Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

6
Die Waisen von Versailles Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die osteuropäische Landkarte komplett umgestaltet, Millionen Deutsche fanden sich in neuen Staaten wieder. In Oberschlesien tobte zeitweilig ein Bürgerkrieg. 74 KAPITEL III KRIEG, FLUCHT, VERTREIBUNG

Transcript of Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

Page 1: Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

Die Waisenvon Versailles

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieosteuropäische Landkarte komplett

umgestaltet, Millionen Deutsche fanden sich in neuen Staaten wieder. In

Oberschlesien tobte zeitweilig ein Bürgerkrieg.

74

KAPITEL III KRIEG, FLUCHT, VERTREIBUNG

Page 2: Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

75

SCHERL / SÜDDEUTSCHE VERLAG

Gefecht zwischen Deutschen undPolen in Oberschlesien um 1920

Page 3: Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

76 SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2011

KRIEG, FLUCHT, VERTREIBUNG

Von DIETMAR PIEPER

Lange bevor irgendjemand etwas davon ahnen konnte,nahm das Schicksal von Millionen Menschen eineneue Wendung, als sich im

Jahr 1914 ein polnischer Pianist und deramerikanische Präsident zum erstenMal begegneten. Von diesem Tag an wurden Ignacy Paderewski, ein weltbe-rühmter Musiker mit Wohnsitz in Kali-fornien, und der ins Weiße Haus gewähl-te Hochschullehrer Woodrow Wilson zupolitischen Weggefährten. Gemeinsamsollten sie europäische Geschichteschreiben.

Paderewskis große Stunde kam imletzten Jahr des Ersten Weltkriegs. Un-ter Wilsons Führung hatten die Ver -einigten Staaten ihre Neutralität auf -gegeben und kämpften nun an der SeiteFrankreichs und Großbritanniens gegendas deutsche Kaiserreich und die Habs-burgermonarchie. Im Januar 1918, wäh-rend Europa noch ein Schlachtfeld war,stellte der US-Präsident sein „Programm

des Weltfriedens“ vor. Wohl nie zuvorhatte die Menschheit einen Plan mit sol-chem Anspruch aus dem Mund eines soMächtigen vernommen; der missionari-sche Horizont reichte vom Selbstbestim-mungsrecht der Nationen bis zur Schaf-fung eines Völkerbundes.

In Punkt 13 seines 14-Punkte-Pro-gramms versprach Wilson einen „unab-hängigen polnischen Staat, der die vonunbestritten polnischen Bevölkerungenbewohnten Gebiete einschließen sollte“.Auch „ein freier und sicherer Zugangzum Meere“ müsse zum Staatsgebiet ge-

hören. Es war ein Triumph für alle pol-nischen Patrioten.

Ganz besonders aber triumphierteIgnacy Paderewski. Er hatte es geschafft,Wilson für die polnische Sache zu begeis-tern. Punkt 13 war Paderewskis Punkt.Und er war die Ouvertüre für eine grund-legende Neuordnung Osteuropas.

Als der Krieg im Herbst 1918 zu Endeging, war das lange Zeit Unvorstellbareeingetreten: Ausgerechnet die drei Dy-nastien, die sich Polen im 18. Jahrhun-dert zur Beute gemacht hatten, warenerledigt, die Hohenzollern, die Habsbur-ger und die Romanows. In drei Schritten,1772, 1793 und 1795, hatten Preußen,Österreich und Russland das KönigreichPolen unter sich aufgeteilt.

Jetzt war für die Polen der Tag ge-kommen, an dem ihr geschundenes Va-terland neu erstehen sollte. Und sie wa-ren nicht die Einzigen, die mit großenErwartungen in die neue Zeit gingen.Überall in Osteuropa wollten sich natio-nale Bewegungen endlich die Rechtenehmen, die ihnen von den Monarchenverwehrt worden waren. A

LBERT HARLINGUE / ULLSTEIN BILD

Die „Großen Vier“ vonVersailles: Vittorio Orlando,David Lloyd George,Georges Clemenceau,Woodrow Wilson

Breslau

Oppeln

Katto-witz

Beuthen

Teilung Oberschlesiens 1922

Verbleib bei Deutschland

an Polen

DEUTSCH-LAND

O b e r s c h l e s i e n

POLEN

TSCHECHO-SLOWAKEI

Page 4: Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

Das hatten sich die Deutschen ganzanders vorgestellt. Weder für die Mili-tärs noch für die Masse der Bevölkerungwar ja der Untergang der Monarchiegleichbedeutend mit einer totalen Nie-derlage. Das Land sei „im Felde unbe-siegt“, lautete ein geflügeltes Wort. DieErwartungen, Deutschland würde imFriedensvertrag glimpflich davonkom-men, waren groß, und sie stützten sichauf tatsächliche oder vermeintliche Ver-sprechungen von US-Präsident Wilson.

