der Städte Erfurt, Weimar, Jena und Gera, und wurde dieDivision weit nach Osten bis Chemnitz geführt, bevor ihre Mission geändert wurdeund sie sich nach Süden bewegte. […]12. April317. Infanterieregiment: […] Das 2. Bataillon rückte während des Tages vor undlöste am späten Nachmittag Einheiten des 319. Infanterieregiments in Weimar ab.Das 2. Bataillon erhielt den Auftrag zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnungin Weimar. […]319. Infanterieregiment: Ein Ultimatum zur sofortigen und bedingungslosen Kapi-tulation wurde an die Stadt Weimar durch das 319. Infanterieregiment übergeben.Der [Ober]Bürgermeister von Weimar übergab die Stadt am späten Morgen unddas 2. Bataillon des 319. Infanterieregiments rückte vor und nahm die Stadt ein,bis es am späten Nachmittag durch das 2. Bataillon des 317. Infanterieregimentsvon dieser Mission entbunden wurde. Mit dem Fall von Weimar wurden dasberüchtigte Konzentrationslager Buchenwald durch die 80. Infanteriedivisionübernommen und alle möglichen Schritte zur Hilfe für die Häftlinge sofort einge-leitet.Das 1. und das 3. Bataillon zogen an Weimar vorbei und drangen zügig zumGegner vor, um ihre Stellung zum Angriff auf die Stadt Jena einzunehmen. Das1. Bataillon erreichte Göttern und das 3. Bataillon Niedersynderstedt.13 April[…] 317. Infanterieregiment: […] Das 2. Bataillon besetzte weiterhin WEIMAR.[…]14 April[…] 317. Infanterieregiment: […] Das 2. Bataillon besetzte weiterhin WEIMAR,bis es am späten Nachmittag vom 5. Ranger Bataillon abgelöst wurde. […]

[1.3] 319th Infantry Regiment

319th Inf[antry Regiment] 80th Inf[antry] Div[ision], After ActionReport8–18 April 1945

Drive from GOTHA to CHEMNITZ in coordination with C[ombat]C[ommand]A4th Arm[ore]d Div[ision]

[…] Late in the afternoon of 05 Apr[il] the reg[i]m[en]t[a]l attack was stopped onCorps order due to a revision in army boundaries by 12th Army Group and the 1stUS Army took over KASSEL while the 80th Inf[antry] Div[ision] was hurried southto come within the new XX Corps boundary which ran along an axis of GOTHA

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– ERFURT – WEIMAR – JENA – CHEM-NITZ and had for its final objective, DRES-DEN. […][11 April] As soon as the 1st B[attalio]n clea-red SCHELLRODA Col[onel] COSTELLOordered the reserve B[attalio]n, the 2d, for-ward to BECHSTEDTWAGE [Bechstedt-straß] and as the 1st continued its motorizedadvance to POSSENDORF[,] the 2d B[atta-lio]n shuttled its elements forward by truck toTROISTEDT (J4665). That evening Col-[onel] COSTELLO called in his B[attalio]nC[ommanding]O[fficer]s and discussed hisplans for the attack on WEIMAR the morningof 12 April […]. Before the attack took placeCol[onel] COSTELLO decided to send theBurgomeister of TROISTEDT into WEIMARby bicycle with a surrender ultimatum. TheBurgomeister was summoned before theCol[onel] and the surrender ultimatum givento him with the instructions to leave for WEI-MAR at 0600 h[ou]rs 12 Apr[il] and be backby 0830 h[ou]rs with the answer becausethe attack would commence at that time.An Art[iller]y officer from C[ombat]C[ommand]A stayed with the 319th Inf[antry Regiment] and he had the authorityfrom Col[onel] Gordon SEARS, C[ommanding]O[fficer] C[ombat]C[ommand]A,4th Arm[ore]d Div[ision], to reinforce the fire of the 905th F[ield]A[rtillery]B[attalio]n when theier fire was inandequate. The rapid rush to WEIMAR plus uti-lization of Art[iller]y vehicles for Inf[antry] transportation hat left harassing fire onWEIMAR throughout the night. The Burgomeister was delayed for a half an houras he was stopped and searched by elements of CCA who notified Col[onel]COSTELLO. The attack was therefore delayed another hour for the return of theBurgomeister. At 0915 the Burgomeister made his appearance with a formal sur-render from the Burgomeister of WEIMAR. The trucks of the Reg[imen]t havingbeen used to transport the 2d B[attalio]n on the previous day were still with the 2d

B[attalio]n so the 2d B[attalio]n was ordered to mount and enter WEIMAR whereit would maintain law and order while the 1st and 3d B[attalio]ns attacked east onJENA. Div[ision] was notified of his arrangement and a request was made forrelief to be sent to WEIMAR in order for the 319th to remain at full strength andafford the required support to the armor. The 2d B[attalio]n was relieved by the 2d

B[attalio]n 317th Inf[antry Regiment] at 1700 h[ou]rs an moved to GRET-SCHWABHAUSEN [Großschwabhausen] (J6366) north of and abreast of the 1st

B[attalio]n which hat advanced without opposition by motor to GOTTERN [Göt-

Abb. 4. Normando Antonio Costello(1905–1985), Porträt von Boleslaw JanCzedekowski (1885–1969), gemalt nach1945. Das Gemälde befindet sich jetzt alsSchenkung der Familie Costello im Besitzder Stadt Weimar.[Sammlung Bernd Schmidt (Weimar)]

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tern] (J6261) where it had dismounted and made preparations for the attack onJENA (J7082). […]

Quelle: Internetveröffentlichung unterhttp://www.80thdivision.com/AfterActionReports/319th_DriveFromGothatoChemnitz_08-18APR45.pdf

Übersetzung

Vorstoß von Gotha nach Chemnitz in Abstimmung mit dem Kampfverband A der4. Panzerdivision

