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1 Die Ziele Stalins und seine politischen und militärischen Entscheidungen bis 1941 Was war das langfristige Ziel der sowjetischen Aufrüstung? Es ist sicherlich den meisten Lesern bekannt, dass die Oktober-Revolution im Jahre 1917 Russland in einen kommunis- tischen Staat - mit Namen „Union der sozialistischen sowjetischen Republiken“ bzw. UdSSR - verwandelte und die ersten kommunistischen Führer der UdSSR (Lenin und Sta- lin) den Kommunismus in Europa und auch in der ganzen Welt verbreiten wollten 1 . Die UdSSR bzw. die Sowjetunion war bis 1945 das einzige kommunistische Land und fühlte sich insbesondere in der Anfangsphase ihrer Existenz von den kapitalistischen Ländern bedroht und eingekreist. Für Stalin war es schon deshalb notwendig, die eigene Armee aufzurüsten. Nach dem Stalin in kürzester Zeit und auf Kosten der Landbevölkerung das ehemalige Agrarland Russland in einen Industriestaat verwandelt und damit die Rote Armee zur stärksten Armee der Welt gemacht hatte und alle kommunistischen Umsturzversuche in Europa scheiterten, ging Stalin davon aus, dass ein Sieg des Kommunismus in Europa nur durch Kriege erreicht werden kann. Ohne die Rote Armee bzw. ohne einen erfolgreichen Angriff auf Deutschland war es - nach Ansicht von Stalin - unwahrscheinlich, dass in Deutschland und in Europa der Kommunismus siegen werde 2 . Stalin begründete seine An- sicht am 7. November 1939 im kleinen Kreis seiner Vertrauten wie folgt: „Da die Arbeiter durch die Bourgeoisie (= „Kapitalisten“) in den Genuss einiger demokratischer Reformen kamen und sich an diese klammerten, waren sie nicht bereit zum Bürgerkrieg (bzw. zur Revolution) gegen die Bourgeoisie. Man muss diese Besonderheiten des europäischen Ar- beiters berücksichtigen und die Frage (der kommunistischen Welt-Revolution) anders stel- len, andere Lösungen für ihn aufstellen“. Am 19. August 3 1939 erklärte Stalin bei der Ge- heimsitzung des Zentralkomitees: “(…) Die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass in Friedenszeiten eine kommunistische Bewegung in Europa keine Chance hat, die stark genug wäre, die Macht zu ergreifen. Die Diktatur einer solchen Partei wird nur als Resultat eines großen Krieges möglich. (…)“ Am 19. August 1939 hatte Stalin auch dem Zentral- komitee seine Entscheidung mitgeteilt, dass er eine kriegsfördernde Politik betreiben bzw. den Krieg zwischen Deutschland und den Allierten herbeiführen will. 4 1 Die UdSSR gewann sehr schnell einen sehr großen Einfluss auf die kommunistischen Parteien in Europa: Die überwiegende Mehrheit der europäischen kommunistischen Parteien hielt sich in der Regel an die Anweisungen von Stalin. Die Politik der europäischen Kommunisten wurde also primär von Stalin kontrol- liert. 2 Der Marschall der Sowjetunion, 1936 bis 1937 stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR und Begründer der sowjetischen Militärdoktrin M. Tuchatschewski schrieb in seinem Buch „Die Rote Armee und die Miliz“: „Wenn irgendwo eine sozialistische Revolution zu Herrschaft gelangt ist, dann hat sie das selbstverständliche Recht zu expandieren, dann wird sie danach streben, durch unmittelbare Einwirkung auf die Nachbarländer die ganze Welt zu umspannen. Ihr wichtigstes Werkzeug wird natürlich ihre militärische Macht sein. Wir sehen also, dass die sozialistische Revolution von ihrer Armee die Fähig- keit zu aktiven Angriffsoperationen in den eigenen Grenzgebieten, und - wenn der Gang der Ereignisse dazu zwingt - auch außerhalb derselben erfordert.“ 3 Die französische Nachrichtenagentur Havas erhielt im September 1939 diese Stalin-Rede vor dem Zent- ralkomitee (Ein großer Auszug aus dieser Rede findet sich in der Fußnote 69) und veröffentlichte sie bzw. informierte die Öffentlichkeit. Stalin hatte daraufhin am 30.11.1939 der Weltpresse bzw. im Prawda- Interview erklärt, dass ein solcher Beschluss bzw. eine solche Entscheidung niemals gefasst wurde und beschuldigte die Nachrichtenagentur Havas, Lügenschichten zu verbreiten. Nach den Aussagen des Vorsit- zenden der Kommunistischen Internationale Georgi Dimitroff hatte jedoch Stalin ihm am 7. September 1939 mitgeteilt, dass er diese Politik in die Tat umsetzen wolle. Das Dementi von Stalin ist nicht verwun- derlich, da am 23. August 1939 der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffs-Pakt geschlossen wurde und Stalin zu dieser Zeit die deutsch-sowjetischen Beziehungen sicherlich nicht belasten wollte. Das Originaldokument dieser Rede Stalins wurde von Frau T.S. Buschujewa im Sonderarchiv der UdSSR - jetzt „Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Sammlungen“ genannt, Registr. Nr. 7/1/1223 - gefunden und von ihr 1994 im Moskauer Magazin „Nowij Mir“ veröffentlicht. Auch der Stalin Biograph Dimitri Wolkogonow bestätigte sowohl die am 19. August 1939 erfolgte Sitzung des Zentralkomi- tees als auch die Rede Stalins. Siehe hierzu die S. 220 im Buch „Freispruch für die Wehrmacht“ von A. Naumann. 4 Das vollständige Zitat findet sich auf der Seiten 35 ff. im Buch „Der Wortbruch“ von Werner Maser.

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Die Ziele Stalins und seine politischen und militärischen Entscheidungen bis 1941

Was war das langfristige Ziel der sowjetischen Aufrüstung? Es ist sicherlich den meisten Lesern bekannt, dass die Oktober-Revolution im Jahre 1917 Russland in einen kommunis-tischen Staat - mit Namen „Union der sozialistischen sowjetischen Republiken“ bzw. UdSSR - verwandelte und die ersten kommunistischen Führer der UdSSR (Lenin und Sta-lin) den Kommunismus in Europa und auch in der ganzen Welt verbreiten wollten1. Die UdSSR bzw. die Sowjetunion war bis 1945 das einzige kommunistische Land und fühlte sich insbesondere in der Anfangsphase ihrer Existenz von den kapitalistischen Ländern bedroht und eingekreist. Für Stalin war es schon deshalb notwendig, die eigene Armee aufzurüsten. Nach dem Stalin in kürzester Zeit und auf Kosten der Landbevölkerung das ehemalige Agrarland Russland in einen Industriestaat verwandelt und damit die Rote Armee zur stärksten Armee der Welt gemacht hatte und alle kommunistischen Umsturzversuche in Europa scheiterten, ging Stalin davon aus, dass ein Sieg des Kommunismus in Europa nur durch Kriege erreicht werden kann. Ohne die Rote Armee bzw. ohne einen erfolgreichen Angriff auf Deutschland war es - nach Ansicht von Stalin - unwahrscheinlich, dass in Deutschland und in Europa der Kommunismus siegen werde2. Stalin begründete seine An-sicht am 7. November 1939 im kleinen Kreis seiner Vertrauten wie folgt: „Da die Arbeiter durch die Bourgeoisie (= „Kapitalisten“) in den Genuss einiger demokratischer Reformen kamen und sich an diese klammerten, waren sie nicht bereit zum Bürgerkrieg (bzw. zur Revolution) gegen die Bourgeoisie. Man muss diese Besonderheiten des europäischen Ar-beiters berücksichtigen und die Frage (der kommunistischen Welt-Revolution) anders stel-len, andere Lösungen für ihn aufstellen“. Am 19. August3 1939 erklärte Stalin bei der Ge-heimsitzung des Zentralkomitees: “(…) Die Erfahrung der letzten zwanzig Jahre zeigt, dass in Friedenszeiten eine kommunistische Bewegung in Europa keine Chance hat, die stark genug wäre, die Macht zu ergreifen. Die Diktatur einer solchen Partei wird nur als Resultat eines großen Krieges möglich. (…)“ Am 19. August 1939 hatte Stalin auch dem Zentral-komitee seine Entscheidung mitgeteilt, dass er eine kriegsfördernde Politik betreiben bzw. den Krieg zwischen Deutschland und den Allierten herbeiführen will.4

1 Die UdSSR gewann sehr schnell einen sehr großen Einfluss auf die kommunistischen Parteien in Europa: Die überwiegende Mehrheit der europäischen kommunistischen Parteien hielt sich in der Regel an die Anweisungen von Stalin. Die Politik der europäischen Kommunisten wurde also primär von Stalin kontrol-liert. 2 Der Marschall der Sowjetunion, 1936 bis 1937 stellvertretender Volkskommissar für Verteidigung der UdSSR und Begründer der sowjetischen Militärdoktrin M. Tuchatschewski schrieb in seinem Buch „Die Rote Armee und die Miliz“: „Wenn irgendwo eine sozialistische Revolution zu Herrschaft gelangt ist, dann hat sie das selbstverständliche Recht zu expandieren, dann wird sie danach streben, durch unmittelbare Einwirkung auf die Nachbarländer die ganze Welt zu umspannen. Ihr wichtigstes Werkzeug wird natürlich ihre militärische Macht sein. Wir sehen also, dass die sozialistische Revolution von ihrer Armee die Fähig-keit zu aktiven Angriffsoperationen in den eigenen Grenzgebieten, und - wenn der Gang der Ereignisse dazu zwingt - auch außerhalb derselben erfordert.“ 3 Die französische Nachrichtenagentur Havas erhielt im September 1939 diese Stalin-Rede vor dem Zent-ralkomitee (Ein großer Auszug aus dieser Rede findet sich in der Fußnote 69) und veröffentlichte sie bzw. informierte die Öffentlichkeit. Stalin hatte daraufhin am 30.11.1939 der Weltpresse bzw. im Prawda-Interview erklärt, dass ein solcher Beschluss bzw. eine solche Entscheidung niemals gefasst wurde und beschuldigte die Nachrichtenagentur Havas, Lügenschichten zu verbreiten. Nach den Aussagen des Vorsit-zenden der Kommunistischen Internationale Georgi Dimitroff hatte jedoch Stalin ihm am 7. September 1939 mitgeteilt, dass er diese Politik in die Tat umsetzen wolle. Das Dementi von Stalin ist nicht verwun-derlich, da am 23. August 1939 der deutsch-sowjetische Nicht-Angriffs-Pakt geschlossen wurde und Stalin zu dieser Zeit die deutsch-sowjetischen Beziehungen sicherlich nicht belasten wollte. Das Originaldokument dieser Rede Stalins wurde von Frau T.S. Buschujewa im Sonderarchiv der UdSSR - jetzt „Aufbewahrungszentrum der historisch-dokumentarischen Sammlungen“ genannt, Registr. Nr. 7/1/1223 - gefunden und von ihr 1994 im Moskauer Magazin „Nowij Mir“ veröffentlicht. Auch der Stalin Biograph Dimitri Wolkogonow bestätigte sowohl die am 19. August 1939 erfolgte Sitzung des Zentralkomi-tees als auch die Rede Stalins. Siehe hierzu die S. 220 im Buch „Freispruch für die Wehrmacht“ von A. Naumann. 4 Das vollständige Zitat findet sich auf der Seiten 35 ff. im Buch „Der Wortbruch“ von Werner Maser.