Es war, wie es häufig ist: Jeder hörte,was er hören wollte. In deutschen Ohrenklang Wilsons Parole vom Recht auf na-tionale Selbstbestimmung eher nach Ver-größerung als nach Verkleinerung. Mil-lionen Österreicher und Sudetendeut-

sche hofften nach dem Zerfall der Wie-ner k. u. k. Monarchie auf den Anschlussans Deutsche Reich.

Wunschdenken und Irrtümer gab esnicht nur auf Seiten der Verlierer, auchdie Sieger fanden keine klare Linie. Derneue Anspruch, den Völkern ihre natio-nale Selbstbestimmung zu überlassen,kollidierte vielfach mit herkömmlicherMachtpolitik. Wie sie ihre Prioritätenzu setzen gedachten, machten die Alli-ierten rasch deutlich: Als die Provisori-sche Nationalversammlung in Wien imNovember 1918 den Beschluss fasste,Österreich an Deutschland anzuschlie-ßen, kam sogleich das Veto der Sieger-mächte.

Es störte auch nicht weiter, dass dieaus dem Habsburgerreich hervorgegan-gene Tschechoslowakei ein neuer Viel-

77SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2011

Am 7. Oktober 1918 proklamierten dieMachthaber in Warschau einen unab-hängigen polnischen Staat und übernah-men einige Tage darauf die Befehls -gewalt über die Armee. Drei Wochenspäter stürmten auch die benachbartenTschechen voran in die Unabhängigkeit.In Prag wurde die TschechoslowakischeRepublik ausgerufen. Der Philosoph undPolitiker TomአG. Mašaryk, der bald da-nach zum ersten Präsidenten gewähltwurde, hatte es in den Monaten zuvorvermocht, Amerikanern, Briten undFranzosen deren Bedenken gegen dieStaatsgründung auszureden.

Von einer Beruhigung der Lagekonnte aber keine Rede sein. Für dieDeutschen, die im Osten des Reiches

ansässig waren, fing der Ärger jetzt erstrichtig an.

In der preußischen Provinz Posenzum Beispiel kam es Ende Dezember1918 zu einem Aufstand gegen die deut-sche Obrigkeit. Auslöser war eine fried-liche Demonstration polnischer Bürgerin der Provinzhauptstadt Posen. Sie hat-ten sich in großer Zahl versammelt, umihr Idol Paderewski zu ehren. Der ausAmerika zurückgekehrte Freiheitsheldbefand sich auf der Reise nach War-schau, wo er zum Ministerpräsidentendes jungen Staates ernannt wurde.

Der antideutsche Handstreich brach-te die Provinz Posen weitgehend unterpolnische Kontrolle. Die völkerrechtli-che Legitimierung durch den Friedens-vertrag von Versailles ließ dann nichtlange auf sich warten.

völkerstaat war, in dem die nationaleMehrheit der Tschechen zumindest inden Anfangsjahren etwas gleicher warals die Minderheiten. Slowaken und Un-garn stellten einen erheblichen Anteilder Bevölkerung; die größte dieser Grup-pen aber waren die Deutschböhmen, fürdie sich rasch die von einem Gebirgszughergeleitete Bezeichnung Sudetendeut-sche einbürgerte (siehe Seite 80). Alsfrischgewählter Präsident stellteMašaryk sogleich die Verhältnisse klar:„Wir – die Tschechen – haben unserenStaat geschaffen. Dadurch wird diestaatsrechtliche Stellung unserer Deut-schen bestimmt, die ursprünglich als Im-migranten und Kolonisten ins Land ka-men.“ Später ging Mašaryk zwar auf die

Sudetendeutschen zu, aber der Ton wargesetzt.

das versailler diktatZu Beginn des Jahres 1919 richteten sichdie Augen der Welt auf Paris. Dort tagtedie erste Mega-Konferenz des 20. Jahr-hunderts mit dem Ziel, der Welt eineneue Ordnung, eine Friedensordnung zugeben. Das jedenfalls war die erklärteAbsicht des US-Präsidenten, der mona-telang in der französischen HauptstadtQuartier bezog. Für Wilsons Verhand-lungspartner – den Franzosen GeorgesClemenceau, den Briten David LloydGeorge und den Italiener Vittorio Orlan-do – war es eher ein Lippenbekenntnis.

