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DIE KEUPSTRASSE – GESCHICHTE UND GESCHICHTEN

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DIE KEUPSTRASSE –

GESCHICHTEUND GESCHICHTEN

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DIE KEUPSTRASSE –

Geschichte

und Geschichten

Herausgegeben von der Geschichtswerkstatt Mülheimin Zusammenarbeit mit der IGKeupstraße

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IInnhhaalltt

Geschichte und Gegenwart der Keupstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5Kemal Bozay:Migrantische Erinnerungen aus der Keupstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Wilhelm Hungenberg:Alle lebten friedlich zusammen nach dem kölschen Motto„Jeck loss Jeck elans“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Wolfgang Becker:Die Türken waren so bescheiden, dass sie am Anfang gar nicht auffielen . . . . . . . . . 18

Meral Sahin:Man muss die Verschiedenheiten der Menschen akzeptieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Sevim Özdemir:Es war eine harte Zeit, aber es hat auch Spaß gemacht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Cemal Güzel:Die Keupstraße ist ein Magnet über die Grenzen Kölns hinaus . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Thomas Schallenberg:Die Keupstraße ist in! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

Mehmet Bali:Wir haben die meiste Zeit unseres Lebens hier verbracht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

Ayshe Halilova:Die Leute hier in der Keupstraße sind sehr freundlich, viel freundlicher als anderswo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

A. N.:Eigentlich sollte die IG Keupstraße uns an der Vorbereitung von Birlikte beteiligen . . 46

Muamer Akkoyun:Die Keupstraße ist ein spezielles Universum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

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ImpressumHerausgeber: Geschichtswerkstatt Mülheim, c/o Kulturbunker Mülheim

Berliner Str. 20, 51063 Köln

Redaktion: Eva-Maria Bruchhaus, Helmut Goldau

Historische Bilder mit Unterstützung des Rheinischen Bildarchivs der Stadt Köln

V.i.S.d.P.: Helmut Goldau, c/o Kulturbunker, Berliner Str. 20, 51063 Köln

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Geschichte und Gegenwart der KeupstraßeDie heutige Keupstraße ist in alten Plänender Stadt Mülheim als Wolfstrasse eingetra-gen (siehe Stadtplan auf der vorderen Um-schlagseite). Sie diente als Verbindung vonder Freiheit (heute Mülheimer Freiheit) imWesten zu den Äckern und Wäldern vor derStadt im Südosten. Dort befand sich auchder Schänzchesweg (heute Schanzenstraße),wo damals die Mülheimer ihr Brennholz,ihre „Schänzchen“, holten. An ihrem Ende,weit außerhalb der Stadtgrenze von Mül-heim, lag der evangelische Friedhof, woheute die Keupstraße auf die Bergisch-Gladbacher Straße stößt (aktueller Stadtplanauf der hinteren Umschlagseite). In kurzerZeit entwickelte sich die Wolfstraße in bei-de Richtungen. Mit dem von Franz CarlGuilleaume gegründeten Carlswerk wurdendie heute noch existierenden Mietskasernenin der Keupstraße 97 bis 117 für die Arbei-ter seiner Fabriken gebaut. Im vorderen Teilentstanden Bürgerhäuser, von denen vielewährend der Luftangriffe am 28.10.1944zerstört wurden. Aber einige sind noch heu-te mit zum Teil liebevoll restaurierten Fas-saden zu sehen. Am Anfang der Wolfstraße, noch inner-

halb der Stadt, wohnte das Ehepaar Keup,das aus dem Verkauf seiner Äcker an die Ei-senbahngesellschaften und die FamilieGuilleaume viel Geld bekommen hatte.

Nach dem Tod ihres Mannes stiftete die kin-derlose Frau Keup 1870 ihr Haus mit Gar-ten und Geld für den Bau des katholischenDreikönigshospitals am Anfang der Straße.Es existierte als ältestes Mülheimer Kran-kenhaus bis 1975. Heute steht dort das Nor-bert-Burger-Seniorenzentrum. Nach der Eingemeindung Mülheims wur-

den viele Straßen umbenannt, um Doppe-lungen in Köln zu vermeiden. Und so wur-de die Wolfstraße zur Würdigung der Stifte-rin Maria Sybilla Petronella Keup ab 1914zur Keupstraße. Nach Eröffnung des Mül-heimer Autobahnanschlusses 1936 und demAusbau des Clevischen Rings wird die Stra-ße durch den starken Verkehr in zwei Teilezerschnitten. Wenn heute von der Keupstra-ße die Rede ist, so ist in der Regel der östli-che Teil zwischen Genovevastraße und Ber-gisch-Gladbacher Straße gemeint.Mit dem Wachsen des Carlswerks zum

bedeutendsten Kabelwerk des Kontinentskam auch der Wohlstand in diesen Teil derKeupstraße. Von 1911 bis Ende der 20erJahre fuhr sogar eine Straßenbahn von derMülheimer Freiheit bis zum MülheimerBahnhof durch die gesamte 890 m langeKeupstraße. Zwischen der Schanzenstraßeund der Bergisch-Gladbacher Straße wur-den Wohn- und Geschäftshäuser gebaut, indenen Kleingewerbetreibende und Laden-

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Keupstraße Ecke Schanzenstraße 1926 und 1976

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besitzer ihr Glück suchten. Die beiden Welt-kriege, Inflation und Wirtschaftskrisen ver-eitelten vielen dieses Glück. Sie musstenihre Gewerbe aufgeben, ihre Häuser ver-kaufen. Bis in die 1960er Jahre fanden Mül-heimer und Zugezogene jedoch immer wie-der Arbeit in den nach Kriegen und Krisenwieder aufblühenden Mülheimer Industrie-betrieben. Doch als nach Missmanagementund Strukturkrisen die Deindustrialisierungauch Mülheim erreichte, zogen die ange-stammten Bewohner der Keupstraße weg,die mit ihrer Kaufkraft den Charakter derStraße hätten erhalten können. Die Straßeverarmte und drohte zu verelenden. Es gabPläne, mit der Stadtsanierung 1980 die zumCarlswerk gelegene Seite für den Auto-durchgangsverkehr ganz abzureißen.Wie ein Wunder erscheint heute das

Wiederaufblühen der Keupstraße durch denZuzug der migrantischen Bevölkerung, dermit dem Wegzug der alteingesessenen In-dustriebeschäftigten begonnen hat. Dochdas ist wieder nicht neu für die Keupstraße,da die Bewohner hier immer Migranten,Zuwanderer aus dem Umland waren. Abden 1970er Jahren trifft dies vor allem aufden Abschnitt zwischen Genovevastraßeund Bergisch-Gladbacher-Straße zu. Hierbefinden sich 23 der insgesamt 27 unterDenkmalschutz stehenden Gebäude derKeupstraße. Vor allem dieses Teilstück istgemeint, wenn man in Istanbul oder Stutt-gart, Berlin oder Antalya über Köln-Mül-heim und die Keupstraße spricht. Das alteKrankenhaus am alten Anfang ist 1979 ab-gerissen worden, bevor überhaupt irgendeinGebäude der Keupstraße unter Denkmal-schutz gestellt wurde. Leider erkennen Poli-tik und Verwaltung, aber auch die Mehr-heitsbevölkerung oft zu spät, wo die Kost-barkeiten in einem Veedel stecken und wel-ches Leben sich hier entwickelt.Beim 1. Birlikte-Fest 2014, zum 10. Jah-

restag des NSU-Nagelbombenanschlags,präsentierte die Initiative „Keupstraße istüberall“ im Café Sahbaci Fotos aus der Ge-schichte der Keupstraße. Die Geschichts-werkstatt Mülheim beschloss, sie durch per-sönliche Geschichten der Bewohner zu be-

leben. Diese Broschüre ist das Ergebnis.Eva Maria Bruchhaus hat die Interviews ge-macht, Helmut Goldau hat dazu fotografiertund vorhandene Fotos gesammelt. Die zehnInterviews geben einen sehr persönlichenEinblick in die Geschichte der Keupstraßeaus der Sicht einiger Bewohner. Sie legenZeugnis ab von einer gelungenen Integra-tion und von persönlichen und geschäft-lichen Erfolgen. Sie zeigen auch dieSchwierigkeiten auf, mit denen diese Pio-niere zu kämpfen hatten, aber auch die Soli-darität, die sie teilweise erfuhren und prakti-zierten. Sie haben die Keupstraße zu demlebendigen Beispiel gelungener Integrationgemacht, das sie heute darstellt. Aber sieweisen auch darauf hin, dass noch viel zutun bleibt.Wir sind der Vorsitzenden der IG Keup-

straße, Meral Sahin, für Vermittlung undwertvolle Unterstützung zu Dank verpflich-tet. Sie hat einen Teil ihrer Kindheit in derKeupstraße verbracht und ist deren uner-müdliche Botschafterin. Wir danken auchDr. Kemal Bozay, der in Malatya in der Tür-kei geboren und in Köln-Mülheim aufge-wachsen ist, für seine kenntnisreiche Ein-führung, in der er vor allem auf die Folgendes NSU-Anschlags hinweist, die noch im-mer eine besondere Herausforderung für dieBewohner der Keupstraße darstellen. Abervor allem dankt die Geschichtswerkstattdenjenigen, die bereit waren, ihre Lebens-geschichten mit uns und hoffentlich vielenLesern der Broschüre zu teilen. Die Straßewar immer schon ein Indikator der Verände-rung, und wir dürfen auf weitere Entwick-lungen gespannt sein. Die leider nur weni-gen historischen Fotos stammen aus der ge-nannten Ausstellung und wurden mit Er-laubnis des Rheinischen Bildarchivs oderaus den Quellen der Interviewten zur Verfü-gung gestellt. Zum Zeitpunkt der Druckle-gung hoffen wir noch auf einen öffentlichenZuschuss zu den Kosten. Bei negativer Ent-scheidung müssten wir diese durch den Ver-kauf der Broschüre decken.