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Für die damaligen Führer der UdSSR war ein Krieg „gerecht“, sofern dieser Krieg mit der Absicht geführt wird, die Arbeiter aus den „Fesseln der kapitalistischen Gesellschaft zu befreien“5. Ein zur Befreiung des internationalen Proletariats durchgeführter sowjetischer Angriffskrieg ist auch ein „Verteidigungskrieg“, da dieser Angriffskrieg die Interessen der internationalen Arbeiterklasse gegen die Interessen des habgierigen „Kapitals“ verteidigt. Für die damaligen sowjetischen Kommunisten war somit jeder zukünftige sowjetische Krieg, ob er nun offensiv oder defensiv geführt werde, ein „Verteidigungskrieg“ der inter-nationalen Arbeiterklasse, wobei die Rote Armee nur die Interessen bzw. den Sieg der eu-ropäischen Arbeiterklasse militärisch umzusetzen hatte. Aus der Sicht der sowjetischen Führer bedeutet demnach das Wort „Verteidigung“ auch „Angriff“. Im November 1939 sagte Georgi Dimitroff bei der „Kommunistischen Internationale“: „Der Charakter eines Krieges hängt - wie Lenin lehrte - nicht davon ab, wer angegriffen hat und in wessen Land

Die sowjetische Führung war der Auffassung, dass nur ein Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten diese Staaten 1. schwächen und 2. in diesen Staaten eine kommunistische Revolution auslösen würde. Diese Position wurde schon 1928 u.a. vom sowjetische Ideologen, Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale (Komintern) und Politbüro-Mitglied N. Bucharin auf dem 6. Weltkongress der „Internationa-le“ vertreten. In dem 1980 erschienenen Buch des Ost-Berliner Dietz Verlages „Ernst Thälmann“ (2. Aufla-ge) heißt es auf der Seite 385-386 hierzu: „Bucharin hatte die Auffassung vertreten, dass der Kapitalismus erst im Ergebnis eines Krieges zwischen den Imperialisten zusammenbrechen werde. Demnach hätte der Kampf gegen die imperialistische Kriegspolitik keinen Sinn. Statt auf die Anspannung aller Kräfte für die Verteidigung des Friedens und für den Sturz der imperialistischen Bourgeoisie, orientierte diese These das revolutionäre Proletariat darauf, eine Kriegskatastrophe passiv abzuwarten“. Am 20. Mai 1941 sagte der Vorsitzende des Präsidiums des obersten Sowjets Kalinin in einer geheimen Rede vor den Parteifunktionären: Die Kommunisten sollten sich nicht mit Fragen der Friedenssicherung, sondern „vor allem an der Frage interessiert sein, welchen Vorteil die kommunistische Partei aus Ereignis-sen ziehen kann, die nur einmal in fünfzig Jahren stattfinden“. Weiter sagte er: Wahre Marxisten müssten erkennen, dass „die fundamentale Idee der marxistischen Lehre darin besteht, aus den ungeheuren Konflik-ten innerhalb der Menschheit den höchstmöglichen Profit für den Kommunismus zu ziehen“ (Zitat ent-nommen aus dem Buch „Stalins Vernichtungskrieg“ von J. Hoffmann, Seite 44). Zur Vorgeschichte: Der Begründer des „Kommunismus“ bzw. Marxismus - Karl Marx - schrieb in seinem „Kommunistischen Manifest“: „Die Arbeiter haben kein Vaterland“. Zuerst gingen - in Anlehung an Marx - die Kommunisten also davon aus, dass der Nationalismus die Arbeiter der Welt spaltet. Ziel der kommunis-tischen Politik sei es, die Vereinigung aller Arbeiter auf der Welt zu erreichen, um hierdurch die Weltrevo-lution auszulösen. Lenin - der Führer der erfolgreichen kommunistischen Revolution in Russland - sagte jedoch schon, dass eine „reine soziale Revolution“ nicht mehr zu erwarten und die Kommunisten daher dazu gezwungen seien, „im großen Befreiungskampf des Proletariats (der Arbeiter) … jede (nationale) Volksbewegung gegen die Bedrängnisse des Imperialismus zur Verschärfung und Ausweitung der Krise zu nutzen“. Nationale Bewegungen bzw. Erhebungen gegen die Imperialisten England, Frankreich und die USA (und damit auch gegen den Versailler-Vertrag) müssten demnach zumindest indirekt unterstützt wer-den, um hierdurch die Konflikte zwischen den kapitalistischen Staaten zu verschärfen. Eine kurze Zeit stellten sich die Führer der deutschen Kommunisten - Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg - Anfang der zwanziger Jahre gegen diese These von Lenin und Stalin. R. Luxemburg bestritt die These von Lenin und Stalin eines möglichen kurzfristigen Bündnisses von kommunistischen und nationalen Bewegungen, da sie an eine baldige kommunistische Revolution glaubte. So schrieb R. Luxemburg - in Anlehnung an die Aus-sagen von Karl Marx - : „Der Gedanke, das moderne Proletariat könnte als eigenständige Klasse erst noch den modernen Nationalstaat schaffen, gliche bereits dem Vorschlag, die Bourgeoise … möge vorzüglich den Feudalismus einführen“. Luxemburg stellte sich also - wie Marx - gegen den Nationalismus (Siehe hierzu das Buch „Rosa Luxemburg: Nationalitätenfrage und Autonomie“, Hg. Holger Politt, Dietz-Verlag, Berlin, S. 302). 5 Im Gespräch mit dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale Georgi Dimitroff sagte Stalin am 7. September 1939 - also rund zwei Wochen nach Abschluss des deutsch - sowjetischen Nicht-Angriffspaktes und eine Woche nach dem deutschen Angriff auf Polen und der Kriegerklärung der Englän-der und Franzosen an das Deutsche Reich und eine Woche vor der sowjetischen Besetzung Ostpolens: „Die Einheitsfront von gestern diente dazu, die Lage der Slaven (= Arbeiter) im kapitalistischen Regime zu er-leichtern. Unter den Bedingungen des imperialistischen Krieges (= Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten Deutsches Reich, England und Frankreich) steht die Frage nach der Vernichtung der Sklaverei (= des Kapitalismus)! ... Die Vernichtung dieses Staates (Polen ist gemeint) … würde einen bourgeoisen (= kapitalistischen) faschistischen Staat weniger bedeuten. Was ist schlecht daran, wenn wir im Ergebnis der Zerschlagung Polens das sozialistische (= kommunistische) System auf neue Territorien und die Bevölke-rung ausdehnen“. Dieses Zitat findet sich u.a. im Buch von W. Post „Ursachen des 2. Weltkrieges“ auf der Seite 361.

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der Feind steht, sondern davon, welche Klasse den Krieg führt, welche Politik in dem gege-benem Krieg fortgeführt wird“6. Nach den Aussagen des sowjetischen Oberst Pozdnjakov hielt ein Mitglied des sowjeti-schen Zentralkomitees in der ersten Mai-Hälfte 1941 einen Vortrag, in dem dieses Mitglied die neue Politik Stalins mit den folgenden Worten umschrieb: „Jetzt ist die Zeit gekommen, in der wir von der Verteidigung im taktische Sinne dieses Wortes zur Verteidigung im stra-tegischen Sinne übergehen müssen und können. Anders gesprochen, man darf nicht den Angriff des mutmaßlichen Gegners erwarten, sondern man muss ihn selber angreifen. Dies verschafft unbestreitbare Vorteile, und so wird auch die strategische Verteidigung der Sowjetunion geführt werden“7. Am 5. Mai 1941 unterschied Stalin ganz konkret zwischen Verteidigung und Angriff8. Er hielt an diesem Tage im Kreml vor den Absolventen der sowjetischen Militärakademie eine Rede, die u.a. die folgende Sätze beinhaltete: „Wir ha-ben bisher (…) die Linie der Verteidigung verfolgt. Jetzt aber, da wir unsere Armee re-konstruiert, sie zu Genüge mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben - da wir stark geworden sind - Jetzt müssen wir von der Verteidigung zum Angriff übergehen. Bei der Verteidigung unseres Landes sind wir verpflichtet, offensiv vorzugehen. Von der Verteidigung zur Kriegspolitik der Angriffsoperationen. Wir müssen unsere Propaganda, Agitation, unsere Presse im Geiste des Angriffs umstellen“.9

6 Zitat entnommen aus dem Buch „Der Wortbruch“ von W. Maser, S. 125. 7 Dieses Zitat findet sich u.a. in J. Hoffmann „Die Sowjetunion bis zum Vorabend des deutschen Angriffs“ auf der Seite 74 (Kapitel des Buches „Das Deutsche Reich und der 2. Weltkrieg“ Bd. 4, 1983). 8 Am 30. September 1936 setzte der Volkskommissar für Verteidigung die „vorläufige Felddienstordnung der Roten Arbeiter- und Bauernarmee“ in Kraft. Die Grundsätze dieser Ordnung lauteten wie folgt: 1) Die Rote Armee ist eine „offensive Armee“, die „offensivste aller Armeen“. 2) Der Krieg wird immer und in jedem Fall auf feindlichem Territorium geführt. 3) Das Proletariat im Lande des Gegners ist ein potentieller Verbündeter der Sowjetmacht. 4) Die Kriegsvorbereitungen sind Angriffsvorbereitungen. Verteidigungs-vorkehrungen dienen allein der Sicherung der Angriffsvorbereitungen. Siehe hierzu u.a. das Buch „Stalins Vernichtungskrieg“ von J. Hoffmann. 9 Die Kurzfassung der Rede von Stalin findet sich auf der Homepage: www.10000dokumente.de Bei dieser Rede erwähnte Stalin auch, dass die Ausbildung der Rotarmisten und insbesondere das Training mit modernen Waffen nicht befriedigend sei und „vor Ort verbessert“ werden müsste. Der bei dieser Stalin - Rede anwesende V. Visnevski schrieb am 15. Mai 1941 in sein Tagebuch: „Die Rede hat eine ungeheure Bedeutung. Wir eröffnen den ideologischen und tatsachlichen Angriff … Aber ich erin-nere mich klar der Prognose darüber, dass wir den Kampf mit Deutschland beginnen – Wir werden einen grandiosen Kampf gegen den Faschismus führen, gegen den gefährlichen kriegerischen Nachbarn – im Namen der Revolutionierung Europas und ebenso Asiens. Es kommt unser Feldzug im Westen, es kommt die Möglichkeit, von der wir lange träumten“ (Zitat entnommen aus: „Stalins Vernichtungskrieg“ von J. Hoffmann, 8. Auflage, S. 42). In der schon erwähnten Rede von Kalinin am 20. Mai 1941 sagte er :“Der all beste Weg den Marxismus zu verstärken, besteht darin, Militärfragen zu studieren, und noch besser ist es für ihn, mit der Waffe in der Hand zu kämpfen … Zu einem Zeitpunkt, da es möglich ist, den Kommunismus auszudehnen, sollte ein Krieg nicht außer Betracht bleiben“ . Kalinin drückte zudem seine Freude darüber aus, dass es der UdSSR im Jahre 1939 und 1940 (= sowjetische Besetzung der Baltischen Staaten und Ostpolen) gelungen sei, „die Zone des Kommunismus ein wenig auszudehnen, und zwar mit verhältnismäßig geringen Opfern“. Die Ausdehnung des Kommunismus müsse fortgesetzt werden, „selbst wenn dies große Anstrengungen erfor-dert“. Die Hauptpunkte seiner Rede wurden von dem Chef seines Sekretariats Kretov in Thesenform zu-sammengestellt. Zur 10. These schrieb Kretov: „Die kapitalistische Welt, erfüllt von großen Gräueln, kann nur durch den rotglühenden Stahl eines heiligen revolutionären Krieges vernichtet werden“. Diese beiden Zitate sind entnommen aus: „Stalins Vernichtungskrieg“ von J. Hoffmann, 8. Auflage, S. 44. Am 5. Juni 1941 sagte Kalinin bei einem Vortrag in der Militärakademie V.I.Lenin: „Der Krieg wird in dem Moment beginnen, wenn es möglich ist, den Kommunismus auszudehnen“ (Zitat entnommen aus: „Stalins Vernichtungskrieg“ von J. Hoffmann, S. 45). Das sowjetische Politbüromitglied Zdanov sagte in einer Rede am 15. Mai 1941: Es ist „das Volk im Geist des aktiven, kämpferischen, kriegerischen Angriffs zu erziehen. … Wenn die Umstände es erlauben, dann werden wir die Front des Sozialismus weiter ausdehnen“ (Zitat entnommen aus: „Stalins Vernichtungs-krieg“ von J. Hoffmann, S. 44-45). Das obige Zitat aus der Stalin-Rede vom 5. Mai 1941 findet sich u.a. im Buch „Kampfplatz Deutschland - Stalins Kriegspläne gegen den Westen“ von Bogdan Musial. Der Titel dieses Buches ist übrigens meines Erachtens nicht korrekt bzw. irreführend, da das Buch primär die Entwicklung und die Politik der Sowjet-union von 1917 bis 1941 und insbesondere die Probleme der sowjetischen Industrialisierung beschreibt. Die Kriegs- bzw. Aufmarschpläne werden in diesem Buch von Musial - im Gegensatz z.B. zum Buch „Unter-