Am späten Nachmittag des 5. April wurde der Angriff des Regiments durch einenCorpsbefehl aufgrund der Revision der Armeegrenzen durch die 12. Armeegruppegestoppt und die Erste US-Armee übernahm Kassel, während die 80. Infanteriedi-vision sich beeilen mußte, in die neuen Grenzen des XX. Korps zu gelangen, wel-che an einer Achse Gotha – Erfurt – Weimar – Jena – Chemnitz entlang liefen undDresden zum Endziel hatten. […][11 April] Sobald das 1. Bataillon Schellroda gesäubert hatte, befahl OberstCostello das Reservebataillon, das 2. Bataillon, nach Bechstedtstraß und, so wiedas 1. Bataillon seinen motorisierten Vorstoß nach Possendorf fortzusetzte, verleg-te das 2. Bataillon seine Kräfte per LKW nach Troistedt. An diesem Abend riefOberst Costello seine Bataillonskommandeure zusammen und diskutierte mit ihnenseine Pläne für den Angriff auf Weimar am Morgen des 12. April. […] OberstCostello entschied sich, vor dem Angriff den Bürgermeister von Troistedt mit einemÜbergabeultimatum auf dem Fahrrad nach Weimar zu schicken. Der Bürgermeis-ter wurde zum Oberst befohlen und ihm das Übergabeultimatum mit der Instruk-tion übergegeben, um 6 Uhr nach Weimar aufzubrechen und um 8.30 Uhr mit derAntwort zurück zu sein, weil der Angriff zu dieser Zeit beginnen würde. Ein Artil-lerieoffizier vom Kampfkommando A verblieb beim 319. Infanterieregiment undhatte die Ermächtigung von Oberst Gordon Sears, Kommandeur des Kampfkom-mandos A der 4. Panzerdivision, das Feuer des 905. Feldartilleriebataillons zu ver-stärken, falls dieses unzureichend war. Der schnelle Ansturm auf Weimar sowie dieVerwendung von Artilleriefahrzeugen für den Infanterietransport hatte dieGeschütze des 905. Feldartilleriebataillons zurückgelassen; die Artillerie desKampfkommandos A belegte deshalb Weimar die ganze Nacht mit Störfeuer. DerBürgermeister [von Troistedt] wurde für eine halbe Stunde aufgehalten, da ergestoppt und durchsucht wurde von Kräften des Kampfkommandos A, die OberstCostello benachrichtigten. Der Angriff wurde deshalb um eine weitere Stunde fürdie Rückkehr des Bürgermeisters zurückgehalten. Um 9.15 Uhr erschien der Bür-germeister mit der offiziellen Kapitulation des [Ober]Bürgermeisters von Weimar.Die am Vortag zum Transport des 2. Bataillons gebrauchten Fahrzeuge waren nochda, so daß das 2. Bataillon den Befehl erhielt, aufzusteigen und in Weimar einzu-ziehen, wo es Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten sollte, während das 1. und das3. Bataillon im Osten von Jena angriffen. Der Division wurde diese Anordnungangezeigt und ein Antrag an sie gerichtet, eine Ablösung nach Weimar zu schicken,

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damit das 319. Regiment in voller Stärke blieb und den Panzern die erforderlicheUnterstützung leistete. Das 2. Bataillon wurde um 17 Uhr vom 2. Bataillon des317. Infanterieregiments abgelöst und bewegte sich nach Großschwabhausen nörd-lich und auf gleicher Höhe mit dem 1. Bataillon, welches motorisiert ohne Wider-stand Göttern erreicht hatte, wo es absaß und sich auf den Angriff auf Jena vorbe-reitete.

Abb. 5. Amerikanische Soldaten am 12. Mai 1945 auf dem Marktplatz in Weimar. Das Foto zeigt denKonvoi von Armeekraftwagen vor der Nordostecke des Marktplatzes mit dem zerstörten Stadthaus imHintergrund. Aufnahme aus den National Archives in Washington D.C. (Stadtarchiv Weimar)

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[1.4] 905th Field Artillery Battalion

905th Field Artillery Battalion, After Action ReportApril 1945Summary of Daily Operations

[…] 11 April – The 905th Field Artillery Battalion was given the mission of directsupport of the 319th Infantry, and at that time the 315th Field Artillery Battalion wasassigned the mission of reinforcing the fires of the 905th Field Artillery Battalion.[…]12 April – The 905th Field Artillery Battalion still in direct support of the 319th

Infantry made an early displacement to vicinity of Troistedt, Germany with a mis-sion of shelling the town of Weimar heavily if the enemy refused to surrender. Thetown of Weimar surrendered and caused no trouble. […]

Quelle: Internetveröffentlichung unterhttp://www.80thdivision.com/AfterActionReports/905AfterActionReportApr45.pdf

Übersetzung

[…] 11. April – Das 905. Feldartilleriebataillon erhielt den Auftrag zur direktenUnterstützung des 319. Infanterieregiments, und während dieser Zeit war das 315.Feldartilleriebataillon zur Verstärkung des Feuers dem 905. Feldartilleriebataillonzugeordnet. […]12. April – Das noch in direkter Unterstützung des 319. Infanterieregiments ste-hende 905. Feldartilleriebataillon unternahm eine frühe Verlegung in die Umge-bung von Troistedt, Deutschland mit dem Auftrag der schweren Beschießung derStadt Weimar, falls der Feind sich nicht ergeben sollte. Die Stadt Weimar ergab sichund machte keine Schwierigkeiten. [...]

