Die Wiedereinführung der Landesverweisung für ... · Grundsätzlicher Automatismus einer...

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Die Wiedereinführung der Landesverweisung für straffällige Ausländer Peter Uebersax (Modifizierte Fassung der Präsentation von Peter Uebersax und Marc Busslinger an den Migrationsrechtstagen vom 2.9.2016)

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Die Wiedereinführung der Landesverweisung für straffällige

Ausländer

Peter Uebersax(Modifizierte Fassung der Präsentation von Peter Uebersax und

Marc Busslinger an den Migrationsrechtstagen vom 2.9.2016)

Bern, 16.9.2016Uebersax: Die neue Landesverweisung (Quelle: Uebersax/Busslinger) 2

Programm

•Die neue Landesverweisung

•Härtefall nach Art. 66a Abs. 2 StGB

•Wegweisungsvollzug und Einfluss supranationaler Bestimmungen

•Schlussbemerkung

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Die neue Landesverweisung

Landesverweisung nach Art. 66a Abs. 1 StGB

• Art. 66a ff. StGB bildet Umsetzung von Art. 121 Abs. 3-6 BV

• Bestimmungen der sog. «Ausschaffungsinitiative»

• In mancherlei Hinsicht unklar; klar immerhin: konsequentere Entfernung ausländischer Delinquenten als Stossrichtung («Automatismus»)

• Gesetzesauslegung: grundsätzlich ordentliche Regeln

• Inkl. Verfassungskonformität; dabei auch Harmonisierung mit übrigem Verfassungsrecht

• Völkerrechtskonformität

• Bestätigt durch:

• BGE 142 II 35; 139 I 16 (Tragweite allerdings noch nicht definitiv geklärt)

• Ablehnung der sog. Durchsetzungsinitiative, wodurch Gesetzesnovelle indirekt abgesegnet wird

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Grundgehalt der gesetzlichen Regelung

• Umsetzung im Strafrecht

• Zuständigkeit: Strafrichter und nicht Migrationsbehörden

• Obligatorische Landesverweisung (Art. 66a StGB)

• Grundsätzlicher Automatismus einer Entfernungsmassnahme bei bestimmter Delinquenz

• Gesetz enthält eine Liste von Anlasstaten, die diesen Automatismus auslösen (Art. 66a Abs. 1 StGB)

• Liegt Anlasstat vor, muss Strafrichter bei strafrechtlicher Verurteilung Landesverweisung grundsätzlich anordnen, ausser es liege ein sog. Härtefall vor (Art. 66a Abs. 2 StGB) sowie bei entschuldbarer Notwehr oder entschuldbarem Notstand (Art. 66a Abs. 3 StGB)

• Fakultative Landesverweisung (Art. 66abis StGB)

• Wenn keine Anlasstat vorliegt, aber Verurteilung wegen Verbrechen oder Vergehen erfolgt

• Ermessenstatbestand (Strafrichter kann, muss nicht)

• Vollzug obliegt je nach kantonaler Regelung den Strafvollzugs- oder den Migrationsbehörden

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Anlasstaten

Aufgelistet in Art. 66a Abs. 1 StGB:

• Delikte gegen Leib und Leben

• Qualifizierte Vermögensdelikte

• Diebstahl i.V.m. Hausfriedensbruch

• Hausfriedensbruch = Antragsdelikt

• Qualifizierter Betrug sowie Steuer- und Abgabebetrug

• Unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe

• dazu neue Strafbestimmung von Art. 148a Abs. 1 StGB

• Zwangsheirat, Freiheitsberaubung, Entführung etc.

• Sexualdelikte

• Bestimmte Delikte des AuG und BetmG

• u.a.