Meist kamen die vier in der Residenzdes amerikanischen Präsidenten zusam-men, wo sich die Herren über riesige

MICHAEL NICHOLSON/CORBIS (L.); AKG (M.); ULLSTEIN BILD (R.)

Ein antideutscher Handstreich brachte die Provinz Posenweitgehend unter polnische Kontrolle.

Freiheitsheld Paderewski Republikgründer Mašaryk Oberschlesien-Kämpfer Korfanty

Page 5: Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

78 SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2011

KRIEG, FLUCHT, VERTREIBUNG

Landkarten beugten. Was gab esnicht alles zu regeln! Europa, diearabische Welt, Afrika, überallmussten Interessen bestimmt, Ge-biete zugeteilt und Grenzen neugezogen werden. Die Hauptauf-gabe aber war immer wieder: Wieweiter mit Deutschland?

Am genauesten wusste derFranzose, was er wollte. Cle-menceaus oberstes Ziel hieß: DasDeutsche Reich musste so kleinwie möglich gehalten werden; Po-lens Stärke würde DeutschlandsSchwäche sein. Dass westlicheReichsgebiete wie das Elsass anFrankreich fallen würden, war so-wieso klar.

Dem Briten ging das in vielemzu weit. Lloyd George wollte zumBeispiel verhindern, dass durchüberzogene polnische Forderun-gen die „Saat eines künftigenKrieges“ gelegt würde. Er ahnte:Deutschland wird, „wenn es dasGefühl hat, dass es im Friedenvon 1919 ungerecht behandeltworden ist, Mittel finden, um sei-ne Überwinder zur Rückerstat-tung zu zwingen“.

Als deutlich wurde, dass sichdie Gebietsansprüche der Polengegenüber den Deutschen auf 84000Quadratkilometer summierten, hieltLloyd George entschieden dagegen.Schließlich einigte man sich auf ein Ge-biet von 43000 Quadratkilometern, dievor allem Posen und Westpreußen um-fassten. In zwei Bezirken sowie in Ober-schlesien sollten die Menschen in Volks-abstimmungen entscheiden, ob sie sichdem deutschen oder dem polnischenStaat angliedern wollten. Danzig wurdeim Versailler Vertrag mit Wirkung zum15. November 1920 zur Freien Stadt un-ter dem Mandat des Völkerbundes er-klärt (siehe Seite 82).

Glücklich allerdings war niemand mitdem Ergebnis, ganz im Gegenteil. Pade-rewski murrte, vor allem im Hinblickauf Danzig und Oberschlesien sei dasDiktat der Sieger ein „grausamerSchlag“. Und den Deutschen war derVersailler Vertrag aus vielen Gründenverhasst. Die Gebietsverluste im Ostenempfanden sie als willkürlich und äu-ßerst ungerecht.

Der sozialdemokratische Reichsau-ßenminister Hermann Müller erklärte imJuli 1919 vor der Nationalversammlung:„Wir lassen keinen Zweifel darüber, dasswir mit allen loyalen Mitteln die Revisiondieses Vertrages erstreben werden.“ Daswar eine gemäßigte Stimme, viele Deut-sche redeten erheblich radikaler.

Während die Pariser Verhandlungennoch liefen, hatte die Oberste Heereslei-tung der Reichswehr Pläne für einen Feld-zug gegen Polen ausgearbeitet, die aberin der Schublade blieben. Danach träum-ten führende Militärs eine Weile davon,auf eigene Faust einen selbständigendeutschen „Oststaat“ zu errichten.Reichswehr-Chef Hans von Seeckt giftetenoch Anfang der zwanziger Jahre: „Po-lens Existenz ist unerträglich, unverein-bar mit den Lebensbedingungen Deutsch-lands. Es muss verschwinden und wirdverschwinden durch eigene Schwächeund durch Russland, mit deutscher Hilfe.“

Durch Versailles verlor Deutschlandinsgesamt 10 Prozent seiner Bevölke-

rung und 13 Prozent seines Ge-biets, dazu 80 Prozent seiner Ei-senerz- und 26 Prozent seinerSteinkohlenlager, 40 Prozent sei-ner Hochöfen und 15 Prozent sei-ner landwirtschaftlichen Nutzflä-che. Und das Land wurde zwei-geteilt. Am 20. Januar 1920 über-nahm Polen weite Teile der Pro-vinzen Posen und Westpreußen.Der Polnische Korridor entstand.