[2] Erinnerungsbericht des Oberbürgermeisters von Weimar Otto Kochvom 19. Oktober 1945

Erfurt, den 19. 10. 1945Städt. Krankenhaus

NiederschriftAm Donnerstag, den 12.4. 1945 kam um 7.15 Uhr mitdem Fahrrad der mir unbekannte Bürgermeister vonTroistedt [Richard Weyde] in meine Wohnung, Wind-

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Abb. 6. Otto Koch (1902–1948), Oberbürgermeister von Weimar1936 bis 1945 in der Uniform eines politischen Leiters der NSDAP(Ausschnitt). (Stadtarchiv Weimar)

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mühlensstraße 33 und fragte nach dem Stadtkommandanten. Im Auftrage des ame-rikanischen Kommandanten [Colonel Normando A.Costello] hatte er an den Stadt-kommandanten ein Schreiben abzugeben, in dem dieser zur Übergabe der Stadt bis1/2 9 Uhr aufgefordert wurde, widrigenfalls die Stadt durch ein schweres Luftbom-bardement und Artilleriebeschuß zerstört werde. Die Übergabe sei bis zum obigenZeitpunkt in Troistedt an den amerikanischen Kommandanten zu erklären. Icherklärte ihm, daß außer mir sämtliche verantwortlichen Stellen, der Reichsstatthal-ter und Gauleiter [Fritz Sauckel], der Ministerpräsident [Willy Marschler], derStaatssekretär [Paul Ortlepp], der Kreisleiter [Kurt Schößler] und [der] Polizeiprä-sident [Walter Schmidt] sowie alle militärischen Stellen die Stadt verlassen hätten;ich sei im Augenblick die einzige autoritäre Stelle, die auf ihrem Posten gebliebensei, ich fühlte mich daher auch als allein berechtigt, nach pflichtgemäßem Ermes-sen mit dem amerikanischen Kommandanten über die Übergabe zu verhandeln.Da ich damals der englischen Sprache nicht mächtig war, konnte ich das englischabgefaßte Schreiben nicht entziffern. In den letzten Tagen hatte ich mich vorsorg-lich nach Personen umgesehen, die notfalls als Dolmetscher dienen konnten. Unterdiesen war mir die Familie des Regierungsrates a.D. Dr. [Paul Thomas] Fischergenannt worden, dessen Schwiegermutter amerikanische Staatsbürgerin ist unddessen Frau längere Zeit in Amerika geweilt hatte und die Sprache vollkommenbeherrschte. Von den mir genannten Dolmetschern wohnte sie am nächsten.Nachdem ich telefonisch den Stadtwagen in die Luisenstraße beordert hatte für dieFahrt nach Troistedt, ging ich gleich zu Fuß mit dem Bürgermeister von Troistedtzur Wohnung Dr. Fischers in die Luisenstraße [Nr. 29], um mir das Schreiben über-setzen zu lassen und Dr. Fischer als Dolmetscher zu bitten. Frau Dr. Fischer über-setzte mir das von Oberst Costello unterzeichnete schreibmaschinengeschriebeneSchreiben. Das Original, das ich bei der plötzlichen Internierung am 14.4. bei mirhatte, ist mir im Lager Wehrdorf [?] bei Erfurt abgenommen worden und fehlteebenso wie manch andere Wertgegenstände in dem bei meiner Einlieferung insStädtische Krankenhaus Erfurt am 24.4. diesem abgelieferten Beutel. Nach meinerErinnerung stand in dem Schreiben u.a., daß die ruhmreiche amerikanische Armeeauf ihrem siegreichen Vormarsch auch die historische Stadt Weimar erreicht habe,die durch ihre kulturelle Vergangenheit wohlbekannt sei. Angesichts der ungeheu-ren Überlegenheit der siegreichen amerikanischen Truppen sei jeder weitereWiderstand sinnlos, heute würde die Stadt Weimar besetzt werden. Wenn nur dergeringste Widerstand geleistet werde, werde dieser mit allen Mitteln gebrochen. Erfordere daher die sofortige Übergabe der Stadt. Das Privateigentum bleibe gewahrt.Die Bestimmungen der Genfer Konvention würden voll beachtet werden. Sollte dieÜbergabe bis heute 9 Uhr [richtig: 8.30 Uhr] nicht in Troistedt erklärt sein, würdeder amerikanische Kommandant gezwungen sein, die Stadt durch ein schweresLuftbombardement und schweren Artilleriebeschuß restlos zu zerstören.Frau Dr. Fischer erklärte sich sofort bereit, in Begleitung ihres Mannes mit nachTroistedt zu fahren. Den kleinen Stadtwagen schickte ich sogleich zu Ministerial-direktor [Friedrich] Benecke, damit ich mit diesem z. Zt. höchstrangigen in Wei-mar anwesenden Beamten und Vertreter des Ministerpräsidenten die Lage in Eilebesprechen konnte. Da der Wagen jedoch nicht rasch genug zurückkam und die

