DIE ZEIT IN DER ZEIT Titel: Letzte Zuflucht Schweigen · 9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15 »Du linke...

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Mit viel Liebe Monogamie, offene Beziehungen, Polyamorie: ZEIT ONLINE-Leser erzählen von ihren Erfahrungen mit verschiedenen Beziehungs- modellen www.zeit.de/mit-viel-liebe Foto: David Parker/Getty Images 12 9. APRIL 2015 DIE ZEIT N o 15 »Du linke Sau, wir töten Dich!« Ganz nah dran in Dortmund, wo 1000 Rechtsextre- misten gegen »Asylmissbrauch« demonstrierten, war Martin Klingst, Politischer Korrespondent der ZEIT. Doch kaum hatte er einen der Demonstranten in ein Gespräch verwickelt, wurde der Mann von zwei Ordnern abgeführt: Der Hass auf die »Lügenpresse« verbietet jeden Austausch. Mehr erfuhr Klingst über die Arbeit der Soko »Rechts«, die unter der Leitung einer jungen Kriminalrätin neue Strategien entwickelt im Kampf gegen die Neonazi-Szene in Dortmund POLITIK SEITE 4 Mama + Papa = Feinde VON NADINE AHR UND CHRISTIANE HAWRANEK »Der Renner muss weg!« Claus Peymann ist wütend: In einem offenen Brief nennt der Intendant des Berliner Ensembles die Kulturpolitik der Hauptstadt »tief provinziell«. Im Gespräch mit Peter Kümmel wird Peymann jetzt noch deutlicher und bezeichnet den Kulturstaatssekretär als »eine Niete« FEUILLETON SEITE 45 Foto: Sigrid Reinichs für DZ Foto: Teich/Caro IN DER ZEIT Titel: Letzte Zuflucht Schweigen Wo es unverzichtbar ist, wann es zum Gewissenskonflikt führt Foto: Marcus Simaitis für DZ N o 15 ZEITnah Anzeigen in dieser Ausgabe Link-Tipps (Seite 22), Spielpläne (Seite 39), Museen und Galerien (Seite 39), Bildungsange- bote und Stellenmarkt (ab Seite 68) Früher informiert! Die aktuellen Themen der ZEIT schon am Mittwoch im ZEIT- Brief, dem kostenlosen Newsletter www.zeit.de/brief Die so gekennzeichneten Artikel finden Sie als Audiodatei im »Premiumbereich« unter www.zeit.de/audio Vom Überleben reden Ausschnitte aus einem großen Dokument der Nachkriegszeit: Walter Kempowskis »Echolot« als Audio-Collage www.zeit.de/apps Was hat dieses Ding mit Pegida zu tun? Wir erzählen, wie aus einem Freundeskreis eine politische Bewegung wurde Ein Begegnung mit Lena Meyer-Landrut, fünf Jahre nach ihrem großen Triumph Illu.: G. Gilbert-Lodge für ZM POLITIK 2 Flugzeugunglück Das Mitgefühl der Franzosen ist beeindruckend VON GEORG BLUME 3 Rechtsextremismus Wer bestimmt, wie viele Asylbewerber Tröglitz aufnimmt – der Staat oder die NPD? VON ANNE KUNZE 4 In Dortmund kämpft eine einzigartige Sonderkommission gegen Neonazis VON MARTIN KLINGST 5 Karrieren Ein Gespräch mit dem Verfassungsrichter und früheren Ministerpräsidenten Peter Müller über seine heutige Sicht auf die Politik 6 Türkei Erdoğans Macht bröckelt VON ÖZLEM TOPÇU 7 Nigeria Der erstaunliche Sieg der Demokratie VON ULRICH LADURNER GegenSchläge Im Umgang mit Saudi-Arabien sucht Schweden die Konfrontation 8 Indien Eine hinduistische Massenbewegung stützt Premier Modi VON JAN ROSS 10 Kita-Streik Die Erzieher haben recht: Sie verdienen zu wenig VON TANJA STELZER Zeitgeist VON JOSEF JOFFE 11 Iran Wer glaubt, Teheran könne ein Partner werden, träumt VON SHIMON STEIN UND SYLKE TEMPEL Soziale Steuerung Wir alle sind verführbar. Zum Glück! VON JOCHEN BITTNER DOSSIER 13 Sorgerecht Eltern und Anwälte kämpfen vor Gericht oft mit unfairen Mitteln. Die Leidtragenden sind die Kinder VON NADINE AHR UND CHRISTIANE HAWRANEK GESCHICHTE 16 Widerstand Der Hitler-Attentäter Georg Elser als Kinoheld: Das war hierzulande lange Zeit undenkbar VON JOHANNES TUCHEL 17 1914 Neue Dokumente zeigen, wie der Beginn des Ersten Weltkriegs von deutscher Seite »inszeniert« wurde VON JOHN C. G. RÖHL 18 FUSSBALL Hannover 96 Vereinschef Martin Kind über Ärger mit den Fans und die Macht der Investoren WIRTSCHAFT 19 Scheitern Gründer machen ihre Pleite öffentlich. Das kann der Wirtschaft insgesamt nur nutzen VON JENS TÖNNESMANN 20 Erwerbsverbot Lasst Asylbewerber arbeiten, sagt Herwarth Brune, Chef der Zeitarbeitsfirma Manpower VON CATERINA LOBENSTEIN 21 Neue Geschäftsmodelle Eine britische Firma weiß, was zu tun ist, wenn ein Kidnapper zuschlägt VON BETTINA SCHULZ 22 Brasilien Wie wird die größte Volkswirtschaft Südamerikas ihre Krise überstehen? VON THOMAS FISCHERMANN 24 Cyberkrieg Der neue Chef des Geheimdienstes NSA will die IT- Konzerne für seine elektronische Kriegsführung benutzen VON SANDRO GAYCKEN 26 Geschlechterkampf Auf Amerikas Arbeitsmarkt zählen viele Männer zu den Verlierern – im Gegensatz zu den Frauen VON HEIKE BUCHTER 27 Preisvergleiche Der überraschende Erfolg des Onlineportals Check24 VON HEINZ-ROGER DOHMS 30 Ewige Anleihen So könnte Griechenland umschulden, ohne pleitezugehen VON ARNE STORN 31 Iran Warum deutsche Unternehmen Schlange stehen werden, sobald die Sanktionen fallen VON MARK SCHIERITZ Mit iranischem Gas könnte Europa unabhängiger von Russland werden VON CLAUS HECKING Streitfall Wer ist wirklich arm in Deutschland? VON PHILIP FAIGLE UND MARK SCHIERITZ 32 Was bewegt ... Junichi Tani, den Meister der Hightech-Toiletten? VON FELIX LILL WISSEN 33 Ernährung Das Cholesterin ist doch nicht schuld VON HARRO ALBRECHT Titelthema: Schweigepflicht Geheimnisse sind ein Menschenrecht VON EVELYN FINGER 34 Beim Arzt, Psychiater, Pfarrer und Anwalt, in der Redaktion, am Bankschalter – wo das Schweigen zur Pflicht wird 36 Medizin Babys lernen am besten aus Überraschungen VON LYDIA KLÖCKNER Grafik Talkshows 41 KINDERZEIT Schurken Ein Lob auf die fiesen Gegenspieler von Harry Potter und Co. VON DANIEL HAAS 42 KINDER- & JUGENDBUCH LUCHS des Monats für Vince Vawters »Wörter auf Papier« VON BRIGITTE JAKOBEIT FEUILLETON 43 Philosophie Der Briefwechsel zwischen Theodor W. Adorno und Gershom Scholem VON JÜRGEN HABERMAS Medien Periscope, die neue Live-Streaming-App VON MARIE SCHMIDT 44 Transsexualität Ein Besuch im Transgender-Zentrum in Queens, New York VON CLAUDIA STEINBERG 45 Theater Ein Gespräch mit Claus Peymann über das Versagen der Berliner Kulturpolitik Im Streit zwischen Claus Peymann und Tim Renner bezieht die Staats- ministerin Monika Grütters Position VON PETER KÜMMEL 46 Fernsehen Horst Krause über seine Rolle in »Krüger aus Almanya« Kino Der große Regisseur Manoel de Oliveira ist gestorben VON KATJA NICODEMUS 47 Roman Antonia Baum »Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren« VON MORITZ BASSLER Klimawandel Zum Vorschlag von Jonathan Franzen VON IJOMA MANGOLD 48 Politisches Buch Rüdiger Frank »Nordkorea« VON MATTHIAS NASS Roman Jan Himmelfarb »Sterndeutung« VON STEPHAN SPEICHER 49 Roman Jérôme Ferrari »Das Prinzip« VON JUTTA PERSON Sachbuch Peter Burke »Die Explosion des Wissens« VON MAJA BECKERS 50 Diskothek 52 Kunstmarkt Was macht einen guten Galeristen aus? Ein Gespräch mit Hans Mayer und seinem Sohn Max 53 Kunst Die Ausstellung »Inhuman« im Kasseler Fridericianum handelt von der Zukunft des Menschen VON THOMAS ASSHEUER 54 Politik Die westliche Linke und der islamische Fundamentalismus VON VOLKER WEISS 55 Satire Bei »Charlie Hebdo« gibt es Streit über die Besitzverhältnisse VON GEORG BLUME 56 GLAUBEN & ZWEIFELN Protestanten Wer fromm ist, ist auch politisch: Zum 70. Todestag von Dietrich Bonhoeffer VON HEINRICH BEDFORD-STROHM REISEN 57 Frische Luft und Dosenbier Der Schriftsteller FRANK GOOSEN über die Urlaube seines Lebens 59 Indien Eine geführte Tour durch Mumbais größten Slum VON SILKE WEBER 61 Hoteltest Das Mondrian at Sea Containers in London VON MERTEN WORTHMANN Tunesien Gespräch mit einer Tourismusexpertin über den Sinn von Solidaritätsreisen CHANCEN 63 Universitäten Ein Plädoyer für Verschulung VON VOLKER MEYER-GUCKEL 64 Schule Ein pädagogisches Konzept zwingt Kinder zur Anpassung VON MAXIMILIAN PROBST Familie Können BWL-Methoden den Elternalltag optimieren? Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Marko Sarstedt 65 Patente Wir haben Ingenieure und Techniker gefragt, welche Erfindung sie besonders beeindruckt und was noch erfunden werden müsste VON MADLEN OTTENSCHLÄGER 76 ZEIT DER LESER RUBRIKEN 2 Worte der Woche 19 Quengelzone 20 Macher und Märkte 36 Stimmt’s?/Erforscht & erfunden 48 Wir raten zu/Gedicht/Impressum Hörbuch 52 Traumstück 55 Berliner Canapés/Das Letzte 60 Blickfang 75 LESERBRIEFE Ein Fall, wie er jedes Jahr zu Tausenden vor deutschen Familiengerichten landet: Ein Paar trennt sich, um das Kind wird gestritten. Nur wenige der 2500 Familienrichter sind psychologisch geschult. Sprechen sie gutes Recht? DOSSIER SEITE 13 Schweigen Letzte Zuflucht

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

»Du linke Sau, wir töten Dich!«Ganz nah dran in Dortmund, wo 1000 Rechtsextre-misten gegen »Asylmissbrauch« demonstrierten, war Martin Klingst, Politischer Korrespondent der ZEIT. Doch kaum hatte er einen der Demonstranten in ein Gespräch verwickelt, wurde der Mann von zwei Ordnern abgeführt: Der Hass auf die »Lügenpresse« verbietet jeden Austausch. Mehr erfuhr Klingst über die Arbeit der Soko »Rechts«, die unter der Leitung einer jungen Kriminalrätin neue Strategien entwickelt im Kampf gegen die Neonazi-Szene in Dortmund POLITIK SEITE 4

Mama + Papa = FeindeVON NADINE AHR UND CHRISTIANE HAWRANEK

»Der Renner muss weg!«Claus Peymann ist wütend: In einem offenen Brief nennt der Intendant des Berliner Ensembles die Kulturpolitik der Hauptstadt »tief provinziell«. Im Gespräch mit Peter Kümmel wird Peymann jetzt noch deutlicher und bezeichnet den Kulturstaatssekretär als »eine Niete« FEUILLETON SEITE 45

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IN DER ZEIT Titel: Letzte Zuflucht SchweigenWo es unverzichtbar ist, wann es zum Gewissenskonflikt führt

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Anzeigen in dieser AusgabeLink-Tipps (Seite 22), Spielpläne (Seite 39), Museen und Galerien (Seite 39), Bildungsange-bote und Stellenmarkt (ab Seite 68)

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Die aktuellen Themen der ZEIT schon am Mittwoch im ZEIT-Brief, dem kostenlosen Newsletter www.zeit.de/brief

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Vom Überleben redenAusschnitte aus einem großen Dokument der Nachkriegszeit: Walter Kempowskis »Echolot« als Audio-Collagewww.zeit.de/apps

Was hat dieses Ding mit Pegida zu tun? Wir erzählen, wie aus einem Freundeskreis eine politische Bewegung wurdeEin Begegnung mit Lena Meyer-Landrut, fünf Jahre nach ihrem großen Triumph

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POLITIK2 Flugzeugunglück Das Mitgefühl

der Franzosen ist beeindruckend

VON GEORG BLUME

3 Rechtsextremismus Wer bestimmt, wie viele Asylbewerber Tröglitz aufnimmt – der Staat oder die NPD?

VON ANNE KUNZE

4 In Dortmund kämpft eine einzigartige Sonderkommission gegen Neonazis

VON MARTIN KLINGST

5 Karrieren Ein Gespräch mit dem Verfassungsrichter und früheren Minister präsidenten Peter Müller über seine heutige Sicht auf die Politik

6 Türkei Erdoğans Macht bröckelt

VON ÖZLEM TOPÇU

7 Nigeria Der erstaunliche Sieg der Demokratie

VON ULRICH LADURNER

GegenSchläge Im Umgang mit Saudi-Arabien sucht Schweden die Konfrontation

8 Indien Eine hinduistische Massenbewegung stützt Premier Modi

VON JAN ROSS

10 Kita-Streik Die Erzieher haben recht: Sie verdienen zu wenig

VON TANJA STELZER

Zeitgeist VON JOSEF JOFFE

11 Iran Wer glaubt, Teheran könne ein Partner werden, träumt

VON SHIMON STEIN UND SYLKE TEMPEL

Soziale Steuerung Wir alle sind verführbar. Zum Glück!

VON JOCHEN BITTNER

DOSSIER13 Sorgerecht Eltern und Anwälte

kämpfen vor Gericht oft mit unfairen Mitteln. Die Leidtragenden sind die Kinder VON NADINE AHR UND CHRISTIANE HAWRANEK

GESCHICHTE16 Widerstand Der Hitler-Attentäter

Georg Elser als Kinoheld: Das war hierzulande lange Zeit undenkbar

VON JOHANNES TUCHEL

17 1914 Neue Dokumente zeigen, wie der Beginn des Ersten Weltkriegs von deutscher Seite »inszeniert« wurde

VON JOHN C. G. RÖHL

18 FUSSBALL Hannover 96 Vereinschef Martin Kind über Ärger mit den Fans und die Macht der Investoren

WIRTSCHAFT19 Scheitern Gründer machen ihre

Pleite öffentlich. Das kann der Wirtschaft insgesamt nur nutzen

VON JENS TÖNNESMANN

20 Erwerbsverbot Lasst Asylbewerber arbeiten, sagt Herwarth Brune, Chef der Zeitarbeitsfirma Manpower VON CATERINA LOBENSTEIN

21 Neue Geschäftsmodelle Eine britische Firma weiß, was zu tun ist, wenn ein Kidnapper zuschlägt

VON BETTINA SCHULZ

22 Brasilien Wie wird die größte Volkswirtschaft Südamerikas ihre Krise überstehen?

VON THOMAS FISCHERMANN

24 Cyberkrieg Der neue Chef des Geheimdienstes NSA will die IT- Konzerne für seine elektronische Kriegsführung benutzen

VON SANDRO GAYCKEN

26 Geschlechterkampf Auf Amerikas Arbeitsmarkt zählen viele Männer zu den Verlierern – im Gegensatz zu den Frauen VON HEIKE BUCHTER

27 Preisvergleiche Der überraschende Erfolg des Onlineportals Check24

VON HEINZ-ROGER DOHMS

30 Ewige Anleihen So könnte Griechenland umschulden, ohne pleitezugehen

VON ARNE STORN

31 Iran Warum deutsche Unternehmen Schlange stehen werden, sobald die Sanktionen fallen

VON MARK SCHIERITZ

Mit iranischem Gas könnte Europa unabhängiger von Russland werden

VON CLAUS HECKING

Streitfall Wer ist wirklich arm in Deutschland?

VON PHILIP FAIGLE UND MARK SCHIERITZ

32 Was bewegt ... Junichi Tani, den Meister der Hightech-Toiletten?

VON FELIX LILL

WISSEN33 Ernährung Das Cholesterin ist doch

nicht schuld

VON HARRO ALBRECHT

Titelthema: Schweigepflicht Geheimnisse sind ein Menschenrecht

VON EVELYN FINGER

34 Beim Arzt, Psychiater, Pfarrer und Anwalt, in der Redaktion, am Bankschalter – wo das Schweigen zur Pflicht wird

36 Medizin Babys lernen am besten aus Überraschungen

VON LYDIA KLÖCKNER

Grafik Talkshows

41 KINDERZEIT Schurken Ein Lob auf die fiesen Gegenspieler von Harry Potter und Co. VON DANIEL HAAS

42 KINDER- & JUGENDBUCH LUCHS des Monats für Vince Vawters »Wörter auf Papier«

VON BRIGITTE JAKOBEIT

FEUILLETON43 Philosophie Der Briefwechsel

zwischen Theodor W. Adorno und Gershom Scholem

VON JÜRGEN HABERMAS

Medien Periscope, die neue Live-Streaming-App

VON MARIE SCHMIDT

44 Transsexualität Ein Besuch im Transgender-Zentrum in Queens, New York

VON CLAUDIA STEINBERG

45 Theater Ein Gespräch mit Claus Peymann über das Versagen der Berliner Kulturpolitik

Im Streit zwischen Claus Peymann und Tim Renner bezieht die Staats-ministerin Monika Grütters Position

VON PETER KÜMMEL

46 Fernsehen Horst Krause über seine Rolle in »Krüger aus Almanya«

Kino Der große Regisseur Manoel de Oliveira ist gestorben

VON KATJA NICODEMUS

47 Roman Antonia Baum »Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf, wo ich lernte, mich von Radkappen und Stoßstangen zu ernähren«

VON MORITZ BASSLER

Klimawandel Zum Vorschlag von Jonathan Franzen

VON IJOMA MANGOLD

48 Politisches Buch Rüdiger Frank »Nordkorea«

VON MATTHIAS NASS

Roman Jan Himmelfarb »Sterndeutung«

VON STEPHAN SPEICHER

49 Roman Jérôme Ferrari »Das Prinzip« VON JUTTA PERSON

Sachbuch Peter Burke »Die Explosion des Wissens« VON MAJA BECKERS

50 Diskothek

52 Kunstmarkt Was macht einen guten Galeristen aus? Ein Gespräch mit Hans Mayer und seinem Sohn Max

53 Kunst Die Ausstellung »Inhuman« im Kasseler Fridericianum handelt von der Zukunft des Menschen

VON THOMAS ASSHEUER

54 Politik Die westliche Linke und der islamische Fundamentalismus

VON VOLKER WEISS

55 Satire Bei »Charlie Hebdo« gibt es Streit über die Besitz verhältnisse

VON GEORG BLUME

56 GLAUBEN & ZWEIFELN Protestanten Wer fromm ist, ist auch politisch: Zum 70. Todestag von Dietrich Bonhoeffer VON HEINRICH BEDFORD-STROHM

REISEN 57 Frische Luft und Dosenbier

Der Schriftsteller FRANK GOOSEN über die Urlaube seines Lebens

59 Indien Eine geführte Tour durch Mumbais größten Slum

VON SILKE WEBER

61 Hoteltest Das Mondrian at Sea Containers in London

VON MERTEN WORTHMANN

Tunesien Gespräch mit einer Tourismus expertin über den Sinn von Solidaritätsreisen

CHANCEN63 Universitäten Ein Plädoyer für

Verschulung

VON VOLKER MEYER-GUCKEL

64 Schule Ein pädagogisches Konzept zwingt Kinder zur Anpassung

VON MAXIMILIAN PROBST

Familie Können BWL-Methoden den Elternalltag optimieren? Ein Gespräch mit dem Wirtschaftswissenschaftler Marko Sarstedt

65 Patente Wir haben Ingenieure und Techniker gefragt, welche Erfindung sie besonders beeindruckt und was noch erfunden werden müsste

VON MADLEN OTTENSCHLÄGER

76 ZEIT DER LESER

RUBRIKEN2 Worte der Woche

19 Quengelzone

20 Macher und Märkte

36 Stimmt’s?/Erforscht & erfunden

48 Wir raten zu/Gedicht/Impressum Hörbuch

52 Traumstück

55 Berliner Canapés/Das Letzte

60 Blickfang

75 LESERBRIEFE

Ein Fall, wie er jedes Jahr zu Tausenden vor deutschen Familiengerichten landet: Ein Paar trennt sich, um das Kind wird gestritten. Nur wenige der 2500 Familienrichter sind psycho logisch geschult. Sprechen sie gutes Recht? DOSSIER SEITE 13

Schweigen

Letzte Zuflucht

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ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT‑Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de

Kleine Fotos (v.o.): epd-bild; Isolde Ohlbaum/laif; Chip Somodevilla/Getty Images

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Sachsen-Anhalt: Selbst ein Landrat kann für die Sicherheit der Flüchtlinge nicht garantierenVon Anne Kunze, Seite 3

Gehört Tröglitz den Rechten?

DIE ZEITW O C H E N Z E I T U N G F Ü R P O L I T I K W I R T S C H A F T W I S S E N U N D K U L T U R 9. APRIL 2015 No 15

Plenty of eggsUm ins Guinness Buch der Rekorde zu kommen, haben Leute in Sacra‑mento, der Hauptstadt Kalifor‑niens, eine halbe Million Ostereier um das Kapitol herum verstreut. Es waren aber nicht die Kinder, die um die Wette sammelten, sondern ihre Eltern, und schon gab es Prü‑geleien. Sie hatten wohl das alte Lied im Ohr: »Blow, boys, blow, for Californio, / There’s plenty of eggs, so I’ve been told, / On the banks of Sa-cramento.« GRN.

PROMINENT IGNORIERT

Die Freundschaft großer GeisterJürgen Habermas über die Briefe von Adorno und Gershom ScholemFeuilleton, Seite 43

DIE ZEIT auf dem iPadwww.zeit.de/appsSchweigen

Letzte Zuflucht

SchweigenLetzte Zuflucht

Ärzte, Pfarrer, Rechtsanwälte – warum die Schweigepflicht unverzichtbar ist.

Und wann sie zum Gewissenskonflikt führtWISSEN, S. 33

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Dieses Ringen wird laut, es wird schmutzig, und es wird ver‑wirrend. Vor lauter technischem Hickhack wird kaum zu ver‑stehen sein, dass es hier um die Entgiftung eines Konfliktes

geht, der die Weltpolitik allzu lange gelähmt hat.Über vieles werden die Großmächte mit dem

Iran streiten, bis Ende Juni die Frist für ein end‑gültiges Abkommen abläuft: wie viele Zentrifu‑gen sich wie schnell drehen dürfen; welche Sank‑tionen des Westens wann aufgehoben werden; wie viel spaltbares Material welcher Anreiche‑rungsstufe der Iran behalten darf; und wie das alles zuverlässig überprüft werden kann.

Im Iran, in den USA und in Israel werden Hardliner und Entspannungsfreunde sich nichts schenken. Wie auch immer das Ringen ausgeht: Beide Seiten werden dem Publikum vormachen, dieses oder jenes technische Detail entscheide darüber, ob das Abkommen am Ende scheitere.

In Wahrheit aber geht es um mehr als um Zentrifugen, Inspektionen und Sanktionen. Der Deal der Großmächte mit dem Iran erfordert den Abschied von einigen Lebenslügen, die den Nahen Osten seit Jahrzehnten verhexen.

Erstens: Wir (der Westen) können einen Re‑gimewechsel im Iran durch Härte, Isolation und Sanktionen erreichen.

Zweitens: Wir (Iraner) sind eine missverstan‑dene Nation, vom Westen ewig unterdrückt, deren Zukunft weiterhin im Widerstand gegen die Herrschaft des großen Teufels (USA) und seines kleinen Vorpostens (Israel) liegt.

Drittens: Wir (Israelis) können die Iraner mittels der USA und unserer arabischen Freunde (Saudis) klein halten und ihnen ihr Atompro‑gramm notfalls wegbomben.

Dieser Deal ist aus Erschöpfung und Ernüchterung geboren

Alle drei Annahmen haben sich als falsch erwie‑sen: Das iranische Regime ist trotz äußeren Drucks politisch derzeit das stabilste der gesamten Region. Zugleich braucht das Land aus ökonomischen Gründen die Aufhebung der Sanktionen und den Wiederanschluss an die Weltwirtschaft. Und seine nuklearen Anlagen kann man zwar bombardieren, aber das Know‑how zu ihrem Wiederaufbau bliebe doch in den Köpfen – und der Anreiz, sich die Bombe zu verschaffen, wäre noch größer.

