Die ungeliebten Kinder der Gemeindepsychiatrie. Über Ansprüche … · 2019-03-20 ·...

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ackpa-Jahrestagung, 8. März 2019, Emden © Margret Osterfeld 1 Die ungeliebten Kinder der Gemeindepsychiatrie. Über Ansprüche und Grenzen regionaler Versorgung Margret Osterfeld Aus den Augen, aus dem Sinn? Das Dilemma psychisch kranker Menschen in der Gemeindepsychiatrie 1. Begrüßung und Dank Im Jahr 2016 war ich zuletzt als Sprecherin nach Hamm zur ackpa-Tagung eingeladen. Es war eine gelungene Tagung und ich möchte mich der heutigen Laudatio von Arno Deister für Karl Beine ausdrücklich anschließen, bevor ich mich bei Herrn Trabert und der ackpa herzlich für die Einladung nach Emden bedanke. In Hamm ging es 2016 bei der Ackpa-Tagung um die „Offene Psychiatrie.“ Während des ganzen Jahres ging es aber in NRW auch um ein vom Gesundheitsministerium initiiertes trialogisches Beteiligungsverfahren zur Entwicklung eine Landespsychiatrieplans. Eine Szene aus einer Diskussionsrunde ist mir minutiös im Gedächtnis geblieben. Herr Beine hielt ein flammendes Plädoyer für offene Klinikstationen. Prof. Schneider aus Aachen, einer der führenden Köpfe der DGPPN, erwiderte darauf mit sonorer Stimme (sinngemäß): „Das ist ja sehr schön, Herr Beine, was Sie da über ihre offenen Stationen berichten. Aber es gibt dafür keine Evidenzbasierung.“ Da ergriff ich das Wort: „Herr Professor, diese Evidenzbasierung gibt es zwar nicht, aber für Ihre geschlossenen Stationen gibt es die ebenso wenig. Bitte lassen Sie doch in diesem Kreis in Zukunft das Zauberwort Evidenz weg.“ Mit dem Begriff Evidenz lassen sich Politiker beeinflussen, das ist mir bekannt. Heute soll es hier in Emden um die geschlossene Gemeindepsychiatrie gehen, also die zunehmende Zahl von geschlossenen Heimen für Menschen mit psychischen Behinderungen und Beeinträchtigungen, die dort ihr Leben fristen. „Die gut evaluierten (sic) und strukturierten Behandlungskonzepte versagen hier oft(…)“ heißt es im Tagungsflyer. Für mich schließt sich mit dem heutigen Tagungstitel ein Kreis und mein Vorredner hat eben verdeutlicht, wie lohnend eine Klinik mit hoher Fallzahl in Verbindung mit der Betreuung einer Groß- Heimanlage mit 300 geschlossenen und 700 offenen Plätzen sein kann. Ein wahres Dorf bildete sich in Köthenwald. 2. Einleitung Der Tagungstitel „Die ungeliebten Kinder der Gemeindepsychiatrie“ erinnerte mich zunächst an die nun schon lang währende Forensik-Debatte. Dort wird fortlaufend diskutiert, ob nun der mangelnde Aufnahmewille der Gemeindepsychiatrie ursächlich ist für die wachsende Zahl und die wachsende Verweildauer der kranken Menschen im forensischen Verwahrsystem, oder aber ob es an der Forensifizierung durch die Allgemeinpsychiatrie liegt. Andere Ursachen für dieses teuerste Versorgungssystem für Menschen mit psychiatrischen Diagnosen, das wächst und wächst, kommen im Fachdiskurs

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DieungeliebtenKinderderGemeindepsychiatrie.

ÜberAnsprücheundGrenzenregionalerVersorgung

MargretOsterfeldAusdenAugen,ausdemSinn?