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Zeit drängte, schickte ich den Bürgermeister von Troistedt mit dem Rad zum Thü-ringenwerk und erbat von dort einen Wagen zur Fahrt nach Troistedt. Um 1/4 9 Uhrkam endlich dieser Wagen, in dem ich mit Herrn und Frau Dr. Fischer und demBürgermeister abfuhr. Mit Ministerialdirektor Benecke hatte ich nicht mehr spre-chen können.Die Lage, wie ich sie damals übersehen konnte, war folgende: Die Amerikaner hat-ten sich offensichtlich am Mittwoch, 11.4., nachmittags an die Stadt herangearbei-tet, zum Teil nach Gerüchten sie in der Höhe der Reichsautobahn schon überflü-gelt. In Nohra und Gaberndorf waren Brände beobachtet worden. Ein genaues Bildder militärischen Lage war nicht zu bekommen. Bei wiederholten Anrufen beimKampfkommandanten [Oberst Günther von Drebber] war weder dieser noch seinVertreter zu bekommen, da offenbar im Kampfgelände. Um 17 Uhr hatte sich derKreisleiter [Kurt] Schößler mit seinem Stab im Schloßhof, wo wir die täglichenBesprechungen an diesem Tag abhielten, an der er aber nicht mehr teilgenommenhatte, mit dem Bemerken verabschiedet er habe Nachricht, daß Weimar schon fastganz von Amerikanern umstellt sei, nur noch die Seite nach Jena sei offen, erschließe sich jetzt der kämpfenden Truppe an und versuche, sich in Richtung Jenadurchzuschlagen. Da ich nachmittags viele kleine Hitlerjungen mit Waffen in derStadt gesehen hatte und ich der Meinung war, daß in die Hand solcher Kinder keineWaffe gehört und daß insbesondere im Falle einer Besetzung von dieser SeiteUnüberlegtheiten vorkommen konnten, für die die Bevölkerung dann büßenmüßte, nötigte ich ihm die Zustimmung ab, daß ich im Drahtfunk in seinem Nameneinen Befehl an die Hitlerjugend bekanntgeben durfte, daß diese sich um 1/2 7 Uhrzum Appell im Schloßhof einzufinden hätten, soweit im Besitz von Waffen, mitdiesen, und daß ich sie dann durch die Polizei entwaffnen lasse. Ich wußte, daßSchößler mit mir in diesem Punkte einer Meinung war, daß man der Hitlerjugendkeine Waffen geben sollte, er mußte aber bei seiner Stellung die offizielle Meinungder Partei vertreten. Ich habe selbst den Befehl entworfen und persönlich gegen 5Uhr zweimal im Drahtfunk in der Gaubefehlsstelle im Schloß durchgesagt. MitMajor Sprenger vom Polizeipräsidium, der in der Besprechung anwesend war, ver-einbarte ich, daß er persönlich mit Polizeikräften die Entwaffnung durchführensollte. Wenige Stunden vorher war mir gemeldet worden, daß die Hitlerjugendungefragt Waffen für die HJ, Volkssturm 3. Aufgebot, in der Weimarhalle gelagerthatte. Auf mein heftiges Drängen auf sofortigen Abtransport wurde mir dies vomBannführer zugesichert. Bei seinem Abschied mit dem Kreisleiter versicherte er,die Waffen seien weg. Nach der Besprechung gegen 17.30 Uhr mußte ich leiderfeststellen, daß nicht nur die Waffen noch dort waren, sondern sich dabei eine sehrzweifelhafte Wache von Ukrainern in deutscher Wehrmachtuniform befand, diesich noch dazu an den Spirituosen des unabgemeldet geflohenen Weimarhallen-pächters reichlich gütlich getan hatten. Ich bat Finanzrat [Leopold] Eisele, Spar-bank, als Vorstand der Weimarhallen A.G., persönlich die Sache zu klären. Erbestätigte die Meldung und brachte den betrunkenen Kolonnenführer in meinBüro. Die herbeigerufene Polizei bekam von mir den Auftrag, die ukrainischeWache zu entwaffnen und einstweilen festzunehmen. die Waffen aber in den Wei-marhallenteich zu werfen, da sie deutscherseits ja nicht mehr gebraucht würden.

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Gegen Abend wurde es ruhiger um die Stadt herum. Man sah noch Brände inNohra. Etwa um 1/2 9 Uhr kam ein Offizier der auf dem Windmühlenberge liegen-den Kompanie in meine Wohnung, fragte, ob ich über die militärische Lage imBilde sei und ob er mit dem Standort telefonieren könne. Sie hätten keine Verbin-dung mit der Kommandantur mehr. Bei meinem Anruf erreichte ich nach langemLäuten endlich einen Telefonisten, der erklärte, er habe eben gehen wollen, er seider einzige Anwesende, die Herren der Kommandantur seien vor Stunden weg;vielleicht sei noch ein Offizier in der Kaserne am Ettersberg. Ihn erreichte ichgleichfalls im Begriff des Weggehens am Telefon. Er erklärte, daß er eben mit sei-ner Kompanie, der letzten Truppe in Weimar, die Stadt verlasse und in die neueLinie zwischen Weimar und Jena befehlsgemäß abrücke. Er erstaunte über dieAnwesenheit einer weiteren Kompanie, die offenbar der Befehl zum Abrückennicht erreicht hatte. Sie solle sich zur gleichen Stellung wie er durchzuschlagenversuchen; Weimar sei vom Feind ziemlich umstellt, doch gebe es Lücken. Dieswar die letzte Meldung über die militärische Lage. Der Kampfkornmandant hatte sich offenbar nicht einmal von mir telefonisch ver-abschiedet, sondern war ohne Nachricht an mich am Nachmittag mit dem Stababgegangen. Ich war darüber umso mehr ungehalten, als dieser wohl befehlsgemäßden Standpunkt vertrat, Weimar werde bis zum letzten Haus verteidigt. Meineernsten Einwände, daß es einfach nicht zu verantworten sei, eine so einmalige Kul-turstadt noch dazu nach den Verlusten an Kulturwerten dadurch zu vernichten,während eine Verteidigung in der Stadt ohne genügend und zulänglich bewaffneteTruppen, die die Höhe um Weimar nicht halten könnten, umso aussichtsloser sei,als das Wasserwerk in Bad Berka liege und die einzige noch vorhandene Versor-gungsart – Elektrizität – von außerhalb komme und daher ausfalle, lehnte er unterHinweis auf seinen Befehl ab. Meine in den letzten Wochen zweimal beim Gaulei-ter vorgetragenen Bitten, Weimar durch den Führer zur offenen Stadt erklären zulassen wie Rom oder Florenz, wurden von ihm gleichfalls zurückgewiesen, zuletztmit dem Bemerken, daß, wenn ich nochmal mit einem solchen Ansinnen käme, erdaraus auf meine politische Zuverlässigkeit schließen müsse; der Führer habe dieVerteidigung der Städte befohlen.Nach einer früheren Mitteilung des Gauleiters sollte die Saalelinie unter allenUmständen gehalten werden und von dort aus dann spätestens der Gegenstoßgeführt werden; umso wichtiger sei daher das Aushalten der Städte vor dieserLinie. Eine bewährte Panzerdivision habe er direkt vorn Führer erbeten. Aus denÄußerungen mußte entnommen werden, daß der ungewöhnlich vorspringendeFrontbogen in Thüringen angesichts des Haltens des Ruhrgebietes und Odenwal-des durch gewaltige Flankenangriffe vernichtet werde. Es gelte zur Entwicklungderselben nur noch einige Tage Zeit zu gewinnen, die von entscheidendster Bedeu-tung sei. Auch unsere neuen Jäger sowie eine neue entscheidende Waffe kämendabei zum Einsatz. Der Zeitgewinn von Tagen, ja Stunden schien die Überwindungder Krise und ihre Umwandlung in einen großen Sieg zu bringen. Auch wurdebehauptet, die vorgeprellten feindlichen Kräfte seien nicht allzu stark und müßtenaus der Luft versorgt werden, während die Hauptkräfte über 100 km zurück wären.Ein Telefonanruf von Oberbürgermeister [Walter] Kießling aus Erfurt am gleichen