Es wird am Ende keine Sieger geben, sondern lauter Mächte, die mit ihren Methoden an die Grenze gestoßen sind. Trotz der Sanktionen hat der Iran sein Atomprogramm ausbauen können. Nun hat er Zigtausende Zentrifugen, kann aber der gut ausgebildeten Jugend keine Perspektive bieten. Israel wiederum hat durch Fundamental‑opposition zu jedem Kompromiss selbst seine besten Freunde verprellt. Netanjahu sollte damit endlich aufhören und sich stattdessen die Eini‑gung als eigenen Erfolg anrechnen: Ohne Israels

Druck und Drohungen wäre sie nie zustande ge‑kommen. Den Deal nun scheitern zu lassen wäre kurzsichtig: Es gibt keine Alternative.

Denn das ist der unausgesprochene Konsens: bitte keinen weiteren Krieg in Nahost, der doch nur noch einen weiteren kaputten Staat zur Folge hätte. Israel muss sich also entscheiden, ob es den Deal torpedieren oder weiter zu seinen eigenen Gunsten beeinflussen will.

Natürlich stellen die Spindoktoren aller Sei‑ten das jetzt anders dar und wollen jeweils trium‑phieren: Wir haben die Iraner mürbe gemacht! Wir haben den Großmächten nicht nachgege‑ben! Zur Not können wir das Atomprogramm mit Gewalt zerstören!

Von wegen: Der Iran steht heute in der Re‑gion stärker da als je zuvor, nicht zuletzt als Folge des amerikanischen Kriegs im Irak, der Teherans Todfeind Saddam Hussein aus dem Spiel nahm und in Bagdad die Schiiten an die Regierung brachte. Teheran beherrscht heute die irakische Politik, kämpft in Syrien gegen die IS‑Terroris‑ten und zieht im Libanon, in Gaza und im Je‑men die Fäden. Dass man mit dem Iran einen Kompromiss sucht, ist eine stillschweigende Anerkennung der Realität.

Allerdings: Durch seine Überdehnung steht auch das Teheraner Regime an einer Weggabe‑lung. Es hat seinen Einfluss so weit ausgereizt, dass Saudis, Ägypter und Türken sich nun sogar in einer klammheimlichen Allianz mit den Israe‑lis gegen den Iran stellen. Währenddessen ver‑langt die junge Bevölkerung, dass sich das Land zur Welt öffnet. Alles wird davon abhängen, ob der Iran vom Störer zum Mitspieler werden will. Das Angebot liegt auf dem Tisch. Denn darum geht es am Ende in Lausanne.

Verdeckt vom Bluff und Hype der Verhand‑ler hat etwas Neues begonnen. 36 Jahre lang standen die USA und der Iran sich feindselig gegenüber – mit Stellvertreterkriegen, Attenta‑ten, Sanktionen und rituellen »Tod Amerika«‑Rufen. Eine so vertraute Feindschaft wird nicht morgen enden und vielleicht auch nicht über‑morgen. Doch ein Ende des kalten Krieges zwi‑schen dem Westen und dem Iran würde drei Korrekturen möglich machen: Amerika kann erstens seine einseitige Abhängigkeit von den Saudis reduzieren. Die bedingungslose Unter‑stützung für deren Autokratie hat den Hass der Dschihadisten auf den Westen mit erzeugt. Ein besseres Verhältnis der USA zu Teheran und Riad könnte zweitens helfen, die Stellvertreter‑kriege zwischen Schiiten und Sunniten in der Region einzuhegen. Und schließlich könnte die Annäherung an den Westen eine innere Reform des Irans befördern.

Das vorläufige Abkommen von Lausanne ist aus Ernüchterung und Erschöpfung geboren. Und das ist eine gute Nachricht. Nichts braucht der Nahe Osten mehr als geistige Abrüstung.

Keine Lügen mehrDas Abkommen zwischen der USA und dem Iran ist kein Grund zum Jubeln. Aber die einzige Chance für die Region VON JÖRG LAU

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NACH DEM ATOM-DEAL

70. JAHRGANG C 7451 C

No15

Die SPD, so heißt es in diesen Tagen, sie leidet. Und ihr Vor‑sitzender will vielleicht nicht Kanzlerkandidat werden, be‑haupten andere. Ist da was dran?

Nun, der Satz »Die SPD leidet« hat etwas Tautologisches. Leiden und Schmerzen gehören zum Dasein der Partei wie die Selbstzufriedenheit zur CSU. Überdies ist die Geschichte der So zial demo kra tie voller Schmer‑zensmänner; nur Gerhard Schröder wollte am Anfang und außer Dienst auch Spaß, weswegen er zur Strafe aus dem Herzen der SPD ausge‑sperrt bleibt, worunter er, wie man hört, wiede‑rum sehr – leidet. Wieder und wieder hat sich die Partei für die Staatsräson geopfert, Friedrich Ebert musste sich den Friedensvertrag von Ver‑sailles ans Revers heften lassen, Helmut Schmidt gab die Macht hin für die Nachrüstung, Gerhard Schröder für die Agenda – aus diesen Dingen zieht die deutsche So zial demo kra tie ihre Würde.

Sozialer geht’s nicht, jemand anderen als Gabriel gibt’s nicht

Dass die SPD in diesen Tagen leidet, ist also kei‑ne besorgniserregende Nachricht. Doch tut sie dies nicht mehr bei vierzig Prozent, nicht bei dreißig, sondern bei 25. Da verliert das Leiden seine Grandezza. Was noch schlimmer ist: Die SPD hat sich diesmal nicht aufgeopfert. Die Er‑klärung, die sie sich selbst für ihre Kleinheit ge‑geben hat, dass sie nämlich von ihren Stamm‑wählern für die Agenda‑Politik bestraft werde, hat sich als Legende herausgestellt.

Anderthalb Jahre des guten so zial demo kra ‑ti schen Regierens haben genügt, um alles abzu‑räumen, was von der Agenda an Stammwähler‑gift noch übrig war. Die SPD versprach vor der Wahl im Jahr 2013: Mindestrente, Mindestlohn, Mietpreisbremse und einiges mehr. Seitdem lie‑ferte sie: Mindestrente, Mindestlohn, Mietpreis‑bremse und einiges mehr. Versprochen und ge‑halten – schöner kann Politik nicht sein. Schreck‑licher aber auch nicht, denn nun ist klar: Die Agenda war es nicht. Die Ope ra tion ist gelun‑gen, der Patient hat aber eine andere Krankheit.

Nur welche? Liegt es vielleicht am Vorsitzen‑den? Das ist die zurzeit modische Begründung. Gewiss, Sigmar Gabriel hat viele Eigenschaften, darunter einige schlechte, wie zum Beispiel eine gewisse Sprunghaftigkeit; man könnte auch fin‑den, dass seine beratende Umgebung kulturell und geschlechtsmäßig einen Hauch zu homo‑gen ist oder dass seine drei Funktionen zu viel sind für einen einzigen Menschen. Manche schreiben ob dieser Schwächen schon, dass er lieber nicht Kanzlerkandidat werden wolle oder solle. Das kann man finden, bringt aber nichts, denn er wird es. Das hat weniger mit seinem Charakter zu tun als mit Machtphysik und poli‑tischer Pneumatik. Ein SPD‑Chef, der zweimal einem anderen den Vortritt lässt, ohne dass die‑

ser andere bereits Kanzler wäre oder sonst wie höher geweiht, gibt damit zu erkennen, dass er sich für ungeeignet hält. In dem Moment also, da Gabriel beispielsweise sagte: Der Olaf Scholz wird’s, wäre er politisch am Ende, und die SPD ginge ohne lebendigen Vorsitzenden in eine Bundestagswahl.

Was nun seine Eigenschaften angeht: Ja, da liegt einiges im Argen. Allerdings haben andere Spitzengenossen auch Eigenschaften, Peer Stein‑brück hatte etliche, Martin Schulz hat einige, sogar Olaf Scholz hat welche. Niemand in der SPD glaubt darum ernstlich, dass ein Führungs‑wechsel die Partei über die 25‑Prozent‑Hürde bringen könnte.

Sozialer geht’s nicht, jemand anderen als Ga‑briel gibt’s nicht, was könnte dann die SPD be‑leben? Das klingt jetzt vielleicht komisch, weil hierzulande wegen des Beispiels der CDU und der Grünen schon das Wohltemperierte Klavier als Rock ’n’ Roll angesehen wird, aber der SPD hülfe: Debatte, Streit, gar etwas Krach.

Bei drei strategischen Themen sitzt die Partei derzeit beklommen in der Ecke, während die Kanzlerin Politik macht und von Monat zu Monat grundsätzlicher und entschiedener wird, worin für die ins Grundsätzliche geradezu ver‑narrte SPD die größte Bedrohung liegt. Beim Thema euro päi sche Friedensordnung, vulgo: Verhältnis zu Russland, gibt es in der So zial‑demo kra tie das ganze Meinungsspektrum, von der unverdrossenen Verständnis‑ und Verständi‑gungspolitik, vertreten vor allem von den großen Alten, bis hin zu entschieden men schen recht‑lichen, Putin‑kritischen Positionen. Nur zum Austrag kommen diese Pole nicht, sie diskutieren mit dem Rücken zu ein ander.

Ähnlich verhält es sich bei Integration und Flüchtlingspolitik. Da finden sich scharfe Kriti‑ker der Zuwanderung, die nahe bei Heinz Buschkowsky, wenn nicht gar heimlich bei Thilo Sarrazin sind, da gibt es aber auch Zugewander‑te, die sich schütteln, wenn ihnen im TV einer der genannten Herren entgegenschimpft. Nur ihre Konflikte inszenieren, das tun sie nicht.

Schließlich Griechenland. Da schlagen zwei Herzen in fast jeder so zial demo kra ti schen Brust. Einerseits will man dem deutschen Arbeitneh‑mer nicht die Kosten für eine verfehlte grie‑chische Politik aufbürden, andererseits ist man ja fast so sehr gegen Austeritätspolitik wie die neue griechische Regierung. Diese Ambivalenz der Herzen blockiert die Dis kus sion über die Frage, wie denn eine euro päi sche Wirtschaftspolitik des neuen deutschen Hegemons auszusehen hätte.

Würden Debatten dieser Art die SPD über 25 Prozent bringen? Das kann man natürlich nicht sagen. Aber sie könnten sie aus ihrer Be‑klommenheit befreien und den Beginn einer neuen Geschichte markieren, jetzt, da alle ande‑ren Geschichten auserzählt sind.

Blockierte HerzenDie SPD leidet, wie auch ihr Chef, der nun in die Kritik gerät. Aber er wird wohl trotzdem Kanzlerkandidat VON BERND ULRICH

SOZIALDEMOKRATEN

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

Nimm bloß nicht dein Handy mit, wenn du abends allein auf die Straße gehst. Sonst wirst du abgestochen.«

»Mach Kampfsport, da-mit du dich gegen die wehren kannst.«

»Wenn dich jemand angreift, wirf ihn zu Bo-den. Schlag ihm am besten mitten ins Gesicht.«

Das sagen fünf Jugendliche, wenn man sie nach dem Wissen fragt, das sie in den Straßen von Tröglitz erworben haben. Am Nachmittag des Ostermontags lungern die 18-Jährigen vor der Grundschule herum. An der Bushaltestelle, wo sie normalerweise abhängen, steht die Polizei.

Wenn man sie fragt, ob diese Regeln tatsächlich auf Wissen beruhen, auf Erfahrungswissen, sagen sie »Nein«. Sie sprechen in breitem Dialekt. Trög-litz ist ein kleiner Ort in Sachsen-Anhalt, 2800 Einwohner, jeder kennt hier jeden, die Jugendli-chen wollen lieber nicht ihren Namen sagen.

Kein Ausländer habe sie je persönlich angegrif-fen, aber man höre ja, aus Dresden und so, dass die Fremden mit Drogen dealten, kriminell seien und sich an deutschen Mädchen vergriffen. Das einzige Mädchen unterbricht: »Aber es sind auch nicht alle Ausländer schlimm.« Ihre Schwester habe Kin-der mit einem Afrikaner, ihre Neffen seien die ein-zigen Ausländer, die es in Tröglitz gebe. »Aber die wissen sich auch zu benehmen, die sind ordent-lich«, sagt ihr Bruder, ein dicker Junge mit einem schwarzen Pulli, auf dem in weißer Schrift um das Konterfei eines Wehrmachtssoldaten steht: »Land-ser – Dem Deutschen Volke«.

In Tröglitz hat in der Nacht zum Ostersamstag ein Gebäude gebrannt, in das 40 Flüchtlinge hät-ten ziehen sollen. Bis Redaktionsschluss der ZEIT war noch nicht geklärt, wer den Brand gelegt hat.

Markus Nierth vermutet nicht als Einziger, dass die Brandstifter aus der rechten Ecke kom-men. Der ehemalige ehrenamtliche Bürgermeister von Tröglitz sitzt nach den Ostertagen zu Hause auf dem Sofa, raus traut er sich kaum mehr. Seit seinem Rücktritt hat Nierth Morddrohungen er-halten. In einer der letzten E-Mails steht: »Mir hat Hermann Göring persönlich geschrieben, dass ich Sie erschießen soll.« Vor Nierths Haus steht die Polizei. Zu seinem Schutz.

»Ich muss mein Herz dicht machen«, sagt der ehemalige Bürgermeister

Markus Nierth kennt die Jungen vor der Grund-schule, er weiß, dass manche Väter langzeitarbeits-los und Alkoholiker sind, dass die Eltern Sozial-hilfe beziehen und sich nach der DDR zurück-sehnen, dass ihre Herzen, so drückt Nierth es aus, bislang wenig Liebe erfahren haben.

Seit er 1999 mit seiner Familie in einen ehema-ligen Gutshof nach Tröglitz gezogen ist, arbeitet er mit Neonazis und Arbeitslosen, er hat versucht, ihnen liebevoll zu begegnen. Das innere Gerüst dafür gibt ihm sein Glaube. Beistand erfährt er durch ein befreundetes Paar, der Mann ist Pfarrer.

All die Jahre, sagt er, habe er sich gedacht: »Wenn ich allein gegen die Ideologie gehe, nehme ich denen das Einzige, was sie haben.« Damit aber ist jetzt Schluss. Nach dem Brand, das hat er sich vorgenom-men, wird er keinem Neonazi mehr die Hand geben. »Ich muss mein Herz dicht machen«, sagt er, seine Stimme bricht. »Es ist offensichtlich verschwendete Zeit, sich um diese Leute zu kümmern.«

Anfang Januar, als bekannt wurde, dass 40 Flüchtlinge nach Tröglitz ziehen sollten, begannen einige Tröglitzer zu protestieren. Schnell über-nahm eine lokale NPD-Größe die Organisation, meldete die Proteste als »Spaziergänge« an, immer sonntagabends. Jeweils etwa 100 Menschen pro-testierten gegen die Flüchtlinge. Auch einige der Jugendlichen vor der Grundschule sind auf den »Spaziergängen« mitmarschiert. Die Stimmung heizte sich immer weiter auf, während der Spazier-gänge und auf Facebook, »es wurde immer rassis-tischer«, sagt Nierth. Er hat Infostände aufgebaut, Rundbriefe geschrieben, Fragen beantwortet. Er hat sich darum bemüht, dass Familien kommen, die als Kriegsflüchtlinge eingestuft sind – die ein-zigen Flüchtlinge, die rechts gesinnte Tröglitzer gedanklich überhaupt zulassen.

Dass hier die rechte Stimmung so präsent ist, erklärt sich Nierth mit der kurzen Geschichte von Tröglitz. Das Dorf wurde 1937 rings um ein Braunkohlewerk gebaut. »Es gibt keine bürgerlichen Strukturen hier«, sagt Nierth.

Anfang März sollte der »Spaziergang« bis vor Nierths Haus gehen, und keiner wollte ihn schüt-zen. Nierth trat zurück. Danach gab es eine Bür-gerversammlung, auf der einer sagte: »Für Aus-länder wird viel Geld ausgegeben. Wir bekommen nix. Was soll denn die Scheiße. Die bekommen von A bis Z alles hingestellt.« Ein anderer sagte: »Dann wird es hier noch enger. Wir haben nur eine Ärztin, die ist jetzt schon überlastet.« Eine fragte: »Wie wird denn dann für unsere Sicherheit gesorgt? Gibt es dann mehr Polizei?«

Und jetzt hat die Unterkunft gebrannt. Nach dem Brand, sagt Nierth, habe er von keinem der Spaziergänger gehört, der sagte: »Es tut mir leid.«

Carmen Schneider wohnt gegenüber des Hau-ses, das gebrannt hat. Sie hat das Feuer in der Nacht gehört, als Knistern zunächst. Sie ist auf-gestanden, hat den Qualm gesehen – und ihre

POLITIK 3Ist Tröglitz überall? Deutschland kämpft gegen rechts

Wenn das Ordnung istIn dem Dorf Tröglitz in Sachsen-Anhalt brennt eine Flüchtlingsunterkunft. Die Tröglitzer sagen, sie hätten Angst – vor den Fremden. Ein NPD-Funktionär isst vegetarische Pizza. Und der Landrat kann für die Sicherheit nicht garantieren VON ANNE KUNZE

Nachbarin, die zum brennenden Haus lief. Oben im Gebäude haben zwei Menschen gewohnt, sie wären in der Nacht fast verbrannt.

»Ja«, sagt Carmen Schneider. Auch sie ist bei den »Spaziergängen« mitgelaufen. »Wenn das Familien wären, würde ja keiner was sagen, ich als Letzte. Ich hab nur was gegen die, die kommen und die Hand aufhalten.« Kennen Sie welche? »In Zeitz, da wird’s schon einige geben.« Persönlich kennt sie niemanden, auch nicht in der Nachbargemeinde Zeitz.

Trotzdem fürchtet sie sich. »Ich bin die ganze Woche allein hier. Wenn hier 40 Männer gegen-über einziehen, habe ich schon Angst. Hätten Sie keine?« Als man sie bloß ansieht, sagt sie, wie zur Entschuldigung: »Eine Polizistin war hier, die sagt: Ich kann Sie verstehen.« Frau Schneider nickt. »Es muss schon ordentlich zugehen.«

Die Heimatvereine hier erinnern lieber an das Mittelalter als an die NS-Zeit

Asylbewerber werden in Deutschland nach einem Schlüssel verteilt, je nach Einwohnerzahl und Steuereinnahmen. Sachsen-Anhalt muss 2,85 Pro-zent aller Flüchtlinge aufnehmen, und das Burgen-land, in dem Tröglitz liegt, davon 9,1 Prozent. Bis-lang waren die Flüchtlinge in einer Massenunter-kunft in Zeitz, aber es kommen immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland. 2013 gab es 284 Flüchtlinge im Burgenlandkreis, in diesem Jahr rechnet man mit 650.

Es gibt Tröglitzer, die fürchten, durch die Be-richterstattung versinke ganz Tröglitz im braunen Sumpf. Im einzigen Hotel, dem Elsterblick, hat einer schon eine Feier abgesagt. Viele hier fürch-ten, Tröglitz könne sich ins kollektive Gedächtnis einbrennen wie Hoyerswerda oder Mölln. Ein Tröglitzer sagt: »Anschläge gibt’s auch anderswo.«

Das stimmt. Nach Informationen von Pro Asyl und der Amadeu Antonio Stiftung gab es seit Januar bereits 25 Angriffe auf Unterkünfte und 22 Gewalttaten gegen Flüchtlinge – viele davon in Ostdeutschland. Es ist der dritte Brandanschlag gegen eine Asylunterkunft im Jahr 2015. 22 Mal wurden Unterkünfte beschädigt, 22 Mal Flücht-linge körperlich angegriffen. Und das sind nur die bekannt gewordenen Vorfälle.

Zwei Kilometer neben der ausgebrannten Asyl-unterkunft sitzt Lothar Czoßek, 86, und kämpft gegen das Vergessen. Hier, in Rehmsdorf, liegen die Reste einer Außenstelle des Konzentrations-lagers Buchenwald, es heißt »Wille«. Czoßek, ein feingliedriger alter Herr, war 15 Jahre alt, als sie errichtet wurde. Czoßek hat im Alleingang ein kleines Museum eingerichtet. Noch heute besu-chen ihn Überlebende des Lagers. In der Bevölke-rung, sagt Czoßek, gebe es »ein erschreckendes Unwissen« über das, was im »Dritten Reich« wirk-lich geschehen ist. Auch Czoßek bekommt Briefe von Rechtsextremisten. In einem stand: »Sie widerlicher Geselle! Fünf Millionen Deutsche Soldaten sind durch den bolschewistischen Terror ums Leben gekommen, darum sollten Sie sich kümmern!«

Die Heimatvereine hier erinnern lieber an das Mittelalter. Das Mittelalter ist weit weg und so, wie man es hier versteht, leicht zu sortieren: Große Männer kämpfen große Schlachten.

Nach dem Brand in Tröglitz sagten Politiker, es sei nicht mehr so schlimm wie in der Hochphase der rechtsradikalen Anschläge in den Neunzigern. Sie sagen, dass es mehr Solidarität gebe und klarere Worte. Aber noch etwas hat sich geändert seit den Neunzigern, unauffällig, schleichend. Die Neonazis durchdringen nach und nach die kommunalen Strukturen, gründen Bürgerinitiativen. In Tröglitz war die Kirche in Gestalt von Markus Nierth und seinem Freund, dem Pfarrer, jahrelang die einzige Institution, die ihnen etwas entgegengesetzt hat. In Tröglitz kämpfen die Rechten und die Kirche um die Vorherrschaft.

Wo ist eigentlich der Staat? Der hauptamtliche Bürgermeister von Tröglitz heißt Manfred Meiß-ner. Er tritt ein einziges Mal öffentlich auf, bei der Bürgerversammlung Ende März, murmelt, das mit den Flüchtlingen sei Sache des Landkreises, mehr nicht. Mit den Medien möchte er nicht spre-chen. »Dafür stehe ich nicht zur Verfügung«, sagt er der ZEIT am Telefon und legt auf.

Darf man mit Nazis sprechen? Vielleicht muss man es versuchen, wenn man dem auf den Grund gehen will, was man als Echo in den Straßen von Tröglitz hört.

Halberstadt, acht Tage lang im Krankenhaus. Er sagt, Menschen hätten versucht, ihn umzubringen.

Wenn er in Hohenmölsen auf die Straße gehe, sagt er, hupten ihn Autos an, und die im Auto zeigten ihm den erhobenen Mittelfinger. Manche lauerten vor der Unterkunft und riefen »fuck you«. »Sicher?«, fragt Rasak O, »sicher fühle ich mich hier nicht.«

»Dann haben die Rechten gewonnen«, sagt der Landrat

Der Bürgermeister von Hohenmölsen heißt Andy Haugk. Er sagt: »Das hätte ich nicht gedacht, dass Menschen nicht nur mit Worten zündeln, sondern auch einen Benzinkanister in die Hand nehmen.« Er unterbricht sich. Dann sagt er: »Das macht mir auch für meine eigene Stadt Angst.«

Haben Sie Angst, dass auch hier in Hohenmölsen etwas passieren kann, Herr Haugk? Er schweigt so lange, dass sich die Luft um ihn mit einer Schwere füllt. Dann sagt er etwas von einem Konfliktpoten-zial, das nicht kleingeredet werden soll. Er merkt selbst, dass die Schwere davon nicht weggeht. Haben Sie Angst vor einem Anschlag in Hohenmölsen, Herr Haugk? Haugk schluckt, dann sagt er: »Ja.«

Ja. Und je mehr darüber berichtet wird, sagt Haugk, wie gut das alles läuft in Hohenmölsen, desto eher wachse die Stimmung, dass das kaputt gemacht werden soll. Vielleicht ist Haugk deshalb so ehrlich und sagt: Nicht alles ist gut hier.

Bevor die ersten Flüchtlinge ankamen, hat er die Hohenmölsener zu einem Tag der offenen Tür in die Unterkunft geladen, »damit sie sich persön-lich überzeugen können, dass das alles andere als luxuriös ist«. Die Fragen der Leute waren ähnliche wie in Tröglitz:

Wie lange bleiben die? Kommen die überhaupt aus Kriegsgebieten?Wie viel Geld steht denen zur Verfügung? Wollen die arbeiten?Auch Haugk hat E-Mails bekommen, in denen

stand: »Was tun Sie eigentlich für die richtigen Deut-schen?« Aber es hat sich auch eine Bürgerinitiative gegründet, die den Flüchtlingen Willkommenspake-te packt und sie durch die Stadt geführt hat.

Jetzt arbeitet die Sozialarbeiterin Katja Lehmann jeden Tag mit den Flüchtlingen. Sie sagt, sie hätte sich das reiflich überlegt, »so als junge Frau, mit den unterschiedlichen Religionen und Kulturen«. Katja Lehmann ist 26 Jahre alt, sie hat lange braune Haare, trägt Jeans und Turnschuhe. Sogar bei einer Kollegin in Naumburg habe sie sich informiert, auch die sei erst 28 und arbeite mit männlichen Flüchtlingen. »Die hat gesagt: überhaupt kein Problem.« Und so ergehe es ihr jetzt auch, wenn sie die ersten Fragen der Asylsuchenden anhöre, Arzttermine für sie ver-

einbare und ihnen erkläre, wie sie mit dem Bus zur Anhörung kommen: »Überhaupt kein Problem.«

Der Landrat für den Burgenlandkreis heißt Götz Ulrich. Er ist zuständig für Tröglitz und auch für Hohenmölsen. Er ist hier der Staat. Er ist in Tröglitz in Sachen Flüchtlinge zum ersten Mal Ende März auf einer Bürgerversammlung aufgetreten, zu spät, finden viele. Geduldig hat Ulrich dort Zahlen vor-getragen, um dem Hauptvorwurf zu begegnen, der Staat kümmere sich besser um die Flüchtlinge als um die Tröglitzer. Dazu sagt Ulrich: Der Landkreis gibt 273 Millionen im Jahr für die Deutschen aus, davon 14 Millionen für die Integration von Langzeitarbeits-losen. Nur 100 000 Euro seien zur Integration der Asylbewerber geplant, elf Millionen sollen die Flücht-linge den Landkreis insgesamt kosten.