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Einen Tag zuvor bzw. am 4. Juni 1941 fand eine Sitzung des russischen Hauptkriegsrates statt, in der die neuen Richtlinien für die parteipolitische Arbeit bzw. für die Propaganda besprochen wurden. An dieser Sitzung nahmen u.a. die Marschälle Timoschenko, Budjon-ny und Zdanov teil. Zdanov sagte auf dieser Sitzung: „Warum brauchen wir einen neuen Charakter der Propaganda? (…) Die (bzw. unsere) Kriege mit Polen und Finnland waren keine Verteidigungskriege. Wir haben den Weg der offensiveren Politik (also) bereits einge-schlagen. Zwischen Frieden und Krieg - ein Schritt. Und das ist es, warum unsere Propa-ganda nicht friedlich sein darf (…) bereits Lenin hat während des 1. Weltkrieges gesagt, falls es notwendig ist, wird das siegreiche Proletariat (= sowjetische Arbeiterschaft) gegen die kapitalistischen Staaten auch mit kriegerischen Mitteln auftreten. (…) die Politik der Of-fensive hatten wir auch früher. Wir ändern jetzt nur die Parole“. Am 7. Juni 1941 sagte Zdanov auf der Konferenz des Hauptkriegsrates nochmals: „Wir sind stärker geworden. Der Krieg gegen Polen und Finnland waren keine Verteidigungskriege. Wir haben bereits den Weg der Angriffspolitik betreten“. Mit anderen Worten: Weil die europäischen Arbeiter u.a. durch „demokratische Reformen“ ihre eigene Klassenlage nicht mehr zur Gänze wahrnehmen, sie im Frieden nicht genügend ihre Interessen vertreten und sie daher auch einen siegreichen kommunistischen Umsturz nicht allein realisieren könnten, bedürfe die europäische Arbeiterklasse der Unterstützung durch die Rote Armee. Ein weiterer Beweis für die Angriffsplanungen bzw. Angriffsabsichten der UdSSR ist das im Mai 1941 von der Moskauer Kriegsfakultät herausgegebene russisch-deutsche Wörter-buch mit dem aussagekräftigen Titel „Kurzer russisch-deutscher Kriegssprachführer für Verhöre deutscher Soldaten und Zivilisten nach einem sowjetischen Angriff auf das Reich“. Auszüge aus diesem Sprachführer finden sich im Buch des deutschen Historikers Professor Werner Maser „Fälschung, Dichtung und Wahrheit über Hitler und Stalin“ auf den Seiten 283-239.10 Lenin und Stalin hatten sich oftmals dahingehend geäußert, dass wenn die kapitalistischen Staaten im Hader liegen oder miteinander Krieg führen, müsse man dies für den Sieg des Kommunismus nutzen. Man müsse das schwächere kapitalistische Land unterstützen, da-mit der Krieg zwischen den kapitalistischen Staaten anhält bzw. sich die militärischen Kräfte der kapitalistischen Staaten abnutzen. Wenn dann die kapitalistischen militärischen Kräfte erlahmt sind, müsse man den kapitalistischen Staaten - wie es Lenin wörtlich gesagt hatte - „an die Gurgel“ gehen11. Am 19. August 1939 erklärte Stalin bei der Geheimsitzung des Zentralkomitees zudem: “(…) Genossen, im Interesse der UdSSR auf dass der Krieg ausbricht zwischen dem (deutschen) Reich und dem kapitalistischen anglo-französischen Block. Man muss alles tun, damit dieser so lange wie möglich ausgedehnt wird mit dem Ziel der Schwächung beider Seiten. (…)“12. Stalin wollte aber nicht nur einen Krieg in Europa, sondern auch noch einen Krieg in Fernost. In einem Telegramm des sowjetischen Außenministers Molotow vom 14. Juni 1940 an die sowjetischen Botschafter in Japan und China heißt es: „Wir würden allen Verträgen zustimmen, die einen Zusammenstoß zwi-schen Japan und den Vereinigten Staaten heraufbeschwören“ könnten13.

nehmen Barbarossa“ von W. Post und zum Buch „Der Wortbruch“ von W. Maser - überhaupt nicht vorge-stellt. 10 Der damalige Oberleutnant Wigand Wüster, der am deutschen Angriff auf die UdSSR teilnahm, schreibt in seinem 2013 veröffentlichten Buch „Von Charkow nach Stalingrad“: „Wir sind in gigantische Truppen-ansammlungen des Feindes hineingestoßen. Panzer und Kanonen in Hülle und Fülle am Straßenrand in der Nähe der Grenze. Die Russen verfügten über unglaubliche Mengen Material…. Vor allem die Ratschbumm war eine gute (sowjetische) Waffe, die wir uns gerne einverleibt haben. Die (sowjetischen) T-34 Panzer waren echte Höllenkästen, die uns schon am dritten Kriegstag bei Niemirow in arge Verlegenheit gebracht haben“. 11Schon am 19. Januar 1925 hatte Stalin vor dem Plenum des Zentralkomitees erklärt: „Europa muss in einen Krieg verwickelt werden - unter Wahrung der Neutralität - und erst dann, wenn sich die Gegner hin-reichend geschwächt haben, gilt es die geballte Macht der Roten Armee in die Waagschale zu werfen“. Dieses Zitat findet sich u.a. im Buch von V. Suworow „Der Eisbrecher“ auf der Seite 62. 12 Das vollständige Zitat findet sich auf der Seiten 35 ff. im Buch „Der Wortbruch“ von Werner Maser. 13 Dieses Zitat ist dem Buch „Der Wortbruch“ von W. Maser entnommen (S. 226).

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Der ehemalige - und danach in London lebende - tschechoslowakische Präsident Benesch gab mit den folgenden Worten ein kurz vor der Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffs-Pakts stattgefundenes Gespräch mit dem sowjetischen Botschafter in Lon-don Maiskij wieder: „Die Sowjets sind überzeugt davon, dass die Zeit für einen Endkampf zwischen Kapitalismus (= England, Frankreich), Faschismus (= Italien) und Nazismus (= „Deutsches Reich“) gekommen ist und dass es eine Weltrevolution geben wird, die sie im geeigneten Moment auslösen werden, wenn andere durch Krieg erschöpft sind“. Als Bene-sch dem sowjetischen Botschafter sagte, dass unmittelbar nach einem deutsch- sowjeti-schen Nicht-Angriffs-Pakts Deutschland Polen angreift, antwortete der Botschafter: „Ganz so schnell wird es nicht gehen. Vielleicht in zwei Wochen“. Als Benesch den Botschafter fragte, was die UdSSR dann machen werde, antworte der russische Botschafter: „Natürlich werden wir nicht beiseite stehen“. Benesch fasste das Gespräch mit den folgenden Sätzen zusammen: „Mein genereller Eindruck: Die Sowjets wollen Krieg, sie haben sich darauf gewissenhaft vorbereitet und sie sind der Auffassung, dass weder Polen, noch Deutschland oder England (vor dem Krieg) zurückweichen können, dass der Krieg stattfinden wird - und dass sie sich selbst Handlungsfreiheit bewahrt haben“14. Für die sowjetischen Führer war folglich der folgende Satz die Grundlage ihrer Politik „Wenn sich zwei streiten, ist der Sieger der lachende Dritte“. Die sowjetische Politik be-stand darin, die kapitalistischen Staaten zu entzweien, einen Krieg zwischen den kapitalis-tische Staaten herbei zu führen, den Kampf der kapitalistischen Staaten durch die Unter-stützung des jeweilig schwächeren Staates zu verstärken bzw. die kapitalistischen Staaten hierdurch militärisch zu schwächen und danach den Angriff auf kapitalistische Staaten - insbesondere auf Deutschland - zu beginnen15. Die Kommunisten der UdSSR gingen natür-lich davon aus, dass ein sowjetischer Angriff zumindest von Teilen der deutschen Arbeiter-klasse begrüßt wird und diese Arbeiter mit Arbeiteraufständen und Partisanentätigkeit den Angriff unterstützen. Die sowjetische Zeitung „Prawda“ verwies am u.a. 1. Januar 1941 auf zukünftige Siege der Roten Armee. Dort heißt es: „Im Jahr einundvierzig werden wir unsere Schaufeln in frische Bodenschätze stoßen … und vielleicht gesellen sich zu den sechzehn Wappen der Sowjetunion noch andere Wappen hinzu.“ Am 4.3.1941 schrieb die „Prawda“: „Trennt eure Feinde, erfüllt vorübergehend die Forderungen eines jeden von ihnen, doch dann schlagt sie einzeln, und lässt ihnen keine Möglichkeit, sich zu vereinen.“16 Als Deutschland im Spätsommer 1939 militärisch gesehen bzw. im Vergleich zur vereinten Militärkraft von Frankreich und England schwach war, seine Rohstoffversorgung von Frankreich und insbesondere von der Weltmacht England beeinflusst bzw. beeinträchtigt werden konnte (60 Prozent des deutschen Erdölbedarfs mussten importiert werden) und Hitler einen Angriff auf Polen vorbereitete, der nach seiner Ansicht eine - von England und Frankreich durchgeführte - Wirtschaftsblockade Deutschlands zur Folge haben würde, hat Stalin am 24.8.1939 Deutschland mit einem Nicht-Angriffsvertrag und mit einem Wirt-schaftsvertrag, der u.a. zu erheblichen russischen Öl- und Getreidelieferungen an Deutsch-land führte, unterstützt. Stalin war überzeugt, dass der Nicht-Angriffs-Vertrag und die sowjetischen Lieferungen Hitler dazu verleiten werden, Polen anzugreifen. Wenn der deut-sche Angriff auf Polen zur englischen und französischen Kriegerklärung an Deutschland führe17 - wie es auch der Fall war - bzw. ein Krieg zwischen Deutschland, Frankreich und England ausbreche, hätte dies - so die Aussage von Stalin noch vor der alliierten Kriegser- 14 Diese Zitate sind dem Buch „Präventivkrieg Barbarossa“ von S. Scheil, S. 41- 42 entnommen. 15 Der sowjetische bevollmächtige Vertreter in Belgrad sagte im Frühjahr 1941: „Die UdSSR wird erst im entsprechenden Moment reagieren. Die Mächte verzetteln ihre Kräfte immer mehr. Daher wird die UdSSR unerwartet gegen Deutschland antreten. Hierbei überquert die UdSSR die Karpaten, was als Signal für die Revolution in Ungarn dient. Von Ungarn aus dringen die Sowjetruppen in Jugoslawien ein, stoßen zum Adriatischen Meer vor und schneiden den Balkan und den Nahen Osten von Deutschland ab“. Dieses Zitat ist dem Buch „Stalins Vernichtungskrieg“ von J. Hoffman entnommen (8. Auflage, Siehe dort die Seite 40). 16 Siehe hierzu die S. 300 im Buch „Der Wortbruch“ von W. Maser. 17 Nach den Aussagen von Molotow - im Mai 1939 zum Außenminister der UdSSR ernannt - scheint es so, dass Stalin nicht ganz sicher war, dass der deutsche Angriff auf Polen Kriegserklärungen der Engländer und Franzosen auslöst.