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Abend gegen 1/210 Uhr etwa gab mir Kenntnis, daß Erfurt noch nicht gefallen war,daß aber die Lage nach seiner Meinung hoffnungslos sei. Der Kampfkommandanthabe ihn gebeten, beim Gauleiter die Zustimmung zur Übergabe einzuholen, erkönne ihn leider nicht telefonisch erreichen und bat um eine Vermittlung. MeinAnruf beim Gauleiter gelang. Dieser erklärte, kein Oberbürgermeister sei berech-tigt, eine Stadt zu übergeben, dies sei Sache des Kampfkornmandanten, der Befehlhabe, jede Stadt bis zum Äußersten zu verteidigen. Wer dies nicht tue, komme vorsKriegsgericht. Er verwies auf den Befehl von Keitel-Himmler-Bormann, der amgleichen Tag mir bekannt geworden war durch Radio oder Funkspruch, wonachjeder Oberbürgermeister, der eine Stadt übergebe. zum Tode verurteilt sei, auchseine Familie verfiele der Ausrottung. Ich solle dies Kießling sagen. Daß das ernstwar, zeigte die Vollstreckung des Todesurteils gegen den Kampfkommandantenvon Gotha [Josef Ritter von Gadolla] wegen Versuches der Übergabe der Stadtsowie ein kriegsgerichtliches Verfahren, [gegen einen Herrn,] der den Komman-danten auf dessen Bitte zu den Übergabeverhandlungen hatte begleiten wollen,einige Tage vorher.Ich habe einen Teil der sich überstürzenden Ereignisse hier niedergelegt, um dar-zutun, aus welcher Situation heraus ich auf mich allein gestellt den folgenschwe-ren Entschluß fassen mußte. Ein Ausweichen in der Weise, daß ich den an denStadtkommandanten gerichteten Brief [d.h. das Ultimatum] als unbestellbarzurückgab, gab es nicht, da dies dazu hätte führen können, daß das Bombardementnicht mehr rechtzeitig verhindert worden wäre. Auch lag mir ein Ausweichen vorunangenehmen Entscheidungen nie. Die persönliche Gefahr habe ich dabei, wieich versichern kann, völlig außer Betracht gelassen, obwohl ich mit Urteilsvollstre-ckung durch Wehrwölfe auch nach der Besatzung noch rechnen mußte. Ich darfhier einschalten, daß mir am Freitag. 13. 4., der amerikanische General eigenarti-gerweise von sich aus eine amerikanische Wache zu meinem und meiner FamilieSchutz angeboten hat. Ob er irgendwelche Nachricht einer Gefährdung erhaltenhatte, weiß ich nicht, da ich sofort bat, davon Abstand zu nehmen. Noch nach derBesetzung. ja noch nach meiner Internierung ist meine Frau verschiedentlich vorden Wehrwölfen gewarnt worden.Auf meiner Fahrt nach Troistedt wurde ich mir schlüssig, trotz allem die RettungWeimars zu versuchen, wenn die Bedingungen einigermaßen annehmbar waren.In Troistedt wurde ich zu Oberst [Normando A.] Costello geführt. Nach Vorstel-lung erklärte ich, daß das an den Stadtkommandanten gerichtete Schreiben inmeine Hände gekommen sei, da der Stadtkommandant die Stadt verlassen habeund sich offenbar in seinem Gefechtsstand bei der kämpfenden Truppe befinde,jedenfalls könne ich ihn nicht erreichen. Da auch sonst keine andere mir vorgesetz-te Stelle mehr in der Stadt sei, sei ich die einzige autoritäre Stelle, die zu Verhand-lungen berechtigt sei. Oberst Costello wiederholte daraufhin nochmals das bereitsschriftlich Mitgeteilte, daß die Stadt sofort übergeben werden müsse, andernfallser die Stadt durch Bombardement zerstören werde; ein Zeitverlust entstehedadurch nicht, da die Truppe die Stadt einstweilen aussparen werde und durchnachrückende Truppen die Stadt nach Ablöschen der Brände besetzt werde. Icherklärte daraufhin, daß es an sich zwar Sache der militärischen Stellen sei, eine

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Weimar – Jena : Die große Stadt 8/2 (2015)

