Die Zeit - Warum ein Mindestlohn gut ist

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WIRTSCHAFT 1 ARBEITSMARKT Warum ein Mindestlohn gut ist Staatliche Lohnuntergrenzen kosten nicht zwangsläufig Jobs, zeigt eine Studie der US-Universität Berkeley. Sie haben noch dazu positive sozialpolitische Effekte. VON Olaf Storbeck | 17. Dezember 2010 - 13:02 Uhr © dpa Ein Mitarbeiter einer Gebäudereinigungsfirma putzt eine Fensterscheibe Deutsche Wirtschaftswissenschaftler verkaufen es gern als ein ökonomisches Naturgesetz: Wenn der Staat Mindestlöhne vorschreibt, vernichtet er damit Arbeitsplätze. Unweigerlich und in jedem Fall. Eindringlich warnten die Chefs von sieben Wirtschaftsforschungsinstituten 2008 vor einem "staatlichen Lohndiktat". Denn dies würde zu "erheblichen Beschäftigungsverlusten" führen. Bis heute haben sie ihre Meinung nicht geändert. Dabei ist die Wahrheit deutlich komplizierter. Der Zusammenhang ist längst nicht so klar, wie die Professoren suggerieren. So zeigt eine jetzt veröffentlichte Mammut- Untersuchung des Arbeitsmarkt-Forschungszentrums der US-Eliteuniversität Berkeley: Höhere Mindestlöhne haben in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 16 Jahren keine Jobs vernichtet. "Wir finden keine negativen Beschäftigungseffekte", lautet das Fazit der Arbeit mit dem Titel Minimum Wage Effects Across State Borders . Methodisch haben die Autoren der Studie Neuland beschritten: Niemand zuvor hat die Wirkungen von Mindestlöhnen auf dem US-Arbeitsmarkt so umfassend, so detailliert und so gründlich untersucht wie das dreiköpfige Forscherteam um den Berkeley-Professor Michael Reich. Arbeitsmarktforscher halten die Arbeit, die in der aktuellen Ausgabe des renommierten Review of Economics and Statistics erschienen ist, daher für einen

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A R B E I T S M A R K T

Warum ein Mindestlohn gut istStaatliche Lohnuntergrenzen kosten nicht zwangsläufig Jobs,zeigt eine Studie der US-Universität Berkeley. Sie haben nochdazu positive sozialpolitische Effekte.VON Olaf Storbeck | 17. Dezember 2010 - 13:02 Uhr

© dpa

Ein Mitarbeiter einer Gebäudereinigungsfirma putzt eine Fensterscheibe

Deutsche Wirtschaftswissenschaftler verkaufen es gern als ein ökonomisches

Naturgesetz: Wenn der Staat Mindestlöhne vorschreibt, vernichtet er damit Arbeitsplätze.

Unweigerlich und in jedem Fall. Eindringlich warnten die Chefs von sieben

Wirtschaftsforschungsinstituten 2008 vor einem "staatlichen Lohndiktat". Denn dies würde

zu "erheblichen Beschäftigungsverlusten" führen. Bis heute haben sie ihre Meinung nicht

geändert.

Dabei ist die Wahrheit deutlich komplizierter. Der Zusammenhang ist längst nicht so

klar, wie die Professoren suggerieren. So zeigt eine jetzt veröffentlichte Mammut-

Untersuchung des Arbeitsmarkt-Forschungszentrums der US-Eliteuniversität Berkeley:

Höhere Mindestlöhne haben in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 16 Jahren keine

Jobs vernichtet. "Wir finden keine negativen Beschäftigungseffekte", lautet das Fazit der

Arbeit mit dem Titel Minimum Wage Effects Across State Borders .