DasDilemmapsychischkrankerMenscheninderGemeindepsychiatrie

1. BegrüßungundDankIm Jahr 2016 war ich zuletzt als Sprecherin nach Hamm zur ackpa-Tagungeingeladen. Es war eine gelungene Tagung und ich möchte mich der heutigenLaudatio von Arno Deister für Karl Beine ausdrücklich anschließen, bevor ichmich bei Herrn Trabert und der ackpa herzlich für die Einladung nach Emdenbedanke. In Hamm ging es 2016 bei der Ackpa-Tagung um die „OffenePsychiatrie.“WährenddesganzenJahresgingesaberinNRWauchumeinvomGesundheitsministerium initiiertes trialogisches Beteiligungsverfahren zurEntwicklung eine Landespsychiatrieplans. Eine Szene aus einerDiskussionsrundeistmirminutiösimGedächtnisgeblieben.HerrBeinehielteinflammendes Plädoyer für offene Klinikstationen. Prof. Schneider aus Aachen,einer der führenden Köpfe der DGPPN, erwiderte darauf mit sonorer Stimme(sinngemäß): „Das ist ja sehr schön, Herr Beine, was Sie da über ihre offenenStationen berichten. Aber es gibt dafür keine Evidenzbasierung.“ Da ergriff ichdasWort: „Herr Professor, diese Evidenzbasierung gibt es zwar nicht, aber fürIhre geschlossenenStationengibt esdieebensowenig.Bitte lassenSiedoch indiesemKreisinZukunftdasZauberwortEvidenzweg.“MitdemBegriffEvidenz lassen sichPolitikerbeeinflussen,das istmirbekannt.Heute soll es hier in Emden um die geschlossene Gemeindepsychiatrie gehen,also die zunehmende Zahl von geschlossenen Heimen für Menschen mitpsychischenBehinderungenundBeeinträchtigungen,diedort ihrLeben fristen.„Diegutevaluierten(sic)undstrukturiertenBehandlungskonzepteversagenhieroft(…)“ heißt es im Tagungsflyer. Für mich schließt sich mit dem heutigenTagungstitel ein Kreis undmein Vorredner hat eben verdeutlicht,wie lohnendeine Klinik mit hoher Fallzahl in Verbindung mit der Betreuung einer Groß-Heimanlage mit 300 geschlossenen und 700 offenen Plätzen sein kann. EinwahresDorfbildetesichinKöthenwald.

2. EinleitungDer Tagungstitel „Die ungeliebten Kinder der Gemeindepsychiatrie“ erinnertemich zunächst an die nun schon lang währende Forensik-Debatte. Dort wirdfortlaufend diskutiert, ob nun der mangelnde Aufnahmewille derGemeindepsychiatrie ursächlich ist für diewachsende Zahl und diewachsendeVerweildauerderkrankenMenschenimforensischenVerwahrsystem,oderaberob es an der Forensifizierung durch die Allgemeinpsychiatrie liegt. AndereUrsachen für dieses teuerste Versorgungssystem für Menschen mitpsychiatrischen Diagnosen, das wächst und wächst, kommen im Fachdiskurs