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Stadt zu übergeben, daß ich, wenn die Bedingungen annehmbar seien, dazu bereitsei. Er versicherte nochmals in Gegenwart mehrerer Herren seines Stabes, darun-ter des nachmaligen ersten Stadtkommandanten Hauptmann [Lawrence A.] Deg-ner, wie bereits in dem Schreiben zugesichert, daß das Privateigentum geschütztwerde und die Bestimmungen der Genfer Konvention genau eingehalten werden.Selbstverständlich müssen die Waffen abgeliefert werden, es würden gewisse Ein-schränkungen im Ausgehen zu gewissen Zeiten, insbesondere im Anfang ergehen,die Truppe müsse untergebracht werden, verschiedene Stellen würden besetzt wer-den, wie üblich u. ä. Ich erklärte, daß keine Truppen mehr in der Stadt seien, ab-gesehen vielleicht von ein paar Versprengten oder Urlaubern, Kampfunwilligen,jedoch keine Soldaten, die zu kämpfen beabsichtigten. Ich bäte angesichts derschwierigen Ernährungslage um Überlassung etwaiger Lebensmittellager auch derWehrmacht, zur Versorgung der Bevölkerung und auch der Ausländer, woraufOberst Costello erklärte, daß die Truppe sich selbst verpflege. Auf die Bitte umÜberlassung auch etwaiger Bekleidungslager wurde versichert, daß die amerikani-schen Truppen daran im allgemeinen nicht interessiert seien. Ich brachte daraufhindie schwere Sorge der Stadt wegen des Konzentrationslagers Buchenwald vor.Nach Auffassung der Stadt seien durch das Näherrücken der Front zahlenmäßigoffenbar erhebliche Mengen von wohl meist ausländischen Häftlingen durch Ein-ziehen von Außenkommandos und vielleicht auch Lagerverlegung hierher gekom-men. Wenn die Stadt auch ressortmäßig damit nichts zu tun habe, da die Lager aus-schließlich von der SS verwaltet würden, die alle Fragen des Lagers geheim behan-delte, so hätte ich doch den Eindruck, daß trotz aller Zusicherungen Berliner Stel-len, daß die Ernährung der Häftlinge von dort aus geregelt werde und der KreisWeimar damit nicht belastet werde, wenn nicht jetzt, so doch wahrscheinlich innaher Zukunft wohl Schwierigkeiten auftreten würden. (Bemerken darf ich hier.daß seit der Zerstörung des Telefonamtes durch den Angriff vom 9. Februar einedirekte telefonische Verbindung mit dem Lager nicht mehr bestand, lediglich derPolizeipräsident hatte eine provisorische Leitung dorthin. Etwaige Verhandlungenmit dem Lager konnten nur über ihn geführt werden. Auf meine wiederholten Fra-gen wegen Buchenwald erklärte er immer wieder, daß alles geregelt sei, auch dieVerpflegung sowie der Abtransport; die Stadt brauche keine Sorgen zu haben, derAmerikaner lasse im Westen die Lager bestehen und die SS als Wache, da ja über-wiegend kriminelle Elemente in den Lagern seien. Im übrigen sei er auch mirgegenüber nicht berechtigt, darüber zu sprechen.)Oberst Costello erklärte, daß gestern Nachmittag das Lager von amerikanischenTruppen besetzt worden sei, sie würden sich wegen der Sicherung der Ernährungselbst einschalten. Die Versorgung der Häftlinge müsse natürlich sichergestelltwerden. Bedenken wegen der Sicherheit der Bevölkerung seien nicht berechtigt.Auch Plünderungen von dieser Seite wie auch von Ausländern würden nicht gedul-det. Es werde in jeder Weise die Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten. Wenn Über-griffe seiner Soldaten vorkommen sollten, bäte er um Meldung an ihn; er werdedies nicht dulden. Es sei klar, daß sich die Disziplin bei der Länge des Kriegeslockere, wie er dies auch bei den deutschen Truppen festgestellt habe. Im übrigenblieben die deutschen Behörden, sie bekämen nach Notwendigkeit Weisungen vom

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Stadtkommandanten. Natürlich müsse loyales Verhalten der Bevölkerung undBehörden gewährleistet sein. Ich versicherte ihm daraufhin, daß einer Besetzungder Stadt keinerlei Widerstand geleistet werde. Ich sei bereit, an der Spitze derTruppen mit einzufahren, um ihm eine ungestörte Besetzung zu garantieren undetwa aufflackernden Widerstand Einzelner durch meinen persönlichen Einsatzabzustoppen. Der Kommandant nahm dies Anerbieten an. Auch versicherte ichihm loyale Zusammenarbeit, solang ich dies mit meiner deutschen Beamtenehrevereinbaren könne. Eintretendenfalls würde ich ihn davon verständigen, daß mireine Mitarbeit nicht mehr möglich sei. Der Kommandant nahm diese Erklärung anund reichte mir daraufhin zum Abschluß der Verhandlung die Hand. Ich bat ihn,dafür Verständnis zu haben, daß es der schwerste Entschluß meines Lebens gewe-sen und mein bitterster Gang, ich danke ihm aber, daß er mir diesen Entschlußdurch seine persönliche Haltung erleichtert habe, worauf mir der Kommandanterklärte, er freue sich, daß ich den Mut gehabt hätte, in dieser Lage die Verantwor-tung zu übernehmen, und sagte mir noch einige persönliche Freundlichkeiten.Damit war die Verhandlung geschlossen. Dankbar gedenke ich der menschlichsympathischen Art der Verhandlung.Anschließend erklärte der Kommandant, das Regiment rücke nun in Weimar ein.Er bat mich, den neuen Stadtkommandanten in meinem Wagen aufzunehmen undhinter seinem Wagen bei der Spitze des Regimentes mitzufahren. Die Fahrt ging reibungslos vonstatten.Die Hauptsorge galt der Verhinderung der einsetzenden Plünderungen, HauptmannDegner ist am Abend dieses Tages in der Schillerstraße gegen Plünderungen aufmeine Bitte eingeschritten mit gezogener Pistole, ließ die Plünderwaren zurück-bringen, verhaftete die Plünderer, überwiegend Polinnen, und trieb sie mit der Pis-tole zur Rathauswache und ließ sie von der Polizei einsperren, sie auf den Anschlaghinweisend, „wer plündert wird erschossen.“ Am Rathaus dankte er mir zumAbschied für die loyale Zusammenarbeit und beglückwünschte mich zur besonderserfolgreichen Wahrung der Stadtinteressen und lud mich nach dem Kriege als sei-nen Gast nach Neu-York ein – dort war er Rechtsanwalt – , wo wir anders als jetztals Menschen zusammen sein könnten. Er war Deutsch-Amerikaner und hatte beialler Wahrung der Besatzungsinteressen Verständnis für die Belange der Stadt.

Otto KochOberbürgermeister a.D.

Quelle: Stadtarchiv Weimar, 13–15–10000/1292, Bl. 11–16 [eigenhändige Niederschrift],Bl. 18–22 [maschinenschriftliche Abschrift]. Veröffentlicht in: Weimar 1945. Ein histori-sches Protokoll [Weimarer Schriften Heft 53]. Weimar 1997, S. 154–161.