Als das Gespräch fast zu Ende ist, Ulrich ist schon aufgestanden und auf dem Weg zum Innenminister nach Magdeburg, gibt es einen Moment der Wahr-heit. Herr Ulrich, sind Sie wirklich davon überzeugt, dass die Flüchtlinge hier sicher sind? »Nein«, sagt er. »Dafür kann ich nicht garantieren.« Er lässt die Schul-tern hängen, er schaut ratlos drein. »Was würden Sie denn machen?«, fragt er.

Die Antwort gibt Rasak O.: »Auf der Straße habe ich Angst. Ich bin eingesperrt. Warum brin-gen sie uns nicht in eine große Stadt?«

Die Flüchtlinge wollen in Ruhe und in Sicher-heit leben. »Aber dann«, sagt Landrat Ulrich, »dann haben die Rechten gewonnen.«

Ein Wort sagen die Leute in Tröglitz öfter als jedes andere: »Ordnung«. Wenn man aus Tröglitz wieder wegfährt, fällt einem ein Satz des Schrift-stellers Robert Musil ein: »Irgendwie geht Ord-nung in das Bedürfnis nach Totschlag über.«

Mitarbeit: JULIUS LUKAS

Von links unten nach rechts oben: Landrat Götz Ulrich; der ehemalige ehrenamtliche Bürgermeister von Tröglitz, Markus Nierth; NPD-Funktionär Steffen Thiel (mit Mütze und Pizza); Flüchtlinge vor einer Unterkunft in Hohenmölsen. Unten: Die Brandruine in Tröglitz am Ostermontag

DEUTSCHLAND

Tröglitz

Als Ort für das Treffen hat Steffen Thiel eine Pizzeria in Zeitz vorgeschlagen. Thiel hat die Pro-teste gegen die Flüchtlinge organisiert und sitzt für die NPD im Kreistag. Um halb neun am Oster-montag betritt ein Enddreißiger das Lokal. Wie harmlos er aussieht, das ist die erste Überraschung. Zweite Überraschung: Er sei Vegetarier, sagt er, seit zwei Jahren schon, wegen der Zustände in der Fleischindustrie. Vegan versuche er, aber er schaffe es nicht immer.

Thiel bestellt also eine vegetarische Pizza und wettert gegen den Berliner Stadtteil Neukölln, wo die Läden ihre Waren nur noch auf Türkisch aus-schilderten. »Das ist nicht mehr Deutschland«, sagt er. »Die bringen ja ihre Kultur mit! Die geben sie ja nicht an der Grenze ab!«

Die, das sind die Asylbewerber, die Flüchtlinge. Thiel beginnt sich nun zu verheddern in einer Definition von Flüchtlingen. Bei Thiel hört sich das an wie ein Spiel: Guter Flüchtling rein, schlechter Flüchtling raus. Die Kriegsflüchtlinge könne man ja aufnehmen, die Wirtschaftsflücht-linge, »die nur Sozialhilfe wollen«, aber nicht. Und wo Krieg ist, das entscheidet immer noch er: »Sy-rien vielleicht?« So sicher ist er da nicht, jedenfalls seien männliche Flüchtlinge, die ohne Familie hier ankämen, gewiss keine Kriegsflüchtlinge, »kein Mann lässt seine Familie zurück im Krieg«.

Auch während er das sagt, bleiben seine Hände ruhig. Sein Gestenrepertoire wirkt ausgeglichen, nie ballt er die Hand zur Faust.

Thiel stammt aus Tröglitz. Er selbst bezieht Sozialhilfe, er profitiert von einem System, das er verachtet. Er kann sich nicht vorstellen, seine Hei-mat zu verlassen, aber für einen Ausländer sei der hiesige Sozialhilfesatz ja viel Geld. In der NPD sei er, weil sie sich als einzige Partei um »ordentliche Familien« kümmere. Eine in seinem Sinne ordent-liche Familie hat er nicht, er lebt getrennt von der 14-jährigen Tochter und ihrer Mutter.

Mit rechtem Gedankengut infiltriert er die Leute vorsichtig. Die Demonstrationen hat er als »Spaziergänge« deklariert und unter seinem Na-men angemeldet, nicht über die NPD. »Ich bin ja nicht blöd«, sagt er. Stolz zeigt er eine Regen-bogenfahne, die er für die Demo gemacht hat, »da erkennt man nicht, dass das von Rechten kommt«.

Zum Gespräch hat er einen Zettel mitgebracht, auf dem steht, in Spiegelstrichen, wem der An-schlag nutze: dem Vermieter, wegen des Schadens-ersatzes. Dem Ex-Bürgermeister Nierth, weil er jetzt seinen eigenen Wohnraum vermieten könne. Den Politikern, die jetzt neue Argumente haben für das NPD-Verbotsverfahren. Unten steht, wem der Anschlag schadet: der NPD, weil jetzt wieder über das Verbotsverfahren debattiert werde. Den Tröglitzern, weil ihr Ruf ruiniert wird und weil die Asylbewerber ja trotzdem kämen.

Bei Redaktionsschluss der ZEIT sollten statt der geplanten 40 zunächst nur zehn Flüchtlinge in Tröglitz untergebracht werden.

Immer wieder heißt es, bei Pegida, während der »Spaziergänge« in Tröglitz und auch jetzt noch, nach dem Brand, man müsse die Sorgen der Leute ernst nehmen. Wer fragt eigentlich nach den Sor-gen der Flüchtlinge?

Eine Viertelstunde von Tröglitz entfernt, in Ho-henmölsen, sitzt vor seiner Unterkunft Rasak O. in der Nachmittagssonne. Jemand hat ihm gesagt, geh nach Deutschland. In Deutschland ist es sicher, da beachten sie die Menschenrechte. Rasak O. kommt aus Benin, er wurde verfolgt, weil er gläubiger Muslim ist. Nach Deutschland kam er mit Brandwunden am ganzen Körper, er lag, nach der Erstaufnahme in

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

Dortmund

Polizeipräsidium Dortmund, Mon­tag, 30. März, 7.30 Uhr: Wie je­den Tag um diese Zeit trifft sich in einem schmucklosen Konferenz­raum im zweiten Stock die Soko »Rechts« zur Lagebesprechung. Die Stimmung der Polizeibeam­

ten ist gut, die Anspannung der vergangenen Wo­chen gewichen, denn es gibt einen Erfolg zu ver­melden: Der befürchtete Gewaltausbruch bei einer Demonstration von etwa tausend Rechts extre mis­ten am Wochenende ist ausgeblieben. Dank Tau­sender Polizisten, die Neonazis und Linksautono­me aus ein an der hiel ten. Und dank der Dortmun­der Soko Rechts, einer in dieser Form wohl einzig­artigen Staatsschutztruppe zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.

Monatelang hatten die etwa drei Dutzend Mitarbeiter, ihre genaue Zahl wird geheim gehal­ten, den harten Kern der Dortmunder Neonazis nicht aus den Augen gelassen. Sie überwachten die Treffen dieser etwa fünfzig Leute, durch­pflügten die Sozialen Netzwerke und befragten V­Leute, die sich in diesem rechtsextremen Milieu herumtreiben. Am Ende konnte die Sonderkom­mission der Polizei präzise voraussagen, wie viele Neonazis zur Demo anreisen würden. Das Trau­ma von Köln, als im vergangenen Oktober Hun­derte von Rechtsextremisten stundenlang über Gegendemonstranten und die Polizei herfielen, blieb Dortmund durch diese Vorarbeit erspart.

Trotz dieses Erfolgs ist die Lage in Dortmund weiterhin gefährlich. Nicht nur in Ostdeutschland sind Neonazis gut organisiert, sondern ebenso hier, im Westen der alten Bundesrepublik. Deshalb lautet auch an diesem Montagmorgen die drängende Fra­ge sofort: Was wissen wir Neues über die Rechts extre­mis ten, was planen sie als Nächstes?

Große Aufmärsche sind nicht das Problem in Dortmund, sondern vor allem die vielen kleinen aggressiven Provokationen, die ein Klima der Angst und Einschüchterung erzeugen sollen. Mal marschie­ren vierzig vermummte Neonazis im SA­Stil mit brennenden Fackeln zu einer Flüchtlingsunterkunft im Ortsteil Eving und grölen: »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!« Mal verhöhnen sie auf einer Kundgebung NS­Opfer und rufen: »Anne Frank war essgestört!« Mal klingelt ein »nationaler Weihnachtsmann« an der Wohnungstür des so zial­demo kra ti schen Oberbürgermeisters Ullrich Sierau. Um die Jahreswende tauchten plötzlich über Twitter und Face book Todesanzeigen mit den Namen loka­ler Politiker und Journalisten auf, die sich offen gegen die Neonazis stellen. Über den linken Fotojourna­listen Marcus Arndt, der seit Jahren die Aktivitäten der Dortmunder Neonazi­Szene ablichtet, schrieben darin Unbekannte: »Nach einem hoffnungslosen Kampf gegen Nationale Aktivisten bedeutet sein baldiger Tod mehr als eine Erlösung für uns alle.«

Auch hinter dieser Aktion, vermutet die Soko Rechts, stecken Dortmunder Rechtsextremisten. Bereits seit den achtziger Jahren hat sich in der Stadt eine besonders hartnäckige Gruppe festgesetzt. Einst scharte sie sich um den inzwischen 61­jährigen »SS­Siggi«, Siegfried Borchardt, und seinen BVB­Fanclub

»Borussenfront«. Heute hat hier eine Handvoll Jura­ und Informatikstudenten das Sagen. Sie sind nicht nur internetaffin und haben eine für Neonazis selte­ne Vorliebe für An gli zismen, sondern unterscheiden sich auch äußerlich von ihren Vorgängern. Statt Glatzen, Tattoos und Springerstiefeln tragen sie ge­gelte Frisuren und Turnschuhe.

Das ist das Neue und besonders Bedrohliche: Diese jungen Neonazis sind gewiefter und aggressiver als ihre Vorgänger. Sie provozieren den Rechtsstaat und haben Spaß daran, seine Grenzen auszutesten. Nordrhein­Westfalens Innenminister Ralf Jäger, SPD, spricht von einem »Generations­, System­ und Intelligenzwandel« der Neonazi­Szene. »Dortmund ist nicht die Hauptstadt des Rechtsextremismus«, sagt er, »wohl aber ein organisatorisches und strate­gisches Zentrum.«

Deshalb gibt es die Soko Rechts. Gegründet Ende 2011, als die Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) aufflog und man entsetzt fest­stellte, dass deutsche Rechts extre mis ten offenbar jahrelang ungehindert morden und bomben konn­ten, dient die Soko vor allem einem Ziel: »Massiv und systematisch gegen die Neonazi­Netzwerke vor­zugehen, um gefährliche Entwicklungen im Keim zu ersticken«. So hat es Innenminister Jäger damals festgeschrieben.

Geführt wird die Soko seit einem halben Jahr von einer jungen Frau, Anika Uhlmann, 36. Dortmunds Polizeipräsident Gregor Lange, 52, hat die energische Kriminalrätin aus dem nordrhein­westfälischen Innenministerium abgeworben. Uhlmann gibt keine Interviews und erscheint so gut wie nie bei öffentlichen Terminen. Wie die gesamte Soko, die in einem rot geklinkerten Seitengebäude des Polizei­präsidiums in der Markgrafenstraße residiert, wird Uhlmann weitgehend abgeschirmt. Die Neonazis, sagt der Polizeipräsident, sollen so wenig wie möglich über diese Truppe erfahren.

Die Neonazis haben Facebook, die Polizei hat Erfolgsdruck

Doch so viel erzählt Uhlmann immerhin: Just als der NSU aufgedeckt wurde, heuerte sie in der Staatsschutzabteilung des Innenministeriums in Düsseldorf an. An einem Freitag bezog sie ihr Büro, am Montag sagte ihr Vorgesetzter: Frau Uhlmann, Ihr Augenmerk gilt ab sofort den Neonazis! Innenminister Jäger nennt jenen No­vember 2011 »eine schwere Zäsur, weil wir es nicht für möglich gehalten hatten, dass hier­zulande eine neonazistische Mörderbande existie­ren konnte«.

Weil die neue Generation der Neonazis neue Polizeimethoden erfordert, hat Soko­Chefin Uhl­mann bereits einiges verändert. Weit mehr als bisher lässt sie die sozialen Medien überwachen, Face book, Twitter, Flickr, In sta gram. Die Compu­tertechnik soll ausgebaut und eine effektivere Soft ware gekauft werden, welche allerdings, wird nicht verraten. Auch will Uhlmann die besonde­ren Eigenheiten ihrer Ermittler stärken: Gesam­melt werden hier nicht nur strenge Beweise für einen Strafprozess, sondern auch sämtliche Er­kenntnisse, die zwar keinen Neonazi ins Gefäng­

nis bringen, aber immerhin ein Versammlungs­verbot erwirken können.

Überdies ist in der Soko immer derselbe Er­mittler für einen gewaltbereiten Rechtsextremis­ten zuständig. Er bearbeitet dessen gesamte Ge­setzesverstöße, also auch die Schwarzfahrt oder den Ladendiebstahl, obwohl die auf den ersten Blick nichts mit den politischen Aktivitäten zu tun haben. »Wir brauchen ein Gesamtbild der Neonazis«, sagt Polizeipräsident Lange. »Wir müs­sen sämtliches Wissen und alle Erkenntnisse bün­deln, denn unser Ziel ist es, stets und überall, ob auf der Straße oder im Internet, permanent Druck auf die Rechtsextremisten auszuüben.«

Zwei Rechte sitzen im Stadtrat, der Rest verbreitet Angst

Warum Dortmund? Die Stadt ist nicht besonders anfällig für rechte Parolen. Die knapp 600 000 Ein­wohner werden seit Langem von der SPD regiert, und anders als in einigen Nachbarstädten an Rhein und Ruhr hat auch die ausländerfeindliche Pegida­Bewegung in Dortmund kaum Anhänger gefunden. Bei der vergangenen Kommunalwahl im Mai 2014 erhielten die zwei rechtsextremen Parteien NPD und Die Rechte zusammen gerade einmal 1,9 Prozent.

Gleichwohl reichten ihnen die knapp 4000 Wäh­lerstimmen, um jeweils einen Sitz im Stadtrat zu erringen. Und gerade das schafft eines der großen Probleme: Im Dunstkreis der Partei Die Rechte sammeln und organisieren sich etliche Dortmunder Neonazis, besonders die jüngeren und besser aus­gebildeten. Das Wort führt jetzt der 29­jährige In­formatikstudent Dennis Giemsch, der für Die Rechte im Dortmunder Stadtrat sitzt. Dieses Milieu ist eine kleine verschworene Gemeinschaft, einige Mitglieder teilen sich offenbar eine gemeinsame Wohnung. Ihr Haus im Dortmunder Stadtteil Dorst­feld ist rosafarben besprüht, an der Außenwand steht in großen Lettern »NS­Zone«, und am Vor abend der Demo dröhnte aus den zum Teil mit brauner Pappe verklebten Fenstern Musik der Neonazi­Band »Lunikoff Verschwörung«.

Stadtrat Giemsch schockierte neulich die Stadt, als er wissen wollte, wie viele Juden in Dortmund wohnen – und wo. Als Mitorganisator der Demo las er zu Beginn des Protestmarsches gegen »Asylmiss­brauch und So zial abbau« vor, welche Parolen man gemäß den polizeilichen Auflagen nicht skandieren durfte: zum Beispiel »Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!«. Die tausend Neonazis quittierten es mit einem dreifachen höhnischen »Ahu, ahu, ahu!«, einem bei Hooligans verbreiteten Ausruf.

Giemsch, mittelgroß, Jeans, beige far be ne Base­ball kappe, redet nicht mit Journalisten und will auch nicht, dass andere Rechtsextremisten mit der »Lügen­presse« sprechen. Als der arbeitslose Manuel trotzdem auf unsere Fragen reagierte und sich über »die mas­senhaften Asylanten« empörte, »die uns Deutschen das Geld aus der Tasche ziehen und die Wohnungen wegnehmen«, waren sofort zwei Ordner zur Stelle, packten ihn an der Schulter und drängten ihn zurück in den Demonstrationszug.

Es ist vor allem die wachsende Bedrohung von Bürgern, die der Soko Rechts Sorge macht: Erst

kamen die Todesanzeigen, dann wurde Mitte Ja­nuar das Haus von Robert Rutkowski, einem lin­ken 52­jährigen Blogger, der auf @korallenherz gegen Rechtsextremisten twittert und für die Pira­tenpartei arbeitet, mit zwei Hakenkreuzen be­sprüht. Und am Abend des 9. März meldete der Fotojournalist Marcus Arndt der Polizei, er sei attackiert worden.

Arndt, 43, fröhliches Lachen, gepiercte Nase, gestutzter Bart, kommt in Begleitung von zwei Freunden zum Treffen in einer Dortmunder Kneipe. Die Soko Rechts hat ihm geraten, im Dunkeln nicht mehr allein unterwegs zu sein. An jenem 9. März gegen 22 Uhr, erzählt er, hätten ihn in der Innenstadt drei junge Männer verfolgt. Sie hätten »Du linke Sau, wir töten dich jetzt!« gerufen und ihn mit Steinen beworfen, einer davon habe sein Gesicht gestreift, andere seien an seiner stichsicheren Weste abgeprallt. Er habe daraufhin seine Gaspistole gezogen, die er sich wie auch die Weste nach den Todesanzeigen zu seinem Schutz gekauft habe, und die drei Angreifer hätten die Flucht ergriffen.

Zeugen gibt es nicht, und es ist bislang auch nicht erwiesen, dass dafür wie für die Todesanzei­gen Rechtsextremisten verantwortlich sind. Doch die Soko Rechts hat die Ermittlungen übernom­men. Auf ihre Empfehlung hin brachte Arndt an seiner Wohnungstür einen Panzerriegel an, und mehrmals am Tag patrouilliert ein Streifenwagen durch seine Straße. Überdies hat Polizeipräsident Lange die Soko inzwischen zu einer Dauereinrich­tung erklärt und nach dem mutmaßlichen An­schlag auf Arndt um zwölf zusätzliche Beamte aufgestockt. Diese Fälle, sagt er, hätten für ihn »oberste Priorität, denn wir können es nicht hin­nehmen, dass die Rechtsextremisten in unserer Stadt ein Klima der Angst und Einschüchterung erzeugen wollen«.

Der Polizeipräsident steht unter Erfolgsdruck. Gegner werfen ihm vor, er überziehe maßlos, der permanente Druck auf die Dortmunder Neonazis stachle diese nur weiter an, werte sie bundesweit auf und treibe ihnen neue Anhänger zu. Lange sagt: »Diese neue Gruppe von Neonazis kann aufgrund ihres Wissens und ihrer Fähigkeiten leider besonders effektiv und aggressiv agieren. Das macht ihre Über­wachung besonders kompliziert.« Doch der harte Kern sei nicht gewachsen, die Verunsicherung im Milieu steige, Aussteigerprogramme hätten Zulauf, die rechtsextreme Szene franse an ihren Rändern aus.

Zahlen dafür gibt es jedoch nicht. Am 1. Mai ist offenbar die nächste Demo geplant. Jeden Montag ziehen Neonazis vor einer geplanten Flüchtlingsunter­kunft im Stadtteil Eving zu einer sogenannten »Mahnwache« auf, zu der auch Menschen aus der Nachbarschaft kommen. Nachdem neulich eine Dortmunderin angeblich von einem Mann mit aus­ländischem Hintergrund belästigt worden war, ver­teilten Rechtsextremisten Pfefferspray­Dosen an Passantinnen. Polizeipräsident Lange sagt: »Sie wer­den sehen, unser Konzept wird aufgehen, gemeinsam mit Politik, Stadt und Zivilgesellschaft werden wir erfolgreich sein.«

Vergangene Woche erhielt Marcus Arndt per anonymer SMS die Mitteilung: »Wir kriegen Dich trotzdem!«

4 POLITIK

»Du linke Sau, wir töten dich«Sie drohen und schreiben Todesanzeigen für ihre Gegner – in Dortmund gibt es die aktivste und gefährlichste

Neonazi­Szene in Westdeutschland. Aber jetzt gibt es dort auch die Sonderkommission »Rechts« VON MARTIN KLINGST

Ist Tröglitz überall? Deutschland kämpft gegen rechts

Polizisten begleiten eine Demonstration von NPD und der Partei Die Rechte in Dortmund

Mail aus: Rio de JaneiroVon: [email protected]: Wasserqualität

Sie wollen Drohnen einsetzen. Und Bojen mit Mülldetektoren. Sie wollen Abfallströmungs­studien erstellen. Viel wird das wohl nicht helfen: »Es ist schockierend, wie viel Müll und Abwasser in der Bucht von Guanabara schwimmen«, sagt Dora Hees de Negreiros. Die 81­Jährige ist Chemikerin und Abwasser­expertin in Rio de Janeiro. Sie hat früher für die Stadtregierung gearbeitet, warf frustriert hin und engagiert sich nun als Aktivistin für die Reinigung der Gewässer rings um Rio. Ei­gentlich hatten Brasiliens Umweltschützer bis vor Kurzem all ihre Hoffnungen auf Olympia 2016 gesetzt: Eine Generalreinigung der Bucht von Rio wurde versprochen, denn dort werden die Segelwettbewerbe ausgetragen. Doch allmählich dämmert allen, dass nur der gröbste Müll geortet und beseitigt wird. »Hier kann man sogar menschliche Leichname trei­ben sehen«, klagt Hees de Negreiros. Und schwimmende Sofas, Berge von Plastiktüten, Hausmüll aller Art. Einige Segelteams haben sich bereits bei den Olympia­Organisatoren beschwert, weil sie den Kontakt mit dem Wasser fürchten. Das allerdings findet sogar Dora Hees übertrieben. »Das Salzwasser tötet Bakterien ab, wenn man darin länger unter­wegs ist«, sagt sie. »Manchmal schwimme ich selber in diesem Wasser.« Sie wisse ja dank ihrer Arbeit, wo genau die Abflussrohre fri­schen Dreck in die Bucht spülen.

Es wird jetzt heiß in Delhi, aber es ist noch nicht heiß. Es ist eine merkwürdige Zwischen­zeit, die noch halbwegs harmlos tut wie ein gewöhnlicher Sommer, aber die bevorstehen­den Plagen der Gluthitze schon spielerisch drohend ahnen lässt. Es ist die Zeit, in der man den Ventilator bereits braucht, aber die Klimaanlage noch nicht. Wo man auf dem Balkon nicht mehr sitzen mag, aber der Win­tergarten noch erträglich ist; abends sogar an­genehm. Die Zeit, da die Nacht noch Erfri­schung bringt und man morgens gern aus dem Haus tritt, während bald schon die Tem­peraturdifferenz der Tageszeiten in backofen­hafter Monotonie verschwinden wird. Die Zeit, da es in der Wohnung noch weniger warm ist als im Freien, woran man sich in ein paar Wochen kaum mehr wird erinnern kön­nen. Die Zeit, in der die Eisverkäufer bereits ihre Stände aufgebaut haben, die Kunden aber erst wenige sind. In der der Wind noch eine Brise ist, kein Heißluftstoß aus der Wüs­te. Es ist die Zeit, da es im Schatten noch kühler ist als in der Sonne. Bald wird der ein­zige Unterschied sein, dass es im Schatten ein bisschen dunkler ist als im Licht. Eine trübe heiße Insel in einem gleißenden heißen Meer.

Jeden Abend beginnt in den Beiruter Szene­vierteln das immer gleiche Ritual: Teuer ge­kleidete, betont gelangweilt wirkende Männer halten in zweiter Reihe vor Bars und Restau­rants, übergeben ärmlich gekleideten, betont eifrig wirkenden Männern ihre überdimensio­nierten Autos, worauf Letztere darin ein paar­mal um den Block fahren, bevorzugt in klei­nen Wohnstraßen mal so richtig Gas geben und die Karre dann auf dem Bürgersteig ab­stellen. »Valet Parking« nennt man das hier.

Da die Stadt für das wachsende Autoauf­kommen zu klein und der Ausbau des öffent­lichen Nahverkehrs ein Nicht­Thema ist, werden Parkplätze zur knappen Ware. Waren­knappheit lässt Preise steigen, und hohe Preise locken Profiteure. Valet­Parking­Firmen ma­chen guten Umsatz. Angeblich ist die Kon­kurrenz so hart, dass sie Restaurant­ und Bar­besitzern eine Kommission versprechen, wenn sie vor deren Etablissements den Gästen die Autos abnehmen dürfen.

Gerüchten zufolge stecken im Parkplatz­Geschäft auch ranghohe Mitglieder libanesi­scher Familien und Parteien, die früher mal einen bewaffneten Flügel hatten, immer noch haben oder jederzeit wieder haben könnten. Es sind – wie gesagt – Gerüchte. Aber irgendwie ist es zu schön, sich folgenden Samstagabend­dialog in einem Porsche Cayenne vorzustellen.