Die Redaktionsgruppe der Broschüre „Geschichte und Gegenwart der Keupstraße“

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Die Begegnung mit Erlebnissen, Erinnerun-gen und Erfahrungen hat in meinem Lebenimmer schon einen wichtigen Platz einge-nommen – insbesondere wenn es um Kind-heitserlebnisse geht. Es sind zwar kleine Er-innerungen, doch tief verankerte Lebensbe-schreibungen, die meine Kindheitsvisionenund -bilder geprägt haben. Der Gedächtnisforscher Hans Marko-

witsch sagt zu recht: „Wir schaffen unsereErinnerungen selbst“. Sicherlich hat die Zu-sammensetzung von Erinnerungen viel mitIdentifikation, Nähe und Wärme zu tun.Identifikation mit einem Ort, der viele be-rührt und festhält, im Kollektivbewusstseinvieles auslöst. Auch in dem türkischenSprichwort „Bir fincan kahvenin kırk yıl ha-tırı vardır“ – „Eine Tasse Kaffee verbindet40 Jahre“ zeigen sich diese tief verwurzel-ten Erinnerungen, die eine Bindung schaf-fen und eine Brücke zur heutigen Einwan-derungsgesellschaft schlagen.Für meine Biografie ist daher die Keup-

straße in Köln-Mülheim ein Ort voller le-bendiger Erinnerungen. Ein Ort, der michberührt, festhält und bindet. So sind wir ge-meinsam mit meiner Mutter im Sommer1971 – damals war ich zwei Jahre alt – vonMalatya/Türkei aus direkt nach Köln-Mül-heim gezogen. Mein Vater war bereits 1969als so genannter „Gastarbeiter“ nach Kölnmigriert und hat damals in den Ford-Wer-ken in Köln-Niehl als Werksarbeiter gear-beitet. Die Adamsstraße, eine Seitenstraßeder verlängerten Keupstraße, war unsere er-ste Station in Köln. Das knüpft auch an mei-ne Erinnerungen an die Keupstraße an.

VOM INDUSTRIESTANDORT ZUM MULTI-KULTURELLEN STADTTEIL

Ich habe erlebt, wie sich ein Industriestand-ort, besser gesagt ein Arbeiterquartier, imZuge der Migrationsbewegungen zu einembunten Quartier entwickelt hat, ohne den

Charakter als Geschäftsstraße zu verlieren.Das Carlswerk von Felten und Guilleaumewar damals ein lebendiger Industriestand-ort, an dem auch viele so genannte „Gastar-beiter“ tätig waren. Im Zuge der Migra-tionswelle in den 1960er, 1970er und1980er Jahren erlebte die Keupstraße einengroßen sozialen Wandel. Da die Straße längere Zeit außerhalb der

Sanierungspläne blieb und günstige Miet-konditionen existierten, zogen viele Migra-tionsfamilien auf diese Straße und machtendie Jahre hindurch dieses Quartier zu ihremLebensmittelpunkt. Gerade viele türkische und kurdische Fa-

milien leben inzwischen in der dritten undvierten Generation auf dieser Straße, so dasshier die lokale Ökonomie eine neue Dyna-mik entwickelt hat. Zahlreiche türkischeund kurdische Geschäfte wie Restaurants,Kaffeehäuser, Friseurläden, Reisebüros, Ju-welierläden und Lebensmittelgeschäfte ge-ben diese Vielfalt wieder und sind ein StückEinwanderungsgeschichte mitten auf derKeupstraße. Weil man alles finden kann,was typisch für die Straßen der Türkei istund die Keupstraße dadurch ein türkischesFlair besitzt, wird sie in der Öffentlichkeitgerne auch als „Klein Istanbul“ wahrge-nommen.Die gesellschaftspolitischen Diskussio-

nen und Kontroversen rund um das ThemaMigration und Flucht haben lange Jahre dieDynamik solcher multikulturellen Straßen –somit auch der Keupstraße ausgeblendet.Tatsache ist, dass die Keupstraße heute zueinem interkulturellen Wirtschaftsstandortaufgestiegen ist, in dem ca. 300 Menschenbeschäftigt sind. Ebenso ist sie auch einwichtiger Standort für den inneren Tou-rismus, der bisher in dieser Qualität wenigBeachtung gefunden hat. Viele Menschenkommen beispielsweise mit ihren Besu-chern oder Familien aus dem ganzenBundesgebiet auf die Keupstraße, um hier

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Migrantische Erinnerungen aus der Keupstraße von Kemal Bozay

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einzukaufen oder auch die Vielfalt der tür-kisch-kurdischen Küche zu genießen.

DAS BILD DER KEUPSTRAßE

Die andere Seite der Medaille zeigt: wennbundesweit, aber auch in Köln heute nochkontrovers über Themen wie Migration,(Armuts-)Zuwanderung und Flüchtlingediskutiert wird, so stößt man relativ schnellauf den Namen „Keupstraße“. Sie war län-gere Zeit in den Medien und in der kommu-nalen Öffentlichkeit häufig Gegenstandkontroverser Darstellungen, spätestensdann, wenn das Thema Migration undFlüchtlinge ins Gespräch gebracht wird.Auffallend ist vor allem der durchweg nega-tive Bezug, in dem die Keupstraße immerwieder genannt wird. Auch in den Alltags-gesprächen hatte sie über viele Jahre hin-weg teilweise einen schlechten Ruf, oft ge-nug bei Menschen, die dieses Viertel nurflüchtig kennen oder überhaupt noch nichtzu Gesicht bekommen haben.Wenn (Kommunal-)Politik, Wirtschaft,

Bürgervereine in irgendeiner Weise überMigrationsthemen in Köln und speziell imStadtteil Mülheim diskutieren, so werdengerne bewusst oder unbewusst die Proble-me und Konflikte der Keupstraße überbe-tont. Angeblich wäre hier in den letztenJahrzehnten ein richtiges „Türkenghetto“entstanden und man beruft sich dabei gerneauf die „Ausländerkriminalität“. In den po-litisch und medial aufgeladenen Alltagsdis-kussionen wird sogar zwischen offenenKonflikten (Verkehrs-, Parkplatz-, Lärm-und Müllprobleme) und verdeckten Kon-flikten (Auseinandersetzung zwischen Kur-den und Türken, Kriminalität, Drogen, Pro-stitution) auf der Keupstraße unterschieden.So entstehen Skandalisierungen und All-tagsvorstellungen, die sowohl einen Alltags-rassismus verstärken als auch zur Repro-duktion von Feindbildern beitragen.Fest steht: nahezu alle negativen Vorstel-

lungen und Darstellungen über die Keup-straße konzentrieren sich in der Regel aufEinschätzungen, die sich oft aus den diskri-minierenden Alltagsdiskursen ergeben ha-

ben. Vor diesem Hintergrund wird deutlich,warum gerade die Keupstraße zur Zielschei-be für rassistische Angriffe wird.

ALS DIE NAGELBOMBE EXPLODIERTE….

Wenn man heute durch die Kölner Keup-straße geht, wirkt alles sehr bunt, vielfältigund lebendig. Doch als am 9. Juni 2004 mit-ten auf der Keupstraße eine ferngezündeteNagelbombe auf einem abgestellten Fahrradexplodierte, veränderte sich der Alltag derMenschen drastisch. 22 Menschen wurdenverletzt und ein Friseurladen verwüstet. DieWunde liegt so tief, dass viele Geschäfte imersten Jahr darunter finanziell gelitten ha-ben, die Opfer vielseitige Traumatisierun-gen erlebt haben, aber auch viele Menschenund Geschäftsleute durch Mutmaßungen,angeblich zur Tätergruppe zu gehören, kri-minalisiert und zu „Tätern“ stigmatisiertwurden. Die psychischen Folgen zeigennoch heute ihre Auswirkungen. Die media-len Darstellungen unmittelbar nach demNagelbombenanschlag setzten größtenteilsbei diesem Alltagsrassismus an. Exempla-risch hierfür ist eine Kolumne des KölnerStadtanzeigers unter dem Titel „Anwohnerrätseln über die Hintergründe“: „Mülheimist immer noch ein sozialer Brennpunkt.(…) Allerdings hat auch die Polizei dieKeupstraße auf dem Stadtplan dick unter-strichen: illegale Geschäfte um Glücksspiel,Schutzgeld, Erpressungen, Drogen (…),Machtkämpfe zwischen türkischen und kur-dischen Banden, Albaner, Rotlicht-Szene(…). Eine Welt, in die die Polizei aufgrundder Kultur- und Sprachbarrieren keinen Ein-blick genießt.“ (Kölner Stadtanzeiger,10.06.2004). Gerade diese Kolumne ist ein ideales Bei-

spiel dafür, wie diese negativ dominiertenAlltagsvorstellungen in Form von Alltags-rassismus in die Mitte der Gesellschaft ge-langen und Skandalisierungen auslösen.Man erkennt anhand dieser Skandalisierun-gen, wie gerne auch auf sogenannte Ein-schätzung und Beobachtung verzichtet, undstatt dessen mehr oder weniger auf „vorhan-dene“ Beschreibungen oder gleich auf „so-

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Die ehemaligen Werkswohnungen von F&G

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Blick in die Küche des Restaurants Damla

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zial reimende“ Deutungstraditionen und-muster zurückgegriffen wird. Man schaltethier schnell von Beobachtung auf Beschrei-bung und Deutung. So entsteht eine Konfi-guration von Neo-Rassismus. Interessant istdabei auch die mediale Schlussfolgerung,dass die Polizei gerade aufgrund von kultu-rellen und sprachlichen Barrieren keinenEinblick in die Szene der genannten Ziel-gruppe hat.Gerade deshalb war es nicht verwunder-

lich, dass der damalige Bundesinnenminis-ter Otto Schily und der damalige nordrhein-westfälische Innenminister Fritz Behrensunmittelbar nach der Tat öffentlich einfremdenfeindliches Motiv und einen terro-ristischen Hintergrund ausgeschlossen ha-ben. Diese politische und medial vorgege-bene Stoßrichtung hat nicht zuletzt dazu ge-führt, dass die Opfer des Vorfalls auf einmalzu Verdächtigen gemacht wurden. Kurzum:Opfer wurden zu Tätern gemacht!

