Mindestlohn in Theorie und Praxis Lübeck – 19. Februar 2015.
Die Zeit - Warum ein Mindestlohn gut ist
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WIRTSCHAFT
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A R B E I T S M A R K T
Warum ein Mindestlohn gut istStaatliche Lohnuntergrenzen kosten nicht zwangsläufig Jobs,zeigt eine Studie der US-Universität Berkeley. Sie haben nochdazu positive sozialpolitische Effekte.VON Olaf Storbeck | 17. Dezember 2010 - 13:02 Uhr
© dpa
Ein Mitarbeiter einer Gebäudereinigungsfirma putzt eine Fensterscheibe
Deutsche Wirtschaftswissenschaftler verkaufen es gern als ein ökonomisches
Naturgesetz: Wenn der Staat Mindestlöhne vorschreibt, vernichtet er damit Arbeitsplätze.
Unweigerlich und in jedem Fall. Eindringlich warnten die Chefs von sieben
Wirtschaftsforschungsinstituten 2008 vor einem "staatlichen Lohndiktat". Denn dies würde
zu "erheblichen Beschäftigungsverlusten" führen. Bis heute haben sie ihre Meinung nicht
geändert.
Dabei ist die Wahrheit deutlich komplizierter. Der Zusammenhang ist längst nicht so
klar, wie die Professoren suggerieren. So zeigt eine jetzt veröffentlichte Mammut-
Untersuchung des Arbeitsmarkt-Forschungszentrums der US-Eliteuniversität Berkeley:
Höhere Mindestlöhne haben in den Vereinigten Staaten in den vergangenen 16 Jahren keine
Jobs vernichtet. "Wir finden keine negativen Beschäftigungseffekte", lautet das Fazit der
Arbeit mit dem Titel Minimum Wage Effects Across State Borders .
Methodisch haben die Autoren der Studie Neuland beschritten: Niemand zuvor hat die
Wirkungen von Mindestlöhnen auf dem US-Arbeitsmarkt so umfassend, so detailliert und
so gründlich untersucht wie das dreiköpfige Forscherteam um den Berkeley-Professor
Michael Reich. Arbeitsmarktforscher halten die Arbeit, die in der aktuellen Ausgabe
des renommierten Review of Economics and Statistics erschienen ist, daher für einen
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wissenschaftlichen Meilenstein: "Es handelt sich um eine der besten und überzeugendsten
Mindestlohn-Studien der vergangenen Jahre", lobt Harvard-Professor Lawrence Katz.
Die Wissenschaftler können dadurch alte Widersprüche in der Mindestlohn-Forschung
aufklären und ein deutlich verlässlicheres Bild über die Effekte von gesetzlichen
Lohnuntergrenzen zeichnen. "Der verwendete Datensatz ist weit umfangreicher, der
methodische Ansatz breiter als in früheren Untersuchungen", sagt Joachim Möller, Direktor
des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB).
Inhaltlich bestätigen die neuen Ergebnisse Studien, die seit einigen Jahren immer wieder
die negativen Folgen von moderaten Mindestlöhnen für die Beschäftigung infrage stellen
– hauptsächlich am Beispiel der USA und Großbritannien, aber vereinzelt auch für
Deutschland. So stellte IAB-Chef Möller im Jahr 2007 fest: Die in der Bauindustrie
geltenden Mindestlöhne haben zumindest in Westdeutschland keine Jobs vernichtet.
Die ersten Volkswirte, die nachhaltige Zweifel daran anmeldeten, dass Mindestlöhne
zwangsläufig der Beschäftigung schaden, waren die US-Arbeitsmarktforscher David
Card (Berkeley) und Alan Krueger (Princeton). 1994 veröffentlichten sie im "American
Economic Review" eine inzwischen berühmt gewordene Fallstudie. Darin konzentrierten
sich Card und Krueger auf Fast-Food-Restaurants in den benachbarten US-Bundesstaaten
New Jersey und Pennsylvania.
New Jersey hatte 1992 den Mindestlohn um fast 20 Prozent auf 5,05 Dollar erhöht, in
Pennsylvania verharrte er bei 4,25 Dollar. Die beiden Forscher stellten fest: Obwohl
einfache Arbeit in New Jersey erheblich teurer wurde, fielen dort keine Jobs weg. Im
Gegenteil: Fast-Food-Restaurants in New Jersey stellten mehr Personal ein als ihre
Konkurrenten in Pennsylvania. Berkeley-Professor Reich stellte in einer ähnlichen
Fallstudie für San Francisco und Umgebung 2007 zwar keine positiven, aber auch keine
negativen Jobeffekte höherer Mindestlöhne fest.
Allerdings haben solche regionalen Fallstudien Schwachstellen: Ihre Ergebnisse gelten nur
für einzelne Regionen und vergleichsweise kurze Beobachtungszeiträume. Zudem stehen
sie im Widerspruch zu Arbeiten, die Effekte von Mindestlöhnen aus der Vogelperspektive
für die gesamten Vereinigten Staaten analysieren. Solche Studien stützen die Argumente
von Mindestlohn-Kritikern und kommen zu dem Schluss: je höher die gesetzlichen
Lohnuntergrenzen in einer Region, desto schlechter die Beschäftigungsentwicklung.