Methodisch haben die Autoren der Studie Neuland beschritten: Niemand zuvor hat die

Wirkungen von Mindestlöhnen auf dem US-Arbeitsmarkt so umfassend, so detailliert und

so gründlich untersucht wie das dreiköpfige Forscherteam um den Berkeley-Professor

Michael Reich. Arbeitsmarktforscher halten die Arbeit, die in der aktuellen Ausgabe

des renommierten Review of Economics and Statistics erschienen ist, daher für einen

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wissenschaftlichen Meilenstein: "Es handelt sich um eine der besten und überzeugendsten

Mindestlohn-Studien der vergangenen Jahre", lobt Harvard-Professor Lawrence Katz.

Die Wissenschaftler können dadurch alte Widersprüche in der Mindestlohn-Forschung

aufklären und ein deutlich verlässlicheres Bild über die Effekte von gesetzlichen

Lohnuntergrenzen zeichnen. "Der verwendete Datensatz ist weit umfangreicher, der

methodische Ansatz breiter als in früheren Untersuchungen", sagt Joachim Möller, Direktor

des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).

Inhaltlich bestätigen die neuen Ergebnisse Studien, die seit einigen Jahren immer wieder

die negativen Folgen von moderaten Mindestlöhnen für die Beschäftigung infrage stellen

– hauptsächlich am Beispiel der USA und Großbritannien, aber vereinzelt auch für

Deutschland. So stellte IAB-Chef Möller im Jahr 2007 fest: Die in der Bauindustrie

geltenden Mindestlöhne haben zumindest in Westdeutschland keine Jobs vernichtet.

Die ersten Volkswirte, die nachhaltige Zweifel daran anmeldeten, dass Mindestlöhne

zwangsläufig der Beschäftigung schaden, waren die US-Arbeitsmarktforscher David

Card (Berkeley) und Alan Krueger (Princeton). 1994 veröffentlichten sie im "American

Economic Review" eine inzwischen berühmt gewordene Fallstudie. Darin konzentrierten

sich Card und Krueger auf Fast-Food-Restaurants in den benachbarten US-Bundesstaaten

New Jersey und Pennsylvania.

New Jersey hatte 1992 den Mindestlohn um fast 20 Prozent auf 5,05 Dollar erhöht, in

Pennsylvania verharrte er bei 4,25 Dollar. Die beiden Forscher stellten fest: Obwohl

einfache Arbeit in New Jersey erheblich teurer wurde, fielen dort keine Jobs weg. Im

Gegenteil: Fast-Food-Restaurants in New Jersey stellten mehr Personal ein als ihre

Konkurrenten in Pennsylvania. Berkeley-Professor Reich stellte in einer ähnlichen

Fallstudie für San Francisco und Umgebung 2007 zwar keine positiven, aber auch keine

negativen Jobeffekte höherer Mindestlöhne fest.

Allerdings haben solche regionalen Fallstudien Schwachstellen: Ihre Ergebnisse gelten nur

für einzelne Regionen und vergleichsweise kurze Beobachtungszeiträume. Zudem stehen

sie im Widerspruch zu Arbeiten, die Effekte von Mindestlöhnen aus der Vogelperspektive

für die gesamten Vereinigten Staaten analysieren. Solche Studien stützen die Argumente

von Mindestlohn-Kritikern und kommen zu dem Schluss: je höher die gesetzlichen

Lohnuntergrenzen in einer Region, desto schlechter die Beschäftigungsentwicklung.

Das Forscherteam um Berkeley-Professor Michael Reich kann die Widersprüche

zwischen beiden Ansätzen erstmals erklären und auflösen. Die Wissenschaftler haben die

Grundidee von Card und Krueger weiterentwickelt und verallgemeinert: Sie nutzen die

Unterschiede in der Höhe von Mindestlöhnen zwischen verschiedenen US-Bundesstaaten

aus, beschränken sich aber nicht auf einzelne Fallbeispiele, sondern betrachten regionale

Arbeitsmärkte in den gesamten USA.