DIE AUSWIRKUNGEN

Als im November 2011 bekannt wurde,dass dieser rassistische Bombenanschlagauf das Konto der neonazistischen Terroror-ganisation „Nationalsozialistischer Unter-grund“ (NSU) ging, wuchs bei vielen Men-schen die Wut und Empörung, aber auch dieEnttäuschung – eine Mischung aus Igno-ranz, Scheitern, Verharmlosung und Vertu-schung durch Behörden, Justiz und Staats-apparat(e). Nicht zu übersehen ist auch einVertrauensbruch und Riss, der die gesamteGesellschaft vor Herausforderungen stellt.Für viele war und ist es auch heute noch un-fassbar, dass diese rassistischen und mörde-rischen Taten des NSUvon Staat und Regie-rung nicht erkannt wurden. Die Enttäuschung darüber gilt hier in er-

ster Linie dem bisherigen Versagen der Be-hörden, der Politik, der Justiz und den Me-dien. Gerade der Rassismus der Sicherheits-behörden und der Öffentlichkeit verhindertenach Meinung vieler Menschen auf derKeupstraße die Aufklärung dieses Nagel-bombenanschlages: Während die Hinweiseauf rassistische Motive von Anfang an aus-

geklammert und vernachlässigt wurden, er-schien die These, migrantische Gewerbe-treibende seien in „Ausländer-Kriminalität“verwickelt, den Sicherheitsbehörden undauch der Politik unmittelbar einleuchtendund erübrigte weiteres transparentes und in-tensives Ermitteln. Die Enttäuschung gilthier auch der verfehlten Ermittlungspraxisder Sicherheitsbehörden. So haben geradeauf der Keupstraße die Behörden es kom-plett vernachlässigt, mehrere Augenzeugenanzuhören, Zusammenhänge zu suchen undtransparent zu ermitteln. Hinzu kommt, dass in den Medien nega-

tiv besetzte Begriffe wie „Döner-Morde“verbreitet wurden und auch die Sonderkom-mission mit dem Namen „Bosporus“ aufge-treten ist. Damit schlossen die Sicherheits-behörden und politischen Eliten rassistischeHintergründe sehr früh aus und ethnisiertendie gesamten Ermittlungen.Auch vom Ausgang des NSU-Verfahrens

in München erhoffen sich die meisten Men-schen nicht viel. Umso mehr stärkt es sie,wenn sie auf Solidarität stoßen und ein Zei-chen für Miteinander und friedliches Zu-sammenleben gesetzt wird. Nicht zuletztsind aus dieser Solidaritätsarbeit vielfältigeInitiativen und Signale entstanden, die sei-tens der Keupstraße auf große Sympathienstoßen. Ein Schritt, der den Gedanken von„Birlikte“, also des Gemeinsamen aufwer-tet.

ZWISCHEN LÜCKE UND ZUSAMMEN-STEHEN (BIRLIKTE)

Ein wichtiges Signal der Solidarität und desMiteinanders ist zweifelsohne das Birlikte-Festival auf der Keupstraße. So kamen in2014 über 80.000 Menschen zu diesemFest, um – begleitet durch Konzerte, Tanz,Diskussionen, Literatur und Theater – eindeutliches Zeichen gegen Rassismus undAusgrenzung zu setzen. Daneben hat diesesFest der Vielfalt auch großen Raum zumGedenken an den NSU-Nagelbombenan-schlag auf der Keupstraße geboten. Hierwurden allen voran auch vorhandene Lü-cken geschlossen, denn desto mehr man zu-

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sammenrückt, desto schneller lassen sichVorurteile abbauen. Der Dalai Lama beklagt, dass die Lücke

eine Kluft zwischen Wahrnehmung undWirklichkeit schafft und betont: „Die Quel-le vielen Unglücks ist die Lücke, die zwi-schen unserer Wahrnehmung und der Wirk-lichkeit einer Situation klafft.“ Schließlichentstehen im gesellschaftlichen Alltag Lü-cken, die durch das Zusammenwachsen undZusammenstehen Schritt für Schritt ge-schlossen werden.Somit wären wir bei dem zweiten Ereig-

nis, das die Keupstraße in den letzten Jahrensehr berührt hat. Durch den Umzug desSchauspielhauses Köln in das benachbarteSchanzenviertel, wurde das Tor zur kultu-rellen Vielfalt auf der Keupstraße geöffnet.Entstanden ist das großartige Stück „DieLücke“, in der auch Laien aus der Keupstra-ße ihren Platz finden. Hier geht es um dieProbleme und Herausforderungen derKeupstraße, um Alltagsrassismus, die Aus-wirkungen des NSU-Anschlages und auchum die gesellschaftliche Lücke, die zwi-schen Migrations- und Aufnahmegesell-schaft entstanden ist. Ein Rezept hat keiner– wichtig ist die offene Haltung. Ich erinne-re mich dabei immer wieder an eine Aussa-ge meines Vaters, der heute im Ruhestandist: „Wir hatten damals das Integrationspro-blem auf unsere Weise geklärt. Bei Ford inder Produktion hatten wir wenig Zeit überGegensätze zu sprechen, sondern musstengemeinsam produzieren und arbeiten. Inte-gration ist für mich, wenn in einem Hocho-fen verschiedene Materialien gemischt wer-den, so dass daraus ein neues qualitativesProdukt entsteht.“ Lange habe ich überlegt,was er damit zum Ausdruck bringen wollte,und konnte für mich mitnehmen, dass dasZusammenleben viel mit gesellschaftlicherPartizipation und Teilhabe zu tun und durchdie Begegnung von verschiedenen Kulturenund Menschen eigentlich eine neue Qualitätvon Gesellschaft zusammenwächst. Sokann auch die gesellschaftliche Lücke ge-meinsam geschlossen werden. Benötigtwird eine Gesellschaft der Anerkennungund Akzeptanz.

Vielen Bewohnern und Geschäftsleutenauf der Keupstraße ist bewusst, dass derRassismus in Deutschland nicht über Nachtentstanden ist. Viele haben die 90er Jahremiterlebt: nach einer breiten rassistischenStimmung brannten damals in Hoyerswer-da, Rostock, Mölln und Solingen Häuservon MigrantInnen und Flüchtlingen. In So-lingen traf es am 29. Mai 1993 fünf türkei-stämmige Menschen. Solingen war somitder Höhepunkt einer Welle von neonazisti-schen Anschlägen, die eigentlich die gesam-te Gesellschaft betroffen gemacht hat. Beivielen MigrantInnen – insbesondere den da-mals jüngeren Menschen – hatte bereits So-lingen einen Vertrauensbruch geschaffen.Heute ist es nicht anders. Anschläge aufFlüchtlingsunterkünfte und Asylbewerber-heime, aber auch die rechtspopulistischeStimmung in der gesamten Bundesrepublikerzeugen einen Riss. Die Wunden liegensehr tief. Nicht zuletzt zeigen auch die viel-fältigen Diskussionen, dass der Rassismuskein Randgruppenphänomen mehr ist, son-dern eigentlich längst in die Mitte der Ge-sellschaft gerückt ist. Die Begegnung mitdem NSU-Terroranschlag ist daher nurdurch eine kritische Auseinandersetzungmit der Kontinuität des Rassismus hierzu-lande zu verstehen.Daher fordern viele ZeitzeugInnen aus

der Keupstraße, dass der Prozess gegen denNSU ein ganz klares Zeichen gegen Ras-sismus und rechtsextremen Terror setzt. Esgeht hier für viele Betroffene auch nicht umeine sogenannte kleine materielle Entschä-digung, damit dieser rassistische Angriff ausden Erinnerungen erlischt, sondern viel-mehr geht es um eine erwartete ideelle Ver-antwortung der gesamten Gesellschaft, da-mit kommende Generationen von Migra-tionsjugendlichen in dieser Gesellschaft An-erkennung und Akzeptanz erhalten. Erin-nern ist daher ein kostbares Gut, um solchemenschenverachtenden Grausamkeiten zuächten und Rassismus zu bekämpfen. Die Keupstraße bietet dabei mit ihrer

Vielfalt einen sehr guten Raum, um entstan-dene Lücken zu schließen und das Gemein-same zu suchen.