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kaum vor. Die „Forensifizierung“ habe ich selbst wiederholt erlebt. SchwierigePatienten wurden vom Personal angezeigt und die Schuldunfähigkeit war denKrankengarantiert.Aberdarumsollesheutenichtgehen.DochkönnenSiesichmeine Gefühlslage vorstellen, als ich vor wenigenWochen im RahmenmeinerTätigkeit bei der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter in einer solchenforensischen Klinik einen Schwarzafrikaner sah, der seit achtWochen in einerIsolierzelle auf einerMatratzen aufdemFußboden schlafenmusste, seinEssenauf Papptellern bekam und seine Getränke aus aufgeschnittenen Tetrapacks?Noch nicht einmal eine Sitzgelegenheit gab es. Er wollte trotz einerSchizophrenie-Diagnose seine Medikamente nicht mehr nehmen. Fehlende„Behandlungsakzeptanz“ – so drückt es der Tagungsflyer aus - kann inDeutschlandwiederzusolchunmenschlicherZwangsbehandlungführen.WieoftsieimKlinikumWahrendorffundderenHeimevorkommt,wurdeunsvomVor-Referentennichtverraten.Geschlossene Heime sind dem Tagungsflyer folgend „Einrichtungen für eherjüngereMenschenmitgeringeroderinstabilerBehandlungsakzeptanzundsozialauffälligem Verhalten (Abhängige, Psychose-Kranke und Menschen mitPersönlichkeitsstörungen).“ Die Gerontopsychiatriewurde hier ausgeklammert.Doch ich möchte nicht in Vergessenheit geraten lassen: Zu diesem Unter-Fachbereich der Psychiatrie gehört die größte und am schnellsten wachsendeGruppe von Menschen, die aus dem Klinikbett in ein Heimbett verlegt wird –ohne oder gegen ihren eigenenWillen. Die Nationale Stelle zur Verhütung vonFolter hat die Altenpflege im Jahr 2018 zum Schwerpunktthema gemacht, derJahresberichtwirdMitteMaiaufihrerInternetseiteveröffentlicht.Eslohntsich,den mal anzuschauen, denn natürlich haben wir auch psychiatrische Klinikenbesucht.

3. SozialauffälligesVerhalten-Systemsprenger–Extremindividualisten

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NocheinedirekteReferenzanKarlBeine.Am3.November2018sollteichbeimvon ihm gemeinsam mit dem Angehörigenverband ausgerichteten HammerTrialogforum erläutern,wie einMensch „Extremindividualist“wird. InmeinemdortigenVortraghabeichmichüberdieBegriffsbildungmokiert.IneinemLand,indemIndividualismuszudenhöherenWertengehört, solltemannichteigenefachlicheSchwierigkeitenundWidersprüchedurchneueSuperlativ-BegriffeaufdieSeitederPatientenverschieben.Der„nichtwartezimmerfähige“Mensch,warfürmich derBeginndieser Sprachentwicklung, es folgte der „Systemsprenger.“Das System Psychiatrie schien nicht zu merken, wie sehr es sich schon mitsolchenBegriffenselbstinFragestellte.Heute und hier sollten wir nicht von „sozial auffälligem Verhalten“ reden. Dereingeführte Fachbegriff heißt „herausforderndes Verhalten.“ Dieser Fachbegriffmachtdeutlich,dasseseineherausforderndeParteigibtundeineandere,diesichherausgefordert fühlt. Die zweite Partei ist nicht nur die Gesellschaft, sondernauchalldievielenbezahltenundpublizierendenPsychiater.DerVor-ReferenthatdiesesVerkehrsschildschonerwähnt.

Dieses amtliche Verkehrszeichen soll Autofahrer auffordern Rücksicht zunehmen.DerBürgermeistersollnachseinenWortenschuldsein,dassesimmernochsteht.MirbleibtdieFrage,ob,wann,woundwievielRücksichtgenommenwird auf die Wünsche und den Willen der im Groß-Heim in Köthenwaldbetreuten Menschen. Geschützt wären sie besser durch ein klares rundesVerbotsschild, das eine maximale Durchfahrtsgeschwindigkeit von 20 km/hanordnet. Statt solch einfacher Maßnahme werden dreihundert der BewohnerhinterverschlossenenTürenverwahrt.

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Foto: DIE ZEIT, 13.11.2008, Nr. 47

„Eine liegt an der B65, die durch Sehnde bei Hannover führt, Ortsteil Köthenwald“