Er: »Habibti, Geliebte, ich werde wahn­sinnig. Unser Tisch ist seit 30 Minuten reser­viert, und ich finde in diesem verdammten Viertel keinen Parkplatz.«

Sie: »Habibi, Schatz, beruhige dich. Wir lassen das Auto einfach vor dem Restaurant stehen und geben den Wagenschlüssel His­bollah.«

Mail aus: BeirutVon: [email protected]: Parkplätze

Mail aus: DelhiVon: [email protected]: Sommerhitze

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 156 POLITIK

Hype und HybrisBis vor Kurzem hätte man glauben können, Recep Tayyip Erdoğan werde als der größte Reformer der Türkei in die Geschichtsbücher eingehen. Weil er das Land offener gemacht hat, entspannter. Weil er die Türkei wirtschaftlich zum »China Europas« (The Eco-nomist) umbaute und viele Türken den Aufschwung direkt im Portemonnaie spürten. Vielleicht hätten die Türken ihm, dem talentiertesten Politiker seit Staats-gründer Atatürk, sogar Denkmäler gebaut, weil er ein politisches Tabu nach dem anderen gebrochen hat: Es war Erdoğan, der die Macht des Militärs beschnitt, das seit Gründung der Republik im Jahr 1923 drei Mal geputscht hat. Er war es, der erstmals am 24. April, jenem Tag, an dem offiziell des Völkermords an den Armeniern gedacht wird, den Nachkommen der Opfer sein Beileid aussprach. Und es war Erdoğan, der Gespräche mit den Kurden zur Beilegung des seit dreißig Jahren tobenden Konflikts aufnahm, der bis-lang rund 40 000 Menschen das Leben gekostet hat.

Man muss das alles wissen, um zu verstehen, aus welcher Höhe der Fall dieses Mannes jetzt beginnen könnte.

Tayyip Erdoğan, der stets als lider, als unumstritte-ner Führer galt, ist Kritik und Widerspruch ausgesetzt wie noch nie zuvor in seiner Karriere. Der reis, das Oberhaupt, wie ihn viele Anhänger devot nennen, sieht seine Macht und sein Erbe infrage gestellt.

Alle Veränderungen konnte der frühere Premier-minister und jetzige Staatspräsident nur anpacken, weil eine absolut loyale Partei hinter ihm stand – sei-ne AKP. Nie drang Streit nach außen, die Reihen waren geschlossen, und in Zeiten der Krise rückten die Parteimitglieder nur noch enger zusammen. Und Krisen gab es in den vergangenen Jahren ständig: die regierungskritischen Gezi-Proteste, die nur mit bru-taler Gewalt niedergeschlagen werden konnten; der Tod von 301 Bergmännern in Soma, den Erdoğan, damals noch Premier, kühl als »Schicksal« abtat; der Machtkampf mit der Bewegung des in den USA le-benden Predigers Fethullah Gülen, einst politischer Weggefährte, jetzt Staatsfeind Nummer eins; eine beispiellose Korruptionsaffäre, in die auch Erdoğan und Familienmitglieder verstrickt sein sollen (die Er-mittlungen dazu wurden eingestellt); schließlich der Bürgerkrieg in Syrien, der mehr als eine Million Flüchtlinge ins Land brachte, dazu soziale Spannun-gen und durchreisende Dschihadisten.

Trotz dieser gewaltigen Probleme hat Erdoğan alle Wahlen gewonnen. Vor allem, weil er seinen treuesten Anhängern, den frommen, erniedrigten und lange Zeit wirtschaftlich abgehängten Anatoliern, ihre Wür-de zurückgegeben hat. Sie dankten es ihm mit Unter-würfigkeit, mit Liebe und immer größeren Wahlsie-

gen. Er war einer von ihnen, einer von ganz unten, Sohn eines Seemanns, und er biss sich bis ganz nach oben durch. Jetzt wohnt er in einem Palast, der größer und prächtiger ist als alle Bauten seiner Vorgänger.

Doch nun, zwei Monate vor einer Parlamentswahl, bei der für Erdoğan fast alles auf dem Spiel steht, scheint sich etwas Grundlegendes zu ändern. Das eng gespannte Netz von Loyalitäten, Interessen und Ab-hängigkeiten trägt Erdoğan nicht mehr wie gewohnt. Und das ausgerechnet in einem Moment, in dem er der Türkei eine neue Verfassung geben will, die dem Präsidenten viel mehr Einfluss verschaffen würde. Bis-lang muss sich das türkische Staatsoberhaupt formell aus der Tagespolitik heraushalten. Das hat dem Präsi-denten Erdoğan noch nie gepasst. Er will jetzt die ganze Macht.

Druck von innenDass die Fundamente von Erdoğans Macht zu brö-ckeln beginnen, zeigte sich vielleicht zuerst Mitte März, hoch über den Wolken, im Regierungsjet des Präsidenten. Auf dem Rückflug von einem Staatsbe-such in der Ukraine schimpfte Erdoğan vor Journalis-ten über die Regierung seines Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu. Es ging um den Friedensprozess mit den Kurden, um einen neuen Vorschlag, dem Davutoğlu zugestimmt hatte. Erdoğan erregte sich, er sagte, er sei mit diesem Vorschlag überhaupt nicht einverstanden, und außerdem »erfahre ich davon nur aus der Zeitung!«.

Das ist ein bemerkenswerter Satz für einen Mann, der sonst alles zu wissen scheint und unter Kontrolle hat. Es sollte eine Zurechtweisung sein, zeigte jedoch vor allem den Kontrollverlust.

Was danach geschah, würde man in deutschen Par-teien wohl als Teil der demokratischen Debattenkul-tur bezeichnen; in der Türkei ist es aber eher ein An-zeichen für ein größeres Problem.

Bülent Arınç, stellvertretender Premierminister, Regierungssprecher, Gründungsmitglied der AKP und alter Weggefährte von Erdoğan, ließ wissen, der Staatspräsident habe »emotional« reagiert. Er sei zwar »unser Held«, und »wir lieben ihn«, aber man solle doch nicht vergessen, dass »dieses Land eine Regie-rung hat«. Übersetzt heißt das: Das hier ist unser Ding. Wir brauchen keinen Rat.

Das war mehr als ein Affront. Es könnte der Be-ginn von etwas sein: einer allmählichen Eman zi pa tion der AKP von ihrem Übervater – oder ihr langsamer Zerfall.

Arınç beließ es nicht bei dem einen Widerspruch. Sollte Erdoğan in der Türkei ein neues Präsidialsystem durchsetzen, ließ der Vizepremier verlauten, dann

müsse es »alafranga« sein, nicht »alaturka«. Mit ande-ren Worten: nach europäischem Vorbild geformt, mit Gewaltenteilung und gegenseitiger Kontrolle der In-stitutionen – und nicht Sultan-Style.

Bislang hatten Arınç und andere prominente AKP-ler, wie der frühere Staatspräsident Abdullah Gül, ein klares öffentliches Nein zur Verfassungsreform ver-mieden. Auch Ministerpräsident Davutoğlu galt lange als Skeptiker. Für ihn, der seit Amtsübernahme als »Marionette« Erdoğans gilt, wäre ein allmächtiger Prä-sident das politische Aus. Letztens jedoch sprach er sich für das Präsidialsystem aus, was vielleicht daran liegen mag, dass es bei dem AKP-Modell neben dem »starken Staatspräsidenten« auch einen »starken Premierminis-ter« geben soll. Bei Vizepremier Arınç kann man über die Gründe seines Widerstandes nur spekulieren. Gut möglich, dass der 66-Jährige, der am Ende seiner Kar-riere steht, einfach das Richtige tun will – er ist zwar erzkonservativ, aber kein Antidemokrat. Er hat nichts mehr zu verlieren, aber auch nichts mehr zu gewinnen.

Das zeigte sich auch, als er jüngst an das Verspre-chen Erdoğans erinnerte, dieser wolle ein »schwitzen-der und rennender Präsident« sein, kein bloßer Re-präsentant. »Einer, der so etwas gesagt hat«, spottete Arınç, »wohnt jetzt in einem Palast.«

Dieser offen ausgetragene Streit innerhalb der Par-tei führe zu einer »Entzauberung« der AKP, schrieb der als gut informiert geltende Journalist Abdülkadir Selvi in der Zeitung Yeni Şafak – faktisch die Haus-zeitung von Erdoğan und der AKP. Auch das zeigt, wie ernst der Streit ist.

Regierungsvertreter spielen derweil alles herunter. Von einem Konflikt könne gar nicht die Rede sein; und was das Präsidialsystem angehe: Eigentlich sei die derzeitige Verfassung und das derzeitige System, das noch vom letzten Militärputsch stamme, undemokra-tisch. Die Regierung werde bei vielen Entscheidungen von der Opposition ausgebremst. Um wichtige demo-kratische Reformen durchzusetzen, brauche man das Präsidialsystem.

Druck von außenFast bedrohlicher noch für Erdoğan und sein Selbst-ermächtigungsprojekt aber ist der Widerstand von außen.

Dieser Widerstand kommt von unerwarteter Seite: ausgerechnet von den Kurden und ihren politischen Repräsentanten.

Der Friedensprozess mit den Kurden ist mittler-weile fast das einzige Projekt der AKP, das noch ei-nige Aussicht auf Erfolg hat und Erdoğans Partei einen Rest Glaubwürdigkeit verleiht. Deshalb gibt es im Augenblick eine Flut von Bildern gemeinsa-

mer Gespräche und Pressekonferenzen von Regie-rungsmitgliedern und Kurden-Vertretern, auf einer wurde sogar im Beisein von Regierungsgesandten eine Botschaft des inhaftierten PKK-Führers Ab-dullah Öcalan verlesen.

Viele Türken unterstützen das Projekt einer Aus-söhnung mit den Kurden – aber Gesprächen mit der PKK stehen sie äußerst skeptisch gegenüber. Die AKP jedoch braucht diesen Erfolg, und Erdoğan braucht ihn auch. Anfangs, zu Beginn seiner Regentschaft, so heißt es, habe er eine Lösung mit den Kurden aus Überzeugung gewollt. Jetzt, so wird spekuliert, will er sie vor allem aus machtstrategischen Gründen.

Für den Umbau der Verfassung braucht Erdoğan im Parlament eine Zweidrittelmehrheit. Wenn seine eigene AKP diesen Anteil nicht erreicht oder die in-nerparteilichen Kritiker gegen ihn stimmen, ist Er-doğan auf die Unterstützung der kurdischen Partei im Parlament angewiesen. Seit Langem halten sich daher Gerüchte über einen schmutzigen Deal: Erdoğan sei nur bereit, den Kurden weitgehende Autonomie im Osten der Türkei zuzugestehen, wenn ihre Abgeord-neten für das Präsidialsystem stimmen. Dieser Handel ist jetzt in Gefahr. Genauer, er ist in Gefahr, seit Sela-hattin Demirtaş von der prokurdischen Partei HDP eine sehr kurze Ansprache vor seiner Fraktion gehalten hat. Nur wenige Tage, bevor Arınç dem türkischen Staatspräsidenten zu viel Emotionalität bescheinigt hatte, sagte der 41-jährige Demirtaş fast nebenbei, er wolle nur kurz der ganzen Türkei mitteilen: »Sehr ge-ehrter Recep Tayyip Erdoğan, solange es die HDP gibt, wirst du nicht Staatspräsident. Wir werden dich nicht zum Präsidenten machen.«

Demirtaş meinte damit: Für ein ganz auf Erdoğan zugeschnittenes Präsidialsystem werde seine Partei nicht stimmen. Demirtaş wiederholte diesen Satz drei Mal.

Es war die endgültige Absage an alle Spekulationen über einen Deal zwischen den Kurden und Erdoğan. Auf einen Schlag hat sich Demirtaş damit zum einzig wahren Opponenten Erdoğans bei den Parlaments-wahlen erklärt. Er sieht seine Rolle darin, die Macht des Staatspräsidenten einzuhegen. Natürlich will auch er eine Lösung der Kurdenfrage, aber mit seiner Rede machte er klar: nicht um jeden Preis.

Für Erdoğan ist das eine Kampfansage. Demirtaş geht damit ein hohes Risiko ein. Denn erst einmal muss seine Partei bei den kommenden, für sie ersten Parlamentswahlen die hohe Sperrklausel von zehn Prozent überwinden – ebenfalls ein Überbleibsel des letzten Militärputsches von 1980, damals eingeführt, um vor allem kurdische Parteien aus dem Parlament herauszuhalten. Doch aussichtslos ist die Sache für Demirtaş und seine HDP nicht. Einige Umfrage- Institute sehen sie bei 12 oder sogar 13 Prozent.

Das liegt vor allem an dem ehemaligen Anwalt und Menschenrechtsaktivisten Demirtaş selbst. Er hat Er-doğan schon einmal herausgefordert, als Präsident-schaftskandidaten im vergangenen August. Damals kam er auf knapp zehn Prozent der Stimmen – ein Achtungserfolg, erzielt von einem weithin unbekann-ten Politiker fast ohne Budget. In Erinnerung geblie-ben ist vielen Türken ein Mann, der einen neuen Ton anschlug. Demirtaş, Vertreter einer jungen Generati-on von Kurdenpolitikern, trat bescheiden auf, gelas-sen, doch bestimmt, ohne Machogehabe und Härte, mit sachlichem Ernst. Hin und wieder zeigt er sich singend mit seiner Laute.

Derzeit hört man in der Türkei aus den unter-schiedlichsten politischen Lagern den Satz: Nie hätte ich eine Kurdenpartei gewählt – aber der Demirtaş kriegt meine Stimme! Demirtaş ist zwar Kurde, ar-beitet aber hart daran, auch für andere Gruppen wähl-bar zu werden. Und sollte ihm das gelingen, dann wird Erdoğans autokratischer Verfassungsumbau ziemlich unwahrscheinlich.

»Mein liebes Volk«Viele Demoskopen glauben, dass Demirtaş den Ein-zug ins Parlament schaffen könnte. »Das Volk wird bei der nächsten Wahl der AKP ein ›Stopp!‹ zurufen«, sagte kürzlich der Gründer eines renommierten Mei-nungsforschungsinstituts. Es habe lange nicht mehr so viele unentschiedene Wähler gegeben. Ein anderes In-stitut hat im Februar erstmals die AKP unter 40 Pro-zent gemessen (freilich ein Institut, das die AKP selbst für unseriös hält). Erdoğan hat neun Wahlen nachei-nander gewonnen, seitdem er 2003 an die Macht kam. Aber heute scheinen die Türken, »mein liebes Volk«, wie er sie oft nennt, alles andere als zufrieden mit ihrer Lage. Und mit ihrem lider.

Spätestens seit den Gezi-Protesten, ob sie nun mit-protestierten oder nicht, ob AKP-Anhänger oder nicht, haben viele Türken das Gefühl, dass ihr Land nicht mehr gut geführt wird, dass es nur noch Streit und Hass in der Politik gibt. Sie sehen einen Staatspräsiden-ten, der einen riesigen Palast bauen lässt, Vorkoster be-schäftigt und sich gegen seine eigene Partei stellt. Auch das Vertrauen in die wirtschaftliche Stabilität sinkt, vor allem, weil Erdoğan sich in die Geldpolitik der Tür-kischen Zentralbank einmischt und jede Anhebung der Zinsen für Verrat am Vaterland erklärt.

Die meisten Türken wollen kein Präsidialsystem, sie sind dagegen, dass die Macht sich in den Händen einer einzigen Person konzentriert.

Noch sind das nur Momentaufnahmen, Umfrage-werte, die womöglich am Wahltag, dem 7. Juni, keine Bedeutung mehr haben werden. Und sollten sich An-schläge, wie die der linksextremistischen DHKP-C vergangene Woche, bei der ein Staatsanwalt in Istan-bul als Geisel genommen und später getötet wurde, häufen, könnten die Bürger das »Bewährte« bevorzu-gen – also die AKP. Und damit den lider.

Aber die Türkei ist weder Nordkorea noch Russ-land. Der Bürger hat eine Wahl und wird auch darüber abstimmen, ob er einen Systemwechsel will oder nicht. Sicher, die Türken haben Erdoğan erst im vergangenen August zum Staatspräsidenten gewählt – aber sie ha-ben ihm noch nicht die gewünschte Machtkonzentra-tion zugebilligt. Und es wäre eine ganz besondere his-torische Ironie, wenn ausgerechnet die lange unter-drückten Kurden zu einem so großen Machtfaktor werden könnten, dass sie Erdoğan ausbremsten.

Kurden-Politiker Selahattin Demirtaş scheut nicht die Konfrontation

Premier Ahmet Davutoğlu will ein Gegengewicht zu Erdoğan sein

Das war 2014: Begeistert feiern Anhänger den Wahlsieg Erdoğans

Götterdämmerung Der türkische Präsident Tayyip Erdoğan will die ganze Macht – und schafft sich damit Gegner, mit denen er nicht gerechnet hat VON ÖZLEM TOPÇU

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15 POLITIK 7

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Nigeria erteilt Afrika eine LektionDer demokratische Machtwechsel hat geklappt, Präsident Jonathan ging nach seiner Niederlage freiwillig VON ULRICH LADURNER

N igerias Präsident Goodluck Jonathan hatte sich angeblich mit niemandem beraten, bevor er etwas tat, was für afrikanische Staatsführer äußerst un­

gewöhnlich ist: Er erkannte den Wahlsieg seines Konkurrenten Muhammadu Buhari sofort und umstandslos an. Goodluck Jonathan tat dies mit bemerkenswerten Worten: »Niemandes Ehrgeiz ist es wert, dass dafür nigerianisches Blut ver­gossen wird!«

Das ist eine Botschaft, die auf dem ganzen Kontinent ihre Wirkung entfalten dürfte. Denn in vielen afrikanischen Staaten herrschen seit Jahr­zehnten Autokraten, die nicht im Traum daran denken, die Macht abzugeben. Ob Simbabwes Robert Mugabe, Ugandas Yoweri Museveni oder Angolas José Edoardo dos Santos, alle haben sich über die Jahre mit einer Mischung aus Repression und Manipulation im Amt gehalten. Die Idee, durch eine demokratische Wahl abgelöst zu wer­den, erscheint Männern wie diesen eher abstrus, ja geradezu gefährlich.

Nigeria ist kein Staat, den die Autokraten Afri­kas einfach ignorieren könnten. Er ist mit mehr als 170 Millionen Einwohnern der bevölkerungs­reichste des Kontinents. Jeder sechste Afrikaner ist Nigerianer. Nigeria hat die größte Volkswirtschaft Afrikas. Es ist neben Südafrika das einzige afrikani­sche Land, das das Potenzial hat, auf der globalen Bühne eine Rolle zu spielen.

Nigeria ist ein Schwergewicht, das überdies seit dem 28. März 2015 eine ansehnliche demokratische Legitimation erworben hat. Wenn nigerianische Politiker in Zukunft bei ihren afrikanischen Kolle­gen demokratische Defizite beklagen sollten, kön­nen sie das mit einer gewissen Glaubwürdigkeit tun.

Es ist gerade mal 16 Jahre her, dass die Nige­rianer eine Militärdiktatur abgeschüttelt haben. In diesen 16 Jahren stellte die Peoples Democra­tic Party, Goodluck Jonathans Partei, den Präsi­denten. Umso bemerkenswerter ist nun ihr rela­tiv gewaltlos vonstattengegangener Abschied in

die Opposition. Die Lust, von der Macht zu las­sen, nimmt ja normalerweise ab, je länger deren Früchte genossen werden können.

Die Prognosen vor den Wahlen vom 28. März waren durchweg düster. Das Land habe alle Ingre­dienzien für einen »perfekten Sturm« – behauptete etwa der amerikanische Fernsehsender CNN. Es war nicht die einzige düstere Ansage. Eine ganze Reihe von Experten warnten vor dem, was nach dem Wahltag kommen würde. Sie hatten für ihren Pessimismus eine Reihe guter Gründe.

Im Nordosten des Landes wütet seit 2009 die islamistische Terrororganisation Boko Haram, ohne dass die nigerianische Armee ihr bislang Herr werden konnte. Tausende Menschen sind ums Leben gekommen. Über eineinhalb Millio­nen sind auf der Flucht. Gleichzeitig musste Ni­geria in den letzten Monaten mit einer dramati­schen ökonomischen Herausforderung kämpfen: Der verfallende Ölpreis reißt riesige Löcher in den Staatshaushalt, der zu 80 Prozent aus Öleinnah­men bestritten wird. All das kommt zu den »übli­chen« Problemen hinzu. Die Korruption grassiert

wie eh und je. Auf dem Korruptionsindex von Transparency International, der 175 Staaten um­fasst, rangiert Nigeria auf Platz 136. Nigeria ist zudem tief gespalten, ethnisch und religiös. Und schließlich war noch jede Wahl in Nigeria mit massiver Gewalt verbunden. Bei der letzten Wahl 2011 kamen bei Auseinandersetzungen über 800 Menschen ums Leben.

Warum also ist das diesmal nicht so gekommen? Gut möglich, dass Goodluck Jonathan, der für

viele Nigerianer ein schwacher, ja inkompetenter Präsident war, einen starken, würdigen Abgang suchte. Der ist ihm zweifellos gelungen. Doch gab es vor allem die vielen Millionen Nigerianer, die gewählt haben, obwohl sie mitunter damit ihr Leben riskierten – immerhin hatte Boko Haram Anschläge angekündigt. Diese Menschen glauben unbeirrt daran, durch Wahlen eine Veränderung herbeiführen zu können.

Die nigerianische Gesellschaft hat sich offenbar verändert. Auch dank der Sozialen Medien ist sie wachsamer, aufmerksamer und selbstbewusster ge­worden. Eine ganze Armee freiwilliger Wahlhelfer konnte jede Unregelmäßigkeit via Mobiltelefon registrieren und über das Netz weiterverbreiten. Dazu kam der technische Fortschritt in Gestalt ei­ner elektronischen Stimmenabgabe mittels Finger­abdruck. All das macht es nigerianischen Politikern zunehmend schwer, ihrer Neigung nachzugeben, Wahlergebnisse auf Maß zurechtzuschneidern.

Auch der neue Präsident Muhammadu Buhari hat nach seinem Sieg etwas Bemerkenswertes ge­sagt: »Der globale Triumph der Demokratie hat gezeigt, dass ein anderer und besserer Weg zum Fortschritt möglich ist!« Diesen Satz muss man vor Buharis eigener Geschichte deuten – er hatte Nigeria von 1983 bis 1985 als General geführt. Er unterdrückte damals systematisch die Mei­nungsfreiheit, warf Journalisten ins Gefängnis und erwarb sich allenthalben den Ruf, ein harter Regent zu sein. Offenbar hat auch Buhari sich bekehren lassen.

Schweden zeigt: Der Kampf für Men­schenrechte in Saudi­Arabien muss nicht hinter verschlossenen Türen ge­

führt werden. Wochenlang stritten sich die beiden Länder in aller Öffentlichkeit, jetzt scheint ihr Disput beigelegt. Zurück bleibt eine standhafte Außenministerin, zurück keh­ren zwei Diplomaten. Der Streit bahnte sich an, als Schwedens Außenministerin Margot Wallström aus der Sphäre diplomatischer Sprechblasen ausbrach und Saudi­Arabien eine Diktatur nannte, die Frau­en unterdrücke und mittelal­terliche Strafen verhänge. An­lass war die zehnjährige Haft­strafe samt 1000 Peitschenhie­ben für den Blogger Raif Bada­wi wegen angeblicher Beleidi­gung des Islams. Saudi­Arabien belegte Wallström daraufhin mit einem Sprechverbot bei einer Konferenz der Arabischen Liga, zu der sie ursprünglich als Ehrengast eingeladen war. Mehrere arabische Außenmi­nister beschuldigten die Mi­nisterin, die Scharia und damit den Islam zu verunglimpfen.

Schon vorher hatten schwe­dische Parlamentarier über den richtigen Umgang mit Saudi­Arabien gestritten: Ein bereits 2005 geschlossener Waffendeal zwischen beiden Ländern verlor immer mehr Unterstützer in Stockholm. Im März verkün­dete Schwedens Regierung, das Abkommen zu beenden. Wann genau sie dies beschlossen hatte, ist zwar unklar, aber die Entscheidung wurde genau einen Tag nach Wallströms Rede­verbot bekannt gegeben und damit in einen Zusammenhang mit dem Auftrittsverbot ge­stellt. Riad berief wegen Wallströms »eklatanter Einmischung in interne Angelegenheiten«

seinen Botschafter aus Stockholm zurück. Der Botschafter der Vereinigten Arabischen Emira­te verließ Schweden ebenfalls. Außerdem kün­digte Saudi­Arabien an, schwedischen Ge­schäftsleuten keine Visa mehr auszustellen.

Schweden entsandte daraufhin seinen ehe­maligen Verteidigungsminister Björn von Sydow zum saudischen König Salman, mit Briefen von König Carl XVI. Gustaf von Schweden und des Ministerpräsidenten Stefan Löfven. Die Schrei­ben zeigten Wirkung: Weil Schweden sich ent­

schuldigt habe, berichtete das saudische Staatsfernsehen, werde Riad seinen Diplomaten wieder nach Stockholm schicken.

Damit wäre die Geschichte eigentlich beendet, hätte Löfven nicht klargestellt: Die Schwe­den hätten sich keineswegs ent­schuldigt, sondern nur mit­geteilt, dass es ihnen leidtäte, sollten ihre Worte als Kritik am Islam aufgefasst worden sein.