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Weitere strafrechtliche oder –prozessualeBestimmungen und Grundsätze

• Gemäss Botschaft des Bundesrates muss obligatorische Landesverweisung beisämtlichenTäterschafts- und Teilnahmeformen, auch bei Gehilfenschaft, sowie ebenfallsbei lediglich versuchter Tatbegehung ausgesprochen werden

• Landesverweisung nicht anwendbar auf Übertretungen (Art. 105 Abs. 1 StGB)

• Zwingend Strafrichter; Strafbefehlsverfahren ist ausgeschlossen (Art. 352 Abs 2 StGB)

• Bestimmungen über den Eintrag einer Landesverweisung ins Strafregister (Revision vonArt. 367, 369 und 371)

• Notwendige Verteidigung, wenn (obligatorische oder fakultative) Landesverweisung droht(Art. 130 lit. b StPO)

• Neues Recht nur anwendbar auf Delikte, die ab dem 1.10.2016 begangen werden

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Rechtsnatur der Landesverweisung

• Kombinierte Rechtsnatur

• Migrationsrechtlich: Kombinierte Entfernungswirkung (wie Weg- und Ausweisung nach Art. 64 ff. AuG bzw. Art. 44 ff. AsylG) und Fernhaltewirkung (wie Einreiseverbot nach Art. 67 AuG); vergleichbar mit altrechtlicher Aus- und Landesverweisung

• Strafrechtlich: Strafe oder Massnahme? Analogie zur altrechtlichen Landesverweisung: strafrechtliche sichernde Massnahme (vgl. BGE 117 IV 229 zu altrechtlicher Landesverweisung) mit migrationsrechtlicher Wirkung

Nicht unbedeutend für Frage, wie weit strafrechtliche Grundsätze wie insbes. das Verschuldensprinzip und das Resozialisierungsgebot zu beachten sind

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Migrationsrechtliche Wirkung der Landesverweisung

• Ordentliche Wirkung einer Entfernungsmassnahme ist Pflicht, Schweiz zu verlassen, in der Regel freiwillig, im Bedarfsfall zwangsweise Ausschaffung (Art. 69 ff. AuG)

• Bei Undurchführbarkeit grundsätzlich vorläufige Aufnahme (Art. 83 ff. AuG)

• Vorläufige Aufnahme aber ausgeschlossen bei Landesverweisung (Art. 83 Abs. 9 nAuG)

• Ordentliche Wirkung einer Fernhaltemassnahme ist Verbot, in die Schweiz einzureisen

• Bei obligatorischer Landesverweisung: 5-15 Jahre

• Bei fakultativer Landesverweisung: 3-15 Jahre

• Bei neuer Straftat nach Landesverweisung: 20 Jahre (Art. 66b StGB)

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Was ändert das neue Recht migrationsrechtlich?

• Obligatorische und fakultative Landesverweisung schliessen Einreise aus (Fernhaltecharakter; Art. 5 Abs. 1 lit. d nAuG)

• Obligatorische und fakultative Landesverweisung bilden Erlöschensgrund für bestehende ausländerrecht-liche Bewilligungen (Art. 61 Abs. 1 lit. e nAuG) und damit auch Ausschlussgrund für Erteilung oder Verlängerung einer Bewilligung

• Widerrufsgrund der längerfristigen Freiheitsstrafe gilt weiter (Art. 62 Abs. 1 lit. b nAuG); der Widerruf ist aber unzulässig, wenn Strafgericht von Landesverweisung abgesehen hat (Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 nAuG)

• Ausdehnung der Widerrufsgründe sowie des Ausschlusses der vorläufigen Aufnahme auf die Massnahmen gemäss Art. 59 und 60 StGB (Art. 62 Abs. 1 lit. b nAuG und Art. 83 Abs. 7 lit. a nAuG)

• Landesverweisung als Entfernungsmassnahme kann mit ausländerrechtlicher Vorbereitungs-, Ausschaffungs- oder Durchsetzungshaft sichergestellt werden (Art. 75 Abs. 1, Art. 76 Abs. 1, Art. 78 Abs. 1 nAuG)