Die Menschen, die dort lebten,waren nicht gefragt worden. Weitverbreitet war die Klage, die derGutsbesitzer Nordewin von Koer-ber-Koerberode einer BerlinerZeitung übermittelte: „Das Land,das in harter Arbeit zu einer Perleunter den deutschen Landen ge-worden ist, das Land, wo Hun-derttausende unserer Volksgenos-sen schlummern, ist vom Vater-land abgetrennt und einemFremdvolke ausgeliefert.“

Der adlige Gutsherr harrte aufseiner Scholle aus und wurde spä-ter als Abgeordneter der deut-schen Volksgruppe in den polni-schen Sejm gewählt. Viele seinerLandsleute aber verließen ihreHeimat, freiwillig oder unterdem Druck der neuen Verhältnis-

se. Die unter polnische Herrschaft ge-ratenen Deutschen waren die „Waisenvon Versailles“, schreibt der britischeHistoriker Richard Blanke: „Beinahüber Nacht sahen sie sich nicht mehrals Teil der herrschenden Schicht in ei-nem starken und wirtschaftlich hochentwickelten Nationalstaat, sondern alsverletzliche und beargwöhnte Minder-heit.“

So wie preußische Behörden jahr-zehntelang die Germanisierung des Lan-des betrieben hatten, so machten die Po-len nun Politik gegen die Deutschen.„Das fremde Element wird sich umsehenmüssen, ob es sich anderswo besser be-findet“, erklärte der spätere polnischeBildungsminister Stanislaw Grabski imOktober 1919. Mit propagandistischemEifer verbreiteten die neuen Herren Sta-tistiken darüber, wie stark der Anteil derDeutschen im ehemaligen Reichsgebietzurückging – vielerorts von mehr als derHälfte der Einwohner auf einstelligeProzentanteile.

BUNDESARCHIV, PLAK 002-029-075

Führende deutsche Militärs träumten davon, einen selbständigen „Oststaat“ zu errichten.

„Rettet den Osten“: Plakat der Deutschnationalenaus der Frühzeit der Weimarer Republik

Page 6: Die Waisen von Versailles - DER SPIEGEL

79SPIEGEL GESCHICHTE 1 | 2011

kampf umoberschlesienBesonders schwierig waren dieVerhältnisse in Oberschlesien.In der Region um Oppeln undKattowitz hatte sich über dieJahrhunderte ein multiethni-sches Patchwork herausgebildet,in dem deutsche und polnische,jüdische und tschechische Iden-titäten miteinander verwobenwaren. Aber das Zeitalter desNationalismus hatte auch inOberschlesien seine Spuren hin-terlassen. Der Germanisierungs-politik stand eine polnische Nationalbewegung gegenüber,die das slawische Selbstbewusst-sein hochhielt. Durchaus mit Erfolg: Bei der Reichstagswahl1907 kam die Polnische National-demokratische Partei (Polenpar-tei) im Regierungsbezirk Oppelnauf 39,5 Prozent der Stimmen.

Nach Inkrafttreten des Ver-sailler Vertrages mussten diedeutsche Armee und die Beam-tenschaft abziehen. Die Verwal-tung übernahm eine alliierteKommission unter Vorsitz einesfranzösischen Generals.

Es war eine Zeit der Wirren, die sichbis zum Bürgerkrieg hochschaukelten.Auf deutscher wie auf polnischer Seitekämpften Geheimorganisationen und pa-ramilitärische Verbände um die regiona-le Vorherrschaft. Oberschlesien wurdezum Aufmarschgebiet der Freikorps, diein den Gründungsjahren der WeimarerRepublik eine unheilvolle Rolle spielten.

Geradezu ein Markenzeichen deroberschlesischen Wirren waren aufdeutscher Seite die sogenannten Feme-morde: Tatsächliche oder vermeintlicheVerräter wurden ohne viel Federlesensumgebracht. Anlass war häufig der blo-ße Verdacht, mit den Polen gemeinsameSache zu machen. Der Historiker Bern-hard Sauer, der die Fememorde im De-tail untersucht hat, kommt zu dem Er-gebnis: „Es waren in der Regel Unschul-dige, die ermordet wurden“, und „dieOpfer hatten nicht die geringsten Mög-lichkeiten, sich gegen die erhobenen Be-schuldigungen zu verteidigen“.