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Menschenkette gegen Rassismus 2011

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„Alle lebten friedlich zusammen, nach demkölschen Motto ,Jeck loss Jeck elans’“ (Lass den Anderen sein wie er ist)

Willy Hungenberg erinnert sich noch gut andie Luftangriffe auf Köln in den letztenKriegsjahren. Seine Familie wurde drei Malausgebombt, zuletzt im Oktober 1944 in derKeupstraße 70. Bei dem Angriff haben siealles verloren und wurden nach Sachsenevakuiert, in einen Ort in der Nähe von Wit-tenberg. Dort erlebten sie den Einmarschder Roten Armee und das Kriegsende. SeinVater war im Krieg gefallen, und im Juni1946 kam er mit seiner Mutter, den Großel-tern und einer Tante schwarz über die Gren-ze und dann zurück nach Köln-Mülheim.Sie zogen wieder in die Keupstraße. Wiesah die Keupstraße damals aus?

„Das kann man sich heute gar nicht mehrvorstellen, die Keupstraße war fast vollstän-dig zerstört. Es stand kaum ein Haus mehr,und die Straße war mit Schutt übersät, über-all lagen Trümmer herum. Meine Mutter hatbei der Aktion Trümmerfrauen mitgemacht,und ich auch. Für einen sauber geputztenZiegelstein bekam man 10 Pfennige!“Das ging so ein Jahr lang, dann war allessauber. Da es überhaupt keinen Verkehr gab,wurde die Straße für die Kinder zum Spiel-platz, wo sie Roller fuhren, Treibball undFußball spielten, sowie ein Spiel, dasSchwenkelschleuder hieß und aus altenKonservendosen gebastelt war.

Willy Hungenberg erinnert sich noch gut andas erste Fahrzeug, das nach dem Kriegdurch die Keupstraße fuhr: Anfang der 50erJahre ein Wagen mit Pferd des Transport-

unternehmens Fa. Huppertz, das Felten &Guilleaume belieferte.Zuerst wohnte die Familie im Hinterhaus

bei der Tante Zander, deren Mann 1949 ausder Kriegsgefangenschaft zurückkehrte.Vom Haus Nr. 70 stand noch etwas, und1948 baute der Hauseigentümer das Vorder-haus wieder auf. Die Familie Zander und dieGroßeltern zogen in den Oberstock, WillyHungenberg und seine Mutter blieben imHinterhaus wohnen, „wo wir es uns sehrnett gemacht hatten, mit einem hübschen

Keupstraße 70, das Wohnhaus von Willy Hungenberg

Willy Hungenberg wurde 1935 in Köln-Kalk geboren. Er hat seine Kindheitüberwiegend in der Keupstraße ver-bracht und lebt jetzt in Köln-Buchforst.

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kleinen Garten. Dort wuchs Gemüse, undwir hatten auch Kaninchen.“Vor allem erinnert er sich an den Tabak, derdort mehr oder weniger illegal angepflanztund verarbeitet wurde. Nachdem er getrock-net war, wurde er gerollt und mit einer klei-nen Maschine in feine Streifen geschnitten.

1962 heiratete er und verließ die Keupstra-ße, aber seine Mutter hat hier bis zu ihremLebensende gewohnt. Da er bei Felten &

Guilleaume arbeitete, kam er weiterhin je-den Arbeitstag nach Mülheim und ging zumMittagessen zu seiner Mutter in die Keup-straße. Schon sein Großvater hatte bei F &G gearbeitet, 50 Jahre lang! „Er hat immergesagt: Junge, wenn du bei F & G arbeitest,hast Du ausgesorgt!“

Willy Hungenberg war nachseiner Ausbildung bei F & Gzuerst in der Abteilung Maschi-nenbau und danach bis zumRenteneintritt als Gruppenleiterin der Konstruktionsabteilungbeschäftigt. Damals wurdenviele junge Leute auch ohneBerufsausbildung angestellt, siewurden angelernt und konntenaufsteigen.

Dann kamen immer mehr Ge-schäfte in die Keupstraße: „Ich

Keupstraße 68, Lederwaren Osterroth

Keupstraße 62, Radio Hochstätter 1976

Keupstraße 68 – 72,1927

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erinnere mich noch gutan die ersten Geschäfte,die Ende der 50er, An-fang der 60er Jahre er-öffnet wurden. Zum Bei-spiel neben unseremHaus das Geschäft Oster-roth für Lederwaren oderdas Radio- und Schall-plattengeschäft der Fir-ma Hochstätter. BeideGeschäfte sind hier aufFotos aus 1976 zu sehen:Als Deutschland 1954 dieFußball-WM gewann,gab es da eine öffentlicheFernsehübertragung –wir standen alle vor demGeschäft auf der Straße,hörten und sahen zu undfieberten mit.“

Es entwickelte sich eine sehr lebendige Ge-schäftsstraße, mit Bäckereien, Lebens-mittelgeschäften, allen möglichen Fachge-schäften und Kneipen. Bis 1967/68 war eseine rein deutsche Straße. Dann kamen dieersten Italiener, Spanier und Griechen, diemeist bei F & G und auch bei Klöckner-Humbold-Deutz arbeiteten. Ein spanischerArbeiter wohnte auch kurz im Haus derHungenbergs. Anfang der 70er Jahre kamendann die ersten Türken, die alle auch bei F & G oder bei KHD arbeiteten. Es warenkeine jungen Leute, eher ältere, einige vonihnen waren seine Kollegen bei F & G.

„Sie waren sehr bescheiden und freundlich.Meine Mutter fand sie sehr höflich. Sie wardamals schon ziemlich gebrechlich – siehatte Herzprobleme und Wasser in den Bei-nen – und wenn wir rausgingen, musste ichsie stützen. Wenn ich mit meiner Mutter aufdem Fußweg lief, dann machten sie Platzfür uns.“

Damals wohnten in der Keupstraße alle Na-tionalitäten neben den deutschen Anwoh-nern, es gab keine Probleme, auch nicht beider Arbeit. Im Haus Nr. 70 hatte die Fa.

Steinberg eine Stoffhandlung und Ände-rungsschneiderei eröffnet, in der Italienerin-nen und Griechinnen arbeiteten, die auch inder Keupstraße wohnten. „Alle lebten fried-lich zusammen, nach dem kölschen Motto‘Jeck loss Jeck elans’.“ Aber mit der Zeitveränderte sich das Zusammenleben:

„Es driftete auseinander. Es lag sicher dar-an, dass die Kultur der Italiener, Spanierund Griechen ja der unseren näher ist alsdie der Türken. Die Türken waren Muslimeund hatten ganz andere Sitten, und weil siekeinen Alkohol tranken, gingen sie nicht indie Kneipen, sondern sie eröffneten Teestu-ben für Männer.“

Sie gingen auch nicht zum Bäcker, um Bröt-chen zu kaufen, sondern eröffneten ihre ei-genen Bäckereien, die Fladenbrot buken,was wiederum die Deutschen nicht aßen.Allmählich verschwanden die deutschenGeschäfte, und es kam zu einem Bevölke-rungsaustausch: die Türken investierten ihreErsparnisse und kauften Wohnungen undHäuser in der Keupstraße. Sie eröffnetenihre eigenen Geschäfte und Restaurants, eswar ein Prozess, der sich über Jahre hinzog,bis die Keupstraße das Gesicht bekam, dassie heute zeigt.

Willy Hungenberg (links) mit Muammer Akkoyun im Oktober 2015 in Mülheim

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Keupstraße Nr. 70 heute17

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Wolfgang Becker istim Dreikönigenhospi-tal in der Keupstraße 2geboren und in derKeupstraße Nr. 23 auf-gewachsen. Hier hat ergelebt, bis er 1972 indie Südstadt gezogenist.

Er ging zuerst in denKindergarten der Lan-gemaßstraße, dann dieersten Schuljahre in

die Volksschule in der Hacketäuerkasernean der Tiefentalstraße und ab 1956 in diegerade fertiggestellte evangelische Volks-schule an der Mülheimer Freiheit. 1957kam er aufs städtische Mülheimer Jungen-gymnasium Düsseldorfer Straße, jetztRheingymnasium, wo er 1966 das Abiturmachte. Er studierte in Köln Betriebswirt-schaftslehre und war von 1973 bis 2004 alsAngestellter in der Verwaltung der Lufthan-sa beschäftigt. Er ist im Vorstand des SPD-Ortsvereins Südstadt, Geschäftsführer derSPD-Fraktion in der BezirksvertretungInnenstadt und Vorsitzender der Gemein-schaft ehemaliger Lufthanseaten in Köln.Wolfgang Beckers Großeltern mütterlicher-seits sind vor dem 1. Weltkrieg in die Keup-straße gekommen und in das Haus Nr. 23gezogen, das um 1900 gebaut worden war.Sie haben dort das TextilwarengeschäftMax Buchholz eröffnet, in dem insbesonde-re Hüte, Mützen, Schirme und Kurzwaren –vor allem Produkte der Firma Brügelmann– verkauft wurden. Eigentlich hat seineOma Martha Schmelzer, geb. Blech, verwit-

wete Buchholz, das Geschäft gegründet.Opa Max Buchholz war Maschinist und istim 1. Weltkrieg gefallen. Sie hat das Hausum 1913 gekauft. Wolfgang Beckers Elternhaben 1935 geheiratet und dann den Betriebübernommen.

Als der Vater 1939 zur Flak eingezogenwurde, hat die Mutter den Laden alleineweitergeführt und mit dem 1935 geborenenBruder den Krieg in Köln und Hoffnungstalüberstanden. Neben der Oma lebte im er-sten Stock auch eine Tante mit ihrer Tochter,während Familie Becker den 2. Stock be-wohnte, wo vor allem die Schlafzimmerwaren, weil sich Büro und Küche im Erdge-schoss hinter dem Ladengeschäft befanden.