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NatürlichistmirauchBethelbekannt,heuteistdaseinStadtteilvonBielefeld.Sokannman diese traditionsreiche Einrichtung heute aus stadtplanerischer Sichtals gemeindenah bezeichnen. Schon in den Neunziger Jahren hat Bethel inDortmund moderne Behindertenheime mit Einzelappartments gebaut. AuchFreistattinNiedersachsenwärehierzunennen,indieserkirchlichenEinrichtungdurften die Bewohner im letzten Jahrhundert noch Torf stechen und sich sonützlich machen für die Volksgemeinschaft. Heute „gehört“ dieses Dorf BethelNord.HeimbetreuungscheinteinlohnendesGeschäftsfeldzusein.DerLandschaftsverbandWestfalen-Lippehat indenNeunzigerJahrendurchausauchetlicheKlinikstationeninHeimemitgeschlossenenStationenumgewandelt,die inDortmundimKlinikjargon„die letzteWiese“genanntwurden.Heutegibtes inNRWdie absurde Situation, dassder LandschaftsverbandRheinland stolzdarauf verweist, keine geschlossenen Heime zu haben. Die Rheinländer, beidenen die Psychiater die geschlossene Unterbringung für sinnvoll erachten,werdeninLWL-HeimeinsSauerlandverbracht.OdergarnachKöthenwald?Da es vomTagungsprogrammvorgegebenwurde,will ich heute vomKlinikumWahrendorffunddenOrtenIltenundKöthenwaldsprechen.

KannmanbeidieserLage-inNachbarschaftzueinemGefängnisundmehrerenKalkwerken-nochvonGemeindenähesprechen?Das bereits erwähnte amtliche Gefahrenzeichen für Autofahrer schmückte vormehr als zehn JahrendenBeitrag „Seele inNot“ in der ZEIT, verfasst vondemArzt undNeuroanatomenHarro Albrecht. Er schrieb schon 2008, also ein JahrvorRatifizierungderBehindertenrechtskonventionderVereintenNationen(UNBRK): „Doch trotz aller Reformen blieb die Psychiatrie historisch belastet.ZugleichbotensichPsychosomatikundPsychotherapiealssanfteAlternativean,obwohl alle Fächer im Kern ähnliche psychische Erkrankungen behandeln.Seither gibt es inDeutschlanddiehartenpsychiatrischenFällemitmiserablem

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Sozialprestige und die durchaus Smalltalk-fähige Behandlung beimPsychotherapeuten - eine diskriminierende Trennung, die in anderen Ländernnichtexistiert.“GelernthabeichsoebenvomVorredner,dassBundesländerwieBayern, Berlin und Rheinland-Pfalz gerne Menschen mit Behinderung in denWald bei Hannover schicken, da die Heimpflegesätze hier niedriger sind als inder Heimat. Ob dies zehn Jahre nach Ratifizierung der UN BRK noch rechtlichzulässigist,kannichnichtbeurteilen.DieKernfragemeinesVortragslautet:WasistbessergewordenfürdieMenschen,diediePsychiatrie-EnquetealsZielgruppesah? Für die schwer und chronisch psychisch Kranken, die heute unter demSchutzderUNBRKstehen?Die 1000 Heimbewohner in Köthenwaldwerdenmedizinisch versorgt von derpsychiatrischenInstitutsambulanzdesKlinikumsWahrendorff.ObundwievieledieserBewohnerseitErscheinendesZEIT-ArtikelsvonzehnJahren,dasZiel-diegesellschaftliche Integration – erreichen konnten, wurde eben nicht erwähnt.Wer führt eigentlich die Aufsicht über diesen Betrieb in privater Hand? Werschützt die Grund- und Menschenrechte der Heimbewohner der GemeindeKöthenwald? Zählen vielleicht nur die Arbeitsplätze der Mitarbeiter und dasGewerbesteueraufkommen? Jedenfalls, so hörten wir eben, ist das zuständigeAmtsgericht dankbar für die zu bearbeitenden Sachverhalte aus Ilten undKöthenwald.