Eines der Opfer war Josef Nowak.Der angebliche polnische Spion, sagtenseine Söhne später, „hatte sich lediglichwiederholt dahin geäußert, dass der ge-genseitige Brudermord in Oberschlesiensinnlos wäre, da das Volk sowieso verra-

ten und verkauft sei. Man könne das ge-genseitige Morden unmöglich als einenKampf um die Freiheit bezeichnen.“ DenMord an ihrem Vater schildern die Söh-ne in allen blutigen Details: „Um Mitter-nacht des 4. Juni wurde er plötzlich vonsogenannten Grenzschutzsoldaten ausdem Bett geholt und wie ein Tier durchdas Dorf getrieben, wobei die Soldatenfortgesetzt mit Seitengewehren und Ge-wehrkolben auf ihn einschlugen.“ In der-selben Nacht schnappten sich die Feme-mörder drei weitere Männer. Zuletztwarfen sie ihre Opfer in einen Stein-bruch und schlugen sie dort tot.

Besonders berüchtigt war die „deut-sche Spezialpolizei“, geleitet von HeinzOskar Hauenstein. Als Zeuge vor Ge-richt sagte Hauenstein einmal auf dieFrage, wie viele Fememorde seine Orga-nisation in Oberschlesien begangenhabe: „Die genaue Zahl kann ich nichtangeben. Aber ich habe mir einen klei-nen Überschlag gemacht und bin auf dieZahl 200 gekommen.“ Da im Juni 1922eine Amnestie für politisch motivierteStraftaten erging, blieben Verbrecherwie Hauenstein straffrei.

Führender Kopf auf polnischer Seitewar Wojciech Korfanty, der bis 1918 den

Vornamen Albert trug. Von1903 bis 1912 hatte er als Abge-ordneter der Polenpartei demDeutschen Reichstag angehört.Nach dem Versailler Frieden er-nannten ihn die Alliierten zumpolnischen Kommissar für dieOrganisation des Plebiszits.

Gleichzeitig wussten alle,dass Korfanty auch den bewaff-neten polnischen Kampf an-führte. Jedem Teilnehmer ver-sprach er eine Kuh als Ge-schenk, sobald Oberschlesienpolnisch wäre – die Korfanty-Kuh wurde bald sprichwörtlich.

Am 20. März 1921 fandschließlich die Abstimmungüber die künftige Staatszugehö-rigkeit Oberschlesiens statt.707000 Stimmen entfielen aufDeutschland, 479000 auf Polen.

Nach dem unklaren Ergebnisbrachen heftige Konflikte umdie künftige Grenzziehung aus.Mit französischer Unterstüt-zung besetzten Korfantys Frei-schärler einige Gebiete, in de-nen die Menschen überwie-gend für Polen gestimmt hatten.Im Mittelpunkt des polnischenAufstandes stand das katholi-

sche Kloster St. Annaberg. Aber dieDeutschen schlugen zurück, allen voranHauensteins Paramilitärs, die sich mitt-lerweile „Organisation Heinz“ nannten.Ende Juni 1921 schlossen die Bürger-kriegsparteien einen Waffenstillstand.

Die Alliierten teilten Oberschlesienschließlich auf, ein Vertragswerk besie-gelte im Mai 1922 die neue Ordnung. 30Prozent der Fläche, aber 46 Prozent derBevölkerung kamen zu Polen. Die Deut-schen mussten auch das ökonomische Fi-letstück abgeben, die Industrieregion umKattowitz. Die meisten oberschlesischenBergwerke und Hütten wurden polnisch.

Über den Tag der offiziellen Macht-übernahme in Kattowitz, das nunmehrKatowice hieß, bemerkte Korfanty spä-ter: „Für mich war es der schönste Tagin meinem Leben.“

Für die Deutschen blieb die Ostgren-ze eine offene Wunde. Berlin war zwarrealistisch genug, 1925 im Vertrag vonLocarno die neue Westgrenze zu akzep-tieren. Aber gegenüber dem Nachbarnim Osten gelobte die Reichsregierung le-diglich Gewaltverzicht, mehr nicht.

Damit war es 1939 auch vorbei. Mitdem Angriff der Deutschen auf Polen be-gann der Zweite Weltkrieg.B

RIDGEMANART.COM

„Wir geben Schlesien nicht her!“: Polnisches Propagandaplakat von 1921