„Die Türken waren so bescheiden, dass sieam Anfang gar nicht auffielen.“

Wolfgang Becker ist 1947 geborenund hat bis 1972 in der Keupstraßegelebt, die er noch heute oft besucht.

W. Becker 2014

Keupstr. Nr. 23, 1928

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Die gemeinsame Toilette war im Zwischen-geschoss des Anbaus.

Als die Bombenangriffe auf Köln zunah-men, zog die Familie nach Hoffnungstal,wo sie bis zum Kriegsende blieb. Auch ihrHaus in der Keupstraße wurde von einerBombe getroffen, aber durch das schnelleEingreifen des Chefs der Werksfeuerwehrvon F & G – mit dem die Familie befreun-det war – konnte der Brand schnell gelöschtwerden. Der Vater kehrte 1945 nach kurzeramerikanischer Gefangenschaft aus Ander-nach zurück, und bald nach dem Krieg undden Aufräumarbeiten öffneten viele Ge-schäfte in der Keupstraße wieder. In den50er Jahren existierten in fast jedem HausLadengeschäfte, darunter auch eine ganzeAnzahl Textilgeschäfte. So eröffnete dieTante im Anbau des Hauses Nr. 23 zunächstein Geschäft für Taschen und danach fürSpielwaren. Später verlegte sie den Ladenin das „Hutzelhäuschen“, direkt gegenüberauf der anderen Straßenseite, nachdem das

Textilgeschäft Dünhoff dort geschlossenhatte. Nebenan war in einer ausgebranntenRuine der Zigarrenladen Bongard im Erd-geschoss. Es gab durch den Bombenkriegauch einige Ruinen in der Keupstraße, dienach dem Krieg im Laufe der Jahre wieder-aufgebaut wurden. Diese Ruinengrundstü-cke waren als Spielgelände sehr beliebt,aber auch gefährlich. „Sehr wichtig war füruns Kinder das Eisgeschäft Grosser gegen-über in der Nr. 52, als das Bällchen Eisnoch 10 Pfennig kostete.“ Nebenan war dasLebensmittelgeschäft Steimel in der Nr. 21,hier befindet sich jetzt ein Imbissladen.

Dank des allgemeinen Wirtschaftswachs-tums und der wachsenden Anzahl von Be-schäftigten bei F & G florierte der Handel inder Keupstraße, auch die Kneipen hattengroßen Zulauf, vor allem freitags nach derLohnauszahlung – wobei es nach reichlichAlkoholgenuss auch zu Randale und Schlä-gereien kam. Während die ungelernten Ar-beiter sich nach der Arbeit in der Kneipe

Keupstr. Nr. 23, 1955 Keupstr. Nr. 23 heute

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Köster, später Faßbender, trafen, gingen dieFacharbeiter zu Schierbaum, die Angestell-ten zu Scholl und die „besseren Leute“ fre-quentierten das bürgerliche Gasthaus zumLaacher See (später Müffler), das auch Mit-tagstisch und Tanzveranstaltungen bot. Hiertrat auch Paulchen Kuhn, der in den 1970erJahren in Köln-Mülheim lebte, mit seinemHit „Ein Musikus, ein Musikus“ auf.

Ab Ende der 60er Jahre kamen monatlichca. 80.000 türkische Arbeitskräfte nachDeutschland. In Köln arbeitete eine großeAnzahl von ihnen bei Ford und in Mülheimauch bei der Schamottefabrik Martin undPagenstecher in der Schanzenstraße. Hierwaren die Arbeitsbedingungen sehr schlechtund führten häufig zu Erkrankungen undTod durch Staublunge. Anfangs wohntendie Türken in Wohnheimen, dann kamen dieFamilien nach. „Sie waren so bescheiden,dass sie am Anfang gar nicht auffielen“, er-innert sich Wolfgang Becker.

Allmählich veränderte sich die Keupstraße.Während der 60er Jahre wurde das Kopf-steinpflaster der Keupstraße durch einenAsphaltbelag ersetzt. Die kurz nach demKrieg notdürftig wieder aufgebauten Häuserin der Keupstraße wurden in den 70er Jah-ren renoviert und modernisiert. So wurden

die beiden Häuser mitdem TextilgeschäftDünhoff und dem Zi-garrenladen Bongard,die durch Bomben er-heblich zerstört wor-den und in einem sehrschlechten Zustandwaren, von Herrn Pohlgekauft, der einen Ge-müseladen unter derMülheimer Brücke be-trieb. Er baute sie alsein Haus komplett neuauf und sein Sohnwohnt immer noch inder Wohnung im erstenStock. Im Erdgeschossist heute das Restau-

rant Asmali Konak. Wolfgang Becker kauf-te Anfang der 80er Jahre das Haus Nr. 23aus der Erbengemeinschaft und renoviertees. In den oberen Stockwerken entstandenabgeschlossene Wohnungen, man erneuertedie Wasser-, Abwasser- und Stromleitungenund installierte moderne Sanitäranlagen.

Allmählich wurden die Keupstraßenkindererwachsen, sie heirateten und zogen mit ih-ren jungen Familien in die großen Neubau-gebiete, wie die Stegerwald- oder Bruder-Klaus-Siedlung. Als dann die alten Elternstarben, zogen türkische Familien ein, wasanfangs überhaupt nicht auffiel. Und baldentstanden die ersten türkischen Geschäfte:das Fahrradgeschäft Kochan neben dem jet-zigen Restaurant Asmali Konak ist schonüber 10 Jahre ein türkischer Juwelier, aufder anderen Seite entstand mit dem „Mevla-na“ das erste türkische Restaurant, damalsnoch sehr bescheiden. In den 80er Jahrenbegannen dann die Türken Häuser undWohnungen zu kaufen.

Nach dem Tod der Mutter gaben die Be-ckers das Geschäft auf und veranstaltetenaus diesem Anlass einen Totalausverkauf zuTiefstpreisen, zu dem vor allem türkischeFrauen strömten. Der Betreiber einer türki-schen Teestube mietete daraufhin das ganze

Die Nr. 23 1930 innen

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Haus und untervermietete es dann an Ver-wandte und Landsleute und es eröffnetedann ein Gemüseladen im Erdgeschoss.Wegen Unregelmäßigkeiten wurde dasMietverhältnis aber beendet und WolfgangBecker nahm die Vermietung in eigeneHände.

In der Folgezeit ver-suchten sich diverseGeschäftsleute alsObst- und Gemüse-händler. Später wurdenim Laden Nüsse undgetrocknete Früchteverkauft. Aber auchdieser Laden gab baldauf Grund mangelndergeschäftlicher Erfah-rung wieder auf. Späterübernahm Familie Gü-zel den Laden und rich-tete einen reichhaltigsortierten Kiosk darinein, mit Geldtransferund Lottoannahme.Dank ihrer Tüchtigkeitläuft das Geschäft sehrgut. Mit der Zeit kamman sich näher, so dassWolfgang Becker vor

zwei Jahren das Haus an Herrn Güzel ver-kauft hat, obwohl es noch eine ganze Reiheanderer Interessenten gab.

Auch in vielen anderen Häusern ändertensich Besitzer und Nutzung. Die MetzgereiLippegaus in der Nr. 84 machte der Kondi-torei Özdag Platz, die Protagonisten einer

Fernsehserie wurden. Imehemaligen FotoladenPenningsfeld in der Nr. 58ist jetzt ein Import-Ex-portgeschäft. Um sich vonseinem Onkel in derFrankfurter Straße abzu-grenzen, nannte der Sohnsein Geschäft Foto-Gregoram Neumarkt. Sehr langehat sich das Lederwaren-geschäft Osterroth in derNr. 68 gehalten, das dannvorübergehend von einemBordell abgelöst wurde.Mit der Gaststätte Küh-bach in der Nr. 69 schlossdie letzte deutsche Kneipein der Keupstraße.

Gasthauszum LaacherSee,1965

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Metzgerei Lippegaus,1975

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Meral Sahins Vater stammt aus einer Klein-stadt in der Westtürkei. Ein Onkel, der be-reits als ungelernter Arbeiter bei Felten &Guilleaume beschäftigt war, schrieb ihm,dass die Firma dringend Facharbeiter such-te. So kam Ihsan Sahin mit 24 Jahren nachMülheim, um als Dreher ebenfalls bei F & Gzu arbeiten. Bei einem seiner ersten Hei-maturlaube lernte er Zekiye kennen, sie hei-rateten und das junge Paar zog in eine klei-ne Wohnung in der Keupstraße 94. SiebenJahre nach Meral wurde ihr Bruder Leventgeboren, heute Facharbeiter im Eisenwerkin Brühl, und ein paar Jahre später kam Hü-seyin dazu, der als Zahntechniker arbeitet.

Die Wohnung in der Keupstraße wurde baldzu klein für die Familie. Außerdem wollteder Vater nicht, dass seine Kinder in der da-mals recht turbulenten Keupstraße aufwach-sen, in deren Wirtshäusern es öfters zuSchlägereien kam. Also zog man in einegrößere Wohnung im viel ruhigeren Wesse-ling. Bis zu ihrem 16. Lebensjahr ging Me-ral auf die Realschule der Ursulinen in Wes-

seling und dann bis zum Abitur aufdas Gymnasium in Rodenkirchen.Nach ihrem Abschluss als MTA(Medizinisch-technische Assisten-tin) an der Rheinischen Akademiearbeitete sie im Labor des städti-schen Klinikums in Leverkusen.1991 heiratete sie und zog zu ihremMann nach Köln-Niehl. 1996 wur-de ihr Sohn geboren, den sie nachder Trennung von ihrem Mann al-lein aufzog. Derzeit studiert erJura, spielt nebenbei Fußball im

Verein Rhein-Süd und ist sehr stolz auf sei-ne Mutter, so wie seine Mutter sehr stolz aufihn ist.