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klärung - „militärische, politische und moralische Vorteile“ für die Sowjetunion. Stalin sagte im Gespräch mit dem Vorsitzenden der Kommunistischen Internationale G. Dimitroff am 7. September 1939: „Wir haben nichts dagegen, wenn sie ordentlich gegeneinander Krieg führen und sich gegenseitig schwächen. Es wäre nicht schlecht, wenn durch die Hand Deutschlands die Position der reichsten kapitalistischen Länder besonders Eng-land zerrüttet werden würde (...). Wir können manövrieren und die eine Seite gegen die andere Seite aufhetzen, damit sie sich umso heftiger gegenseitig zerfleischen. Der Nicht-angriffspakt hilft Deutschland in gewisser Seite. Bei nächster Gelegenheit muss man die andere Seite (unterstützen) aufhetzen“18. Stalin hatte im März 1939 diese kriegsfördernde Politik eingeleitet, als er auf dem XVIII Parteikongress der Allunions-Kommunistischen Partei seine Bereitschaft zu erkennen gab, mit Deutschland zu verhandeln. Ein wichtiger Schritt zu diesem Abkommen war die am 3. Mai erfolgte Entlassung des sowjetischen jüdischen Außenministers Maksim Litwinov. Als sich Litwinov im April 1939 vom Vorsitzenden des jüdischen Weltkongresses Goldmann in Genf verabschiedete, erklärte er ihm kurz, was eine Entlassung seiner Person und was ein sowjetisch-deutsches Abkommen aus der Sicht Stalins bedeuten würde: “Wenn Sie eines Tages in den Zeitungen lesen, dass ich von meinem Posten als Außenminister zurückgetre-ten bin, werden sie wissen, dass Stalin beschlossen hat, mit Hitler einen Pakt zu schlie-ßen…das bedeutet, dass es dann einige Wochen später Krieg geben wird, weil Hitler sich im Osten sicher fühlt“19. Am 1.9.1939 - also wenige Tage nach der polnischen Mobilmachung und der polnischen Ablehnung der deutschen Vorschläge über Danzig und den polnischen Korridor - griff, Deutschland Polen an. Nach dem erfolgreichen deutschen und russischen20 Angriff auf Polen nahm die Sowjetunion - wie im geheimen Zusatzprotokoll des deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffsvertrages vereinbart und somit im Einvernehmen mit Deutschland - den Ostteil von Polen in Besitz. Im 1. Geheimprotokoll war zusätzlich vereinbart, dass die unabhängigen (früheren - vor dem 1. Weltkrieg - russischen Länder) Staaten Estland, Lettland und Finnland alleinige Einflussphäre21 der Sowjetunion sein sollen. Stalin hatte folglich dem schwächeren kapita-

18 Das vollständige Zitat findet sich u.a. im Buch von W. Post „Ursachen des 2. Weltkrieges“ auf den Seiten 360 bis 362 und im Buch von Stefan Scheil „ Fünf plus Zwei“. 19 Dieses Zitat findet sich u.a. in J. Hoffmann „Die Sowjetunion bis zum Vorabend des deutschen Angriffs“ auf der Seite 77. 20 Der sowjetische Angriff auf Polen erfolgte - um den Anschein der „Neutralität“ zu wahren - am 17. Sep-tember 1939 - also rund zwei Wochen nach dem deutschen Angriff - und mit der offiziellen Begründung, dass die UdSSR die in Polen lebenden Ukrainer und Weißrussen vor den Auswirkungen des Zusammenbru-ches des polnischen Staates schützen müsse. Zudem teilte die sowjetische Führung allen Staaten mit, dass sie im europäischen Krieg „neutral“ bleiben wolle. Wie schon erwähnt, wollte Stalin zunächst nicht in den Krieg hineingezogen werden. Hätte Stalin gleichzeitig mit Deutschland Polen angegriffen, hätte sich die englische und französische Regierung sicherlich veranlasst gesehen, entweder überhaupt gar keine Kriegs-erklärung oder auch noch eine Kriegserklärung an die UdSSR abzugeben. In diese Falle wäre die Realisie-rung der schon erwähnten Ziele Stalins (Krieg zwischen Deutschland, Frankreich und England und ein „vorteilhafter“ Kriegseintritt der UdSSR) gefährdet gewesen. Dies erklärt die zweiwöchige sowjetische Verspätung. Hitler und Ribbentrop kritisierten übrigens diese Verspätung mit Bezug auf das deutsch-sowjetische Zusatzprotokoll. Hitler hatte also vermutlich damit gerechnet, dass die UdSSR zeitgleich mit Deutschland Polen angreift. Dieses sowjetische Verhalten hat sicherlich nicht zur Vertrauensbildung zwi-schen Hitler und Stalin beigetragen, sondern - im Gegenteil- zumindest zu einer leichten Verschlechterung der Beziehungen. 21 Bei weiteren deutsch-sowjetischen Verhandlungen am 23. September 1939 setzte die UdSSR durch, dass auch noch Litauen zum russischen Einflußbereich gehörte. Was unter russischer „Einflußsphäre“ zu verste-hen ist, zeigte sich erstmals in aller Schärfe im Jahre 1940: Am 14. Juni 1940 stellte Stalin Litauen ein Ultimatum: Sofern sich Litauen nicht bereit erklärt, sowjetische Truppen einmarschieren zu lassen, werde die Sowjetunion Litauen angreifen. Da das kleine Litauen militärisch gesehen viel zu schwach war, musste die litauische Regierung dieses Ultimatum am 15. Juni akzeptieren und wurde daraufhin Teil der Sowjet-union. Mitte Juni 1940 besetzte die UdSSR zudem Lettland und Estland und erklärte diese Staaten eben-falls zu sowjetischen Republiken. Im 2. Geheim-Protokoll, das am 28.9.1939 von Molotow und Ribbentrop unterzeichnet wurde, heißt es: „Das am 23. August 1939 unterzeichnete geheime Zusatzprotokoll wird … dahingehend abgeändert, dass das Gebiet des litauischen Staates in die Interessenssphäre der UdSSR fällt, …Sobald die Regierung der UdSSR zur Wahrnehmung ihrer Interessen besondere Maßnahmen (heißt militärische sowjetische Beset-zung) trifft, wird … die deutsch-litauische Grenze dahin rektifiziert, dass das litauische Gebiet, das süd-

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listischen Staat (Deutschland) die Hand gereicht, um zumindest Ostpolen, das Baltikum und Finnland ganz oder teilweise in Besitz nehmen zu können. Und wenn es nach dem Angriff auf Polen zum Krieg zwischen Deutschland, Frankreich und England komme, hoffte Stalin, dass sich die kapitalistischen Staaten dabei zerfleischen bzw. militärisch gegenseitig schädigen. Für Stalin war es natürlich sehr wichtig, nicht so-fort in einen solchen Krieg hineingezogen zu werden. Stalin wollte, dass Russland erst dann am Krieg teilnimmt, wenn sich die kapitalistischen Staaten schon selbst stark geschädigt haben. So sagte Stalin am 19. August 1939 in diesem Kontext: „ (…) Wenn wir den Vor-schlag Deutschlands über den Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit Ihnen annehmen22, werden sie natürlich Polen überfallen und der Eintritt Frankreichs und Englands in diesen Krieg wird unvermeidlich. … Westeuropa wird von ernsthaften Unruhen und Unordnung ergriffen werden. … Unter diesen Bedingungen werden wir große Chancen haben außer-halb des Konflikts zu verbleiben und wir können auf unseren vorteilhaften Kriegseintritt hoffen. (…)“23

westlich der … eingezeichneten Linie liegt, an Deutschland fällt“. Eine Besetzung der beiden anderen baltischen Staaten wurde in den Protokollen nicht mit dem Wort „Besondere Maßnahmen“ , sondern mit dem Wort „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den baltischen Staaten …“ angedeutet. Hitler konnte also spätestens am 28. September 1939 damit rechnen, dass die UdSSR alle baltischen Staa-ten besetzt. Von den Sowjets wurde jedoch das den Deutschen im 2. Protokoll zugesprochene litauische Gebiet ohne vorherige - wie eigentlich für solche Fälle vereinbart war - Konsultation der deutschen Regie-rung - besetzt. Erst Mitte August 1940 machte die sowjetische Führung den Vorschlag, das den Deutschen zugesprochene litauische Gebiet den Deutschen zum Preis von 3 860 000 Golddollar abzukaufen. Für Hitler war diese Geldsumme viel zu niedrig. Am 1. Juli 1940 wurde Rumänien von den Sowjets analog genötigt, die sowjetische Besetzung von Bessa-rabien und der Nord-Bukowina - Teile des rumänischen Staates - hinzunehmen. Diese Besetzung ging - zur Überraschung von Hitler - mit einer schnellen Verlegung starker russischer Verbände an die deutsch-sowjetische Grenze einher. Da Hitler besorgt war, wurden sofort einige Verbände an die Grenze beordert und dort mobil gemacht. Im 1. Geheimen Zusatzprotokoll war aber nicht die Nord-Bukowina, sondern nur Bessarabien und die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Finnland als sowjetische „Interessens-sphären“ deklariert. Die sowjetische Besetzung der Nord-Bukowina stand daher keinesfalls im Einklang mit dem geheimen Zusatzprotokoll. Außenminister Ribbentrop beschwerte sich daher am 3. September 1940 in einer Mitteilung an den deutschen Botschafter Schulenberg in Moskau mit den folgenden Worten: „In Li-tauen lag noch die Verpflichtung der UdSSR vor, Deutschland ein bestimmtes Gebiet im Südwesten Litau-ens zu übergeben … trotzdem aber hat die Sowjetunion dieses Gebiet militärisch besetzt…Im übrigen darf noch hinzugefügt werden, dass auch bei der Besetzung Bessarabiens und der Nordbukowina die Reichsre-gierung nur eine ganz kurzfristige Mitteilung von der Sowjetunion erhielt…“. Dies „könne Deutschland nicht einfach hinnehmen“. Die Sowjets antworteten auf diese Kritik, indem sie vorschlugen, die gegenseiti-ge Konsultationspflicht aus dem deutsch-sowjetischen Nicht-Angriffs-Pakt herauszunehmen, was der deut-sche Botschafter Schulenberg energisch ablehnte. Das obige Zitat ist dem Buch „Der Wortbruch“ von W. Maser entnommen. Da sich Finnland - im Gegensatz zu Litauen, Estland und Lettland - dem Willen von Stalin nicht beugen wollte, griff die Sowjetunion am 30. November 1939 Finnland an. Weil Finnland der Roten Armee relativ starke Verluste zufügen konnte und die Alliierten mit einer militärischen Unterstützung Finnlands gedroht hatten, entschloss sich Stalin, ein Waffenstillstandsvertrag mit Finnland abzuschließen, der am 13. März 1940 vom militärisch stark geschwächten Finnland auch notgedrungen angenommen wurde. Finnland muss-te im Vertrag u.a. die ganze karelische Landenge (nord-östlich von Leningrad und westlich vom Ladogasee gelegen) und finnische Inseln an die Sowjets abtreten. 22 Hier lügte Stalin vor dem Zentralkomitee. In Wirklichkeit hatte nicht Hitler, sondern Stalin selbst einen Nichtangriffspakt dem Deutschen Reich vorgeschlagen. Da jedoch die sowjetische Propaganda vor der Einigung mit Deutschland jahrelang sehr heftig gegen das kapitalistische und faschistische Deutsche Reich polemisiert hatte, schien es Stalin vermutlich nicht ratsam, dem Zentralkomitee bekannt zu geben, dass er den Nichtangriffspakt mit Deutschland vorgeschlagen hatte. Der deutsche Historiker Professor Werner Maser schreibt hierzu in seinem Buch „Der Wortbruch“ auf der Seite 66: „Unzutreffend ist ebenso auch die Version, dass der Anstoß zum Abschluss eines Nichtangriffspaktes, (…) , von Deutschland ausgegangen sei“. 23 Weitere Auszüge dieser Stalin-Rede finden sich auf den Seiten 35 ff. des Buches „Der Wortbruch“ von Werner Maser und des Buches „Freispruch für die Wehrmacht“ von A. Neumann auf den Seiten 218 bis 220. Hier seien noch weitere Auszüge der Rede Stalins vom 19. August 1939 vorgestellt. So sagte Stalin u.a.: „Wir sind absolut überzeugt, dass, wenn wir ein Beistandsabkommen mit Frankreich und England schlies-sen, Deutschland sich gezwungen sehen wird, Polen gegenüber zurückzuweichen und einen modius vivendi mit den Westmächten zu suchen. Auf diese Weise könnte ein Krieg (zwischen Deutschland und den West-mächten) vermieden werden. Andererseits, wenn wir die Vorschläge Deutschlands annehmen und und einen