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[3] Erinnerungsbericht des Bürgermeisters von Troistedt Richard Weydevom 5. Juni 1946

Niederschrift

Am 11. 4. 1945, abends gegen 11 Uhr, wurde ichals Bürgermeister von zwei bewaffneten ameri-kanischen Soldaten zum amerikanischen Trup-penkommandeur [Colonel Normando A. Costel-lo] gebracht. Hier wurde mir befohlen, daß icham nächsten Tage zum höchsten Truppenkom-mandeur- oder Polizeipräsidenten bzw. an diehöchste Befehlsstelle der Stadt Weimar sollte,mit einem schriftlichen Auftrag, daß die StadtWeimar als historische Stadt geschont werdensollte, wenn dieselbe bis 12. 4. vormittags 8 Uhr30 den amerikanischen Truppen übergebenwürde, sie würde dementsprechend nach derGenfer Konvention behandelt. Die Stadt würderücksichtslos bombardiert bzw. beschossen,wenn dieselbe Widerstand leistete oder derÜberbringer dieses Ultimatums bis 8.30 Uhrnicht wieder zurück sei. Ferner wurde mirgesagt, daß, wenn ich den Auftrag nicht ausführ-te, eventuell mich verkriechen würde, man meine Familie zur Rechenschaft ziehenwürde, außerdem würde dann die Stadt beschossen. Weiter sagte der amerikani-sche Kommandeur: „Führen sie den Auftrag richtig aus, dann haben Sie etwas füruns getan, aber auch für Deutschland, und es wird Ihnen gut gehen, es wird Ihnennichts mehr passieren.“ Ich wurde für diesen Abend nicht wieder freigelassen, bekam Verpflegung, reich-lich Cigaretten, Tabak, Schnaps, Süßigkeiten und alles, was sie bieten konnten.Auf meine Einwendungen, wenn mir aber was passieren sollte, oder ich eine Rad-panne hätte (Fahrrad mußte ich denselben Abend gleich mitnehmen), wurde mirgesagt, daß es keine Einwendungen gäbe, ich hätte Zeit genug, um 8.30 Uhr wie-der zurück zu sein; wenn nicht, dann würde eben das Bombardement eröffnet. Mitunglaublichen Gefühlen habe ich die Nacht verbracht. Ich sah mich schon von derSS gestellt oder hatte sonst welche Befürchtungen, daß mein Auftrag scheiternkönnte. Am 12. 4. früh 5 Uhr wurde ich wieder von den beiden Soldaten zum Kom-mandeur gebracht. Mit zwei weißen Handtüchern, einem Händedruck und einem„Ich wünsche Ihnen alles Gute!“ ging es los. Ab und zu wurden ein paar Geschüt-ze abgefeuert. In Obergrunstedt am Bahnübergang wurde ich festgehalten und zumdortigen amerikanischen Kommandanten gebracht, von da aus nochmal nachNohra auf zwei verschiedene amerikanische Kommandostellen (per Auto) unddann wieder zurück nach Obergrunstedt. Er sagte – es war mittlerweile 6.30 Uhrgeworden – : „Und nun führen Sie Ihren Auftrag aus!“ Ich habe nun unterwegsmeinen Plan gefaßt. Erst mal sehen, ob Weimar besetzt ist, und dann sofort zur

Abb. 7. Richard Weyde (1887–1961),Bürgermeister von Troistedt 1938 bis1945. [Sammlung Bernd Schmidt (Weimar)]

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höchsten Befehlsstelle, Zeit war nicht zu verlieren. Angekommen in Weimar erfuhrich, daß sich die Truppen zurückgezogen hätten. Ich habe nun nicht lange nachdem Truppenkommandeur gesucht, sondern bin sofort zum OberbürgermeisterKoch und habe diesem das Ultimatum überreicht. Er war sofort dabei, die Stadt zuübergeben. Die Zeit war kurz, und so wurde erwogen, daß er persönlich mit mirraus nach Troistedt fuhr, gefolgt von zwei Dolmetschern, Dr. [Paul Thomas]Fischer und Frau [Dr. Erica Fischer]. In Obergrunstedt besetzte das Bürgermeister-auto an meiner Stelle ein amerikanischer Soldat, und ich fuhr mit dem amerikani-schen Auto voraus, um rechtzeitig 8.30 Uhr zur Stelle zu sein. (Mein Fahrrad hatteich in Weimar eingestellt und habe dasselbe einige Tage später geholt.) Und nunging es an die Übergabe. Mir wurde von seiten des amerikanischen Kommandeursgesagt, ich hätte sehr gut gearbeitet und meinen Auftrag gut ausgeführt. Die Über-gabe erfolgte in Troistedt in der Poststelle, Haus Nr.10. Die Übergabe erfolgte, undder Kommandeur fuhr mit dem Oberbürgermeister zurück, so daß kein Schuß indie Stadt gekommen ist.

Troistedt, den 5. 6. 1946R.[ichard] Weyde

Quelle: Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, F 2019, Bl. 6 [beglaubigte Niederschriftzu den Tagen des 11. und 12. April 1945, verfasst am 5. Juni 1946]. Veröffentlicht in:Weimar 1945. Ein historisches Protokoll [Weimarer Schriften Heft 53]. Weimar 1997,S. 221–222.

Anmerkungen und Quellennachweis

Für die Bereitstellung und Einsichtnahme in amerikanische Quellen zum Kriegsende 1945,auch für die freundliche Überlassung von Abbildungsvorlagen, danke ich sehr herzlichHerrn Bernd Schmidt in Weimar, der bereits 2001 für seine Initiativen in Verbindung mit derVeteranenorganisation der 80. US-Infanteriedivision auf diesem Gebiet von der US-Armee-führung mit dem „Outstanding Civilian Service Award“ ausgezeichnet wurde.

11 „The bloodless conquest“ heißt es in dem Korrespondentenbericht für Associated Press von EdwardD. Ball aus Weimar, der infolge der Zeitverschiebung schon unter dem Datum vom 12. April 1945 inder Zeitung „The New York Sun“ erschienen ist.