Nachdem das Klinikum in Leverkusen pri-vatisiert worden war, verschlechterten sichdie Arbeitsbedingungen erheblich, und sobeschloss sie ihr Hobby zum Beruf zu ma-chen. Schon als junges Mädchen und späterneben ihrer Arbeit begeisterte sie sich fürDekorationen, zum Beispiel für Hochzeits-feiern. Anders als in Deutschland kommenin der Türkei bei solchen Festen aufwändigeDekorationen zum Einsatz. In einemHinterhof in der Keupstraße eröffnete sieihren ersten kleinen, aber liebevoll einge-richteten Laden für türkische Dekorations-artikel, die es in deutschen Geschäften nichtzu kaufen gab. Solche Artikel galten damalsals Luxus unter den türkischen Immigran-ten, die sich nichts gönnten und für die Zeitnach ihrer Rückkehr in die Türkei sparten,für ein gutes Leben im eigenen Haus. Undso dienten die bescheidenen Läden in derKeupstraße damals ausschließlich dazu, die

„Man muss die Verschiedenheiten der Menschen respektieren, aber dabei immernach Gemeinsamkeiten suchen.“

Meral Sahin ist 1971 in Köln-Kalk auf die Welt gekommen. Sie ist Geschäftsfrau und Vorsitzende der IG Keupstraße.

Meral Sahin bei Frank Plasberg im WDR

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wichtigsten Grundbe-dürfnisse zu befriedi-gen. Da man sichnicht vorstellen konn-te, dass sie mit einemsolchen Laden Kun-den anziehen könnte,

prophezeite man ihrem Geschäftkeine große Zukunft. Tatsächlichhatte sie jedoch eine Marktlückeentdeckt: die Kinder der erstenGeneration von Einwanderern ausder Türkei waren inzwischen er-wachsen, und viele von ihnenwollten in Deutschland bleibenund hier ein gutes Leben führen.Und dazu gehörten eben auch gro-ße Hochzeiten und Tauffeiern, mitden aus der Türkei gewohnten Tra-ditionen und Dekorationen.

Auch Merals Familie hatte ur-sprünglich vor, in die Türkei zu-rückzukehren. Noch 1982 hatte ihrVater erklärt: „Wir gehen zurück!“Sie selbst wollte mit 15 Jahren,nach der 10. Klasse, in eine Schu-le in der Türkei wechseln, um dortihren Abschluss zu machen. Alssie jedoch erfuhr, dass es nichtmöglich war, nach Vollendung des16. Lebensjahrs problemlos nachDeutschland zu reisen – das wardann nur noch mit Visum möglich– erklärte sie ihren Eltern, dass siein Deutschland bleiben wolle. IhreEltern hatten sich inzwischen

Das neue Geschäft von Meral Sahin, Gladbacher Str. /Ecke Keupstraße

Meral Sahin mit demehemaligen OB Rotersund BürgermeisterinScho-Antwerpes bei einer Kundgebunggegen Rassismus imOktober 2015

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ebenfalls anders entschieden, auch weil diejüngeren Brüder noch hier zur Schule gin-gen. Ihre Eltern leben weiterhin in Wesse-ling.

Nach einem kurzen erfolglosen Intermezzomit einem gemeinsam mit einer Geschäfts-partnerin betriebenen Laden in der Keup-

straße eröffnete sie 2003 das Geschäft Me-ral Deko in der Gladbacher Straße 99. Dortblieb sie, bis ihr Haus in der Gladbacher

Straße 95 fertiggestellt war, was sich wegenmehrerer Baustopps langwieriger undschwieriger gestaltete, als sie erwartet hatte.Auf zähe Verhandlungen mit dem Liegen-schaftsamt für den Kauf des Geländes, dasseit 20 Jahren brach lag, folgten Streitigkei-ten mit dem Besitzer des Nachbargrund-stücks und diverse andere Probleme. Mitte

März 2015 war es dannendlich so weit: MeralDeko konnte in die schö-nen geräumigen und hel-len Räume einziehen.

Bei der Geschäftseröff-nung 2006 wurde MeralSahin zur 2. Vorsitzendender IG Keupstraße ge-wählt, 2013 avancierte siezur 1. Vorsitzenden undwurde 2015 in dieser Posi-tion bestätigt. Als großeBereicherung betrachtetsie die Mitarbeit an derProduktion des Theater-stücks „Die Lücke“ mitdem Schauspiel Köln, indem das nicht leichte Le-ben der Keupstraßenbe-wohner, vor allem nachdem NSU-Nagelbomben-attentat von 2014, themati-siert wird:

„Bei dieser Zusammenar-beit mit dem SchauspielKöln hatte ich zum erstenMal das Gefühl, dass manmir wirklich zuhört, dassman mir auf Augenhöhebegegnet. Sie haben sichso sehr bemüht, dasSchreckliche zu verstehen,das uns geschehen war.“

Es hat sie in ihrer Über-zeugung bestätigt, dass

man die Verschiedenheiten der Menschenrespektieren, aber dabei immer auch die Ge-meinsamkeiten suchen muss.

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Bei der Geschäftseröffnung in der Gladbacher Str. 95

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Sevim Özdemir hat den größten Teil ihresLebens in der Keupstraße verbracht. Siewohnt und arbeitet dort weiterhin als Mitei-gentümerin des Restaurants „Mevlana“ inder Keupstraße 45 – 49.

Warum trägt das Restaurant den Namen desberühmten Sufi-Mystikers und Gründer desDerwisch-Ordens aus dem 13. Jahrhundert?„Weil wir aus Konya kommen, wo er gelebthat und begraben ist, und wir ihm verbun-den sind.“Ihr Vater Mehmet Koc, geboren 1943,

stammt aus einer Gastwirt- und Metzgerfa-milie in Konya und verließ mit fünfund-zwanzig Jahren seine Familie und Heimat-stadt. Über Innsbruck, Stuttgart und andereStädte kam er schließlich nach Köln. Er warnie lange an einem Ort, arbeitete immersechs Monate oder ein Jahr in verschiede-nen Fabriken, unter anderem auch in einerDynamitfabrik in der Nähe von Köln. Nacheinem halben Jahr bei Ford kam er 1976 indie Keupstraße, um im Restaurant Sark derFamilie Bali als Koch zu arbeiten. ZweiJahre später ließ er seine Frau Sari und die

„Es war eine harte Zeit, aber es hat auchSpaß gemacht!“

Sevim Özdemir ist 1972 geboren undkam als Vierjährige mit Mutter undSchwester zu ihrem Vater in die Keup-straße.

Keupstraße 45 – 49 (mit dem Rest von 51), 1926

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Töchter nachkommen, Sevim war damalsvier und ihre Schwester Medine sechs Jahrealt. Sie erinnert sich noch gut an die ersteZeit in der Keupstraße: „Wir hatten nurdeutsche Nachbarn, viele von ihnen ältereLeute, sie waren alle sehr freundlich undhilfsbereit. Und wir sind ihnen respektvollbegegnet. Für eine alte Dame habe ich öf-ters eingekauft: sie gab mir Geld und einenZettel, auf dem stand, was sie brauchte.Nach einem halben Jahr habe ich schonganz gut deutsch gesprochen.“

Nachdem Mehmet sechs Jahre als Koch ge-arbeitet hatte, beschloss das Ehepaar Kocsich selbständig zu machen. Sie übernah-men 1982 die Metzgerei in der Keupstraße47, gegenüber vom Restaurant Sark, undwollten dort einen Imbiss eröffnen. Es dau-erte anderthalb Jahre, bis sie dafür eineKonzession bekamen. Um die Miete bezah-len zu können, mussten sie bei Verwandten,Bekannten und Nachbarn Geld leihen. Eswar eine schwere Zeit, und ohne die Unter-stützung des Vermieters, Herrn Reen, wärees noch härter gewesen. Er verzichtete aufsechs Monatsmieten und half ihnen auch,die für die Ausübung eines Gewerbes not-wendige Aufenthaltsgenehmigung zu be-kommen. „Herr Reen glaubte an uns undmachte uns Mut“. Er lebte schon damals inUnna, aber kommt auch jetzt noch nachKöln, um sie zu besuchen.

Als sie dann endlich eröffnen konnten, liefdas Geschäft gut an, aber es bedeutete harteArbeit für die ganze Familie. Mama war dieeigentliche Chefin, sie organisierte die Ar-beit und kochte nach ihren eigenen Rezep-ten, Papa machte den Einkauf und Döner,die Töchter halfen, wo sie gebraucht wur-den. Sevim musste die Schule leider in der9. Klasse abbrechen, weil sie dringend imGeschäft gebraucht wurde. Sie wurde dannauch bald mit der Buchführung betraut. Ei-gentlich hätte sie dafür eine Ausbildung ma-chen sollen, aber da man nicht auf ihre Hil-fe verzichten konnte, eignete sie sich dienotwendigen Kenntnisse selbst an. Und da-mals hatten sie keine Spülmaschine, alles

Geschirr und die Töpfe mussten im Spülbe-cken gewaschen werden, und die Zwiebelnwurden mit der Hand geschnitten. Die Fa-milie arbeitete 16 Stunden am Tag, sie stan-den früh um sechs Uhr auf und kamenmanchmal erst um 2.00 Uhr morgens insBett.