Damals, im Jahr 2008, lauteten die Schlussätze von Harro Albrecht: „Hält dieÄrztin die Existenz einer solchen Institution angesichts dergemeindepsychiatrischenRevolutionnicht füranachronistisch?»Nein«,sagtsie.»Wennesnurdaraufhinausläuft, dassderPatient allein zuHause ist unddortvereinsamt,kanndasauchnichtgutsein.«EineVerwahranstaltistdasKlinikumWahrendorff nicht, und doch ahnt man, dass manchen Bewohnern mit einerguten integriertenVersorgungnochbesser gedientwäre.DieÄrztinhat sich inHamburgschonerkundigt.“NacheinemneuenArbeitsplatzanderdamalsschondeutlich fortschrittlicheren psychiatrischen Abteilung am UniversitätsklinikumHamburgEppendorf.Ichhingegenhabebisheutegeglaubt,dassessolcheGroßpflegeanlagengarnichtmehr gibt und frage mich jetzt, ob es nicht an der Zeit ist für eine neuePsychiatrie-Enquete. Einrichtungen wie diese sind mehr als ein Stachel imSelbstverständnisderGemeindepsychiatrie.SiewerfendieFrageauf,obderStolzder Psychiatrie-Landschaft, die Psychiatrie-Reform der 80er Jahre, wirklichFortschrittegebrachthat.Das „Recht aufBehandlung“dasdamalsdurchgesetztwurde, wurde zu einer Pflicht, sich behandeln zu lassen; und psychiatrischeKlinikenoderAbteilungenbringenoftfürdenTrägerdiegrößtenGewinne.Werdann noch einen eigenen Heimbereich hat, braucht sich um die ökonomischeZukunftwenigSorgenzumachen.

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4. DieVermessungderPsychiatrie–einerstesFazit

WemmeineThesenzuharscherscheinen,dermögesichdiesesBuchanschauen.Eswird inmeinemBriefkasten sein,wenn ich ausEmdenzurückkehreund ichkonnteimNovemberaufderJahrestagungderDeutschenGesellschaftfürsozialePsychiatrie inMagdeburg schon einer Lesung des Autors lauschen. Der Verlagkündigt das Buchmit folgendenWorten an: „DieMechanismen von Täuschungund Selbsttäuschung sind aus der Psychologie gut bekannt. In diesem Buchwerden diese Erkenntnisse auf das Fachgebiet Psychiatrie selbst angewendet:Wiesiehtesausmitdersogenannten»Evidenz«zudenUrsachenvonDepressionund Schizophrenie? Wie mit der Wirksamkeit von Medikamenten undPsychotherapien? Welche Bedeutung haben Vorurteile, Verzerrungen und sichselbst erfüllende Voraussagen in der psychiatrischen Behandlung undForschung?UndwiesohelfenvieleguterforschteAnsätzesohäufignicht?“VielleichthatdieakademischePsychiatriedenaktuellsogernbeklagtenMangelan personellem Nachwuchs ja selbst verursacht durch ihr Beharren aufveraltetenParadigmen.

5. WiedergewinnungderfreienWillensbildung?LangsamleiteichüberzudemjuristischenVortragdesEhepaaresBienwald.DerTagungsflyer postuliert: „Für die langfristige Unterbringung wird i.d.R. der §1906 BGB herangezogen, wobei die Dauer der Unterbringung und dieWiedergewinnung der freienWillensbildung (deren Verlust die VoraussetzungfürdieUnterbringungist)ineinemspannungsreichenVerhältnisstehen.“Leiderhaben wir heute nicht gehört, wie viele der Heimbewohner aufgrund eigenerEntscheidung freiwillig nach Köthenwald gekommen sind. Viele Menschen imgeschlossenen Heimbereich leben im Freiheitsentzug und das ohne zeitlicheBefristung. Sind sie alle unfähig, einen freien Willen zu bilden? Wird ihr

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natürlicher Wille in der institutionellen Versorgung beachtet? Viel zu schnellmachen Psychiater allein aus der Diagnose eine Unfähigkeit zur freienWillensbildung. Auch eine Gefährdungsbegründung ist rasch konstruiert. ImOktober2000unterschriebdiehabilitierteKlinikleiterininGütersloheinPsych-KG-Attestgegenmich.„SiewillsichnichtrichtigbehandelnlassenundgefährdetsichdurchChronifizierung“hießesdort.DemRichterreichtedasundaufmeineBeschwerde hin telefonierte das Landgericht lediglich mit dem zuständigenOberarzt. Ich selbst wurde nicht gehört. So werden Sie vielleicht verstehen,warumfürmichderSchutzderRechtevonBürgern inKlinikenundHeimensowichtig ist. Es gibt Fragen über Fragen, die hoffentlich Raum in derabschließendenDiskussionfinden.SichersinddiebehindertenBewohnerdesDorfesKöthenwaldalleExpertenfürEigensinn.