Schwedens Regierungskoali­tion aus Sozialdemokraten und Grünen fühlt sich in der Pflicht, weltweit für Menschenrechte einzutreten, das kündigte sie bei ihrem Amtseintritt im Oktober an. Diese Politik hat in Schwe­

den Tradition. 30 Wirtschaftsführer haben in einem offenen Brief davor gewarnt, Schwedens Glaubwürdigkeit mit einer Beendigung des Waffendeals aufs Spiel zu setzen. Aber statt von Waffenexporten sprechen die Unterzeichner lieber ganz allgemein von bilateralem Handel. Anscheinend ahnten sie, dass militärische Ge­schäfte bei der schwedischen Bevölkerung nicht gut ankommen. Wie eine Sprecherin des Außen­ministeriums bereits ankündigte, wird Saudi­Arabien auch künftig Visa für schwedische Wirt­schaftsvertreter ausstellen. KATHARINA KÜHN

Gegengewicht aus dem NordenDie schwedische Regierung hat sich mit Saudi­Arabien angelegt. Und gewinnt als moralische Instanz

Dem saudischen Blogger Raif Badawi drohen 1000 Schläge. Wir berichten über sein Schicksal

GegenSchläge

ZEIT-GRAFIK300 km

NIGERIA

Abuja

Lagos Benin

Golf von Guinea

Maiduguri

NIGER

TSC

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KAMERUN

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AFRIKA

Torten der WahrheitDie Welt ist kompliziert genug. Deshalb stellt die Autorin KATJA DITTRICH

ihre Sicht der Dinge lieber in Grafiken dar. Im Netz bloggt sie unter ihrem Künstlernamen Katja Berlin

Besorgte Bürger

Wie man als Innenminister auf Ereignisse reagiert

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Wie man als Innenpolitiker auf Ereignisse reagiert

Handelt es sich um einen terroristischen Anschlag?

Handelt es sich um eine Naturkatastrophe?

Handelt es sich um ein anderweitiges Verbrechen?

Handelt es sich um irgendetwas anderes?

Könnte man ein derartiges Ereignis zukünftig durch mehr Überwachung verhindern?

Man fordert mehr Überwachung.

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ja

9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

19 WIRTSCHAFT

Willkommen zur Nacht der großen Therapiesitzung, auf Neudeutsch: FuckUp-Night. So heißt die Show, in der Unternehmer vom Scheitern erzählen. Meh-rere Hundert Zuhörer

wollen dabei sein, an einem kalten Märztag in Ber-lin. Ausgerechnet in einem Gebäude am Kurfürs-tendamm, dessen Geschichte vor gut 100 Jahren mit einer Pleite begann: Noch vor der Eröffnung als Hotel ging der Eigentümer in Konkurs. Heute sitzt dort Partake, eine Firma, in deren Büros tagsüber Start-ups in Serie entstehen. Ihr offizielles Credo: »Fail often and early« – »Scheitere oft und früh«.

An diesem Abend drängen sich die Zuschauer in einem großen Saal im fünften Stock, es gibt viel Bier und wenig Platz. Sie erleben: Thomas, der eine un-nütze Fahrschul-App für Smartphones entwickelt und viele Tausend Euro versenkt hat. Applaus! Und Da-rius, der gleich zweimal eine Internetplattform star-tete, die Menschen helfen sollte, sich in ihrer Stadt zu orientieren. »Beschissen war das«, sagt er, »ich habe alles falsch gemacht, war arrogant und wurde am Ende von meinen Mitgründern gefeuert.« Großer Applaus. Und Ruth, die auf der Bühne ihre Lebens-geschichte erzählt. Wie sie ihren Job quittierte, ihre große Liebe betrog, sich mit ihrer Mutter zerstritt und nun mit einer Bäckerei den Neuanfang wagt. Lang anhaltender Applaus. Später wird Ruth sagen, von ihren Fehlschlägen zu erzählen habe ihr geholfen, sie zu verarbeiten. »Das Leben«, sagt die junge Frau, »ist doch dazu da, um zu lernen.«

Fehler verarbeiten und aus ihnen lernen: Da-rum soll es gehen bei der FuckUpNight. Scheitern, so die Idee, ist etwas Wertvolles. Von Mexiko aus hat sich das Konzept rund um den Globus inner-halb von drei Jahren in rund 100 Städte ausgebrei-tet – bis nach Berlin, Hamburg und Köln.

Scheitern wird populär: Diskussionsrunden da-rüber gehören inzwischen zum Standardprogramm auf Kongressen für Jungunternehmer. Institutionen wie die Daimler und Benz Stiftung und Acatech, die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, debattieren mit Managern übers Scheitern. Und Politiker preisen eine »Kultur der zweiten Chance«; als der FDP-Vorsitzende Christian Lindner im Janu-ar vor dem Düsseldorfer Landtag einen SPD-Abge-ordneten abwatschte, der über sein Scheitern als Unternehmer gespottet hatte, da verbreitete sich das Video seiner Wutrede millionenfach im Netz – Lind-ner hatte einen Nerv getroffen.

Hinter der Therapie auf offener Bühne der Repu-blik steht ein Kulturkampf der besonderen Art: Deutschland, das Land der Planer und Perfektio-nisten, versucht, sich mit dem Scheitern anzufreun-den. Wenn das gelingt, könnte es für die deutsche Volkswirtschaft von großem Nutzen sein.

Noch ist es anders. Noch gilt Scheitern als massi-ver Makel, wenn jemand Konzernchef werden soll oder sich im zweiten Versuch um einen Kredit be-müht. Noch besuchen viele Schüler Berufsmessen und Job-Coachings, um nur ja den richtigen Karrie-reweg einzuschlagen, möglichst sicher und geradeaus.

Die Furcht vor dem Stigma des Scheiterns spie-gelt sich in Zahlen wider. Als der Bundesverband Deutsche Startups, eine Art Lobbyorganisation der Gründerszene, kürzlich rund 900 Unternehmer befragte, erklärten fast zwei Drittel, dass sie die Toleranz der Gesellschaft gegenüber dem Schei-tern als gering einschätzen. Deshalb zucken viele zurück – so sagt es jahrein, jahraus der Global En-trepreneurship Monitor. Ihm zufolge lassen sich in Deutschland besonders viele 18- bis 64-Jährige von Bedenken ausbremsen, auch wenn sie sich ei-gentlich gute Chancen auf Erfolg mit einem eige-nen Unternehmen ausrechnen. »Unternehmerisches Scheitern wird hierzulande oft als persönliches

Scheitern verstanden«, sagt der Gründungsforscher Rolf Sternberg, der dieser Tage die neuen Ergeb-nisse des Monitors für Deutschland vorstellt, »wir würden viel gewinnen, wenn wir Scheitern als Chance erkennen würden.«

So wie in den USA. Dort, das belegt der Monitor, ist die Furcht vor Pleiten weit weniger verbreitet. Wäre Marc Zuckerberg nicht in New York, sondern in Stuttgart aufgewachsen, hätte er sein Studium ver-mutlich nicht für Facebook abgebrochen. Hätten Steve Wozniak und Steve Jobs den Apple-1 in einer Garage in Hannover entwickelt, sie hätten sich damit vielleicht nie auf die Straße getraut. Kein Wunder, dass Deutschland in der digitalen Revolution mit SAP nur einen Weltkonzern hervorgebracht hat, während amerikanische Gründungen das Billionengeschäft mit dem Internet beherrschen. Die deutsche Wirtschaft ist wohl die beste der Welt, wenn es darum geht, Pro-dukte wie Autos weiter zu verfeinern oder mit neuen Patenten die Zuliefermärkte der Weltwirtschaft zu dominieren. Aber die Kehrseite des Perfektionsdrangs in etablierten Firmen ist, dass zu wenig neue Unter-nehmen entstehen, die neue Märkte definieren und so schnell wachsen, dass sie vorn bleiben.

»Der Erfolg ist ein kultureller Imperativ in diesem Land«, sagt René John. Der Berliner Sozialforscher untersucht, wie neues Verhalten in der Gesellschaft entsteht. Vom Scheitern war lange nichts zu sehen, es war einfach verpönt, und Forscher wagten sich auch nicht an das Thema. John meint, das müsse sich ändern. Schließlich endet etwa jedes dritte Grün-dungsprojekt hierzulande innerhalb der ersten drei Jahre. Scheitern ist also Realität. Und weil in der immer schnelleren Wirtschaft viele Menschen über-fordert seien, werde es immer sichtbarer. »Es wird also höchste Zeit, sich damit mehr auseinanderzusetzen.«

Philipp Gloeckler hat drei Jahre lang versucht, sein Projekt zu retten: eine App für Smartphones, mit der Freunde einander Gegenstände leihen können –

QUENGEL-ZONE

Premium-SchwindelMARCUS ROHWETTERS

wöchentliche Einkaufshilfe

Neulich lauschte ich der Unterhaltung zweier Anzugträger auf einer Lebensmittelmesse. Überschwänglich lobten sie eine Produktinno-vation, die ein »Premium« rechtfertige. Womit sie einen höhereren Verkaufspreis meinten. Das verwirrte mich. Wenn ich sagen will: »Dieses Produkt rechtfertigt einen höheren Preis«, dann sage ich: »Dieses Produkt recht-fertigt einen höheren Preis« und nicht: »Dieses Produkt rechtfertigt ein Premium.« Vor allem, weil ich dieses Wort aus einem komplett an-derem Zusammenhang kenne. Ständig wollen mir Unternehmen ein Premiumprodukt ver-kaufen: Autohersteller ihre Premiummarken, Telefonfirmen ihre Premiumtarife, und un-gezählte Hundefutter, Streichleberwürste und Schnittkäse rühmen sich einer Premiumqua-lität, von der ich immer dachte, sie sei beson-ders vorzüglich. Nicht besonders teuer.

In den Nachrichten tauchen ja auch stän-dig ausländische Premium- beziehungsweise Premierminister auf, die zu Besuch kommen. Ich dachte nur, das seien die ersten und besten Diener ihres Landes. Nicht die teuersten.

Aber wenn ich es mir genau überlege, ist es vom Ersten über den Besten sprachlich nicht mehr weit bis zum Erstbesten. Man könnte auch »irgendwer« sagen, »irgend- etwas« oder gleich »nichts Besonderes«, was wiederum die Qualität zahlreicher Produkte treffend beschreibt. Das englische premium erklärt zumindest die Sache mit dem Preis, von dem die beiden Anzugträger sprachen. Es geht um Prämien und darum, wer sie einstreicht und wer sie bezahlt. Und jetzt raten Sie mal, wer das sein wird.

Von Verkäufern genötigt? Genervt von Werbe-Hohlsprech und Pseudo-Innovationen? Melden Sie sich: [email protected] – oder folgen Sie dem Autor auf Twitter unter @MRohwetter

Diese Woche

Entführung: Eine britische Firma hat sich darauf spezialisiert, mit Kidnappern zu verhandeln. Wir erzählen, wo ihre Dienste besonders gefragt sind (Seite 21)

Brasilien: Ökonomen sehen für das Land schwarz. Unser Autor hält dagegen: Millionen sind nicht mehr arm – und werden ihren Wohlstand verteidigen (Seite 22/23)

Preisvergleiche: Das Onlineportal Check 24 vermittelt fast so viele Produkte wie Amazon in Deutschland. Wird der Mittelständler unabhängig bleiben? (Seite 27)

Fortsetzung auf S. 20

Gründer stürzen mit neuen Ideen oft, aber selten so spektakulär wie dieser Radfahrer

Gut fallen

Gründer feiern ihre Pleiten und machen das Scheitern in Deutschland salonfähig. Das kann der Wirtschaft

nur nützen

VON JENS TÖNNESMANN

Welcher Anteil der 18-bis 64-Jährigen mit guten Gründungschancen aus Angst vor dem Scheitern nicht gründet

Wie Gründer die Toleranz der Gesellschaftgegenüber dem Scheitern einschätzen

2008 09 10 11 12 13 14

50,0 % 49

38

28

40,0

25,0 %

37,5 %

29,7

36,8

31,2

36,1

42,0

Eher niedrigoder niedrig

hoch odereher hoch

moderat

Großbritannien USADeutschland

%63 20

ZEIT-GRAFIK/Quelle: Deutscher Startup Monitor 2014,Global Entrepreneurship Monitor

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

Die engen Gassen der Rocin-ha, der größten Favela in Rio de Janeiro, sind am späten Nachmittag kaum zu passie-ren. Schulkinder in blau-weißen Uniformen machen sich an den Aufstieg zu ihren

Wohnhäusern weiter oben am steilen Berg. Motor-räder und schwer beladene Handkarren blockieren die Wege, Verkäufer springen vor riesigen Laut-sprecherboxen herum, aus denen Schlager schallen.

Am Rande des Gewimmels, in einem Büro mit Ventilator und Glasfront neben einem Fischhändler, macht Antonio Costa, ein kräftiger Mann mit kurz-geschorenem Haar und einem gutmütigen runden Gesicht gutes Geschäft. »Krise? Wir merken nichts von einer Krise«, sagt er. »Hier in der Rocinha ist noch keine Krise angekommen.«

Entweder will der Mann hier Zweckoptimis-mus demonstrieren, oder er schaut kein Fernsehen: Seit Monaten schon ergehen sich die Medien in Brasilien und in aller Welt in Abgesängen auf die brasilianische Volkswirtschaft. »Angst vor dem Chaos!«, »Brasilien im Sumpf«, »Harte Landung« lauten die Schlagzeilen, belegt mit düsteren Fak-ten: Brasiliens Wirtschaftsleistung ist 2014 gar nicht mehr gewachsen, 2015 könnte sie sogar schrumpfen. Die Inflation liegt bei sieben Prozent, Unternehmer und Privatleute äußern sich in Um-fragen pessimistisch über ihre Zukunftserwartun-gen. Korruptionsskandale erschüttern Politik und Unternehmen. Es gibt sogar Unruhen.

Als Brasiliens Wirtschaftsleistung in den nuller Jahren noch mit Raten von fünf, sechs oder sieben Prozent wuchs, feierten Ökonomen das Land als das Wirtschaftswunderland Lateinamerikas, als eine Hoffnung für die ganze Welt. Die entwickel-ten Industrieländer im Westen mit ihren gesättig-ten Märkten brauchen schließlich dringend Ex-portziele für ihre Waren und ihre Geldanlagen – und Brasilien galt als Traumziel.

Die aktuellen volkswirtschaftlichen Daten sa-gen: Das ist erst einmal vorbei. Aber warum sitzt

dann einer wie Antonio Costa da und sagt in aller Ruhe: »Ich mache mir keine großen Sorgen um mein Geschäft«?

Costa betreibt ein Reisebüro in der Rocinha. 2009 hat er es eröffnet, nachdem er zehn Jahre lang im feinen Stadtteil Leblon Helikoptertouren und Shop-ping-Trips nach Paris und Miami für die Reichen organisiert hatte. Den Markt der Zukunft sah er in diesem Armutsgebiet, in dem 71 000 Menschen wohnen und das damals noch von Drogenbanden und Milizen kontrolliert wurde. Auch heute trauen sich die 300 Polizisten in der Rocinha nicht in alle Straßen der Favela. »Viel meinen: Arme Leute haben nichts, da ist nichts zu holen«, sagt Costa. »Aber das ist Unsinn.«

Costas Reisebüro bietet den Einwohnern der Rocinha Flugreisen zu ihren Verwandten und Freunden im Nordosten Brasiliens an. Dorthin mussten die Leute früher drei Tage lang mit einem Bus fahren. Bei Costa dauert die Reise zwei Stun-den und kostet pro Strecke 80 Euro, das ist nicht billig, aber man kann in Raten bezahlen. Die erste Rate wird bei der Buchung fällig, beim Abflug muss alles abgestottert sein. Mit dem Geschäfts-modell hat Costa seine Agentur RC Viagens zum Hit in der Rocinha gemacht. »Inzwischen habe ich auch ein paar Tickets nach Europa, in die USA oder nach Argentinien verkauft«, sagt der Inhaber.

Costa und seine Kunden wurden damit Darsteller im großen brasilianischen Traum: Millionen armer Menschen sollten zu den wohlhabenderen aufschlie-ßen und Teil einer neuen Mittelschicht werden, bis dahin Ausgeschlossene sollten eifrig am Wirtschafts-kreislauf teilnehmen, sie sollten emsig arbeiten und begeistert einkaufen. Brasilien wollte eine Reserve-armee von Konsumenten aktivieren.

Das war das große Versprechen des Arbeiter-führers Lula da Silva, der 2003 das Präsidenten-amt übernahm, und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff. Viel davon lösten sie ein. Unter den bei-den linken Staatschefs schafften 30 bis 40 Millio-nen Brasilianer den Sprung aus der Armut – sie zählen nun zur »neuen Mittelschicht«, die inzwi-

schen etwa die Hälfte der 200 Millionen Brasilia-ner ausmacht. Diese Leute kaufen nun bei Anto-nio Costa Flugtickets, nebenan bezahlen sie bei Casas Bahia einen Kühlschrank ab, und im Maga-zine Luiza leisten sie sich modische Bettwäsche.

Doch auf einmal geht in der schönen neuen Welt schief, was nur schiefgehen kann.

Da ist die hohe Inflation. Durch die schnell steigenden Preise können sich die Menschen von Monat zu Monat weniger mit dem gleichen Geld-betrag kaufen. Die Zentralbank bekämpft die In-flation mit Zinserhöhungen, erst im März erhöhte sie den Leitzins um 0,5 Punkte auf 12,75 Prozent. Das teurere Geld bremst aber nicht nur den Preis-anstieg. Die höheren Zinsen machen auch Kredite teurer. Unternehmen, die gerne expandieren und neue Arbeitsplätze schaffen wollen, verzichten nun da-rauf. Und Konsumenten, die Anschaffungen über Kredite finanzieren wollen, halten sich auch zurück.

Dazu steigen die Steuern und die Energiekosten, weil die Regierung eilig den Staatshaushalt in Ordnung bringen will. Die brasiliani-sche Gesamtverschuldung ist zwar nicht sehr hoch, etwa 57 Prozent des Brutto-inlandsprodukts (BIP). Allerdings hat sich das Bud-getdefizit im Staatshaushalt für 2014 auf 6,7 Prozent des BIP verdoppelt, was Dilma Rousseff unbedingt wieder richten will. Einige Rating-Agenturen hatten damit gedroht, andernfalls die Kreditwürdigkeit Brasiliens herabzusetzen. Deshalb arbeitet die Re-gierung nun daran, Einnahmen zu erhöhen und Aus-gaben zu kürzen. Diese sogenannte Austeritätspolitik führt wie auch in anderen Staaten zu Konflikten.

Die brasilianische Opposition behauptet längst: Der Boom der nuller Jahre und alle Fortschritte seien eine Illusion gewesen. Brasilien habe einfach ein paar

Jahre lang eine wohlmeinende Weltkonjunktur ge-nossen: Da wurden hohe Preise für Eisenerz und Soja, Öl und Zuckerrohr gezahlt, also für Güter, die Bra-silien reichlich und günstig exportieren kann. Der Jubel war groß, als der staatliche Ölkonzern Petrobras von 2007 an auch noch riesige Öl- und Gasfelder in tiefer See vor der Küste entdeckte. Nun existierten diese kurzfristigen Hilfen eben nicht mehr, sagen Kritiker der Regierung.

Lula da Silva und Dilma Rousseff hatten stets selbst gesagt, dass sie den Rohstoffboom für einen gnädigen Zufall halten würden, der nicht ewig anhalten könne: Vor allem die Ölmilliarden woll-ten sie gleich wieder in sozialen Fortschritt in-vestieren, in Sozial- und Bildungsprogramme, die

Erschließung rückständi-ger Gebiete des Landes so-wie subventionierten Treib-stoff für die heimische In-dustrie.

Das ist ein langfristiger strategischer Plan. An dem ändert sich durch die augen-blicklich niedrigen Ölpreise auf dem Weltmarkt wenig. Petrobras gehört mehrheit-lich dem Staat, und Investi-tionsentscheidungen wer-den nicht hauptsächlich nach der Marktlage getrof-fen, sondern nach den poli-

tischen Bedürfnissen in Brasilia. Dort geht man da-von aus, dass die Ölpreise früher oder später wieder steigen und dass es auch egal sein kann, weil man das Öl selber brauche.

Petrobras liegt im Augenblick aus anderen Gründen lahm: Die Staatsanwaltschaft arbeitet seit Monaten daran, einen gigantischen Korruptions-skandal aufzudecken (siehe Kasten). Dafür werden sämtliche Zulieferverträge überprüft. »Aber es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich die Branche hier wieder erholt«, sagt Gerhard Haase, Brasilienchef der Petro-Zulieferfirma Wintershall.

BRASILIEN

1600 km

Brasilia

São Paulo

RIO DE JANEIRO

ZEIT-GRAFIK

Atlantischer Ozean

PazifischerOzean

22 WIRTSCHAFT

Nie wieder Armut!Der wirtschaftliche Aufstieg Brasiliens führte Millionen in die Mittelschicht. Nun kämpfen sie gegen den Abstieg VON THOMAS FISCHERMANN

Brasiliens Krise

KorruptionAls ob Konjunkturflaute, Inflation und Kreditrisiken nicht genug wären: Mitten in einer schweren Wirtschafts-flaute ereilt Brasilien gerade eine Serie von Korruptionsskandalen, die dem Image des Landes bei internationalen Investoren schaden.

49 Abgeordnete und Senatoren stehen seit Herbst unter Verdacht, von einem Bestechungs- und Geldwäsche-ring um den Ölkonzern Petrobras profitiert zu haben. Es geht offenbar um zweistellige Milliarden-summen. Gerade erst wurden Vor-würfe laut, dass Unternehmen mit Bestechungszahlungen Steuer- prüfungen unterbunden haben sollen. Vor der Fußball-WM sollen Unternehmen mit Schmiergeld Aufträge ergattert haben, unter anderem befasst sich der deutsche Baukonzern Bilfinger gerade mit der Aufklärung solcher Vorwürfe. Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff argumentiert: Ja, solche Fälle würden jetzt häufiger bekannt – weil sie die Aufklärung ernst nehme.

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15 WIRTSCHAFT 23

Tatsächlich hat die aktuelle Wirtschaftskrise eine andere und tiefere Ursache, die im Lula-Dilma- Boom gründet: Brasiliens Privathaushalte haben sich hoch verschuldet. Ein gehöriger Teil des Auf-stiegs der Mittelschichten ist vor allem durch einen Kreditboom zu erklären: Ladengeschäfte, die in die Favelas und Vororte zogen, räumten der Mittel-schicht in spe großzügige Kreditbedingungen ein, später zogen Banken nach. Im Augenblick gibt die neue Mittelschicht dem Forschungsinstitut Instituto Data Popular zufolge 15 Prozent mehr aus, als sie verdient – wobei die Ermittlung einer genauen Zahl etwas knifflig ist, denn Kredit-karteninhaber »verleihen« diese gelegentlich an Verwandte und treffen mit denen eigene Rück-zahlungsvereinbarungen.

Wer zur sogenannten Mittelschicht gehört, wird in der brasilianischen Statistik interessanter-weise am Konsum gemessen, an Art und Umfang der Einkäufe, nicht etwa am Einkommen. Ob die neue Mittelschicht demnächst zur Exmittelschicht wird, das hängt also auch davon ab, ob ihre Schuldner weiter ihre Kredite abstottern können.

Ob Brasiliens Aufstieg langfristig bleibt und vor allem ob große Teile der Bevölkerung etwas davon haben werden, wird sich vor allem an der Zähigkeit der Mittelschicht in der aktuellen Phase des wirt-schaftlichen Abschwungs entscheiden. Die entschei-dende Frage ist: Werden Millionen von Menschen, die die Armut hinter sich lassen konnten, wieder dorthin zurückkehren – oder werden sie sich durch-beißen, beim nächsten Konjunkturaufschwung sogar mehr werden und erneut Motor und Hoffnungs-träger des Schwellenlandes sein?

Brasilianische Ökonomen und Sozialforscher geben erstaunlich positive Antworten auf diese Frage – ähnlich optimistische wie der Chef des Reisebüros in der Rocinha. »Man darf nicht unter-schätzen, dass der Eintritt in den Konsum, die Gewährung erster Kredite bei Ladengeschäften für diese Leute einen Eintritt in die bürgerliche Ge-sellschaft bedeutet«, sagt Roberto Kanter, Öko-nom an der Getulio-Vargas-Stiftung in Rio. Solche Statusgewinne gebe man nicht kampflos wieder auf. »Diese Bevölkerungsschicht wird eine un-heimliche Zähigkeit zeigen«, glaubt auch Manuel Thedim, Direktor des Instituts für Arbeits- und Sozialforschung, einer Denkfabrik in Rio de Janeiro. Er geht zwar davon aus, dass einige Leute im Zuge der schlechten konjunkturellen Lage wie-der arbeitslos werden und zurück in die Armut fallen werden. »Aber dramatische Ausmaße wird das nicht annehmen«, sagt er. Die meisten Leute würden vielmehr versuchen, die Durststrecke zu überwinden und nach Möglichkeit sogar brav ihre Kredite abzubezahlen. Die Menschen in seinem Land seien da anders als etwa die in Deutschland.

Die brasilianische Mittelschicht, sagt Thedim, verstehe sich darauf, einige Zeit lang zu jobben oder sich selbstständig zu machen. Der Dienstleis-tungssektor werde in der Krise weiterwachsen durch Leute, die Klimaanlagen und Herde repa-rieren, kleinere Bauarbeiten übernehmen, Haare schneiden, Kuchen backen, Kindergeburtstage aus-richten. »Das ist ja etwas völlig anderes, als wenn bei Ihnen in Deutschland ein BMW-Arbeiter ar-beitslos wird«, sagt Thedim. »Der wird sich nicht dazu herablassen, am nächsten Morgen als Kellner oder Handlanger anzufangen. Aber die Leute hier haben gar keine andere Wahl.«

Mitarbeit: MARIA DA LUZ MIRANDA

Weitere Informationen im Internet: www.zeit.de/brasilien

Brasiliens neue Mittelschicht kauft

gern auf Pump (oben). Die Kinder aus den Favelas von Rio de Janeiro hoffen auf

den Aufstieg

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 1526 WIRTSCHAFT

Amerikas Männer hängen bloß rum ... während Berufe wie der des Maschinenführers viel seltener gefragt sind. Eindrücke aus einem dramatischen Prozess VON HEIKE BUCHTER

Amerikas Frauen arbeiten sich hochIn der Neuen Welt wird die Arbeit neu verteilt, die Zahl weiblicher Spitzenverdienerinnen nimmt zu ...