„Es war eine harte Zeit. Wir hatten keineZeit für Kino oder Spazierengehen und un-sere Freunde mussten ins Restaurant kom-men, um uns zu sehen. Aber es hat auch

Spaß gemacht“, meint Sevim Özdemirrückblickend. Und es hat sich gelohnt: 1996kauften sie das Haus Nr. 47 und zwei Jahrespäter die beiden Nachbarhäuser zur Linkenund zur Rechten, um das Restaurant zu er-weitern. Die Erweiterung mit den notwendi-gen Umbauten erwies sich wegen zahlrei-cher bürokratischer Hürden als recht müh-selig, vor allem das Bauamt der Stadt Kölnbestand auf zum Teil sinnlosen Auflagen.Aber jetzt ist das Restaurant mit seiner Mar-morfassade und den großen Fenstern einSchmuckstück der Straße.

Nach anfänglich zwei Angestellten beschäf-tigen sie jetzt 47 Leute und an Wochenen-den 52. Mutter Sari ist jeden Morgen als Er-

Mehmet Koc (vor dem Dönerspieß) alsKoch für das Restaurant Sark beim Schul-fest der Gesamtschule Holweide 1980

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ste im Restaurant, sie organisiert alles undteilt die Schichten ein. Leider geht es demVater gesundheitlich nicht sehr gut, so dasser nur noch gelegentlich mitarbeiten kann.Die Konzession wurde inzwischen auf Me-dine übertragen, die 1987 ihren Mann Mu-hittin in Konya geheiratet hat. „Ein Jahrspäter kam er nach Köln und jetzt ist er dasRückgrat des Restaurants!“

Sie haben eine Tochter und zwei Jungen, ei-ner von ihnen studiert, der andere machteine Ausbildung, um später das Restaurantübernehmen zu können. Sevim und Medinehaben ihre Ehemänner in Konya gefunden,sie sind miteinander verwandt, kennen sichschon lange und alle heißen Özdemir. Se-vim hat 1991 geheiratet und lebt getrenntvon ihrem Mann. Sie hat drei Kinder, zweiMädchen und einen Jungen. Die drei Gene-rationen leben in den Wohnungen über demRestaurant, die über eine Terrasse miteinan-der verbunden sind, und „alle Kinder sindpraktisch im Restaurant groß geworden.“

Die Eltern Koc und ihre zwei Töchter lebennun schon seit fast vierzig Jahren in derKeupstraße, wie hat sich die Straße in dieserZeit verändert? „Als wir ankamen, warendie Häuser ziemlich heruntergekommen,

und es roch darin oft nach Schimmel. ImLauf der Zeit haben wir, die neuen Eigentü-mer, viel Geld und Mühe darauf verwandt,die Fassaden zu renovieren und die Innen-räume zu modernisieren. Wir haben auchdafür gesorgt, dass das Straßenbild insge-samt schöner wurde, und wir bemühen uns,dass es so bleibt. Aber es gibt noch viel zuverbessern, und die Stadt sollte sich stärkerengagieren, zum Beispiel sind die Spielplät-ze sehr vernachlässigt, seit zwei Jahren gibtes Ratten, nicht nur in den Hinterhöfen, undes fehlt an Parkplätzen. Das ist seit jeherein Problem, und es fehlt an der Koopera-tion der Behörden.

Es müsste auch dafür gesorgt werden, dassdie vielen Menschen, die seit einigen Jahrenaus den Balkanländern, vor allem aus Bul-garien, zuwandern, besser integriert wer-den. Sie kommen in die Keupstraße, weil sietürkisch sprechen, aber sie haben meist kei-ne Arbeit und wohnen in schlechten, über-teuerten Unterkünften. Und diejenigen, dieArbeit gefunden haben, werden oft nicht an-gemessen bezahlt. Hier müsste die IG Keup-straße auf Vermieter und Arbeitgeber ein-wirken, und die Stadt müsste mehr kontrol-lieren.“

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Mehmet und Sari Koc vor ihrem Restaurant Mevlana, März 2016

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Cemal Güzels Familie stammt aus Dersimin Ostanatolien und gehört zur ethnischenMinderheit der Zaza. Sein Vater war aufEinladung eines Schwagers nach Weil amRhein gekommen, um Arbeit in Deutsch-land zu finden. Zuerst versuchte er es in

Mannheim, wo er von Verwandten erfuhr,dass Ford in Köln Arbeiter suchte, und sokam er 1972 nach Köln. Er fand ein Zimmerin der Keupstraße und ließ bald seine Fraunachkommen. Cemal und zwei nachfolgen-de Geschwister waren in der Heimat geblie-

ben und gingen dort ineine Internatsschule. 1974kam er mit seinen Ge-schwistern zum erstenMal nach Köln, um dieSchulferien mit seinen El-tern zu verbringen, die in-zwischen in Buchheimlebten. Lachend erinnerter sich, wie ihn das Fern-sehen beeindruckt hat:„Ich kam aus einem Dorfohne Fernseher, denn dortgab es keinen Strom!“

Auch die Fruchtgummis,die er von den Vermietern,einem älteren deutschenEhepaar bekam, sind einebleibende Erinnerung,und der kleine Blumenla-den an der Ecke, wo seinerster deutscher Freund zuHause war. Wie haben siesich denn damals verstän-digt? „Mit Händen undFüßen, wie Kinder sichhalt verständigen, undnach drei Monaten Ferien

„Die Keupstraße ist ein Magnet über dieGrenzen Kölns hinaus, vor allem für die tür-kische Community, aber auch für Deutsche.“

Cemal Güzel wurde 1968 geboren, kurzbevor seine Eltern zum Arbeiten nachDeutschland zogen. Sie holten ihn und seine Geschwister 1980 nach.

Keupstraße 23, 1926

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konnte ich auch schon ganzgut deutsch sprechen.“

1980 fanden die Eltern inder Alte Wipperfürther Stra-ße eine sechzig Quadratme-ter große Zweizimmerwoh-nung, ohne Bad. Sie ließenihre Kinder nachkommen,und im November wurde derjüngste Bruder geboren. Essollte noch vier Jahre dau-ern, bis sie 1984 in eineDreizimmerwohnung ziehenkonnten, in die sie selbst einBad einbauten. Cemal kamnach seiner Ankunft in eineVorbereitungsklasse unddann in die 7. Klasse derHauptschule in der Riccar-da-Huch-Straße. 1983 ver-ließ er die Schule mit derMittleren Reife und trat eineLehrstelle als Maschinen-schlosser bei KHD an. An-schließend arbeitete er aufeinem Kraftwerkbau vonSiemens, und nach dessenAbschluss ging er zurück zuKHD, wo er bis 1988 amFließband stand. Von 1988bis 1992 war er als Maschi-nenschlosser bei Ford be-schäftigt, dann beschloss er, zu kündigenund sich selbständig zu machen. Er hatte in-zwischen geheiratet, ein junges Zazamäd-chen aus Hamburg. Seine und ihre Elternkannten sich, und sie hatten ein Treffen derjungen Leute arrangiert, das in gegenseitigeZuneigung mündete. Sie waren beide sehrjung – er 21 und sie 18 – als sie nach derVerlobungsfeier in der Türkei 1990 in Born-heim heirateten: „An Weiberfastnacht! Esgab keinen anderen freien Termin, und dieStandesbeamten waren so freundlich, andiesem speziellen Tag zu arbeiten und unszu verheiraten!“

Das junge Paar hatte 1992 – nach gründ-licher Marktanalyse in der Keupstraße und

Umgebung – beschlossen, als Automaten-aufsteller im Kölner Raum zu arbeiten, wassich als lukratives Geschäft erwies. Nachder Heirat lebte das junge Paar einige Jahrein einer 90 Quadratmeter großen Wohnungin der Bergisch Gladbacher Straße, ehe dieFamilie 2010 endlich ihre Eigentumswoh-nung von 120 Quadratmeter in Leverkusenbeziehen konnte. 1993 wurde Sohn Cem ge-boren, 1999 folgte ein Mädchen, Ceyida.1993 war Cemals Vater mit nur 48 Jahren anakutem Diabetes gestorben, als sein jüng-ster Sohn erst 13 Jahre alt war. Es war eineschwere Zeit für alle, aber vor allem für dieMutter, und Cemal als ältestem Sohn fieldie Rolle des Familienvorstands zu. Die

Keupstraße 23, 1976

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Mutter lebt in Mülheim. Der drei Jahre jün-gere Bruder arbeitet als Betriebsschlosserbei Ford. Die Schwester hat Sozialpädago-gik studiert, ist berufstätig und lebt mit ihrerFamilie in Gummersbach. Der jüngste derBrüder versucht, seinen Lebensunterhalt alsSelbständiger zu verdienen.