• Genereller Ausschluss der vorläufigen Aufnahme bei obligatorischer oder fakultativer Landesverweisung, also auch bei Menschen mit Flüchtlingseigenschaft (Art. 83 Abs. 9 nAuG)

• Obligatorische und fakultative Landesverweisungen stellen zusätzlichen Asylausschluss- und Erlöschensgrund dar (Art. 53 lit. c und Art. 64 Abs. 1 lit. e nAsylG)

• Menschen mit Flüchtlingseigenschaft erhalten weiterhin auch bei Landesverweisung (weitgehend) volle Sozialhilfe (vgl. Art. 86 Abs. 1 nAuG sowie Art. 88 Abs. 3 nAsylG)

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Bindungswirkung für Migrationsbehörden

• Widerruf einer Bewilligung durch Migrationsbehörden ausgeschlossen, wenn Strafgericht von Landesverweisung abgesehen hat (Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 nAuG)

• Migrationsbehörden dürfen Härtefallentscheid nicht unterlaufen bzw. umstossen

• Muss Landesverweisung im Strafverfahren thematisiert gewesen sein, was bei obligatorischer zwangsläufig, bei fakultativer aber nicht zwingend der Fall gewesen sein muss? Unklar, m.E. nein

• Ist es zulässig, Aufenthaltsbewilligung (wegen Straffälligkeit) einfach nicht mehr zu verlängern, oder gibt es auch insofern eine Art Bindungswirkung? Unklar, m.E. nein

• Migrationsbehörden bleiben zuständig für alle Widerrufsgründe, die ausserhalb eines Strafurteils liegen (also ausser Art. 62 lit. b AuG); z.B. bei Täuschung beim Bewilligungserwerb

• Verhältnis zum Widerrufsgrund von Art. 62 lit. c und Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG (erheblicher oder wiederholter Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Schweiz)?

• Unklar, aber Zuständigkeitsausschluss, der Dualismus zu vermeiden bezweckt, darf nicht über diesen Umweg rückgängig gemacht werden

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Härtefallklausel

gemäss Art. 66a Abs. 2 StGB

Inhalt und Umsetzung

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Strafrecht Migrationsrecht

Betroffener begeht Straftat

Strafjustiz fällt Urteil

Migrationsamt entzieht Bewilligung und weist aus

der Schweiz weg

Verwaltungsjustiz entscheidet bei

Beschwerde über Verbleib in der Schweiz

Migrationsamt vollzieht Wegweisung

Aktuelle Regelung bei Wegweisung Straffälliger

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Migrationsrechtlich zu beachtende Grundsätze und Normen

bei Anordnung einer Entfernungsmassnahme

• Verhältnismässigkeit der Massnahme

(d.h. der Nichtverlängerung oder des Widerrufs der Bewilligung)

• Für EU/EFTA: Art. 5 Anhang I FZA

(Verstoss, falls keine hinreichend schwere und aktuelle Gefahr)

• Art. 3 und 8 EMRK

(Beachtung des Non-Refoulement-Gebots und des Privat- und

Familienlebens)

• Vollzugshindernisse

(Möglichkeit, Zumutbarkeit und Zulässigkeit des Wegweisungsvollzugs)

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Strafrecht Migrationsrecht

Betroffener begeht Straftat

Strafjustiz fällt Urteil und spricht

Landesverweisung aus

Migrationsamt entzieht Bewilligung und weist aus der Schweiz weg

Verwaltungsjustiz entscheidet bei

Beschwerde über Verbleib in der Schweiz

Migrationsamt vollzieht Wegweisung

Neue Regelung bei Wegweisung Straffälliger

Bedeutung der Rechtsnatur der Landesverweisungfür den Härtefall

• Landesverweisung verfügt über gemischte Rechtsnatur, d.h. straf- und migrationsrechtlich