Das Forscherteam um Berkeley-Professor Michael Reich kann die Widersprüche
zwischen beiden Ansätzen erstmals erklären und auflösen. Die Wissenschaftler haben die
Grundidee von Card und Krueger weiterentwickelt und verallgemeinert: Sie nutzen die
Unterschiede in der Höhe von Mindestlöhnen zwischen verschiedenen US-Bundesstaaten
aus, beschränken sich aber nicht auf einzelne Fallbeispiele, sondern betrachten regionale
Arbeitsmärkte in den gesamten USA.
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Die Ökonomen gehen dabei extrem kleinteilig vor: Sie betrachten die
Beschäftigungsentwicklung auf der Ebene einzelner Landkreise ("Counties"). Sie
vergleichen nur solche Counties miteinander, die direkte Nachbarn sind, aber in
unterschiedlichen Bundesstaaten liegen und unterschiedlich hohe Mindestlöhne haben. Die
lokalen Differenzen bei den gesetzlichen Lohnuntergrenzen sind enorm. In den Counties,
die die Grundlage für die Arbeit bilden, klaffen die Mindestlöhne um sieben bis 20 Prozent
auseinander.
Dieses Vorgehen hat einen entscheidenden Vorteil: Weil die Regionen in unmittelbarer
Nachbarschaft liegen, sind sie sich mit Blick auf ihre anderen ökonomischen
Rahmenbedingungen sehr ähnlich. Anders als in früheren Fallstudien für einzelne Regionen
betrachten die Forscher um Reich die Beschäftigungsentwicklung über einen weit längeren
Zeitraum. Basis der Arbeit sind die Jahre zwischen 1990 und 2006. Diese langfristige
Perspektive erlaubt es, mögliche Spätfolgen von Mindestlöhnen zu erkennen.
In einem ersten Schritt stellen die Forscher fest: Höhere Mindestlöhne haben tatsächlich
die sozialpolitisch gewünschte Wirkung. Wenn ein Bundesstaat den Mindestlohn erhöhte,
stiegen danach die Einkommen der betroffenen Beschäftigten auch deutlich an – die
Arbeitgeber konnten die Gesetze also nicht umgehen. Auf die höheren Lohnkosten
reagierten sie dennoch nicht mit Entlassungen. Im ökonomischen Fachjargon liest sich das
Ergebnis so: "Unsere Schätzergebnisse für die lokalen Beschäftigungseffekte sind nicht
unterscheidbar von null."
Diese Ergebnisse stützen die Theorie des britischen Arbeitsmarkt-Forschers Alan Manning.
Der Professor der London School of Economics propagiert seit mehr als zehn Jahren, dass
reale Arbeitsmärkte nicht so perfekt funktionieren, wie es Ökonomen in ihren Modellen
unterstellen. Im wirklichen Leben würden die Arbeitgeber gerade im Niedriglohnsektor
über Marktmacht verfügen – diese erlaube es ihnen, die Löhne ihrer Beschäftigten zu
drücken. Wenn das so ist, können staatliche Lohnuntergrenzen die Einkommen von
Geringqualifizierten erhöhen, ohne dass Arbeitsplätze verloren gehen.
Erstmals können die Forscher in der neuen Studie auch schlüssig erklären, warum die
bisherigen landesweiten Studien, die die Folgen von Mindestlöhnen auf der Ebene von
Bundesstaaten und nicht auf der von Counties untersuchen, zu anderen Ergebnissen
kommen. Die Vorgehensweise bei diesen Arbeiten sei viel zu grob – weil die regionalen
Arbeitsmärkte in den US-Bundesstaaten zu unterschiedlich seien. "Die bisherigen Studien
mit landesweiten Daten haben bei der Auswahl der Kontrollregionen den räumlichen
Kontext vernachlässigt", erläutert IAB-Chef Möller. "Dadurch hat man letztlich Äpfel mit
Birnen verglichen."
Andere Faktoren würden die Beschäftigungsentwicklung in den Bundesstaaten so
stark beeinflussen, dass die Effekte von Mindestlöhnen überstrahlt würden. Möller
bezeichnet die Berkeley-Studie als "wegweisend": "Die Arbeit ist geeignet, die allgemeine
Einschätzung der Beschäftigungswirkungen von Mindestlöhnen in den USA und in anderen
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Ländern zu beeinflussen." Die Studie unterstreiche, dass die Politik bei Mindestlöhnen
Handlungsspielraum habe, ohne Jobs zu gefährden. Möller: "Wenn bei der Höhe des
Mindestlohns nicht überzogen wird, sehe ich nur Vorteile."
(Erschienen im Handelsblatt)
COPYRIGHT: ZEIT ONLINEADRESSE: http://www.zeit.de/wirtschaft/2010-12/mindestlhn-usa-studie