Mich beschäftigt die Frage, wie esmit ihrem Rechtsschutz in Köthenwald undIltenaussieht.DarumnochdieseBuchempfehlungaufderAbbildung,verbundenmitderFrage,wievielePeersundGenesungsbegleiterimKlinikumWahrendorffbeschäftigt sind. Die Kliniken in Bremerhaven sind zu dieser Fragemit gutemBeispiel vorangegangen und wegen der räumlichen Nähe kann Bremerhavensicher ein Vorbild für Emden sein. Wenn aber mein Vorredner von„Klinikbewohnern“ und „Heimpatienten“ spricht, löst das Besorgnis aus, dennmanscheinthierdenUnterschiedvonKlinikpatientenundHeimbewohnernnichtzu kennen. Für ihn scheinen solche Begriffe das Gleiche zu bedeuten,Humankapital, das der Fürsorge bedürftig ist. Patienten sind nicht nurSymptomträger,siesindvorallemRechteträger,dasmacht§630BGBklar.Auchdas Fixierungsurteil des Bundesverfassungsgerichts hat dies wieder bestätigt.Heimbewohnerkönnennatürlichauch inanderemKontextPatientensein,dochistdasHeimersteinmalihreWohnung,ihrebesondersgeschütztePrivatsphäre.

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ObdieHeimaufsichtsbehördesichschonmalumdiesenAspektgekümmerthat?Schon das Recht auf freie Arztwahl scheint mir in Köthenwald erheblicheingeschränkt,mehr als die Institutsambulanz ist ja nicht zu erreichen. Ob dieBewohnerz.B.zurkommendenEuropawahlwählengehendürfen,istauchnichtgeklärt.

6. Psychosozialbehindert–politischvergessen

Zum Schluss noch eine aktuelle Skandalmeldung aus Baden-Württemberg(28.2.2019). Missbrauch von Menschen in Heimen hat in diesem Fallstrafrechtliche Konsequenzen. So etwas kommt auch und immer noch inBehindertenheimen vor. Bei Besuchen der Nationalen Stelle in solchenEinrichtungen wird immer auch gefragt, ob die Einrichtung SchutzkonzepteentwickelthatundwiedasBeschwerdewesenfunktioniert.Natürlichwirdauchgefragt, wie viele Fixierungen es gibt und wie viele Zwangsmedikationen. AusmeinerSichtbleibenaberzuvieleFragenoffen.DochvorallembleibtesunserepsychiatrischePflicht,mehrTransparenzindenTabubereichderpsychiatrischenZwangsmaßnahmenzubringen.JederderhieranwesendenKlinikleiterkanndiesrecht kostenneutral im Rahmen des regelmäßigen Qualitätsberichts tun.StatistischeAngaben zurHäufigkeit von Fixierungen, Zwangsmedikationen undIsolierungen reichen und stärken die psychiatrische Selbstwahrnehmung überdieHäufigkeitoderauchSeltenheitsolcherhoheitlichenMaßnahmen.DiePolitikderLänderabervergisstdiepsychischschwerundchronischkrankenMenschen,solangesienurnachderbilligstenUnterbringungslösungsucht.Auchdie soziale Teilhabe von Heimbewohneren gehört zur Befriedigung humanerGrundbedürfnisse, die schon von der Enquete-Kommission gefordert wurden.InklusionistauchfürdieseMenscheneinBedürfnis.

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