Der McDonald’s in East Cleveland, im Bundesstaat Ohio, ist wie Tausende andere Filialen der Fast-Food-Kette, auffällig sind nur die Männer. Mehr als ein Dutzend sitzt an den

Plastiktischen. Einige unterhalten sich, die meis-ten blicken schweigend vor sich hin. Zum Essen sind sie offenbar nicht hier, abgesehen von ein paar Kaffeebechern sind die Tische leer. Auffällig sind die Männer, weil es früher Nachmittag ist und sie in dem Alter sind, das Arbeitsmarktsta-tistiker erwerbsfähig nennen. »Die meisten sind jeden Tag da«, sagt Farnell Randall. Es seien Elektriker, Klempner, Bauarbeiter. Sie haben keine Arbeit, aber sie suchen auch keine. Randall selbst war auf dem Bau, jetzt sei er »Ruheständ-ler«, wie er es nennt. Aber Rente bezieht er nicht, dazu ist er mit Mitte 50 noch zu jung.

Männer wie Randall, ohne feste Arbeit, aber auch nicht aktiv auf der Suche nach ei-

nem Job, gibt es immer mehr in den USA. Zehn Millionen Männer zwi-schen 25 und 54 Jahren arbeiten nicht. Das ist mehr als einer von sechs in der Altersgruppe. Wäh-rend die Arbeitslosenquo-te sechs Jahre nach der Rezession auf 5,5 Pro-zent gesunken ist und die Wirtschaft wieder an-springt, bleiben immer mehr Männer zurück. So dramatisch ist die Ent-wicklung, dass die New York Times kürzlich be-reits das »Verschwinden

des männlichen Arbeiters« beklagte. Die Rezession hat einen Trend verschärft,

der vor Jahrzehnten begonnen hat. Anfang der fünfziger Jahre lag die Beteiligung der Männer auf dem Arbeitsmarkt bei 90 Prozent. Ende 2014 war sie auf 69 Prozent gesunken. Im sel-ben Zeitraum stieg die Erwerbsquote der Frau-en von 32 Prozent auf rund 57 Prozent.

Paul Magnus ist Leiter von »Mature Ser-vices« in Akron, einer Stadt mit knapp 200 000 Einwohnern, 50 Minuten von East Cleveland entfernt. Die Non-Profit-Organisation hilft Ar-beitslosen über 50 bei der Stellensuche. Magnus ist aufgefallen: Es wenden sich immer mehr Männer an seine Organisation. Wenn er sie nach ihrer Berufserfahrung frage, antworteten viele nur mit einem Namen: Goodyear oder Firestone. Für sie erklärt das alles, was es zu er-klären gibt. Akrons Spitzname war lange »Rub-

ber City«, die Gummistadt, denn hier hatten in den Glanzzeiten der Industrialisierung gleich vier große Reifenhersteller ihren Sitz. Das loka-le Baseballteam nennt sich noch immer die »Gummienten«. Sonst ist nicht viel geblieben: Die meisten Fabriken sind verschwunden, die übrigen benötigen nur noch einen Bruchteil des Personals. Viele der Bewerber hätten vor ihrer Arbeitslosigkeit jahrzehntelang in der In-dustrie gearbeitet, weiß der Arbeitslosenhelfer, sie hätten Jobs in der Produktion innegehabt, die es in der Form kaum noch gebe. Heute sei computer gestützte Fertigung mit einem hohen Automationsgrad die Regel. »Jobs, die man ohne weitere Ausbildung einfach anfangen kann, sind mit der Globalisierung verschwun-den«, sagt Magnus.

Für die amerikanischen Männer scheint es schwierig zu sein, sich an die neue Realität zu gewöhnen. Das Selbstverständnis spiele eine große Rolle, glaubt Jim O’Mara. »Männer defi-nieren sich stärker über ihren Job.« Als O’Mara arbeitslos wurde, war er entschlossen, so lange zu suchen, bis er wieder einen Job in der Indus-trie finden würde. Nach längerer Arbeitslosig-keit hat er jetzt wieder eine Stelle als Vorarbeiter in einer Firma, die Spezialteile für die Auto-industrie herstellt. Er macht Nachtschichten. Der Job ist zwar ein Rückschritt gegenüber sei-ner vorherigen Tätigkeit, in der er mehr ver-diente und eine bessere Position hatte. Doch für O’Mara war entscheidend, dass er weiter in der Produktion arbeiten konnte.

Drei Viertel der acht Millionen Stellen, die in der Rezession vernichtet wurden, hatten Männer inne. Inzwischen hat die US-Wirtschaft wieder elf Millionen Arbeitsplätze geschaffen, doch ein großer Teil der Jobs in der Produktion und im Baugewerbe sind dauerhaft verloren. Im Gesundheitsbereich wird Personal gesucht. Aber lieber bleiben die Männer auf der Straße, als zum Beispiel einen Job als Pfleger anzuneh-men. »Als Mann würde ich so einen Job nicht machen wollen«, sagt einer von Magnus’ Klien-ten, der seinen Namen lieber nicht nennen will.

Die US-Behörde für Arbeitsstatistiken hat eine Liste der zehn am schnellsten wachsenden Berufe erstellt, mindestens sechs davon sind Tä-tigkeiten, die meist von Frauen übernommen werden: Pfleger, Physiotherapeut, Marketing-spezialist. Zu den aussterbenden Berufen gehö-ren dagegen Maschinenführer und Holzfäller. Mit den selbstfahrenden Transportern, von de-nen es bereits Prototypen gibt, dürften auch Lkw-Fahrer in ein paar Jahren auf der Liste landen. »Vielleicht grenzt die Zukunft der Ar-beit nicht unbedingt Männer aus, aber sicher-lich die Idee von Männlichkeit«, beschreibt es das Magazin The Atlantic.

Die Aussteiger aus dem Arbeitsmarkt müs-sen derweil schauen, wie sie über die Runden kommen. Ein Drittel der beschäftigungslosen 25- bis 54-Jährigen hat sich arbeitslos gemeldet. Nicht ganz ein Viertel ist als arbeitsunfähig re-gistriert. 13 Prozent der nicht arbeitenden Män-ner zwischen 25 und 54 machen eine weitere Ausbildung. Ein kleinerer Teil ist im Vorruhe-stand oder Hausmann. Der Rest schlägt sich mit staatlichen Essensmarken, Aushilfsjobs und der Unterstützung der Familie durch.

Mit den Chancen auf dem Arbeitsmarkt nimmt für die Männer auch die Zahl potenziel-ler Partnerinnen ab. 40 Prozent der Kinder wer-den in den USA außerehelich geboren. Mehr als die Hälfte wird zumindest zum Teil allein bei der Mutter aufwachsen, so eine aktuelle Studie der Universitäten Harvard und Princeton. An-gesichts des schrumpfenden Verdienstpotenzials ihrer Partner und deren statistisch nachgewiese-ner Unzuverlässigkeit als Ernährer sollten Frau-en in der Arbeiterschicht eine rationale Ent-scheidung treffen und »einfach Nein zur Ehe sagen«, argumentierten Naomi Cahn und June Carbone, zwei Wissenschaftlerinnen, die den Effekt steigender sozialer Ungleichheit auf Fa-milien untersucht haben. Ihre Empfehlung, ver-öffentlicht 2014 in einem Artikel für das On-linemagazin Slate, löste einen Sturm der Ent-rüstung aus. Die Väter sollten nicht einfach ab-geschrieben werden, beschwerte sich ein Kom-mentator der New York Times.

Der Anthropologe Michael Jindra fürchtet, dass sich die Ausgrenzung auf die nächste Män-nergeneration auswirkt und einen Teufelskreis auslöst. »Es gibt einen Verstärker-Effekt«, sagte er. Denn erwachsene Männer, die am Arbeits-markt zurückbleiben, haben oft bereits als Ju-gendliche in der Ausbildung den Anschluss ver-loren. Niemand weiß, warum viele Jungen schon in der Grundschule hinter ihren Alters-genossinnen zurückfallen. Manche Experten sehen einen Zusammenhang mit der Verfügbar-keit von elektronischer Unterhaltung, wie Vi-deospielen oder dem Internet, die vor allem Jungen anzieht.

Jindra, der sich mit Jugendcliquen beschäf-tigt hat, sieht aber noch einen weiteren Faktor: die zunehmende Abwesenheit der Väter in den Familien, sowohl finanziell als auch als Vorbild, insbesondere für die Jungen. Ihre Chancen, er-folgreich eine Ausbildung zu absolvieren und später einen Arbeitsplatz zu finden, würden weiter sinken. Jindras Fazit aus seiner For-schung: Amerika zerfalle in zwei Gruppen, »Su-per-Leistungsträger«, die früh auf Erfolg ge-trimmt sind, und »Rumhänger«, deren Leben sich um Freizeitaktivitäten aller Art dreht. Und die Rumhänger seien meist männlich.

Frechic Dickson arbeitet als Bewäh-rungshelferin beim Bezirksgericht in East Cleveland, Ohio. Der Stadtteil ist mehrheitlich schwarz und litt jahrzehntelang unter Drogen, Kri-minalität und hoher Arbeitslosigkeit. Viele Häuser um das Gericht herum

sind verfallen. Doch Jobs seien jetzt nicht mehr das Hauptproblem, sagt Dickson. Es sei die innere Ein-stellung. Um Jugendlichen nach ihrer Verurteilung bei der Jobsuche zu helfen, hat ihre Dienststelle ei-nen Schrank mit Anzügen und Kostümen für Be-werbungsgespräche eingerichtet. »Die Mädchen nehmen das Angebot gerne an, die Jungs ver-schwinden wieder auf die Straße.«

Dafür hat Dickson wenig Verständnis. Um den Lebensstandard für sich und ihre drei Kinder zu verbessern, holte sie als alleinerziehende Mutter ih-ren College-Abschluss nach. Sie arbeitete tagsüber und studierte nachts. Ihr Lohn reichte nicht für den Lebensunterhalt. Eine Weile musste sie öffent-liche Hilfe in Anspruch nehmen. »Es war eine harte Zeit«, sagt sie. Aber sie glaubt, dass sie besser darauf vorbereitet war als der Vater ihrer Kinder. »Frauen werden dazu erzogen, sich zu kümmern.«

Chancen hat auf dem Arbeitsmarkt heute nur, wer eine gute Ausbildung hat. Diese Botschaft ist bei Amerikas Frauen offenbar angekommen. Sie haben inzwischen Fachschulen wie Hochschulen erobert. 53 Prozent der College-Absolventen sind inzwischen weiblich, genauso wie 47 Prozent der Medizinstudenten. Knapp 60 Prozent aller Bache-lor- und aller Mastertitel gehen bereits an Studen-tinnen, über 50 Prozent der Doktoranden sind weiblich. Auch am Community College in Lorain, einer ehemaligen Stahlstadt 50 Kilometer westlich von East Cleveland, sind Studentinnen inzwischen in der Mehrheit. Vor ein paar Jahren noch war Terri Burgess’ größtes Problem, junge Frauen für Män-nerberufe zu begeistern. »Jetzt überlegen wir, wie wir die Jungs dazu bringen, nach dem Schulab-schluss zu studieren«, sagt Burgess, deren Aufgabe es ist, am Community College in Lorain industrie-nahe Ausbildungsgänge zu entwickeln.

Das weibliche Streben nach höherer Bildung, sagte sie, habe weniger mit Selbstverwirklichung oder Karrieredenken zu tun als mit der schieren Notwendigkeit. »Die Liste der Jobs, die eine Frau ohne Abschluss bekommt, ist kurz.« Alleinerzie-hende riskieren, auf Dauer in Armut zu leben. Junge Männer ohne weitere Ausbildung hätten dagegen noch bis vor einigen Jahren die Möglich-keit gehabt, sich hochzuarbeiten und schließlich eine Familie ernähren zu können. »Heute ist die Liste der Jobs für Männer ohne Abschluss genauso kurz wie die für Frauen in der gleichen Situation«, sagt Burgess.

Die bessere Ausbildung beginnt sich im Berufs-leben in den Vereinigten Staaten auszuzahlen. Nach

wie vor sind Frauen in den Vorstandsetagen noch die Ausnahme. Aber in immer mehr Bereichen unterhalb der Spitzenpositionen und in freien Be-rufen holen Frauen auf oder ziehen gleich.

Dabei trifft die fortschreitende Automatisierung beide Geschlechter gleichermaßen. Nicht nur die überwiegend von Männern besetzten Arbeitsplätze in der Produktion sind geschwunden, sondern auch Stellen in der Verwaltung, die mehrheitlich Frauen innehatten – etwa im Sekretariat oder in der Buchhaltung. Doch während die Männer in schlechter bezahlte und unsichere Jobs oder gleich ganz aus dem Erwerbsleben verdrängt wurden, konnten Frauen in den vergangenen Jahren bei Po-sitionen im Management und bei freien und tech-nischen Berufen zulegen. Heute sind laut der offi-ziellen US-Arbeitsmarktstatistik bereits 52 Prozent aller Stellen in diesen Bereichen von Frauen besetzt. So deutlich ist die Zunahme, dass sie die Verluste bei den mittleren Dienstleistungs- und Verwal-tungsjobs mehr als ausgleichen konnte.

In ihrer Studie zum »Neuen Geschlechtergraben in Arbeit und Ausbildung« kommen David Autor und Melanie Wasserman, Volks-wirte am Massachusetts In-stitute of Technology zu dem Schluss: »Die traditio-nell männliche Dominanz bei der weiterführenden Bildung, in hochbezahlten Tätigkeiten und Eliteberu-fen gilt weithin als nahezu unveränderlicher Bestand-teil der US-Wirtschaft. In Wirklichkeit hat hier eine grundlegende Verschiebung stattgefunden.«

Immer mehr Frauen übernehmen die Ernährer-rolle. Rund 30 Prozent der erwerbstätigen Ameri-kanerinnen verdienen inzwischen mehr als ihre Ehemänner. Zum Beispiel Rebecca Hughes Parker. Sie ist Anwältin, ihr Mann kümmert sich um die beiden Kinder. Nach der Heirat wurde schnell klar, dass sie in ihrer Kanzlei weit mehr verdienen würde als er mit seinem Abschluss in Englischer Literatur. Und so kümmerte er sich um die Kinder. Anfangs sei sie noch die Ausnahme gewesen, erzählt die Enddreißigerin. Doch inzwischen kennt sie immer mehr Paare, die die klassische Rollenverteilung um-gekehrt haben.

Weder der Abstieg der Männer noch das Auf-holen der Frauen sind das Resultat eines Ge-schlechterkampfes. Beide sind eine Folge der Di-gitalisierung und der strukturellen Veränderungen des Arbeitsmarktes. Den Preis zahlen vor allem Männer, die an den Rand der Gesellschaft ge-drängt werden.

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New York: Auch hier haben Frauen aufgeholt

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 1530 WIRTSCHAFT

Es ist der 15. Mai 1648. In Müns-ter beschwören die Verhand-lungsführer der niederländischen Provinzen feierlich den Frieden mit Spanien. Der Achtzigjähri-ge Krieg ist zu Ende. Es ist die Geburt der Niederlande. Johan

van Hogenhouck allerdings, ein Mann, der in diesen Niederlanden lebt, bei Utrecht, hat an diesem Tag ganz andere Sorgen.

Johan van Hogenhouck braucht Geld. Er ist Repräsentant einer Organisation, die für einen acht Kilometer langen Teil des Deichs am Fluss Lek zuständig ist. Dort muss einiges ausgebessert wer-den. Im Städtchen Honswijk bauen Arbeiter eine Befestigung, sie gilt es auszuzahlen. So leiht sich Hogenhouck an jenem 15. Mai 1000 Karolusgul-den, bei einem Niclaes de Meijer. Er verpflichtet sich, jährlich fünf Prozent Zinsen zu zahlen, an die

Person, die das Wertpapier vorlegt. Jede Zahlung wird auf der Rückseite des Pergaments vermerkt.

Jahre, Jahrzehnte vergehen, der Zinssatz wird reduziert, die Währungen wechseln, neue Kriege brechen aus, doch das Geld fließt. 1944 ist kein Platz mehr für Vermerke, jemand ergänzt die Anleihe* um ein Stück Papier. Dann, 2003, er-steigert Geert Rouwenhorst, ein Finanzprofessor von der US-Universität Yale, das Dokument. Der Niederländer nimmt den Wisch, fährt zu van Hogenhoucks Rechtsnachfolger – der Stichtse Rijnlanden, die Deiche und Wasserstraßen ver-waltet – und sammelt die Zinsen seit 1975 ein. Inzwischen betragen sie 11,34 Euro pro Jahr. Das Treffen ist für alle Beteiligten ein besonderer Mo-ment. »Wir schüttelten uns die Hände, Fotos wurden gemacht«, erinnert sich Rouwenhorst. »Sie waren so aufgeregt, mir Zinsen zu zahlen, wie ich aufgeregt war, die Zinsen einzusammeln.«

Heute ist die Anleihe in einer Bibliothek zu be-sichtigen. Sie gilt als eines der ältesten Wertpapiere weltweit, das noch Zinsen abwirft, und ist das vielleicht spektakulärste Beispiel einer »ewigen An-leihe«. Bei diesen Anleihen erhalten die Gläubiger regelmäßig Zinsen, doch es gibt kein Datum für eine Tilgung, anders als bei den heute üblichen Anleihen, die nach zwei, zehn oder – maximal – 30 Jahren zurückgezahlt werden. Das klingt nach ei-nem Fall aus dem Kuriositätenkabinett der Finanz-welt, ist historisch aber die Regel gewesen. »Früher war es üblich, dass sich die Leute einfach Geld lie-hen, ohne Frist«, erklärt Rouwenhorst. »Das Fäl-ligkeitsdatum ist ein relativ modernes Konstrukt.«

Es war also keine spinnerte Idee, sondern ein Rückgriff auf jahrhundertealte Gepflogenheiten, was Griechenlands schillernder Finanzminister Yanis Varoufakis im Februar vorschlug. Er regte an, einen Teil von Athens Schulden in ewige Anleihen umzuwandeln. Seither geistert die Idee durch die Debatte über Griechenland.

So mühsam gestalten sich derzeit die Verhandlungen mit der Euro-Zone, so groß ist die Angst, Athen könne bald die Zahlungsunfähigkeit drohen, dass manch einer bereits alle griechischen Schulden in sol-che Papiere umwandeln will, als Notausgang. »Im absoluten Extremfall wäre es die einzige praktikable Lösung«, zitierte die Agentur Bloomberg dieser Tage einen Anleihestrategen. Interessant ist auch, dass ein Ökonom der Universität Chi-cago in einem neuen Papier genau solch einen Schritt pro-pagiert – bezogen auf die Schulden der USA.

Schulden, die nie zurück-gezahlt werden: Das klingt kurios, kann aber sinnvoll sein. Der Schuldner muss höhere Zinsen bieten als bei einer 30-jährigen An-leihe, aber dafür verschiebt er die Schuld weit in die Zukunft und weiß, was er jährlich zu zahlen hat. Er muss nicht ständig neue Schulden zu neuen Zinsen aufnehmen. Hat er die Anleihe zu niedrigen Zins-sätzen herausgegeben, kann er zudem entspannt bleiben, wenn das allgemeine Zinsniveau ansteigt.

Die Gläubiger erhalten einen Strom von Zah-lungen, der endlos und – sofern es sich um einen guten Schuldner handelt – stabil ist. Dies macht die Anleihen für institutionelle Investoren wie Versiche-rungen und Pensionskassen interessant, die sehr langfristige Verbindlichkeiten haben und eher auf Sicherheit als auf maximale Renditen achten. Ewi-ge Anleihen sind übertragbar, für private Käufer gleichen sie einer Investition, die auch Kindern, Enkeln und Urenkeln etwas bringt. Egal, dass man das verliehene Geld nie wiedersieht. Wer fünf Pro-zent Zinsen erhält, hat den Gegenwert des Einsatzes nach 20 Jahren raus. Dann braucht es etwas Zeit, um den Wertverlust infolge der Inflation auszuglei-chen, doch irgendwann ist alles ein Zubrot. Wer will, kann das Papier zudem an Dritte verkaufen.

Ewige Anleihen sind heute selten, aber es gibt sie, etwa von Südzucker oder der Bank Santander aus Spanien. Während die Gläubiger per definitio-nem keine Möglichkeit haben, die Tilgung zu ver-langen, hat der Schuldner häufig ein einseitiges Recht, die Anleihe zum Nennwert zurückzuzahlen, wenn er will. In der Regel geht dies erst nach einer Schutzfrist, zum Beispiel 10, 25 oder 40 Jahre nach Ausgabe der Anleihe. Dieses Prinzip gilt häufig auch für eine verwandte Form, für Anleihen mit 50 oder 100 Jahren Laufzeit. Diese breiten sich aus, seit ein

Stromversorger aus den USA 1992 damit anfing. Rückzahlungsoptionen erschweren Gläubigern ihre Kalkulation: Sollen sie die Rückzahlung einberech-nen? Wann? Ab welchem Zinssatz lohnt sich alles?

»100-Jährige« werden meist von Topadressen verkauft, von Konzernen wie Disney, Coca-Cola, IBM oder Fedex, aber auch von Spitzenuniversitä-ten wie Yale 1996 oder dem MIT in den Jahren 2011 und 2014. In Europa gibt es Papiere der vom französischen Staat dominierten Stromkonzerne EDF und GDF Suez, eine Anleihe von Henkel läuft theoretisch bis 2104, eine von Bayer bis 2105. Auch Länder wie China oder Mexiko haben sich so schon Geld besorgt. Dennoch, 100-Jährige sind rar und werden entsprechend selten gehandelt.

»50-Jährige« indes stellten »einen ziemlich gut entwickelten Markt« dar, so Toby Nangle, der beim Investmentriesen Columbia Threadneedle global die Streuung vieler Milliarden über Anlageklassen steuert. Sein Kollege Martin Harvey, ein Experte

für Anleihen, beziffert das Volumen von 50-Jährigen ak-tuell mit 225 Milliarden Euro. Er glaubt, dass sie »mehr und mehr Mainstream« würden. Das derzeit extrem niedrige Zinsniveau verlockt dazu, sich für viele Jahre Geld zu borgen; zugleich suchen viele Investo-ren verzweifelt nach Anlagen mit höherer Rendite.

Wer lang laufende Anlei-hen ausstehen hat, deren Zin-sen über dem aktuellen Niveau liegen, für den kann es sich natürlich lohnen, sie zu tilgen. So begleicht die britische Re-gierung in diesen Wochen ihre acht letzten ewigen Anleihen. Laut der nationalen Finanz-agentur bildete diese Form der Finanzierung bis zum Zweiten

Weltkrieg »den Großteil des britischen Schulden-bestands«. Erst 1946 hörte man mit der Praxis auf.

Unter den Papieren, die demnächst – lange nach Ablauf aller Schutzfristen – getilgt werden, finden sich ewige Anleihen, die Großbritannien 1853 schuf, um noch ältere Schulden abzulösen. Oder solche, die 1946 die Verstaatlichung der Notenbank finanzierten. Am spektakulärsten ist eine Anleihe, die 1917 der Finanzierung des Ersten Weltkriegs diente – Slogan: »Anders als der Soldat geht der Investor kein Risiko ein« – und 1932 von Schatz-kanzler Neville Chamberlain in ein ewiges Papier umgewandelt wurde. Über die Zeit flossen bei einem Nennwert von 1,9 Milliarden Pfund mehr als 5,5 Milliarden Pfund Zinsen. Zuletzt hatte der war loan mehr als 120 000 Eigentümer, damit war es die am weitesten verbreitete Staatsanleihe des Landes. Sie verschwand nicht auf Dachböden oder in Kellern, sondern wurde, laut Nangle, »täglich gehandelt«. Als London sie am 9. März tilgte, konn-te man 99 Prozent des Volumens zurückzahlen.

Und Griechenland? Athen hat wohl zu große Schwierigkeiten. Die Gläubiger müssten einer Um-wandlung in ewige Anleihen zustimmen, zudem würde diese »keines der grundlegenden Probleme beseitigen«, so Professor Rouwenhorst. Sie würde auch keineswegs bedeuten, dass Athen nie wieder an den Kapitalmarkt gehen müsse und »der Dis-ziplin der Kapitalmärkte« entzogen wäre.

Im Juni reist Rouwenhorst in die Niederlande. Dann sammelt er die Zinsen auf das Papier von 1648 ein, die seit dem letzten Besuch aufgelaufen sind. Zwölf Jahre, macht 136,08 Euro. Immerhin.

www.zeit.de/audio

Bitte haben Sie Geduld! Ewige Anleihen, wie sie Griechenland jüngst ins Spiel gebracht hat, existieren seit Jahrhunderten. Die Idee klingt kurios, hat aber Vorteile VON ARNE STORN

Veränderungen seit Jahresbeginn

Kursverlauf

Dax12 110 +24,0 %

Japan- AktienNikkei: 19 775 +13,3 %

Euro1,09 US$ –9,2 %

Rohöl (WTI)51,66 US$/Barrel –2,0 %

Dow Jones17 940 +0,6 %

Brasilien- AktienBovespa: 53 737 +10,8 %

Palladium775 US$/ Feinunze –2,6 %

Sojabohnen9,72 US$/Scheffel –3,5 %

Aluminium1788 US$/Tonne –2,7 %

Finanzen

Eine Anleihe ist ein Kredit, nur dass der nicht bei einer Bank, sondern am Kapital-markt aufgenommen wird. Der Schuldner, der möglichst kreditwürdig sein sollte, verpflichtet sich, das Geld zu einem bestimmten Zeitpunkt zurückzuzahlen und bis dahin klar fixierte Zinsen zu überweisen. Die Anleihe ist ein Wertpapier, weshalb der Kredit gestückelt und später auch gehandelt werden kann.