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Als zwei Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen die englische und französische Kriegserklärung an Deutschland erfolgte und damit kriegerische Handlungen zwischen Deutschland und den Westmächten unausweichlich bevorstanden, war für Stalin der richti-ge Zeitpunkt gekommen, seine Armee nicht nur weiter aufzurüsten, sondern auch immer mehr russische Divisionen in Richtung Westen marschieren zu lassen. Ein erfolgreicher sowjetischer Angriff auf Deutschland kann ja nur gelingen, wenn man zur richtigen Zeit genügend sowjetische Soldaten an der deutsch-sowjetischen Grenze in Stellung gebracht hat. Nach Ansicht von Stalin würde der Krieg zwischen Deutschland und den Westmächten nicht nur die Kriegsparteien militärisch schwächen, sondern auch kommunistische Arbei-terunruhen insbesondere in Deutschland auslösen, so dass ein in einer solchen Lage erfol-gender sowjetischer Angriff auf Deutschland siegreich sein würde24. Stalin sagte noch am Tage der Unterzeichnung des Nicht-Angriffs-Vertrages zu Molotow und Chruschtschow: „Ich habe Hitler reingelegt“.25 Trotz des Nichtangriffsvertrags würde es - so Stalin - zu einem „Krieg mit Deutschland kommen“. Der Krieg mit Deutschland sei „mit dem Vertrag nur aufgeschoben“26. Nichtangriffspakt (mit Deutschland) schliessen, dann wird Deutschland sicherlich Polen angreifen, und die Intervention in diesem Krieg wird von Seiten Englands und Frankreich unausweichlich. … Unter diesen Umständen haben wir große Chancen, uns aus dem Konflikt herauszuhalten, und können gespannt unseren Zeitpunkt abwarten. Das ist genau das, was in unserem Interesse liegt. … Für uns ist klar, dass Polen aus-gelöscht sein wird, ehe England und Frankreich Maßnahmen treffen können, um Polen zu Hilfe zu kom-men. In diesem Falle übergibt Deutschland uns einen Teil Polens …. . Jedoch unser Ziel muss sein, dass Deutschland den Krieg solange wie möglich führe kann, bis England und Frankreich ermüdet und so weit geschwächt sind , dass sie nicht mehr in der Lage sind, Deutschland alleine zu schlagen. … Es ist offen-kundig, dass Deutschland zu stark in Anspruch genommen sein wird, um sich gegen uns zu wenden. … In einem (von Deutschland) besiegten Frankreich wird die kommunistische Partei zu einer starken Kraft an-wachsen, unausweichlich vollzieht sich dann die kommunistische Revolution. Diesen Umstand können wir ausnutzen, indem wir Frankreich zu Hilfe kommen und es zu unserem Verbündeten machen. Genossen, im Interesse der Sowjetunion liegt es, dass der Krieg zwischen dem Reich und dem kapitalistischen anglo-französischen Block ausbricht. Es ist entscheidend für uns, dass dieser Krieg so lange wie möglich andau-ert, bis zur Erschöpfung beider Seiten. Das sind die Gründe, weshalb wir den von Deutschland vorgeschla-genen (Nichtangriffs)Vertrag annehmen und alles dafür tun müssen, dass dieser Krieg, ist er erst einmal erklärt, so lange wie möglich dauert. Wir müssen unsererseits unsere (Kriegs)Wirtschaft verstärken, so dass wir am Ende des Krieges gut vorbereitet sind“ 24 Im Bericht des amerikanischen Konsuls I. Ninnell in Prag an den Secretary of State werden am 20. No-vember 1939 die folgenden Äußerungen sowjetischer Beamter gegenüber einer Delegation tschechischer Kommunisten wiedergegeben: „Deutschland, wenn die UdSSR einen Vertrag mit den Westmächten abge-schlossen hätte, hätte niemals einen Krieg entfesselt aus dem sich die Weltrevolution entwickeln wird, die wir seit so langer Zeit vorbereiten“. Dieses Zitat findet sich auch im Buch „Churchill, Hitler und der Anti-semitismus“ (2009, S. 131) von Stefan Scheil. 25 Die Originalquelle dieses Zitates ist das Buch von Nikita Chruschtschow „Erinnerungen“ (Band 2, S. 89), in dem er u.a. seine Gespräche mit Stalin wiedergibt. 26 Im April und Mai 1940 ließ Stalin vor dem Dorf Katyn 4.400 polnische Offiziere erschießen. Stalin hatte mit dem Politbüro bzw. u.a. mit Molotov, Mikojan und Vorosilov die Hinrichtung befohlen. Das Mitglied des Politbüros Vorosilov begründete die Erschießung der Offiziere mit den folgenden Worten: „Wenn wir mit Hilfe dieser Männer (= polnische Offiziere) Polen befreien, werden sie dort die Macht ergreifen“ (Siehe S. Scheil „Eskalation des 2. Weltkrieges“, S. 71). Dies ist ein Hinweis darauf, dass Stalin ganz Polen bzw. auch noch das von Deutschland besetzte Westpolen erobern und zusätzlich verhindern wollte, dass nach der „Befreiung“ der gesamten polnischen Arbeiterklasse polnische nationalistische (antikommunistische) Offi-ziere die Herrschaft über das polnische Volk ausüben. Stalin wollte sich also an die im Zusatzprotokoll des Nichtangriffspaktes enthaltenen deutsch-sowjetischen Vereinbarungen über die Einflusszonen gar nicht halten. Für Stalin war die sowjetische Besetzung von Ostpolen viel zu wenig! Es ist schon von daher kein Wunder, dass Stalin der deutschen Regierung am 25. September 1939 mitteilte, dass „die Belassung eines selbstständigen Restpolens abwegig sei“. Hitler wollte hingegen, dass aus dem südlichen Teil - von Deutschland besetzten - Westpolens bzw. dem „Generalgouvernement“ wieder ein polnischer Staat wird. Nach Auffassung Hitlers würde die Belassung eines selbstständigen Restpolens einen Friedensvertrag mit den Alliierten ermöglichen. In den Friedensangeboten von Hitler war daher die Rede von einem selbststän-digen Polen. Die folgenden Worte des Historikers Bogdan Musial verdeutlichen, dass Stalin keinesfalls die Polen vor Unfreiheit und Unterdrückung bewahren wollte, als er Ostpolen besetzen ließ: "Resultat der knapp einund-zwanzig Monate währenden sowjetischen Herrschaft in Ostpolen waren mehrere hunderttausend Deportier-te (330.000 bis 400.000) und Inhaftierte (120.000) sowie Abertausende von Gefolterten und Ermordeten." Insgesamt wurden in dieser Zeit 25.000 polnische Bürger (u.a. Grundbesitzer, Unternehmer, Wissenschaft-ler, Offiziere, Generäle) von Stalin hingerichtet. Nur eine Woche nach dem sowjetischen Einmarsch in

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Die Rechnung von Stalin ging teilweise auf: Nur zwei Tage nach dem deutschen Angriff auf Polen erklärte England und kurz danach auch Frankreich Deutschland den Krieg. Ob-wohl Stalin nur knapp zwei Wochen später als Hitler ebenfalls Polen angegriffen bzw. besetzt hatte, blieb - wie von Stalin erhofft - eine englische und französische Kriegserklä-rung an die UdSSR aus27. Die Rechnung von Stalin ging deshalb nicht gänzlich auf, da es