• Kein Dualismus mehr wie früher bei altrechtlicher Landesverweisung

• Erst recht keine Aufspaltung von strafrechtlichen Kriterien (wie insbes. Resozialisierungschancen) und migrationsrechtlichen Faktoren (wie insbes. ordnungspolizeiliche Gesichtspunkte; vgl. BGE 122 II 433 E. 2b, mit Hinweisen), sondern Gesamtwürdigung

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Strafjustiz fällt Urteil und spricht

Landesverweisung aus

Migrationsamt vollzieht Wegweisung

Massgebliche Normen bei Anordnung einer Landesverweisung

AnlasstatArt. 66a Abs. 1 StGB

HärtefallArt. 66a Abs. 2 StGB

Privat- & FamilienlebenArt. 8 EMRK

Non-Refoulement-Gebot

Art. 3 EMRK

Non-Refoulement-GebotArt. 3 EMRK

VollzugsaufschubArt. 66d StGB

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Zweistufige Härtefallprüfung

Erste Stufe:

Schwerer persönlicher Härtefall

Zweite Stufe:

InteressenabwägungNur wenn ein schwerer persönlicher Härtefall vorliegt,

darf (muss?) das Strafgericht prüfen, ob ausnahmsweise

von der Landesverweisung abgesehen werden soll.

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zwei Gesichtspunkte

Verwurzelung in der Schweiz

Reintegration im Heimatland

Definition Härtefall

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Elemente des schweren persönlichen Härtefalles

Anwesenheitsdauer

Familiäre Verhältnisse

Arbeits- und Ausbildungssituation

Persönlichkeitsentwicklung

Grad der Integration

Resozialisierungschancen

Definition Härtefall

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Schwerer persönlicher Härtefall liegt nur vor, wenn die

Summe aller Schwierigkeiten eine gewisse Schwelle

überschreitet.

Härtefall ja

Härtefall nein

Definition Härtefall

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nur wenn ein

• schwerer persönlicher Härtefall

vorliegt, ist das

• öffentliche Interesse an der

Landesverweisung

dem

• privaten Interesse am Verbleib in der Schweiz

gegenüberzustellen

Zweite Stufe der Härtefallprüfung

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Beispiele für öffentliche Interessen im Ausländerrecht

Ausgefällte Strafe (= Verschulden)

Deliktsart

Wiederholte Straffälligkeit

Bereits im Strafvollzug gewesen

Verwarnung durch MIKA

etc.

Öffentliches Interesse

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Familiäre Verhältnisse

Arbeits- und Ausbildungssituation

Persönlichkeitsentwicklung

Grad der Integration

Resozialisierungschancen

Privates Interesse

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öff

entl

ich

es In

tere

sse

Familiäre Verhältnisse

Arbeits- und Ausbildungssituation

Persönlichkeitsentwicklung

Grad der Integration

Resozialisierungschancen

gesamtes öffentliches Interessedem gesamten privaten Interesse

gegenüberstellen

Gegenüberstellung der Interessen

pri

vate

s In

tere

sse

Aufenthaltsdauer

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Wegweisungsvollzug und

Einfluss supranationaler

Bestimmungen

Zeitpunkt der Prüfung der Vollziehbarkeiteiner Landesverweisung

• Bedeutung der Beachtung des Rückschiebungsverbots (in allen Facetten; insbes. Art. 33 FK, Art. 3 EMRK, Art. 25 BV)

• 3 Varianten:

• Erst nach Aussprechung der Landesverweisung im Vollzugsstadium

• Bereits bei Prüfung der Landesverweisung im Rahmen des Härtefalles nach Art. 66 Abs. 2 StGB

• Situative (pragmatische statt dogmatische) Lösung

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Zeitpunkt der Prüfung der Vollziehbarkeiteiner Landesverweisung

Erst nach Aussprechung der Landesverweisung im Vollzugsstadium?