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Die Ökonomen gehen dabei extrem kleinteilig vor: Sie betrachten die

Beschäftigungsentwicklung auf der Ebene einzelner Landkreise ("Counties"). Sie

vergleichen nur solche Counties miteinander, die direkte Nachbarn sind, aber in

unterschiedlichen Bundesstaaten liegen und unterschiedlich hohe Mindestlöhne haben. Die

lokalen Differenzen bei den gesetzlichen Lohnuntergrenzen sind enorm. In den Counties,

die die Grundlage für die Arbeit bilden, klaffen die Mindestlöhne um sieben bis 20 Prozent

auseinander.

Dieses Vorgehen hat einen entscheidenden Vorteil: Weil die Regionen in unmittelbarer

Nachbarschaft liegen, sind sie sich mit Blick auf ihre anderen ökonomischen

Rahmenbedingungen sehr ähnlich. Anders als in früheren Fallstudien für einzelne Regionen

betrachten die Forscher um Reich die Beschäftigungsentwicklung über einen weit längeren

Zeitraum. Basis der Arbeit sind die Jahre zwischen 1990 und 2006. Diese langfristige

Perspektive erlaubt es, mögliche Spätfolgen von Mindestlöhnen zu erkennen.

In einem ersten Schritt stellen die Forscher fest: Höhere Mindestlöhne haben tatsächlich

die sozialpolitisch gewünschte Wirkung. Wenn ein Bundesstaat den Mindestlohn erhöhte,

stiegen danach die Einkommen der betroffenen Beschäftigten auch deutlich an – die

Arbeitgeber konnten die Gesetze also nicht umgehen. Auf die höheren Lohnkosten

reagierten sie dennoch nicht mit Entlassungen. Im ökonomischen Fachjargon liest sich das

Ergebnis so: "Unsere Schätzergebnisse für die lokalen Beschäftigungseffekte sind nicht

unterscheidbar von null."

Diese Ergebnisse stützen die Theorie des britischen Arbeitsmarkt-Forschers Alan Manning.

Der Professor der London School of Economics propagiert seit mehr als zehn Jahren, dass

reale Arbeitsmärkte nicht so perfekt funktionieren, wie es Ökonomen in ihren Modellen

unterstellen. Im wirklichen Leben würden die Arbeitgeber gerade im Niedriglohnsektor

über Marktmacht verfügen – diese erlaube es ihnen, die Löhne ihrer Beschäftigten zu

drücken. Wenn das so ist, können staatliche Lohnuntergrenzen die Einkommen von

Geringqualifizierten erhöhen, ohne dass Arbeitsplätze verloren gehen.

Erstmals können die Forscher in der neuen Studie auch schlüssig erklären, warum die

bisherigen landesweiten Studien, die die Folgen von Mindestlöhnen auf der Ebene von

Bundesstaaten und nicht auf der von Counties untersuchen, zu anderen Ergebnissen

kommen. Die Vorgehensweise bei diesen Arbeiten sei viel zu grob – weil die regionalen

Arbeitsmärkte in den US-Bundesstaaten zu unterschiedlich seien. "Die bisherigen Studien

mit landesweiten Daten haben bei der Auswahl der Kontrollregionen den räumlichen

Kontext vernachlässigt", erläutert IAB-Chef Möller. "Dadurch hat man letztlich Äpfel mit

Birnen verglichen."

Andere Faktoren würden die Beschäftigungsentwicklung in den Bundesstaaten so

stark beeinflussen, dass die Effekte von Mindestlöhnen überstrahlt würden. Möller

bezeichnet die Berkeley-Studie als "wegweisend": "Die Arbeit ist geeignet, die allgemeine

Einschätzung der Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen in den USA und in anderen

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Ländern zu beeinflussen." Die Studie unterstreiche, dass die Politik bei Mindestlöhnen

Handlungsspielraum habe, ohne Jobs zu gefährden. Möller: "Wenn bei der Höhe des

Mindestlohns nicht überzogen wird, sehe ich nur Vorteile."

(Erschienen im Handelsblatt)

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