Polen wurden in dem von der UdSSR besetzten Teil Polens die Grundbesitzer enteignet. Stalin begann also damit, Ostpolen in einen kommunistischen Staat zu verwandeln. Wie die Bolschewisten ihren Terror selbst begründeten, verdeutlichen die folgenden Sätze aus einem Arti-kel des stellvertretenden Leiters der bolschewistischen Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution Martyn Latsis in der bolschewistischen Zeitung „Der rote Terror“ aus dem Jahre1918: "Wir führen nicht Krieg gegen einzelne. Wir vernichten die Bourgeoisie (= insbesondere Unternehmer und Bauern aber auch der Klerus, Akademiker und Adlige, die man in der Regel als Befürworter der alten Ordnung ansah) als Klasse. Während der Untersuchung (= dem Verhör) suchen wir nicht nach Beweisen, dass der Beschuldigte in Worten und Taten gegen die Sowjetunion gehandelt hat. Die ersten Fragen die gestellt werden müssen, lauten: Zu welcher Klasse gehört er? Was ist seine Herkunft? Was ist seine Bildung und Beruf? Und es sind diese Fragen, die das Schicksal des Beschuldigten bestimmen sollten. Darin liegt die Bestimmung und das Wesen des Roten Terrors" (Zitat entnommen aus der S. 39 des Buches „Der Rote Terror“ von Jörg Baberowski). Und als die von Stalin beschlossenen Wirtschaftspläne der UdSSR in der Regel nicht gänzlich realisiert werden konnten, sah Stalin darin nicht das Versagen des kommunistischen Systems, sondern nur das Wirken der einheimischen Staatsfeinde, die aufzufinden waren und danach getötet oder in Lager ge-steckt werden sollten. So schrieb Stalin z.B. im Jahre 1937 jeder Region- und Stadtverwaltung vor, wie viele Staatsfeinde in einer bestimmten Zeitspanne zu finden und zu bestrafen waren. Gelang dies den Staatsfeindenfahnder nicht, wurden sie hierfür bestraft. Allein im Zeitraum von 1. Oktober 1936 bis 1. November 1938 wurden nach sowjetischen Angaben bzw. des NKVD 1.565.041 Menschen verhaftet. Davon wurden 668.305 Personen - in der Regel ohne Prozess - hingerichtet und die anderen Verhafteten in men-schenunwürdige Lager (Gulag) gesteckt. Von den 1.565.041 Verhafteten waren 365.805 Bürger von angeb-lich feindlich gesinnten nationalen Minderheiten der UdSSR und 702.656 Führungspersonen in Wirtschaft (u.a. Techniker, Manager), in Verwaltung, in Partei und in Armee. In der Regel wurden die Verhafteten extrem gefoltert, damit sie den angeblichen Landesverrat gestehen und auch andere Personen beschuldigen. Viele Folter-Verhöre führten damit zu weiteren „Staatsfeinden“, die dann auch verhaftet und gefoltert wurden. Hieraus entwickelte sich mit der Zeit ein immer größer werdender Kreislauf der Verhaftungen, der Folterungen und der Erschießungen. (Siehe hierzu u.a. die S. 200 im Buch „Der Rote Terror“). 27 Frankreich plante und vorbereitete jedoch im Frühjahr 1940 mehrere schwere Luftangriffe auf die sowje-tischen Ölfelder im Kaukasus, um hierdurch die Sowjetunion und insbesondere Deutschland entscheidend wirtschaftlich und militärisch zu schwächen (Siehe hierzu das Buch von Günther Deschner „Bomben auf Baku“, 2009). In einem Dokument des französischen Generalstabes heißt es: „Eine alliierte Militäraktion im Kaukasus, durchgeführt mit Bomberflotten (…), abgestimmt mit der Aktion in Skandinavien (bzw. Norwegen), wird die Blockade Deutschlands vollständig machen und den Zusammenbruch der UdSSR beschleunigen“ (Siehe „Bomben auf Baku“ S. 20-21). Die Engländer planten und vorbereiteten im Frühjahr 40 eine Besetzung norwegischer Häfen - insbesondere den norwegischen Hafen Narvik -, um dort die Liefe-rungen schwedischen Erzes nach Deutschland zu unterbinden. Am 6. April 1940 erging der folgende Befehl des britischen Kriegsministeriums an die britische Marine und an die britischen Landungstruppen: „Die Aufgabe ist zunächst die Sicherstellung des Hafens von Narvik und der Eisenbahn zur schwedischen Gren-ze. (..) Sofern sich Möglichkeit dazu ergibt, stößt der Kommandeur nach Schweden und besetzt das (schwe-dische) Erzgebiet von Gällivare und weitere wichtige Punkte in diesem Gebiet“. Die Alliierten wollten also zur Blockade Deutschlands nicht nur die „neutralen“ Länder Schweden und Norwegen teilweise besetzen, sondern auch noch einen Angriff auf die noch „neutrale“ Sowjetunion starten. Als Hitler von den englischen Besetzungsplänen und auch vom Aufenthalt des Neffen von Churchill in Narvik erfuhr, reagierte er darauf, in dem er den Angriff auf Norwegen befahl. Die deutsche Marine ver-mochte noch vor den Engländern bzw. am 9. April, ihre Truppen an der norwegischen Küsten abzusetzen und danach Norwegen zu besetzen, da die britische Marine - nachdem sie am 7. April unerwartet beobach-tete, dass deutsche Flottenverbände durch den Skagerrak nach Norden fuhren - die schon auf den Schiffen befindlichen englischen Landungstruppen am 7. April wieder von Bord nahm, um zunächst nur die deut-schen Schiffe aufzuhalten bzw. anzugreifen. Es erging also der Befehl der britischen Admiralität „die an Bord befindlichen Truppen an Land zu setzen, und sich sofort zur Flotte auf See zu begeben“. Die deutsche Invasion Norwegens und der im Mai 1940 erfolgte deutsche Angriff auf Frankreich vereitelte die Durchfüh-rung der alliierten Angriffspläne. Nach der Niederlage Frankreichs Ende Juni 1940 suchte die englische Regierung neue Partner, mit denen sie Nazi-Deutschland besiegen wollte. Insbesondere ging der neue englische Premierminister Churchill - u.a. aufgrund von vielversprechenden englisch-sowjetischen Gesprächen - nun davon aus, dass die UdSSR nicht ewig mit Deutschland verbündet sein werde. England hoffte, dass - wenn man Stalin gute Angebote macht - er endgültig die „Seite“ wechselt. Da jedoch Stalin bis zum deutschen Angriff auf die UdSSR dem Deutschen Reich - gemäß einem weiteren im Januar 41 abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Wirtschafts-abkommen - weiterhin Öl und Getreide lieferte, war sich England der politischen Position der UdSSR immer noch nicht ganz sicher. Zusätzlich wurden die Kontakte zur amerikanischen Regierung intensiviert.

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Deutschland im Sommer 1940 gelang, Frankreich in nur zwei Wochen und mit geringen deutschen Verlusten zu besiegen28. Stalin hatte - wenn es überhaupt während des deutsch-französischen Krieges einen günstigen Zeitpunkt zum sowjetischen Angriff auf Deutsch-land gegeben hatte - diesen Zeitpunkt verpasst, da er auf eine wesentliche Schwächung Deutschlands gewartet hatte, die - zum Ärger von Stalin - gar nicht eingetreten war29. Unmittelbar nach dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 befürchtete Stalin, dass die Briten mit Deutschland ein Friedensabkommen schließen, dass eine russische Er-oberung Deutschlands und Europas nahezu unmöglich gemacht hätte. Es lag daher ganz im Sinn der sowjetischen Politik-Strategie die „Seite“ zu wechseln bzw. England zu unterstüt-zen und es zur Fortsetzung des Krieges mit Deutschland „aufzuhetzen“. Nur eine Fortset-zung des Krieges zwischen England und Deutschland würde - so das Kalkül Stalins - die beiden kapitalistischen Staaten schwächen und eine Besetzung Deutschlands durch die Rote Armee ermöglichen. Unmittelbar nach dem deutschen Sieg über Frankreich kam es dann auch zu englisch-sowjetischen Gesprächen und Stalin lehnte den von Hitler im No-vember 1940 vorgeschlagenen „Kontinentalblock“ bzw. eine indirekte sowjetische Unter-stützung des von Hitler geplanten deutschen Angriffs auf England ab30. Nach dem deutschen Sieg über Frankreich wurden auch die sowjetischen Angriffsplanun-gen der veränderten militärstrategischen Situation angepasst. Ein - nach dem 2. Weltkrieg in den Westen geflüchteter - sowjetischer Generalstabsoffizier, der mit den sowjetischen Angriffplanungen gegen Deutschland betraut gewesen war, beschrieb 1951 in seinem - unter dem Decknamen „Ivan Krylov“ im Westen veröffentlichten - Buch „Sovjet Staff Officer“, wie sich die sowjetische Führung Ende Juni 1940 den sowjetischen Angriff auf Deutschland vorstellte: „Deutschland wird bald eine flächendeckende Luftoffensive gegen Großbritannien beginnen, als Vorbereitung einer anschließenden Invasion (…). Am Tag der Invasion wird das deutsche Oberkommando wahrscheinlich nicht mehr als dreißig Pro-zent der Stärke seiner Luftwaffe verfügen können, mit der die Schlacht um Frankreich begonnen wurde. Deutschlands gesamte Luftwaffe wird für drei bis fünf Wochen ohne Ruhepause über England eingesetzt werden, dazu die besten Einheiten, die Fallschirmtrup-pen und die Artillerie. Die Stecke Kaunas-Berlin wird praktisch offen vor unserer Luftwaf-fe liegen, während der Landweg über Vilkovisky-Königsberg-Berlin für unsere bewaffne-ten Streitkräfte und die motorisierte Infanterie offen sein wird. Zusätzlich zu den 166

28 Hätten Frankreich und England unmittelbar nach dem deutschen Angriff auf Polen - wie sie es den Polen zuvor vertraglich zugesichert hatten - Deutschland angegriffen, hätte Deutschland diesen Kampf vermutlich verloren. Die deutsche Wehrmacht hatte nämlich allein durch die Kämpfe mit den Polen fast ihre gesamte Munition verbraucht. Es wäre in diesem Falle gar nicht erst zum 2. Weltkrieg gekommen. 29 Da Deutschland im Juni 1940 Frankreich besiegt und damit einen Kriegsgegner weniger und - so gesehen - hierdurch eine größere Chance hatte, einen sowjetischen Angriff erfolgreich abzuwehren, war es aus mili-tärischer Sicht absolut logisch, dass Stalin seine Angriffs-Truppen daraufhin noch mehr verstärkte. Die oftmals vorgetragene These „Stalin hat von September 1939 bis Juni 1941 Deutschland nicht angegriffen, also wollte er Deutschland gar nicht angreifen“ ist somit nicht zutreffend. Angriffsvorbereitungen brauchen Zeit - insbesondere wenn sich die militärische Lage des Gegners ändert. 30 Stalin wäre - aus meiner ganz persönlichen Sicht - als brutaler kommunistischer Diktator mit Weltrevolu-tionsambitionen auch ein Idiot oder ein Verräter an der Weltrevolution gewesen, wenn er - angesichts der großen sowjetischen Einwohnerzahl, der gewaltigen modernen Roten Armee (u.a. mit T 31- und KV-Panzern) und des enormen sowjetischen Rüstungspotentials - einen Angriff auf Deutschland nicht hätte durchführen wollen. Das Deutsche Reich hatte bis zum Juni 41 den größten Teil von West- und Ost-Europa unter seine Kontrolle gebracht, so dass ein Sieg über Deutschland der Sowjetunion die Macht über West- und Ost-Europa gegeben hätte. Zudem hatte England im Frühjahr 1941 den Russen schon die Kontrolle über die Balkanregion angeboten und befürwortete einen russischen Angriff auf Deutschland bzw. hätte diesen Angriff auch militärisch unterstützt. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges musste sich die Sowjetunion mit dem östlichen Teil von Europa begnü-gen (u.a. Ost-Deutschland, Rumänien, Polen, Bulgarien, Tschechoslowakei), da der westliche Teil von den Amerikanern, Engländern und Franzosen kontrolliert wurde und ein sowjetischer Angriff auf Westeuropa schon angesichts der amerikanischen Atombombe zu risikoreich gewesen wäre. Dass Stalin 1945 mit seiner Eroberung von Osteuropa und Ostdeutschland nicht ganz zufrieden war, bezeugt seine Antwort auf die Frage eines US-Generals nach den Erfolgen der Roten Armee während der „Potsdamer-Konferenz“: Stalin antworte: „Zar Alexander kam bis nach Paris“. Wenige Wochen vor Ende des 2. Weltkrieges sagte Stalin: „Der Krieg wird bald vorbei sein. In 15 oder 20 Jahren werden wir uns erholt haben und dann werden wir es noch einmal versuchen“.