• Vollziehbarkeit als Vollzugsproblem und nicht als Frage des materiellen Rechts

• Art. 66d StGB: Aufschub nur zulässig bei Rückschiebungsverbot oder anderem zwingendem Völkerrecht

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Zeitpunkt der Prüfung der Vollziehbarkeiteiner Landesverweisung

Bereits bei Prüfung der Landesverweisung im Rahmen des Härtefalles nach Art. 66 Abs. 2 StGB?

• Wie früher bei der altrechtlichen Landesverweisung nach Art. 55 aStGB:

• Über asylrechtliche Ausweisungsbeschränkung entscheidet Strafrichter bei Aussprechung der Landesverweisung und nicht beim Vollzug derselben: BGE 116 IV 105

• Gegen Vollzugsverfügung einer Landesverweisung kann Non-Refoulement-Prinzip angerufen werden: BGE 121 IV 345, 118 IV 221

• Art. 66d StGB beschränkt den Vollzug lediglich aus bestimmten Gründen, die nachträglich auftreten

• Es geht nicht an, das zwingende gegenüber dem übrigen Völkerrecht schlechter zu stellen

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Zeitpunkt der Prüfung der Vollziehbarkeiteiner Landesverweisung

Situative (pragmatische statt dogmatische) Lösung?

• Es ist von Fall zu Fall aufgrund einer Gesamtwürdigung zu entscheiden, welche Elemente bei der Anordnung und welche beim Vollzug einer Landesverweisung zu berücksichtigen sind

• Typisches Beispiel: kurz- bis mittelfristig heilbare Krankheit gegenüber mittel- bis längerfristig dauernder Krankheit mit geringen oder unsicheren Heilungschancen

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Analoge Frage zum Zeitpunkt der Prüfung der Vereinbarkeit der Landesverweisung mit Art. 8 EMRK

• Keine analoge Bestimmung zu Art. 66d StGB

• Gar keine Berücksichtigung von Art. 8 EMRK oder im Rahmen der Härtefallprüfung?

• Beachtung von BV und EMRK verlangt Einbezug der familiären Verhältnisse in Härtefall-prüfung

• Was gilt, wenn Beeinträchtigung des Familienlebens erst nachträglich auftritt?

• Kein Sondertatbestand

• Kein Revisionsgrund

• Gesetzeslücke?

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Tragweite von Art. 62 Abs. 2 und Art. 63 Abs. 3 AuG für Widerruf durch Ausländerbehörden?

• Muss Strafgericht Landesverweisung ausdrücklich geprüft und verworfen haben?

• Klar bei obligatorischer Landesverweisung

• Was gilt bei fakultativer Landesverweisung, wenn von Staatsanwaltschaft nicht beantragt? M.E. trotzdem Bindungswirkung

• Es gibt weiterhin Widerrufsgründe, die ihre Bedeutung beibehalten, z.B. täuschende Angaben im Bewilligungsverfahren

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Frage der Dauer einer Landesverweisung

• Art. 66a StGB sieht Dauer von 5-15 Jahren vor, Art. 66b StGB im Wiederho-lungsfall eine solche auf 20 Jahre

• Wie ist das mit der Emre-Rechtsprechung des EGMR vereinbar bzw. wie weit kann oder muss diese bei der Festsetzung der Dauer berücksichtigt werden?

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Die Landesverweisung stellt zunächst eine grosse Herausforderung für die Strafgerichte und die Akteure der Strafjustiz dar:

• Definition schwerer persönlicher Härtefall

• Interessenabwägung: öffentliches vs. privates Interesse

• Vorrang nationales oder supranationales Recht

• Rechtsgleiche Behandlung von ausländischen Straftätern

• Ungeklärte Praxis des BGer (bisher II. öff.-rechtliche

Abteilung, neu wohl strafrechtliche Abteilung zuständig)

Aber auch für die Migrationsbehörden stellen sich neue Fragen,

v.a. beim Vollzug sowie bei anderen migrationsrechtlichen

Tatbeständen, die von der Landesverweisung beeinflusst werden.

Schlussbemerkungen

Na dann, viel Erfolg!

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