12 Vgl. Geschichte der Stadt Weimar. Weimar 1975, S. 632-634.13 Unter dem Titel „Weimar“ überliefert als Typoskript (auf der ersten Seite oben mit dem handschrift-

lichen Zusatz „Herrn Dr. Brill zur Kenntnis, Gruß L. Moog“, auf der letzten Seite unten handschrift-lich „gez. L. Moog Dr. Gärtner“) im Nachlass von Hermann L. Brill im Thüringischen Hauptstaats-archiv Weimar, Korrespondenzakte 1945; ein zweites Exemplar als Abschrift mit dem Vermerk „VonMoog übergeben am 4.4.[19]49“ befindet sich in der Zeitgeschichtlichen Sammlung Nr. 15.

14 Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Land Thüringen, Ministerium für Volksbildung Nr. 3797,Bl. 67. Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Volker Wahl, Neue Herausforderungen. Befreiung undletzte Lebens- und Schaffensjahre Hans Wahls unter sowjetischer Besatzung. In: Die Pforte [Veröf-fentlichungen des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum Heft 12]. Weimar 2014, S. 274-277.

15 Siehe Dokument Nr. 3.16 Korrespondentenbericht für Associated Press von Edward D. Ball aus Weimar. Vorhanden als Kopie

in der Sammlung Bernd Schmidt (Weimar).17 Siehe Dokument Nr. 2.

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18 Die Berichte des Oberkommandos der Wehrmacht 1939 – 1945. München 2004, Band 5, S. 616. 19 Siehe zu diesem Vorgang: Stadtarchiv Weimar 17/013/12/05 [Akte des Hauptamtes über Straßen-

benennung].10 Einen ersten umfassenden Vortrag zu den damaligen Geschehnissen habe ich am 11. April 2000 in

Troistedt gehalten. Ein stark verkürzter Beitrag erschien unter dem Titel: Der 12. April 1945 in Troi-stedt und Weimar. Die ‚unblutige Eroberung‘ der ‚Geburtsstätte der deutschen Republik von 1919‘durch die 80. US-Infanteriedivision. In: Weimarer Heimat. Blätter für Natur, Geschichte und Kulturdes Kreises Weimarer Land, Folge 15 (2001), S. 17-19.

11 Grundlage war bisher eine 1946 erworbene Fotokopie von zwei Zeitungsausschnitten, als derenDruckort die amerikanische Tageszeitung „New York Herald Tribune“ angegeben war. ThüringischesHauptstaatsarchiv Weimar, F 2019, Bl. 8 [Fotokopie der Zeitungsausschnitte von S. 1 und 10]. NachAuskunft der New York Public Library ist diese Zeitung allerdings nicht das Presseorgan, in dem derKorrespondentenbericht vom 12. April 1945 unter dem Titel „Weimar Mayor Peddles To U. S. Lines,Surrenders City“ von Edward D. Ball erschienen ist. – Diese überlieferte Fassung des Korrespon-dentenberichts in der deutschen Übersetzung von 1946 „Weimars Oberbürgermeister tut einen Bitt-gang zu den U.S.-Linien und übergibt die Stadt“ wurde erstmals veröffentlicht innerhalb der Artikel-folge des Verfassers „Weimar 1945 – Dokumente zur Geschichte“ in: Thüringische Landeszeitungvom 11. April 1995. Erneut abgedruckt in der deutschen Übersetzung von Hubert Amft in: Weimar1945. Ein historisches Protokoll [Weimarer Schriften Heft 53]. Weimar 1997, S. 52-53.

12 Die inzwischen ermittelte Presseberichte aus amerikanischen Zeitungen über die Besetzung von Wei-mar am 12. April 1945 und über die befreite thüringische Landeshauptstadt sollen in einer Fortset-zung der hier begonnenen Dokumentation im Heft 3/2015 veröffentlicht werden.

13 Es ist enthalten in dem „G -2 After Action Report“ des Hauptquartiers der 80. US-Infanteriedivision,siehe Dokument Nr. 1.1.

14 Die amerikanische Besetzung Thüringens April bis Juli 1945 wurde erstmals von mir in meinerJenaer Dissertation von 1976 dargestellt: Volker Wahl, Der Beginn der antifaschistisch-demokrati-schen Umwälzung in Thüringen – Die Organisierung der gesellschaftlichen Kräfte und der Neuauf-bau der Landesverwaltung 1945. Phil. Diss. Jena 1976 [ungedrucktes Typoskript]. Danach erschienvon mir 1992 als eines der ersten „Blätter zur Landeskunde Thüringen“, herausgegeben von der Lan-deszentrale für politische Bildung Thüringen in Erfurt, die Ausgabe „Thüringen unter amerikanischerBesatzung (April bis Juli 1945)“, 1995 wurden in einer größeren Artikelfolge zum Kriegsende 1945in der Wochenendbeilage „Treffpunkt“ der „Thüringischen Landeszeitung“ unter dem Gesamttitel„Weimar – Dokumente zur Geschichte“ (4. März, 11. April, 28. April, 10. Juni, 8. Juli 1995) auchhistorische Quellen zur amerikanischen Besetzung und zum Besatzungswechsel publiziert, bevor1997 in der Schriftenreihe des Stadtmuseums „Weimarer Schriften“ das Heft 55 unter dem Titel„Weimar 1945. Ein historisches Protokoll“ erschienen ist.

15 Diese Zeitangabe ist zu präzisieren: In der „319th INFANTRY HISTORY“ [in der Sammlung BerndSchmidt] heißt es zum Zeitraum der Besetzung Weimars: „Our Ultimatum was sent into WEIMARat daylight and had been accepted by the Lord Mayor by 0930. There were no hostile enemy troopsin WEIMAR and the 2nd Battalion entered the town at about 1030, and established law and order.The town was completely occupied by 1300.“ [Übersetzung: Unser Ultimatum wurde bei Tages-anbruch nach Weimar überbracht und vom Oberbürgermeister um 9.30 Uhr angenommen. Es gabkeine Feindtruppen in Weimar und das 2. Bataillon erreichte die Stadt etwa um 10.30 Uhr und sorg-te für Recht und Ordnung. Die Stadt war um 13.00 Uhr vollständig besetzt.]

Kontakt:Prof. Dr. Volker WahlPaul-Schneider-Straße 33 A99425 WeimarE-Mail: [email protected]

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