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Flugplätzen, die das Politbüro genehmigt hat, will (Marschall) Shaposhnikov weitere 54 ergänzend im deutschen Grenzgebiet bauen lassen. Für unsere bewaffneten Einheiten wur-den neue Dispositionen getroffen. Ab dem 1. September werden annähernd 75 Prozent unserer Panzer in der Nähe der deutschen Grenze stehen. An einem Tag unserer Wahl, wird die Invasion Deutschlands durch die Rote Armee beginnen. (…) Wir werden eine gute Chance haben, einen Teil von Deutschland zu besetzen, besonders aber die Satellitenstaa-ten. Wir kommen in die Tschechoslowakei hinein, schneiden durch Rumänien und vereinen uns mit Jugoslawien. Deutschland wird uns nicht stoppen können. Es wird seine (rumäni-schen) Ölreserven verlieren und damit die Möglichkeit, einen Luft- und Panzerkrieg zu führen. Damit hat Deutschland den Krieg verloren. Es wird auf eigenem Territorium ge-schlagen werden und wir können die Friedensbedingungen diktieren“.31 Der damalige Chef der Verwaltung für Nachrichtenwesen des Volkskommissariats für Verteidigung, Generalmayor Gapic, schrieb in seinem Buch „Nekotorye mysli“: „Alle Maßnahmen waren darauf gerichtet, Brückenköpfe zu schaffen und vorzubereiten, um einen Schlag auf den Gegner zu führen und den Krieg in feindliches Territorium zu tra-gen“32. Diese Nachkriegsausführungen werden auch durch die sowjetischen Pläne vom September 1940 bestätigt. So gibt selbst G. Ueberschär in seinem Buch „Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion 1941“ auf der Seite 169 diese sowjetischen Pläne vom 18. September 1940 wieder: „Die Hauptkräfte der Roten Armee im Westen können - abhängig von der jeweili-gen Lage - entfaltet werden entweder: Südlich von Brest-Litowsk, um mit einem machtvol-len Schlag in Richtung auf Lublin und Krakau und weiter auf Breslau (sic!), um bereits im ersten Kriegsstadium Deutschland von den Balkanstaaten abzuschneiden, es so seiner wichtigsten wirtschaftlichen Basis zu berauben und einen entscheidenden Einfluss auf die Balkanstaaten in der Frage ihrer Teilnahme am Krieg auszuüben, oder nördlich von Brest-Litowsk mit dem Auftrag, die Hauptstreitkräfte des deutschen Heeres innerhalb (sic!) der Grenzen von Ostpreußen zu zerschlagen und letzteres in Besitz zu nehmen“. Was war aber das konkrete bzw. kurzfristig zu erreichende Ziel des sowjetischen Aufmar-sches? Dieses Ziel ist dem sowjetischen Aufmarschplan zu entnehmen, der im Mai 1941 erstellt wurde (Siehe Abbildung 5). Im Plan heißt es: „Als erstes strategisches Ziel haben die Truppen der Roten Armee die Hauptkräfte des deutschen Heeres, die südlich von Demblin aufmarschiert sind, zu vernichten (…)

a. Den Hauptschlag mit den Kräften der Südwestfront in Richtung Krakau, Katto-witz zu führen und somit Deutschland von seinen südlichen Verbündeten abzu-schneiden.

b. Den Nebenschlag mit dem linken Flügel der Westfront in Richtung Siedlce, Demblin zu führen, um die Kräftegruppierung um Warschau zu binden und die Südwestfront bei der Vernichtung der feindlichen Kräftegruppierung zu unterstüt-zen.

c. Gegen Finnland, Ostpreußen, Ungarn und Rumänien eine beweglich geführte Ver-teidigung zu führen, um bei günstiger Lage zur Führung eines Schlages gegen Rumänien bereit zu sein“.

Der sowjetischen „Südwestfront“ wurden im Plan insbesondere die folgenden Aufträge gegeben: „a. In einem konzentrisch geführten Stoß durch die Armeen des rechten Flügels der (Südwest)-Front ist die feindliche Kräftegruppierung ostwärts der Weichsel im Raume Lublin einzukesseln und zu vernichten. b. Gleichzeitig sind durch einen Schlag (…) der Raum Kattowitz in Besitz zu nehmen, in der Absicht, aus diesem Raume den Angriff nach Norden und Nordwesten fortzusetzen, um starke Kräfte des feindlichen Nordflügels zu vernichten und das ehemalige Polen und Ostpreußen in Besitz zu nehmen“. Das kurzfristi-ge Ziel lautete demnach wie folgt: Es sollten die deutschen Streitkräfte „ostwärts der 31 Dieses Zitat aus dem Buch „Soviet Staff Officer“ (London , 1951, S.16f. ) findet sich auch im Buch „Es-kalation des 2. Weltkrieges“ (S. 227-228) und im Buch „Präventivkrieg Barbarossa“ (S. 52-53) von Stefan Scheil. 32 Zitat entnommen aus J. Hoffman „Stalins Vernichtungskrieg“, S. 59-60.

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Weichsel“ „vernichtet“ und das ganze „ehemalige Polen und (deutsche) Ostpreußen in Besitz genommen werden“. Insbesondere wollte Stalin - gemäß dem Aufmarschplan - Deutschland vom Öl der Rumänen abschneiden.

Abbildung 5: Der sowjetische Angriffsplan (Mai 1941)33

Da im Falle eines sowjetischen Angriffs der sowjetische Ölhahn für Deutschland selbstver-ständlich zugedreht gewesen wäre, hätte der zusätzliche Verlust des rumänischen Öls für Deutschland unweigerlich die militärische Niederlage eingeleitet bzw. die sowjetische Be-setzung deutschen Bodens ermöglicht. Es war von daher kein Wunder, dass der größte Teil der Roten Armee im Süden - nahe der rumänischen Grenze - von Polen aufmarschiert war. Weil sich jedoch der sowjetische Aufmarsch verzögerte bzw. weil auf die Verbände der zweiten strategischen Staffel noch gewartet wurde, konnte nicht Stalin, sondern Hitler seine 33 Diese Grafik stammt aus dem Buch „Unternehmen Barbarossa“ von W. Post

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Angriffspläne in die Tat umsetzen. Stalin sagte daher nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion: „Warum kommen wir immer zu spät?“ Um die Angriffsabsichten der Sowjetunion noch mehr zu verdeutlichen, sei erwähnt, dass in Gefangenschaft geratene sowjetische Generäle ausgesagt haben, dass man sie mit „Wa-genladungen von Karten über deutsches Reichsgebiet“ beliefert, wogegen es ihnen an Kar-ten über das eigene Territorium gefehlt hatte. Als der deutsche Angriff begann und die Rotarmisten sich verteidigen mussten, wurde durch das Fehlen von Karten die sowjetische Verteidigung enorm erschwert: Die russischen Artilleristen konnten ihre Ziele nicht an justieren, da sie keine oder nur wenige Karten über das sowjetische und ostpolnische Gebiet besaßen. Auch der von der Wehrmacht gefangen-genommene Sohn Stalins sprach davon, dass er fast nur Karten über Deutschland und den westlichen Teil von Polen besaß. Der deutsche Historiker Werner Maser schreibt in seinem Buch „Der Wortbruch“ (S. 347) hierzu: „Kartenmaterial mit Einzeichnungen für strategi-sche Operationen, die über Ostpreußen hinaus bis weit ins westdeutsche Gebiet reichten, wurden in Kobryn, Dubno, in Grodno und an zahlreichen anderen Orten in fluchtartig ver-lassenen Gefechtsständen sowjetischer Stäbe gefunden“. Der damalige Adjutant eines Pan-zerregiments Hans Hindenburg fand eine dieser Karten, auf der sein elterliches Gutshaus in Pommern als künftiger sowjetischer Gefechtsstand eingezeichnet worden war.34 Ein erfolgreicher Angriff bzw. eine Besetzung Deutschlands setzte natürlich auch voraus, dass sowjetische Truppen mit sowjetischen Eisenbahnen schnell in die jeweiligen deutschen Gebiete transportiert werden können. Nun hatten aber die deutschen Eisenbahnschienen eine ganz andere Gleisspur als die sowjetischen Eisenbahnschienen und die Sowjets rechne-ten auch nicht damit, genügend deutsche Lokomotiven und Waggons in Besitz nehmen zu können. Die sowjetische Militärführung ließ daher schon Ende der zwanziger Jahre Pläne erstellen, wie man die vielen deutschen Schienen für einen Sieg über Deutschland nutzen könne. Es wurden Techniken entwickelt, wie man die deutschen Schienen den russischen Schienen anpassen und wie man die sowjetischen Lokomotiven- und Waggonräder so ver-ändern kann, dass sie auf den deutschen Schienen fahren können.35 Die deutsche Wehr-macht begann übrigens erst nach dem Angriff auf die Sowjetunion, solche Techniken zu entwickeln.

Kommen wir nun zur persönlichen Reaktion Stalins auf den deutschen Aufmarsch. Es wird sich zeigen, dass Stalins Wunsch Deutschland anzugreifen, ihn selbst so beeinflusst hatte, dass er den deutschen Aufmarsch extrem unterschätzte. Stalin hatte um die Jahreswende 1940/41 bzw. schon wenige Tage, nach dem Hitler seine „Weisung Nr. 21“ gab bzw. den deutschen Angriffsplan absegnete, diesen Plan in seinen Händen36. Der deutsche Angriffsplan wurden jedoch von ihm als „Fälschungen“ der Eng-länder angesehen37. Der deutsche Aufmarsch wurde von den russischen Aufklärungsabtei-lungen im März - April 1941 erkannt, so dass Stalin auch vom deutschen Aufmarsch früh-zeitig Kenntnis hatte. Ebenso trafen Warnungen aus verschiedenen Kreisen im Kreml ein, dass Deutschland in nächster Zeit die Sowjetunion angreifen werde. Dass Stalin diesen vielen Warnungen keinen Glauben schenkte, beruhte u.a. darauf, dass ihm Molotow Ende 1940 versichert hatte, dass Hitler bei den letzten deutsch-sowjetischen Gesprächen über 34 Persönliche Mitteilungen von Hans Hindenburg von Brockhausen an Werner Maser. 35 Siehe hierzu W. Post „Unternehmen Barbarossa“, S. 38 - 40 und S. 366 - 375. 36 Dies bedeutet jedoch nicht, dass der sowjetische Aufmarsch- bzw. Angriffsplan vom Mai 1941 nur eine Reaktion auf den deutschen Angriffsplan war. Schon der sowjetische Aufmarschplan vom September 1940, der von Stalin gebilligt wurde, war kein Plan zur Verteidigung der sowjetischen Grenzen, sondern ein Plan für den Angriff auf Deutschland. Zu dieser Zeit sicherten weniger als 20 deutsche Divisionen die Demarka-tionslinie bzw. die deutsch-sowjetische Grenze. Es wurde folglich ein Angriff auf Deutschland zu einer Zeit geplant als von einem deutschen Aufmarsch noch gar nichts zu sehen war. Zudem wurde - wie oben er-wähnt - der deutsche Angriffsplan (Weisung Nr. 21) erst Ende Dezember 1940 von Hitler gebilligt. Selbst-verständlich wurden auch in diesem sowjetischen Plan verschiedene deutsche Angriffsszenarien auf die UdSSR diskutiert. Siehe hierzu W. Post “Unternehmen Barbarossa“, S. 401-407 und S. Scheil „Fünf plus Zwei“, S. 463. 37 Stalin ging davon aus, dass die Engländer ihn zu einem (zu frühen) Angriff auf Deutschland verleiten wollen.