* Anleihe

Schlecht oder schlecht

In Großbritannien ist am 7. Mai Wahltag, und in den Umfragen hat bisher keine der beiden großen Parteien die Nase vorn. Auch die City of London hat keinen erkennbaren Wunschkandidaten, zu-mindest unterstützen die Dachverbände der Fi-nanzindustrie offiziell weder den konservativen Amtsinhaber David Cameron noch seinen He-rausforderer Ed Miliband von Labour. Blackrock, der größte Vermögensverwalter der Welt, er-mahnt Anleger bereits eindringlich, sich auf un-ruhige Zeiten einzustellen, sollte aus den Wahlen

eine Minderheitsregierung her-vorgehen.

Konkret warnen Blackrocks Analysten vor zwei Szenarien: Wird Ed Miliband Premierminis-ter, dann nur mithilfe der schotti-schen Separatistenpartei SNP, und die wird ihren Einfluss dafür nut-zen, Schottlands Unabhängigkeit weiter zu verfolgen, auch wenn die Schotten letztes Jahr dagegen ge-stimmt haben. Dann wäre da

Milibands Versprechen, den britischen Schuldenberg von 1,56 Billionen Pfund – oder 81,6 Prozent der Wirtschaftskraft – nur langsam abzutragen. Beides mache Großbritannien zu einem Wackelkandidaten, der stark »auf den guten Willen« der Märkte ange-wiesen sei, um sich zu finanzieren, so Blackrock. Eine konservativ ausgerichtete Regierungskoalition unter David Cameron hingegen birgt das Risiko, dass die Briten schon 2016 für den Austritt aus der EU stim-men. Was dann passiert, will sich selbst Blackrock nicht ausmalen.

Britische Anleihen und das Pfund Sterling werden mit erhöhter Vorsicht gehandelt. Wer an seinem Ver-mögen hängt, sollte Großbritannien wohl vorerst meiden. Oder er glaubt wie die US-Investmentbank J.P. Morgan eher daran, dass der Ausgang der Wahlen »nicht annähernd so ausschlaggebend« sein wird wie andere Faktoren der Finanzwelt – wie die Frage, was die Weltwirtschaft macht, wenn die US-Notenbank tatsächlich die Leitzinsen anhebt. Das wird am Ende auch die City of London massiv betreffen.

Die Finanzwelt fürchtet den Ausgang der britischen Wahlen und rät zur Vorsicht VON JOHN F. JUNGCLAUSSEN

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» JÜRGEN FITSCHENCo-CEO Deutsche Bank

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» DR. JOHANNES TEYSSENCEO E.ON

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» DR. JENS BAASCEO Techniker Krankenkasse

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Fachzeitschriften: Gefälschte Gutachten Die Veröffentlichung eines Artikels in einer Zeitschrift mit Gutachtersystem ist das Quali-tätssiegel für die Arbeit von Wissenschaftlern. Doch dieses System ist fehlbar. Vor wenigen Tagen zog der Verlag BioMed Central 43 Beiträ-ge wegen gefälschter Gutachten zurück. Beim letzten Fall dieser Größenordnung hatten For-scher unter dem Namen realer oder fiktiver Gut-achter eigene Publikationen bewertet. Jetzt ver-mittelten kommerzielle Agenturen gefälschte Gutachter und Gutachten an Forschergruppen – ob die betroffenen Wissenschaftler von dieser Täuschung wussten, ist bislang unklar. Verlage arbeiten mit einer Kommission für Publikati-onsethik an der Verbesserung des Systems.

ERFORSCHT UND ERFUNDEN

Kann es zum plötzlichen Kindstod führen, wenn man Babys Honig zu essen gibt?

... fragt Clemens Oleschinski aus Berlin

www.zeit.de/audio

Die Adressen für »Stimmt’s«-Fragen: DIE ZEIT, Stimmt’s?, 20079 Hamburg, oder [email protected]. Das »Stimmt’s?«-Archiv: www.zeit.de/stimmts

Stimmt’s?

36 WISSEN Kompakt

Wenn ein Auto gegen eine Wand fährt und dabei zu Bruch geht, wundert sich niemand. Fährt es hinge-gen durch die Wand hin-durch, ohne auch nur ei-nen Kratzer davonzutra-

gen, geraten wir ins Grübeln: Magie? Optische Täu-schung? Star Trek? Kurz zuvor passiert in unserem Gehirn aber noch etwas anderes. Noch bevor wir spekulieren, rätseln und nach einer plausiblen Er-klärungen suchen, schießt uns ein Gedanke durch den Kopf, der so intuitiv und kurzlebig ist, dass wir noch nicht einmal ein richtiges Wort dafür haben. Was unsere Neuronen in diesen Millisekunden des Nicht-Verstehens treiben, ist uns gerade einmal zwei Buchstaben wert: Hä?

So banal uns diese Geistesregung vorkommen mag, Psychologen hegen großes Interesse am Hä?-Moment, denn er setzt Wissen voraus. Nur wer die Welt kennt, wird stutzig, wenn sich Un gewöhnliches ereignet. Dass Erwachsene dazu fähig sind, ist kein Wunder, schließlich hatten sie genügend Zeit, sich mit ihrer Umgebung vertraut zu machen. Doch Hirnforscher und Psychologen finden immer mehr Hinweise darauf, dass auch Babys und sogar Säug-linge bei ungewöhnlichen Ereignissen Überra-schung empfinden. Schon im Alter von vier Mona-ten schenken sie irrealen Szenarien mehr Aufmerk-samkeit als plausiblen Abläufen. Zeigt man ihnen etwa eine Kugel, die scheinbar durch eine Tisch-platte fällt, starren sie diese länger an als Objekte, die erwartungsgemäß auf dem Tisch liegen bleiben. Und spielt man ihnen Sätze mit grammatikalischen Fehlern vor, verändern sich ihre Gehirnströme. Wo-

her wissen sie, was möglich ist und was nicht? Wann entwickelt sich der Sinn für die Normalität?

Diese Fragen beschäftigen Psychologen und Phi-losophen seit Jahrzehnten. Theorien gibt es zur Genü-ge, Einigkeit herrscht bis heute nicht. Einige Fachleu-te vermuten, dass Babys sich allein durch die Erfah-rungen, die sie nach ihrer Geburt machen, Wissen über die Welt aneignen. Die Mehrheit der Psychologen bezweifelt aber, dass Babys ganz und gar ahnungslos zur Welt kommen. Die empiristische Weltsicht des Philosophen John Locke, der den kindlichen Geist als unbeschriebenes Blatt Papier begriff, gilt jedenfalls als überholt. Die Harvard-Psychologin Elizabeth Spelke erforscht seit Jahrzehnten die Fähigkeiten von Säug-lingen und ist überzeugt: Babys sind von Geburt an mit Wissen über Naturgesetze, mit »core knowledge«, ausgestattet – mindestens aber mit kognitiven »Kate-gorien«, in die sie neue Erfahrungen einordnen und die ihnen das Lernen erleichtern.

Neue Belege für diese Theorie fanden nun zwei Psychologinnen von der John Hopkins Universität in Baltimore, Lisa Feigenson und Aimee Stahl. In einer Reihe von Experimenten konnten sie zeigen, dass Babys bereits im Alter von elf Monaten klare Erwartungen an ihre Umwelt haben – und dass ge-rade diese Erwartungen eine wichtige Vorausset-zung für das Lernen sind. »Core knowledge« sei keine Alternative zum Lernen, sondern der Schlüs-sel dazu, schreiben die Forscherinnen in der Zeit-schrift Science.

Sie spielten rund hundert Babys auf einer klei-nen Bühne verschiedene Szenarien vor. Einige be-kamen einen Ball zu sehen, der eine Rampe hinun-ter auf eine Wand zurollte und dann hinter einer Abdeckung verschwand. Als die Forscher die Ab-

deckung wegnahmen, sahen die Kinder, dass der Ball gegen die Wand geprallt und liegen geblieben war. Die übrigen Babys bekamen den gleichen Ab-lauf gezeigt, allerdings mit einem anderen Aus-gang: Als die Abdeckung entfernt wurde, lag der Ball auf der anderen Seite der Wand – als wäre er durch sie hindurchgebeamt worden. Das schien die Babys stutzig zu machen. Sie starrten noch Sekun-den nach dem Ende des Experiments auf den ver-meintlichen Zauberball – deutlich länger, als ihre Altersgenossen aus der ersten Gruppe das Objekt begutachtet hatten.

Dann untersuchten die Forscherinnen, ob es ei-nen Zusammenhang zwischen Stutzen und Lernen gibt. Sie schwenkten den Ball auf und ab, während im Raum ein quietschender Laut ertönte. Die Psy-chologinnen wollten wissen, ob die Babys das Ge-räusch mit dem Ball verbanden, ob sie also etwas Neues über das Objekt lernten. Deshalb nahmen sie anschließend als Ablenkungsmanöver einen Bau-klotz hinzu und bewegten nun beide Spielzeuge zu-gleich auf und ab. Als erneut das Quietschen ertön-te, reagierten einige Babys verwirrt: Ihr Blick hüpfte zwischen Ball und Klotz hin und her, als wären sie unentschlossen, welches der Spielzeuge für das Ge-räusch verantwortlich war. Nicht aus dem Konzept bringen ließen sich hingegen Babys, die im ersten Experiment das überraschende Szenario gesehen hatten. Sie betrachteten weiterhin den Ball – als hegten sie keinen Zweifel daran, dass er die Quelle des Geräusches sei. Als die Forscherinnen ihnen aber zu Ball und Klotz ein Rasseln vorspielten, blickten auch die Babys, die den Hä?-Moment er-lebt hatten, ratlos hin und her. Sie hatten tatsäch-lich das Quietschen mit dem Ball verknüpft, nicht

kraft ihrer Experimente. Das Starren eines Babys tauge nicht als Beweis dafür, dass es sich wundere, lautet die Kritik. Ebenso wenig sei Wegschauen zwingend ein Indiz für Desinteresse.

Die Psychologin Sabina Pauen von der Univer-sität Heidelberg hält solche Einwände für ungerecht-fertigt. Die Messung der Blickdauer sei eine verläss-liche Methode, Überraschung und Interesse bei Kleinkindern nachzuweisen. »Das untermauern auch hirnphysiologische Messungen«, sagt Pauen. Die Experimente von Lisa Feigenson und Aimee Stahl bezeichnet sie als »elegant« und »sauber«. »Natürlich lernen wir aus dem, was uns überrascht«, sagt die Psychologin. Deshalb sei es schade, dass Erwachsene sich so selten wunderten. »Wenn wir älter werden, erleben wir kaum noch Unerwartetes. Und wenn doch, denken wir: ›Es gibt bestimmt eine Erklärung dafür, die ich eh nicht verstehe.‹«

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das Rasseln. Feigenson und Stahl interpretieren das Ergebnis so: Die Babys, die sich über die magischen Fähigkeiten des Balls gewundert hatten, verbanden das Quietschen nachhaltiger mit dem Objekt. »Überraschung scheint das Lernen zu fördern«, sagt Feigenson. »Babys lernen effektiver, wenn sich die Lektion um ein Objekt dreht, das zuvor ihre Erwartungen ver-letzt hat.« Staunen wäre also ein kognitiver Stupser zum Lernen – das »Hä?« ein Wegberei-ter des »Aha!«.

Bemerkenswert ist, dass schon so junge Kinder dazu fähig sind – und wie gezielt sie vorgehen: Babys, die das unlogische Szenario gesehen hat-ten, schenkten dem Ball nicht nur mehr Aufmerk-samkeit als die Kinder der anderen Gruppe, sondern sie untersuchten ihn auch gezielter. Sie drückten ihn zusammen oder schlugen ihn auf die Tischplatte, als wollten sie seine Festigkeit überprüfen. Als ihnen ein alternatives Überra-schungsszenario präsentiert wurde, etwa ein scheinbar schwebendes Spielauto, ließen sie das Auto vom Tisch rollen, warfen es in die Luft oder pfefferten es zu Boden, wie um zu testen, ob es wirklich der Schwerkraft widerstehen konnte. »Wie kleine Forscher, die Hypothesen aufstellen und prüfen«, sagt Feigenson. Dieser natürliche Wissensdrang fungiere wie eine Art eingebauter Lehrer: Er zeige ihnen, was sie zu welcher Zeit lernen sollten.

Doch nicht alle Wissenschaftler sind derart überzeugt von den geistigen Fähigkeiten kleiner Kinder. Immer wieder werden Verhaltensforscher wie Feigenson, Stahl und Spelke mit dem Vor-wurf konfrontiert, sie überschätzten die Aussage-

Immunbiologie: Neue Therapie gegen HIVBisher verliefen Versuche, das HI-Virus mithilfe von Antikörpern zu bekämpfen, wenig erfolgreich. Jetzt berichtete ein deutsch-amerikanisches Ärzte-team über den ersten Erfolg bei klinischen Tests einer neuen Klasse dieser Immuneiweiße (Nature). Die Mediziner hatten 29 infizierte und nicht infi-zierte Probanden mit einer einzigen Infusion des Antikörpers behandelt. Im Blut der infizierten Pa-tienten fiel die Virusbelastung daraufhin drastisch, die Wirkung hielt etwa einen Monat an. Die Ärzte hoffen nun, mit diesem breit neutralisierenden Antikörper – er richtet sich gegen fast 200 ver-schiedene HIV-Stämme – eine effektive Alter-native zur Therapie mit antiviralen Medikamenten gefunden zu haben.

Bienenhonig ist ein rohes, tierisches Lebensmittel«, betont der Presse-sprecher des Robert-Koch-Instituts. Deshalb kann Honig mit allerlei Keimen belastet sein. Hier geht es

vor allem um das gefährliche, Sporen bildende Bakterium Clostridium botulinum. Es sondert das Gift Botulinumtoxin ab. In kleiner Dosie-rung nennen wir es Botox und spritzen mit ihm die Falten weg, in größerer ist es hochgiftig.

Für den Verdauungstrakt des Erwachsenen sind die Sporen des Erregers keine große Gefahr, Magensäure und Darmflora erledigen sie schnell. Das Baby dagegen muss sein eigenes Mikrobiom im ersten Lebensjahr noch aus-bilden, deshalb können sich die Sporen im

Darm festsetzen und auskeimen. Das Gift führt zu Lähmungen, erst in den Verdauungsorganen, dann im ganzen Körper. Wird es zu spät erkannt, kann das Botulinumtoxin zum Tod des Babys führen.

Tatsächlich werden in Deutschland sehr wenige Fälle bekannt, pro Jahr stirbt etwa ein Baby an Botulismus. Das sind die diagnostizierten Fälle – es ist aber möglich, dass Fälle von »plötzlichem Kindstod«, der zunächst einmal keine klar defi-nierte Ursache hat, auf eine unerkannte Infektion mit dem Bakterium zurückgehen. Forscher der Universität Göttingen führten im Jahr 2000 Au-topsien bei 57 Babys durch, die an plötzlichem Kindstod gestorben waren. In neun Fällen wiesen sie tatsächlich das Botulinum-Gift nach, in sechs das Bakterium. CHRISTOPH DRÖSSER

Das erste

Entdecken Kinder etwas Ungewöhnliches, gehen sie vor wie Forscher: Sie stellen Hypothesen auf und testen sie

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Ein Ball fliegt durch eine Wand – sehr seltsam. Das denken offenbar schon Babys. Woher wissen sie, was normal ist? VON LYDIA KLÖCKNER

Hä?9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 15

43

Attentatsplaner und PazifistZum Todestag des großen Dietrich Bonhoeffer: eine Hommage von Heinrich Bedford-Strohm S. 56

Heimat Schrottplatz Antonia Baums cooler, herzzerreißender Roman über die Jugend dreier Halbwaisen S. 47FEUILLETON

Da sind wir dabeiMit Live-Streaming-Apps wird die Gegenwart jetzt noch wirklicher

Ä rgerlich, da passiert Weltgeschichte, und man kriegt es nicht mit. Kriege brechen aus, aber man war im Büro,

Regierungen stürzen, während man den Ab-wasch macht. Die digitale Revolution hätte man auch fast verschlafen, aber das passiert einem nicht noch mal. Nie mehr late adopter! Die Angst, nicht auf dem Laufenden zu sein, ist so verbreitet, dass sie schon einen Eigen-namen hat: Fomo, ein Akronym aus fear of missing out. Wahrscheinlich erklärt sie auch die Geschwindigkeit, mit der die Live-Strea-ming-App Periscope Verbreitung fand, seit Twitter sie auf den Markt brachte. Man kann damit Livebil-der von allem ins Netz senden, was ei-nem vor die Handy-kamera kommt, und sich ansehen, was an-dere Leute gerade fil-men. Potenziell kann also jeder überall da-bei sein. Fixe Be-deutungsträger waren sofort auf Sendung: Nicolas Sarkozy ließ Wahlkampfauftritte übertragen, Jan Böh-mermann und ande-re Medien beteiligten das Publikum live an ihren Redaktionssitzungen. Transparenz, die Schule machen könnte: Tüchtig wirkt, wer unzimperlich jede neue Verbindung zum Wähler-Zuschauer-Kunden nutzt.

Websites, auf denen man Livevideos pos-ten konnte, gab es schon vor Periscope, aber erst die Verbindung der Sende-Funktion mit einem Social-Media-Account erschließt au-tomatisch ein Publikum: An alle Follower er-geht zwitschernd die Nachricht, dass hier jetzt etwas zu sehen ist. Diese Idee hatte ein israelisches Start-up, dessen App Meerkat im März bejubelt wurde. Twitter hatte gerade Periscope aufgekauft, verbesserte rasch das hauseigene Produkt und stach Meerkat aus. Die Eskalation der Echtzeit-Manie der Sozia-len Netzwerke durch Dauer-Liveschalten war ja längst erwartet worden. Dystopische Ro-mane, etwa Dave Eggers’ Der Circle, be-schrieben sie schon als Selbstverständlichkeit.

Am Tag, als Periscope in die App-Stores kam, explodierte ein Haus in Manhattan. Eine Gasleitung war angezapft worden, zwei Männer starben, drei benachbarte Häuser fingen Feuer. Das wusste man in den ersten Momenten noch nicht, konnte aber schon aus verschiedenen Blickwinkeln den Rauch an der Second Avenue sehen. Passanten hiel-ten mit Periscope drauf. Sofort prophezeiten Zuschauer, hier zeige sich die Zukunft der Berichterstattung: Gleich dabei, ohne die Verzagtheit der alten Medien. Dem folgten Befürchtungen, Menschen könnten bei der Livedokumentation aus Versehen Vernunft und Mitleid fahren lassen. Das ist nicht weit hergeholt. Der Mann zum Beispiel, der film-te, wie die Attentäter auf die Redaktion von Charlie Hebdo einen auf dem Boden liegen-den Polizisten erschossen, bereute später, das Video auf Facebook geladen zu haben: Zu teilen, was er gesehen hatte, sei nach Jahren des Lebens mit Sozialen Medien ein blöder Reflex gewesen. Periscope implementiert die Logik dieses Reflexes: Sofort und ungefiltert herzeigen, was man vor sich hat.

Gerade weil die Welt so voller Bilder ist, dass es schwerfällt, an eine kohärente Realität zu glauben, gibt es offenbar einen Impuls, die schiere Faktizität des Moments zu sichern. Als werde durch die Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit, Abbildung und den Reaktio-nen des Publikums ein Ereignis intensiver oder noch realer. Live-Streaming-Apps besei-tigen nun die technischen Hürden zwischen diesem Impuls und der Veröffentlichung und verstärken so das Gravitationsfeld des Augen-blicks: »Alles ist interessanter, wenn es gerade jetzt passiert«, schrieb die Nachrichtenseite Techcrunch der neuen App ins Poesiealbum.

Bis der nächste Ernstfall ethische Proble-me macht, befindet sich die App aber im Ex-perimentierstadium. In den ersten Tagen von Periscope parodierten viele Menschen Fern-sehreporter, indem sie live die Inhalte ihrer Kühlschränke präsentierten. In der Früh-phase von Internet-Features gibt es diese Zeit des sinnlosen Blödelns, in der man daran er-innert wird, was einmal der Traum des Net-zes war: dass Leute auf der ganzen Welt ei-nander in ihrer Gewöhnlichkeit sehen kön-nen und sich verstehen, statt sich bloßzustel-len oder etwas zu vermarkten. Am lautesten applaudierten der Veröffentlichung der neuen Live-Streaming-Apps schon jetzt: die PR-Agenten. MARIE SCHMIDT

Die erste Begegnung fand im April 1938 in New York statt, im Hause von Paul und Hannah Tillich. Auch Sieg-fried Kracauer war anwesend. Es war kein gewöhnliches Treffen. Eher schon eine von

Walter Benjamin aus Paris diplomatisch vermittel-te erste Fühlungnahme hochempfindlicher intel-lektueller Großmächte. Diese hatten sich bis dahin misstrauisch beobachtet. Theodor Wiesengrund Adorno, der über seine Frau Gretel erst in den zwanziger Jahren die inspirierende Bekanntschaft mit Benjamin gemacht hatte, war nicht frei von Eifersucht auf dessen ältere und engere Freund-schaft mit Gerhard Scholem, der großen Autorität in Sachen jüdischer Mystik. Scholem, der seinen Freund Benjamin in finanzieller Abhängigkeit von dem im New Yorker Exil noch vergleichsweise komfortabel überlebenden Institut für So zial for-schung wusste, wollte eigentlich von »diesen Leu-ten« nichts wissen. Insbesondere Horkheimer mochte er nicht. Seine erste Meldung an Benjamin über die Begegnung mit Adorno und seiner Frau ist nüchtern: »Mit Wiesengrunds war ich einige Male zusammen, sonst habe ich niemand von der Sekte intimer gesprochen.«

Bei dieser Aus gangs kon stel la tion ist das Ergebnis des ersten Kontaktes überraschend. Dem direkten Briefwechsel mit Adorno entnimmt man Scholems freundschaftliche Aufgeschlossenheit und ein Interes-se an der Fortsetzung des intellektuell anregenden Gesprächs. Vonseiten Adornos gibt es am 4. Mai 1938 eine ausführliche und enthusiastische Schil-derung für den auf Nachricht drängenden Benjamin. Mit großem Respekt vor dem gelehrten Inhaber der Schlüsselgewalt zu den hebräischen Quellen be-schreibt Adorno die »schnoddrige Grazie« Scholems und erfasst mit geradezu projektivem Spürsinn das Thema, das die Melodie des nun beginnenden Brief-wechsels bestimmen wird: »Es scheint mir von der tiefsinnigsten Ironie, daß eben die Kon zep tion der Mystik, die er (Scholem) urgiert, sich geschichtsphi-losophisch als jene Einwanderung in die Profanität darstellt, die er an uns für verderblich hält.«

Dass Adorno lange Passagen dieses Berichts über die erste Begegnung fast drei Jahrzehnte später, zum 70. Geburtstag von Scholem, in der Neuen Zürcher Zeitung wiederholt, ist dieses Mal nicht seinem Auto-rennarzissmus zuzuschreiben. Zu Recht erkennt er in seinem Bericht retrospektiv »den Grundriß der spä-teren Erfahrung«. Er kann nach fast drei Jahrzehnten auf den philosophischen Kern einer aufhaltsamen Annäherung von zwei Intellektuellen zurückblicken, die von Haus aus nicht für ein an der bestimmt waren. Adorno hatte damals, in New York, die Frage abstrakt vorweggenommen, die sich als der rote Faden durch ihre Korrespondenz hindurchziehen wird. Wie den gemeinsamen Freund Benjamin interessiert die Brief-partner, aus jeweils verschiedener Perspektive, das Schicksal des Sakralen nach der Aufklärung – ob und wie es »in die Profanität einwandern« kann.

Das Hellseherische einer solchen An ti zi pa tion, die in einem langsamen Prozess der Annäherung erst Schritt für Schritt eingeholt wird, möchte man eher einer körperlosen Intelligenz zuschreiben. Diese Qua-

lität ist für den Menschen Adorno charakteristisch. Entspannt war er nur im engsten Kreise und wirklich frei nur an seinem Schreibtisch. Diese verletzbare Per-son behielt Zugang zur eigenen Kindheit und war gleichzeitig mehr als bloß erwachsen. Sie lebte über-wach und ängstlich, gleichsam mit schützend vorge-streckter Hand, sowohl diesseits wie jenseits einer Normalität, an der wir anderen unseren Halt haben.

Scholem war ein Teil dieser Normalität, auch wenn er – mit seinen großen abstehenden Ohren – aus ihr als Person und Gelehrter heraus-ragte. Zur einzigartigen Kom bi-na tion aus »Scharfsinn, abgrün-dig spekulativem Hang und Breite der gelehrten Kenntnis«, die Adorno an ihm entdeckt, kamen spontane Neugier und eine ebenso quicke wie ver-schmitzte Ironie hinzu. Seine Vorliebe fürs Heterodoxe breite-te Scholem mit trockener Berli-ner Chuzpe aus. Ihm selbst lag am »Unfeierlichen« seines Ha-bitus – im Gegensatz zu der Prä ten tion, die sich schon in Adornos artikuliertem Sprach-duktus auf das Natürlichste aus-drückte. Scholem ist von den beiden die »weltliche« Natur. Er behält auch in Konflikten den Überblick und wird im Februar 1968 Adorno, als dieser auf die un verdienten Vorwürfe, Benja-mins Nachlass manipuliert zu haben, hilflos reagiert, die richtigen pragmatischen Rat-schläge geben.

Der Briefwechsel ist ein wei-teres Dokument einer Stern-stunde deutsch-jüdischer Geis-tesgeschichte – nach dem Ho-locaust. Die sorgfältigen Kom-mentare des Herausgebers Asaf Angermann aus dem von Jan Philipp Reemtsma geleiteten Adorno-Archiv rufen das ver-zweigte Beziehungsnetz einer großen Ge ne ra tion deutsch-jü-discher Intellektueller in Er-inne rung – mitsamt den Kon-kurrenzen und Bosheiten jener kleinen akademisch-literarischen Welt, in der Ernst Bloch und Georg Lukács, Martin Buber und Siegfried Kracauer, Hel-muth Plessner, Hannah Arendt und Herbert Marcuse Tür an Tür wohnten. Erst vier Briefe sind gewechselt, als am 8. Oktober 1940 Ador-no an Scholem melden muss: »Walter hat sich also getötet, nachdem er schon gerettet war.«

Beide Freunde sind an den esoterischen Geist Benjamins fixiert. Adorno sah in ihm den Inspirator, in dessen Worten die theologisch-materialistischen Keime seiner eigenen negativen Dialektik angelegt waren. Scholem hingegen sah sich eher im Schatten Benjamins. In ihm wollte er, nachdem jeder wirkliche

Kontakt mit den mystischen Unterströmungen der drei großen monotheistischen Religionen verloren gegangen war, eine außeralltägliche, mystisch begab-te Person erkennen. Meine Frau und ich er innern die erregte Fas zi na tion, die gewisse Andeutungen von Lisa Fittko, der Begleiterin Benjamins beim letzten Marsch über die Pyrenäen, noch in den siebziger Jahren bei Scholem auslösten. Beharrlich glaubte er an die Bot-schaft des vermeintlich ausgearbeiteten Passagen-Werks, das nun in Benjamins Aktentasche in Portbou

doch noch aufzufinden sein würde. Es handelte sich um je-nes geschichtsphilosophische Werk über Paris im 19. Jahr-hundert, an dem Benjamin jahrelang gearbeitet hatte.

Benjamin ist es, der seine beiden überlebenden Freunde in einem ergriffenen Auftrag zusammenschmiedet. Schon bald ist zwischen ihnen, vor je-der greifbaren Chance, von »Gesammelten Schriften« die Rede. Beide wollen das Anden-ken und das Werk eines Autors retten, der im Nachkriegs-deutschland vollständig ver-gessen war. Dieses Bündnis wird durch den gemeinsamen Ab-stand zu anderen Geistern, die Benjamins Gestirn ebenfalls umkreisten, erleichtert. Dem einen ist beispielsweise Benja-mins Beziehung zu Brecht so suspekt wie dem anderen. Aus ihrer Sicht teilte Benjamin mit Brecht vorübergehend ein un-dialektisch-robustes Verständnis von Marxismus, den er »wie eine Pille« geschluckt habe. Adorno gesteht, »Benjamins Liebe zum Materialismus im-mer für unglücklich gehalten« zu haben; in der gleichen Sache hatte Scholem selbst bereits Benjamin »eine intensive Art Selbstbetrug« vorgeworfen.

Nach dem freundschaft-lichen Auftakt jener ersten Be-gegnung in New York verlief der Briefwechsel zunächst schleppend. 1942 lässt Adorno einen Brief, mit dem ihm Scho-lem erwartungsvoll ein engli-sches Exemplar seines großen Buches über die Hauptströ-

mungen der jüdischen Mystik geschickt hat, sogar drei Jahre lang unbeantwortet. Erst nach mehrfachen Mahnungen entschuldigt er sich mit einer kurzen Bemerkung zum allerdings zentralen Kapitel über den Mystiker Luria von Safed; er beteuert, das Buch »immer wieder« gelesen zu haben. In der Weiterfüh-rung der Korrespondenz ist Scholem der Hartnä-ckigere. Aber nur ein Drittel der Briefe stammt aus den ersten beiden der insgesamt drei Jahrzehnte währenden Korrespondenz, die 1969 mit Adornos

unerwartetem Tod endet. Erst als Adorno Suhrkamp für eine Ausgabe Benjaminscher Schriften gewonnen hat, nimmt der Briefwechsel Fahrt auf. Denn bei der Vorbereitung der beiden bräunlichen, 1955 endlich erscheinenden Bände sind die Adornos auf Scholems Hilfe angewiesen. Als dann Adorno und Scholem mit der hartnäckigen Suche nach Benjamins Briefen ihre editorische Zusammenarbeit – auf den verwehten Spuren weltweit verstreuter Emi gran ten schick sa le – auch formell aufnehmen, gewinnt der briefliche Aus-tausch Tempo und ein eigenes Gewicht.

Adorno und Scholem verstanden sich als Testa-mentsvollstrecker; tatsächlich waren sie Lobbyis-ten. Die wieder aufgelegten Bücher, Benjamins Berliner Kindheit und seine Einbahnstraße, waren kein Erfolg. Erst mit der Pu bli ka tion der Schriften fand der verschollene Autor Aufmerksamkeit. Aber dazu hatte der Verleger Suhrkamp mit einem alter-nativen Angebot von C. H. Beck erpresst werden müssen. Die Briefpartner beobachten ungeduldig Auflagenhöhe und Absatz und halten sich scharf-züngig über die Rezensionen auf dem Laufenden. Mit eigenen Interpretationen und Er inne run gen arbeiten sie an der Kon struk tion eines öffentlichen Bildes von Walter Benjamin, das alsbald die Fanta-sie einer breiteren Leserschaft beflügelt. Nie ist das Werk eines Autors im Zuge seiner Re zep tion so unmittelbar mit der umwitterten Lebensgeschichte und den politischen Umständen seines tragischen Todes verschmolzen. Am Ende spricht Adorno von Benjamins »Nimbus« – selbst erstaunt über den unerwarteten Erfolg.

Scholem ist der härteste Kritiker der Le-gende von der »deutsch-jüdischen Sym-biose«. Ein öffentlicher Auftritt in der Bundesrepublik ist für ihn bis 1956 un-denkbar. Bei seinem ersten Vortrag bittet

er seinen Frankfurter Gastgeber ausdrücklich da-rum, mit »Ger shom Scholem« und nicht mit dem vertrauteren deutschen Vornamen angekündigt zu werden. Aber nach diesem Auftritt gibt er seine Zu-rückhaltung auf. Auch die gelegentlich berührte Spannung zwischen Israelis und den in der Diaspo-ra lebenden Juden steht den immer häufigeren Be-suchen Scholems nicht mehr im Wege. In der brief-lichen Anrede weicht der förmliche »Herr« dem »lieben Adorno«, während in der freundschaftlich variierten Grußformel »Ihr alter Scholem« zur Regel wird. Der Ton wird intimer, am Ende herzlich. Das Rettungsmotiv »Benjamin« hat gewiss die Dynamik des Briefwechsels bestimmt. Aber dieser setzt sich aus eigenem Antrieb fort. Das von Anbeginn mit-laufende Thema verleiht auch unabhängig von Benjamin diesem Dokument der Zeitgeschichte philosophische Substanz.

Adorno und Scholem sind an dem möglichen Wahrheitsgehalt interessiert, den die monotheis-tischen Überlieferungen unter Bedingungen der Moderne noch entfalten können. Sie suchen nicht nach mythischen oder vorsokratischen Ursprüngen. Der Mythos, den der Logos der großen Weltreligio-nen überwunden hatte, darf nicht »das letzte Wort behalten«. Nietzsche ist abwesend, und der Schwefel-

Ein Stück Welt, live gesehen durch die App Periscope

Fortsetzung auf S. 44

Vom Funken der

Zwei große Denker und ihre ungewöhnliche Freundschaft: Der soeben erschienene Briefwechsel von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem ist eine Sternstunde deutsch-jüdischer Geistesgeschichte VON JÜRGEN HABERMAS

Ein guter Freund

Jürgen Habermas, 85, kannte beide gut: den Philosophen Theodor W. Adorno (1903–1969) und den Religionswis-senschaftler Gershom Scholem (1897–1982), der als Gerhard Scholem in Berlin geboren wurde und seit 1923 in Israel lebte. Habermas wurde 1956 Adornos Assistent am Frank-furter Institut für Sozialfor-schung und sein bedeutendster Schüler. Seit Anfang der sieb-ziger Jahren waren Habermas und seine Frau zudem mit Scholem befreundet.Jetzt erscheint die Korrespon-denz von Adorno, dem kritischen Theoretiker, und Scholem, dem Erforscher der jü dischen Mystik: »›Der liebe Gott wohnt im Detail‹. Brief-wechsel 1939–1969«; hrsg. v. Asaf Angermann; Suhrkamp, Berlin 2015; 548 S., 39,95 €. Die 200 Briefe sind ein einzigartiges Zeugnis in der Geschichte des Denkens. Immer wieder kreisen sie um den Freund Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den Nazis Selbstmord beging.

WahrheitAlles andere als ein Atheist: Gershom Scholem

Kritischer Gesellschaftstheoretiker: Theodor W. Adorno

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9. APRIL 2015 DIE ZEIT No 1544 FEUILLETON

Tragische Transe? Nö!Die amerikanische Serie »Transparent« macht das Thema Geschlechtsidentität jetzt auch in Deutschland populär. In Amerika ist die Diskussion

längst weiter. Ein Besuch im Transgender-Zentrum in Queens, New York VON CLAUDIA STEINBERG

Eine Regenbogenflagge zwischen Isabels Haar salon und dem Mini-supermarkt zeigt den Weg nach Pride House: ins Zentrum für Queers und Transsexuelle auf der 37th Avenue in Jackson Heights, Queens. Dort sitzt auf voluminö-

sen Sofas und Bürostühlen eine Gruppe von Trans-sexuellen, Lesben und Bisexuellen. Die Atmosphäre ist ausgelassen. Bis eine schwarz gekleidete Dame unbestimmten Alters, glamourös einen chinesischen Schal um die Schultern drapiert, Platz nimmt. Pau-line Park ist die Gründerin und Direktorin von Pride House. Sie weiß, gleich wird die Stimmung abstürzen, mit dramatischen Erzählungen von Fa-milienstreit, dem Aufflammen von Unbehagen an der zugewiesenen Geschlechtsidentität, die sich falsch anfühlt.

Alle wissen längst um Lauras Selbstmordabsich-ten. Gene berichtet vom Besuch seiner geliebten Oma aus China, die über die Verwandlung ihrer Enkelin in einen Jungen so verzweifelt war wie er über ihre Unfähigkeit, seine neue Identität zu akzep-tieren. Dylan ist Computerprogrammiererin und sehnt sich nach einer »Rückwärtskompatibilität« mit der Ehefrau und den Kindern aus ihrem früheren Leben als Mann. Ihre Kollegin June sollte sich bei der Suche nach einem neuen Job einfach als Frau vorstellen, findet Dylan – doch Junes Doktortitel und ihre ganze exzellente Be rufs erfah rung laufen unter ihrem Männernamen.

Seit sich die Schwulen nach den Debatten der siebziger Jahre in den Mainstream eingliedern konn-ten, sind Transgender-Individuen als exotischer Rest der Außenseitergemeinde übrig geblieben. Ihre Erlö-sungsgeschichten besitzen noch immer jenen Unter-haltungsfaktor, den ein schwules Paar mit Hund und Haus in der Vorstadt längst verloren hat. Inzwischen ist Transgender das neue heiße Thema, es ist sogar in der breiten Öffentlichkeit angekommen, als Bürger-rechtsproblematik, als Glamour-Faktor, als Fernseh-serie. An den Universitäten rüttelt es unter der Flagge von Queer Studies an den Geschlechtergrenzen. Im Oktober des vergangenen Jahres plädierte der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio für die Möglich-keit, das Geschlecht auf Ge burts urkun den ohne operative Umwandlung ändern zu können. Der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo hat verlangt, dass Krankenversicherungen für Geschlechtsum-wandlungen aufkommen. Das New Yorker Gefäng-nis Rikers Island, eine der größten Strafanstalten der Welt, richtet eine Sonderabteilung für transsexuelle Häftlinge ein, weil Gefängnisse für sie zu den gefähr-lichsten Orten zählen, wo sie oft Gewalttätigkeit und sexuelle Attacken erdulden müssen. Vor zehn Jahren

war ein Film wie Transamerika mit seiner vom Mann zur Frau transformierten Heldin Bree noch eine Aus-nahme. Von dieser Woche an kann man über Ama-zon auch auf Deutsch die Serie Transparent sehen (parent wie Eltern und trans wie transsexuell), sie ist schon ausgezeichnet mit dem Golden Globe und hat beste Aussichten auf einen Kultstatus.

Die Autorin und Regisseurin von Transparent, Jill Solo way, hat sich von der Gendermetamorphose ih-res eigenen Vaters zu einem witzigen und empa-thischen Aufruf für die Geschlechterfreiheit inspi-rieren lassen: Als Morts drei Töchter erwachsen sind, wagt er sein Coming-out und kommt plötzlich als Frau mit langer Haarmähne, auf Stöckelschuhen und im hübschen Kleid durch die Tür. Das Erstau-

nen ist groß, zumal Papa Mort dabei seine Tochter in inniger Umarmung mit ihrer Freundin über-rascht. Die Serie soll nicht nur »die Geburt einer neuen Mutter aus dem weiblichen Ich des Vaters« feiern, sondern auch »boy girl, girl boy, macho princess and officer sweet slutty bear« zur Identität ihrer Wahl ermutigen. Mit dieser antidualistischen Auffassung hat Solo way das Klischee der tragischen Transe mit Schwung hinweggewischt und einem Millionen-publikum die Möglichkeiten kühner Selbstbestim-mung vorgeführt.

Pauline Park hat ihr Pride House an einem der ethnisch vielfältigsten Orte der Welt angesiedelt: In der Schule schräg gegenüber werden 84 Sprachen ge-sprochen. Im Pride House erscheinen Klienten aus

Kolumbien, Ecuador, Mexiko, China, Indien, Pa-kistan, Bangladesch oder von den Philippinen. Die Einrichtung verzeichnet jedes Jahr rund 6000 Interaktionen mit Bewohnern aus ganz Queens, New Yorks zweitgrößtem Stadtteil. Pride House hat in zwei Jahrzehnten einen Katalog von Rechts-anwälten und Medizinern angesammelt, bei de-nen Transsexuelle auf respektvollen Umgang hof-fen können, man arbeitet mit Psychotherapeuten oder Psychiatern zusammen. Im mi gra tion und medizinische Versorgung sind die wichtigsten Themen. Pride House vermittelt HIV-Tests, ver-teilt pro Monat 50 000 Kondome oder hilft ob-dachlosen Klienten, eine Unterkunft zu finden. »Gerade trans sexuel le Teenager enden oft auf der Straße«, sagt Park.

Pauline Parks Mitgefühl für Menschen wie Laura oder Gene ist in ihrer eigenen komplizier-ten Biografie begründet. Im Jahr 1960 nahmen amerikanische Adop tiv eltern zwei unterernährte Zwillingsbrüder aus Seoul in Empfang. Die Jun-gen waren erst acht Monate alt und wuchsen nun auf als die einzigen nicht weißen Kinder der Um-gebung. Sie waren in einer christlich fundamen-talistischen, republikanischen Familie gelandet. Im ersten Semester ihres Philosophiestudiums an der University of Wisconsin offenbarte sich Park als schwul. Doch das war nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte kam zum Vorschein, als Park mit einem Stipendium nach London zog und dort immer häufiger als Frau auftrat. Sie nennt es die befreiendste Erfahrung ihres Lebens: »Zum ersten Mal präsentierte ich mich so, wie ich mich sah.« Schließlich war es die Lektüre von Michel Foucault, die Park von dem vermeintlichen Fluch einer inauthentischen koreanischen Identität be-freite und die binäre Geschlechtsbestimmung als gesellschaftliches Konstrukt entlarvte. »Ich be-gann, mich als ›körperlich männliche Frau‹ und als koreanisches Adoptivkind zu akzeptieren.«

Dass sie sich in der geschlechtlichen und kul-turellen Ambiguität so beheimatet fühlt, macht Pau line Park zu einer radikalen Theoretikerin und Aktivistin, die mit dem »Transgender-Establishment« Amerikas und seiner »klassischen Ver sion der Geschlechtsumwandlung« auf Kriegs-fuß steht.

Nach Hunderten von Schulungen und Work-shops an Universitäten, in Kliniken, Regierungs-stellen und Unternehmen ist Pau line Park bestens mit allen Vorurteilen vertraut, die über Trans-sexuel le kursieren. »Die meisten Teilnehmer er-warten, dass ich ihnen etwas über Hormone und Operationen erzähle. Aber das Thema berühre ich kaum. Ich versuche zu erklären, wie viele Bar-

rieren ein Transsexueller etwa bei einem Kran-kenhausbesuch überwinden muss«. Seit dem 11. September verlangt nahezu jedes öffentliche Gebäude das Vorzeigen eines Ausweises. Wenn der auf einen männlichen Namen lautet, die Per-son jedoch als Frau erscheint, wird sie möglicher-weise nicht über den Wachtposten hinauskom-men. Die nächste Hürde ist das Formular, auf dem man »männlich« oder »weiblich« ankreuzen muss. Wenn die Patientin Joanna im Warteraum sitzt, aber als John aufgerufen wird, ist sie ver-wunderten Blicken ausgesetzt.

Die lineare Transformation vom Mann zur Frau und umgekehrt wurde der Öffentlichkeit in zahl losen Talkshows von Oprah Winfrey bis Bar-bara Walters nahegebracht – mit Gästen, die sich im falschen Körper eingesperrt fühlten und die-sen Missstand mit Hormonen und Operationen behoben. Mit der Umkehrung der genitalen Vorzeichen bleibt aber nicht nur die Weltord-nung der polaren Geschlechtsidentität erhalten, sondern die Transsexualität weiterhin dem Krankheitsmodell verhaftet. 1974 wurde die Homosexualität aus dem dia gnos ti schen Hand-buch psychischer Störungen gestrichen, das führte mit einem Streich zur »Heilung« von Mil-lionen von Schwulen. Gleichzeitig definierte aber die American Psychiatric Association eine gender identity dis order, Geschlechtsidentitätsstö-rung, die zur gender dysphoria abgemildert wur-de, ohne jedoch ihren Status als Geisteskrankheit zu verlieren. Demzufolge wären alle Transgender- Individuen geisteskrank.

Park konzediert, dass die Dissonanz zwischen der zugewiesenen Geschlechtsidentität und der eigenen Empfindung, vor allem aber Transgender- Phobie zu Depressionen führen kann. Das wäre allerdings eher eine Krankheit der Gesellschaft als eine des Individuums. Sie will mehr als ein paar Brotkrumen vom Bankett des Gesundheitsminis-teriums um den Preis der Pathologisierung eines Zustands, den sie als so natürlich betrachtet wie Linkshändigkeit. Transsexualität ist für sie eine Varianz der dominanten Ge schlechts iden ti tät, keine Devianz. Wer eine operative Geschlechts-umwandlung wünsche, sollte die Gelegenheit dazu haben, meint Park. Doch im Unterschied zum klassischen Transgender-Diskurs wolle sich nur eine winzige Minorität diesen gravierenden Eingriffen unterziehen. Die Mehrheit siedele sich einfach an irgendeinem Punkt auf dem breiten Spektrum zwischen maskulin und feminin an. Ein subversives Konzept, das bekanntlich schon bei der Wahl einer öffentlichen Toilette Konflikte eröffnen kann, in New York wie überall.

geruch des neuheidnischen Nietzscheanismus erst recht. Das »Umschlagen der Mystik in Aufklärung« bezeichnet den Ort, an dem sich Adorno und Scho-lem treffen. Dieser hatte das Fortwirken der ab-gründigen Lehren eines Luria von Safed in den frankistischen Sekten des 18. Jahrhunderts unter-sucht und bis in die Französische Re vo lu tion hinein verfolgt. An dieser revolutionären Einmischung heterodoxer Lehren in die säkulare Gesellschaft sind die beiden aus verschiedenen Gründen interessiert.

Einem junghegelianischen Adorno steht der Zerfall der Hegelschen Philosophie vor Augen – der »Verwesungsprozess des absoluten Geistes« (Marx). Er sieht im Wahrheitskern der liegen gelassenen Metaphysik ein transzendierendes, ein befreiendes Moment, das die dumpfe Immanenz eines alle Le-bensbezirke durchdringenden Kapitalismus auf-sprengen könnte. Wie kann dieser Wahrheitskern in den fortgeschrittensten Gestalten der Moderne, vor allem in der Kunst, wirksam werden? Unter dieser Fragestellung empfiehlt Adorno Scholem seine Deutung von Schönbergs Oper Moses und Aron als einem »sakralen Fragment«. Als dieser skeptisch bleibt, wirbt er im Februar 1964 hartnäckig um Ver-ständnis: »Mir will es scheinen, und ich dächte, auch Sie müßten dazu neigen, daß die einzige Möglich-keit, sakrale Kunst, ebenso wie ihren philoso-phischen Wahrheitsgehalt, zu retten, heute in der rück sichts losen Einwanderung ins Profane liegt.«

Aber Scholem interessiert sich nicht für die kulturelle Gestalt eines phi-losophisch vermittelten Wahrheits-gehalts religiösen Ursprungs, der die säkulare Gesellschaft zu sich selber

befreien sollte. Vielmehr sucht er in der Di men-sion der jüdischen Überlieferung, in der sich die Offenbarung fortsetzt, nach Funken der religiösen Wahrheit selbst. So wohnen wir in diesem Brief-wechsel einer merkwürdigen Fortsetzung der ehr-würdigen Dis kus sion über den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs auf der einen, den Gott der Phi-losophen auf der anderen Seite bei. Scholem sucht die Stimme Gottes in der Tra di tion, Adorno nur noch dessen anonymes Pochen in den »Schrün-den« einer entstellten kapitalistischen Gesellschaft.

In einem frühen Brief von 1951 bedauert Scho-lem, dass sich von den beiden theologischen Moti-ven der »Offenbarung« und der »Erlösung« in Benjamins materialistischer Geschichtsphilosophie nur das eschatologische Motiv erhalten habe. Ador-

no meint beschwichtigend, dass es sich bei Benja-min »nicht um eine Preisgabe der In ten tion, son-dern um ein Verschweigen handelt«. Gleichzeitig weiß er, dass Scholems Denken beim Thema »Of-fenbarung« um das Verhältnis von Tra di tion und Erkenntnis kreist. Scholem geht es nicht um phi-losophische Hermeneutik im Allgemeinen. Er meint das Spezifische einer rettenden Kritik von »Wahrheiten«, deren Glaubwürdigkeit nicht erst in der Moderne auf dem Spiel stand. Für ihn liefern schon die mythischen Bilder der Kabbala, in denen die ganz unmythischen Erfahrungen von Mystikern ausgemalt worden sind, das Beispiel einer rettenden Aneignung von Tradiertem. Dabei verstellt jede Tra di tion den Blick auf die blitz artig aufscheinen-de Wahrheit; jede Tra di tion »verhüllt die Wahrheit« und ist doch der einzige Modus ihrer Bewahrung.

Das philosophische Gespräch mün-det 1967 in eine Dis kus sion über die soeben erschienene Negative Dialektik. Dabei drängt der um Verständnis aufrichtig bemühte

Scholem auf eine Klärung der Differenzen. Er gesteht zwar, »noch nie eine keuschere und in sich verhaltenere Verteidigung der Metaphysik« gele-sen zu haben. Aber er kritisiert entschieden den »Rückgang auf den Marxismus«, aus dem Ador-no seinen Ansatz »herausgeholt« habe. Dagegen verteidigt Adorno seinen »vom Dogma total ver-schiedenen Weg zum Materialismus«, weil der ihm die »Affinität zur Meta phy sik, fast hätte ich gesagt: zur Theologie« verbürge. Gegen diese Umarmungsstrategie wehrt sich Scholem, indem er Adorno daran er innert, dass er »außer für das Heterodoxe auch sehr viel für das Orthodoxe übrig« habe. Scholem, der über seine persönliche Einstellung öffentlich geschwiegen hat, öffnet an dieser Stelle das Visier: »Sie wissen ja wohl sehr gut, daß ich alles andere bin als ein Atheist.«

Angesichts des Schaumteppichs, der sich heute unter dem neoliberalen Re gime ausbreitet und alle oppositionellen Regungen aufsaugt, sich gar zu-nutze macht, beweist Adornos In ten tion erst recht ihre Aktualität. Letztlich zielt diese auf die Entbin-dung von abgespaltenen Potenzialen, die eine selbst-vergessene Gesellschaft vor ihren eigenen Katastro-phen schützen, sie gegen sich selbst immunisieren könnten. »Materialistisch« ist daran nur, dass Ador-no eine kritische Gesellschaftstheorie betreibt und sich an eine Transzendenz von innen hält. Das größere Problem ist der Rest von Idealismus: dass Adorno seine Theorie mit großem T schreibt und an einem metaphysischen Wahrheitsversprechen festhält, das mit dem theologischen auf gleicher Augenhöhe konkurrieren will.

Vom Funken der Wahrheit Fortsetzung von S. 43

In der Serie »Transparent« wählen »MaPa« (Jeffrey Tambor) und seine Töchter die Damentoilette

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