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den von Hitler angestrebten „Kontinentalblock“ „unsicher“ gewesen sei und Hitler einen „Zwei Fronten Krieg prinzipiell vermeiden wolle“. Molotow und Stalin konnten sich bis zum April 1941 nicht vorstellen, dass Hitler noch vor einem Sieg über England die Sowjet-union angreifen bzw. einen Zweifrontenkrieg (Krieg gegen England und die Sowjetunion) riskieren werde. Zudem ging Stalin - nach Aussage von Molotow - davon aus, dass ein Angriff Deutschlands auf die UdSSR erst im Jahre 1942 stattfinden werde. Stalin hat daher sicherlich den deutschen Aufmarsch zunächst nur als einen weiteren Ausbau der bestehen-den deutschen Grenzsicherung interpretiert. Mit anderen Worten: Stalin ging davon aus, dass Hitler den Angriff auf England erst dann beginnt, wenn die deutsche Ostgrenze aus-reichend gesichert ist. Eine - für Russland nicht bedrohliche - stärkere deutsche Grenzsi-cherung wäre übrigens im Interesse Stalins gewesen, da hierdurch der Angriff auf England nur mit einer geringen Anzahl von deutschen Soldaten hätte erfolgen können, wodurch sich die Verteidigungsfähigkeit der Engländer erhöht bzw. die Siegeschancen der Deutschen vermindert hätten. Als Anfang Mai 41 schon mehr als 50 deutsche Divisionen an der Demarkationslinie stan-den, konnte Stalin den deutschen Aufmarsch sicherlich nicht mehr als reine Verteidigungs-maßnahme interpretieren. Aber auch zu dieser Zeit hielt Stalin die Warnungen über einen baldigen deutschen Angriff nur für Lügen und Provokationen. Selbst den Meldungen seines Top-Spions Sorge und auch der Warnung des englischen Premiers Churchill über einen baldigen deutschen Angriff glaubte er nicht. Als am 21. Juni 1941 ein deutscher Soldat zu den Russen überlief und mitteilte, dass der deutsche Angriff am nächsten Morgen erfolgen werde, hat Stalin diesen deutschen Soldaten sogar als „Provokateur“ erschießen lassen. Diese Reaktion Stalins entsprang meines Erachtens einer Zwangslage, in der sich Stalin und die Rote Armee - in den Monaten Mai und Juni - befanden. Stalin und die sowjetische Militärführung hatten vermutlich zu dieser Zeit die Bedeutung der Warnungen für den sowjetischen Aufmarsch folgendermaßen analysiert: Wenn die Warnungen und Meldungen, dass die Wehrmacht erheblich früher zum Angriff antreten werde als die Rote Armee, der Wahrheit entsprechen würden, müsste die Rote Armee bzw. der sowjetische Aufmarsch eigentlich auf Verteidigung (!) umgestellt werden38. Einige Warnungen besagten zudem, dass der deutsche Angriff schon in den nächsten Wochen oder auch Tagen stattfinden kön-ne. Eine Umstellung der Roten Armee hin zu einer Verteidigungs-Armee wäre aber in einer solchen kurzen Zeitspanne (!) überhaupt nicht (!) zu realisieren!39 Stalin musste sich des-

38 Da Stalin angreifen wollte, wurden kaum Verteidigungsmaßnahmen von der Sowjetführung ergriffen. Nicht eine der 63 sowjetischen Panzerdivisionen verfügte über Pioniere zur Brückensprengung bei eventuel-len Rückzügen. Jede Division hatte jedoch Ponton-Bataillone, die auf eroberten Gebiet gesprengte Brücken schnell wieder aufbauen (Behelfsbrücken) konnten. (Siehe Werner Maser „Der Wortbruch“, S. 350) Der sowjetische General Alexey Markow, ein Generalmayor vor Beginn der deutschen Invasion, äußerte sich 1950 gegenüber der amerikanischen Wochenzeitschrift „The Saturday Evening Post“ hierzu wie folgt: „Es wurden keine Verteidigungspläne erstellt oder überhaupt in Betrachtung gezogen. Riesige Versorgungsde-pots waren bis zum Bersten angefüllt mit Waffen, Munition und Treibstoff nicht im sicheren rückwärtigen Gebiet, sondern nahe der Grenze innerhalb des Bereichs der schweren Artillerie der Nazis“. Dieses Zitat findet sich sowohl in dem Buch „How Russia makes War“ (1954, S. 437) von Raymond Gartoff als im Buch „Die Entscheidungsschlachten der westlichen Welt“ (2004, S. 472) von John Fuller. 39 Unmittelbar an den Grenzen hatte Stalin Befestigungsanlangen errichtet, die hauptsächlich den Zweck erfüllen sollten, den Angriff der Roten Armee zu unterstützen bzw. weit ins deutsche Gebiet zu schießen. Im Hinterland gab es hingegen fast keine Verteidigungsanlagen. Siehe hierzu das Buch von W. Maser „Der Wortbruch“. So gab es viel Vorrat an Angriffsmunition, jedoch wenig an Verteidigungsmunition. Die Flug-abwehr hatte einen Vorrat von nur 5 Tagen an 37 mm Munition und von 11 Tagen an 85 mm Munition, was nach Maser „eindeutig gegen die Absicht spricht, sich an den Grenzen auf Defensivoperationen vorzuberei-ten“. Betonbrechende Munition - also Munition für den Angriff - lag für 10 Tage bereit. Benzin der Marke „B-70“ für 2,5 Monate und Diesel (für T-34 Panzer) für einen Monat. 4 216 Eisenbahnwagen mit Munition lagen ungeschützt in der Nähe der Grenze. Eine Million Tonnen an Treibstoff wurden in Grenznähe gela-gert. Maser schreibt hierzu: „Hätte die Rote Armee sich auf einen Verteidigungskrieg vorbereitet, wären diese Vorräte nicht auf mobilen Fahrzeugen gelagert, sondern an vorbereiteten Verteidigungsstellungen deponiert worden. …Stalin ging es 1941 um den massiven Erstschlag gegen Deutschland “ („Der Wort-bruch“, S. 346 und S. 350). Der ukrainische Hauptmann Nikolai Sem erklärte am 23. Juli 1941: “, dass „die Rote Armee sich gar nicht auf eine Verteidigung, sondern auf einen Angriff … vorbereitete“. Sein Regiment hatte - nach seine Aussa-gen - daher Karten bekommen, die das Territorium bis Krakau an der oberen Weichsel betrafen (S. 347).

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halb selbst beruhigen, indem er die vielen Warnungen als „Lügen“ und „Provokationen“ abqualifizierte. Es konnte für ihn nicht sein, was - aus sowjetischer militärischer Sicht - auch nicht sein durfte. Stalin blieb somit gar nichts anderes übrig, als den sowjetischen offensiven Aufmarsch - wie bisher - weiter laufen zu lassen und zu glauben, dass Deutsch-land nicht in nächster Zeit bzw. nicht vor der Sowjetunion angreifen werde. Stalin hoffte bzw. ging davon aus, dass er noch genug Zeit habe, um den offensiven Auf-marsch seiner Armee zu vollenden und um danach anzugreifen40. Worauf beruhte Stalins Hoffnung? Der sowjetische Generalstabschef Schukow gibt in seinem Buch die wort:41„Das faschistische Deutschland wurde - von uns -, was den Termin für die Konzent-ration und den Aufmarsch anging, der Sowjetunion gleichgesetzt. In Wirklichkeit waren die Kräfte und Bedingungen ganz andere“. Mit anderen Worten: Stalin und Schukow hiel-ten - trotz der im sowjetischen Aufmarschplan eingeräumten Möglichkeit eines schnelleren deutschen Aufmarsches und trotz der vielen Warnungen42 - es für ausgeschlossen, dass der deutsche Aufmarsch schneller erfolge könne als der sowjetische Aufmarsch und wer dies doch behauptete, war in Stalins Augen nur ein „Lügner“ und „Provokateur“. Dass die sowjetische Militärführung noch im Juni 1941 davon ausging, dass der deutsche Auf-marsch noch längst nicht abgeschlossen sei, lag teilweise auch daran, dass die eigentlichen deutschen Angriffsverbände - die Panzerdivisionen - erst Mitte Juni in den Grenzraum verlegt wurden. Nur mit diesen Argumenten kann die - ansonsten absolut unverständliche und dumme - Reaktion von Stalin auf die vielen Warnungen und Geheimdienstinformatio-nen erklärt werden! Als am 22. Juni um 3 Uhr der deutsche Angriff auf die Sowjetunion begann, ging die sow-jetische Militärführung davon aus, dass es sich nur um vereinzelte Grenzgefechte43 handeln würde. Die sowjetische Militärführung meinte am 22. Juni und auch noch am 23. Juni, dass die deutsche Wehrmacht ihren Hauptangriff noch nicht begonnen und die Rote Armee deshalb immer noch (!) genügend Zeit habe, um ihren eigenen Angriff weiter vorzubereiten. In der Direktive Nr. 244, die am Morgen des 22. Juni um 7.15 an die russischen Grenztrup-pen herausging, heißt es nämlich: Die russischen „Truppen haben die Feindkräfte in den Abschnitten, in denen sie die sowjetische Grenze verletzt haben, anzugreifen und zu ver-nichten. Bodentruppen dürfen die (deutsche) Grenze nicht überschreiten“. Mit anderen Worten: Weil der sowjetische Aufmarsch noch nicht abgeschlossen war, soll-ten die sowjetischen Truppen noch nicht auf Feindesland vordringen bzw. noch auf Ver-stärkung warten. Auch in der Direktive 1, die kurz vor dem deutschen Angriff bzw. am Morgen des 22. Juni um 0.30 an die russischen Grenztruppen herausging, heißt es: „Auf-gabe der Truppen: sich von keiner provokatorischen Handlung (der Deutschen) verleiten zu lassen, die große Komplikationen hervorrufen könnte“ Mit anderen Worten: Überreaktio-nen der russischen Truppen auf deutsche Provokationen sollten verhindert werden, damit der Krieg für die Rote Armee nicht viel zu früh ausbricht.

Als der sowjetische Generalstab den Hauptangriff der Deutschen schließlich doch erkannte, war er immer noch der Ansicht, dass nicht die Defensive, sondern der Angriff die richtige Reaktion der Roten Armee sei. Am 22. Juni um 21.15 ging die 3. Direktive an die Truppen

40 Der damalige sowjetische General Wassilewski schrieb in seinem Buch „Sache des ganzen Lebens“ auf der S. 100: Es war vorgesehen, dass die sowjetischen Truppen „auf jeden Fall voll und ganz mit den geplan-ten Gruppierungen in den Krieg eintreten würden und ihre Mobilmachung abgeschlossen sei“. Nach dem Befehl des Kriegsrates des Militärbezirks Odessa vom 26. März 1941 war beispielsweise die volle Mobil-machung für den 15. Juni 1941 festgelegt. Ähnliche Befehle gab es auch für andere Bezirke. Siehe hierzu die S. 362 im Buch „Der Wortbruch“ von Werner Maser. 41 G.K. Schukow „Erinnerungen und Gedanken“, Stuttgart 1969, S. 214. 42 Nach Angaben von H. Magenheimer waren es insgesamt 84 Warnungen! 43 General Schukow schrieb nach dem 2. Weltkrieg in seinem Buch „Erinnerungen“: „Das Volkskommissa-riat für Verteidigung und der Generalstab meinten, dass ein Krieg zwischen so bedeutenden Mächten wie Deutschland und Russland der Sowjetunion nach altem Schema beginnen würde: Die (deutschen) Haupt-kräfte treten (erst) ein paar Tage nach (!) den Grenzkämpfen zur Schlacht an“. 44 Eine ausführlichere Wiedergabe der Direktiven findet sich im Buch von Walter Post „Unternehmen Bar-barossa“, S. 303-307.

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heraus: Die Truppen der Nordwest-, West- und Südwestfront sollten gemäß dieser Direkti-ve bzw. diesem Befehl am Morgen des 23. Juni zum Angriff (!) übergehen und die Kampf-handlung auf das Gebiet des Gegners tragen. Die Südwestfront z.B. erhielt den Befehl, die Kräfte des Gegners bei Lublin zu zerschlagen. Durch diese Angriffsbefehle wurde die Lage der Sowjetarmee erheblich verschlimmert, da z.B. die sowjetischen Panzerverbände in den entstehenden Kessel bei Bialystok noch tiefer hineinfuhren und damit ihre Einschließung selbst beschleunigten.