Neben der Arbeit als Automatenaufstellerergab sich 2006 die Gelegenheit, mit derÜbernahme eines Lebensmittelgeschäfts inder Keupstraße 23 das Geschäftsmodell zuerweitern. Eigentlich hätte dort ein Café er-öffnet werden sollen, für das leider keineZulassung erteilt wurde, angeblich weil dieKeupstraße an erster Stelle ein Wohngebietsei. Dann wurde kurzfristig ein Laden fürTrockenfrüchte daraus, der sich leider auchnicht rentierte. Nachdem der Laden ein Jahrungenutzt geblieben war, weil die Behördensich weiterhin weigerten, eine Lizenz fürein Restaurant mit Ausschank zu erteilen,entschied man sich für die Eröffnung einesKiosks. Cemal Güzel setzt dabei seinenEhrgeiz auf eine größtmögliche Auswahl anArtikeln und – vor allem bei Zigaretten undGetränken – auf möglichst viele Sorten.Darüber hinaus reicht das Angebot von Jo-ghurt über Deo zu Heftpflaster, danebenbietet der Kiosk Dienste für Geldüberwei-sungen, Lotto, Post und Telefonkarten an.Das Geschäft läuft sehr gut, es gibt sowohlStamm- als auch Laufkundschaft, vor allemvon jungen Leuten, welche die diversenKonzerte und anderen Events in der Schan-zenstraße besuchen. Besitzer des Hausesund Vermieter des Ladengeschäfts warWolfgang Becker, zu dem sich bald einfreundschaftliches Verhältnis entwickelte,und als er sich 2012 entschloss, das Haus zuverkaufen, wurden sich beide schnell einig:„Wir sind Herrn Becker sehr dankbar, dasser sich für uns entschieden hat.“ Die Fami-lien sind weiterhin befreundet: „Wir ladenuns gegenseitig ein, meist zwei Mal imJahr.“

Cemal Güzel hat viel investiert, nicht nur indie schöne Fassade, sondern auch im Hausselbst. In den beiden kleinen Wohnungen in

den Obergeschossen leben weiterhin dieMieter, die schon vorher dort wohnten.Beim NSU-Nagelbombenanschlag 2004war er nicht in der Keupstraße, zu jener Zeitgab es in der Nr. 23 noch den Trockenfrüch-teladen. Aber er denkt immer noch mit Bit-terkeit an die Art und Weise, in der Polizei,Politik und Medien mit den Menschen inder Keupstraße umgingen: „In einer Repor-tage bei RTL wurde die Keupstraße als Dro-gen- und Kriminalitätshochburg bezeich-net!“

Das schmerzt ihn noch heute, auch die Erin-nerung an die Atmosphäre des Misstrauensund Verdachts, die durch das Verhalten derPolizei unter den Bewohnern der Keupstra-ße entstand: „Keiner traute mehr dem An-deren, man befürchtete verdächtigt zu wer-den, und man selbst verdächtigte die Ande-ren“.

Umso erfreulicher findet er das positiveInteresse für die Keupstraße, seit „Kommis-sar Zufall“ den Nagelbombenanschlag auf-geklärt hat, und das vor allem den Birlikte-Festen zu verdanken ist, die in Zukunft sei-ner Meinung nach gut zwei Tage statt nureinen stattfinden sollten. „Die Keupstraße ist ein Magnet über dieGrenzen Kölns hinaus, vor allem für die tür-kische Community, und darunter insbeson-dere für die Künstler, die in Köln und imUmland auftreten, aber auch zunehmend fürDeutsche.“

Störend sind nur die häufigen Kontrollenvon allen möglichen Behörden: Ordnungs-amt, Zollamt, Umweltamt – und die Polites-sen kontrollieren in drei Schichten! Tatsäch-lich sind der Autoverkehr und besonders derMangel an Parkplätzen ein Dauerproblem,sowohl für die Geschäftsleute als auch fürdie Besucher der Keupstraße.

„Wenn es einen geeigneten Parkplatz ander Schanzenstraße/Keupstraße gäbe,könnte die Keupstraße für den Autoverkehrgesperrt werden, das wäre ein Gewinn füralle!“

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Keupstraße 23 heute

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Thomas Schallenbergs Eltern hatten 1976die Druckerei Otten in der Keupstraße 27übernommen, mit einer Druckmaschine derMarke Heidelberger Tigel. Sie schafftenweitere Maschinen an und erweiterten all-mählich den Betrieb, indem sie später dasbenachbarte Haushaltswarengeschäft erwar-ben und umrüsteten. Damals war die Keup-straße die beliebteste und belebteste Ein-kaufsstraße Mülheims, mit allen Arten vonGeschäften und Werkstätten, zum Beispiel„Auto-Erler“, jetzt noch als KFZ-Werkstattin der Schanzenstraße aktiv. Problematischwar es allerdings für die Lieferwagen: dieStraße war zweispurig und hatte keine Park-buchten. In den Häusern Keupstraße 27 und29 befanden sich lange Zeit zwei benach-barte Frisiergeschäfte. Zwischen 1899 und1932 zeigen hier die Mülheimer und Kölner

Adressbücher das Geschäft zur „Haar- undBartpflege“ von Philipp Rettig. Danach warhier die „Handlung für Haushaltswaren“von Heinrich Stenger.

Thomas Schallenberg besuchte die Pesta-lozzi-Realschule (jetzt Johann-Bendel-Realschule) in Mülheim. Nach seiner Aus-bildung zum Drucker absolvierte er 1990seinen Wehrdienst in der Druckerei derBundeswehr, dann arbeitete er im Betriebseiner Eltern. Ab 1993 wohnte er auch fürfünf Jahre in der Keupstraße 27, bis er 1998die Druckerei von seinem Vater übernahmund mit seiner Frau nach Holweide zog,nachdem die Eltern das kleine Museum„Optischer Telegraf“ in Flittard gekauft undrestauriert hatten und dorthin gezogen wa-ren.

„Die Keupstraße ist in! Jetzt kommen dieLeute sogar mit Reisebussen!“

Thomas Schallenberg ist 1969 in Flittardgeboren. Er hat eine Zeit lang in derKeupstraße gewohnt und betreibt dort diegleichnamige Druckerei.

Keupstraße 27, 2015

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Am 8. März 2001 kamen danndie Vierlinge zur Welt, von de-nen ein Mädchen mit elf Jahrenan den Folgen eines Gehirn-tumors nach dreieinhalb Jahrenstarb.

Mit der Schließung der großenIndustrie- und der kleinerenZulieferbetriebe und der damitverbundenen steigenden Ar-beitslosigkeit in den 80er Jah-ren verarmte auch die Keup-straße, und viele Geschäfte undWirtschaften schlossen. Tho-mas Schallenberg erinnert sichnoch mit Wehmut an das guteMittagessen für fünf DM, vorallem an die leckeren Reibeku-chen am Donnerstag in dergegenüber liegenden Kneipe„Zum Laacher See“. Inzwi-schen hatte sich die FrankfurterStraße zur wichtigsten Ge-schäftstraße Mülheims entwi-ckelt, und allmählich veränder-te sich der Charakter der Keup-straße, als die ersten türkischenGeschäfte öffneten, die inzwi-schen das Straßenbild prägen.

Das Haus Keupstraße 27 gehört ThomasSchallenbergs Mutter, er ist Mieter. Vorsechs Jahren hat er den Teil des Geschäfts,den sein Vater zur Erweiterung des Betriebserworben hatte, an einen türkischen Kolle-gen untervermietet. Herr Kahvecioglu hatteerst ein Geschäft in der Berliner Straße, zogdann ein paar Häuser weiter in die Keup-straße und kam von dort in die 27. Zur Ge-schäftseröffnung hatte er auch ThomasSchallenberg eingeladen. Waren sie da nichtKonkurrenten? Thomas Schallenberg lacht:„Nein, wir haben in der Folge oft zu-sammengearbeitet, zum Beispiel haben wiruns gegenseitig mit Material ausgeholfenoder Aufträge übernommen. Er und seineFamilie sind sehr freundliche Leute.“ Auchmit den anderen türkischen Geschäftsleutenkommt er gut aus. Er weist darauf hin, dass

es vor allem ihren Aktivitäten zu verdankenist, dass die Keupstraße jetzt nicht mehr un-ter dem schlechten Ruf leidet, den sie eineZeit lang hatte. Aber gab es da nicht tatsäch-lich ein kriminelles Milieu? „Die Schieße-reien haben nicht in der Keupstraße, son-dern am Clevischen Ring und an der Ber-gisch-Gladbacher Straße stattgefunden. DieKeupstraße war und ist eine der sicherstenStraßen in Köln!“Was durch die vielen Be-sucher – Türken wie Deutsche – bewiesenwird: „Die Keupstraße ist in! Jetzt kommendie Besucher sogar mit Reisebussen!“ Fastzu viel Trubel für Thomas SchallenbergsGeschmack.

Dass die Keupstraße so viel Interesseweckt, liegt natürlich auch an der Aufklä-

Keupstraße 27, 1926

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rung des Nagelbombenanschlags des NSU,der daraufhin einsetzenden öffentlichenAufmerksamkeit und den Solidaritätsbe-kundungen. Thomas Schallenbergs Drucke-rei liegt direkt neben dem Kuaför, vor des-sen Laden die Bombe explodierte. Durch

die ausgelöste Druckwelle wurde auch diegroße Schaufensterscheibe zersplittert, unddie Scherben wurden weit in den Innenraumgeschleudert. Er selbst befand sich zufällighinten in der Werkstatt und blieb deshalbunverletzt.

Das Schaufenster von Herrn Schallenberg Der Eingang zur Nr. 27

Beim Nachbarn Herrn Kahvecioglu

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Um einer Blutrache zu entkommen verließMehmet Bali 1964 mit seiner jungen FrauMüzeyyen und dem gerade zwei Jahre altenMuzaffer seine Heimat in der Provinz Mar-din in Südostanatolien, im türkischen TeilMesopotamiens an der Grenze zu Syrien.Ein Bruder seiner Frau arbeitete damalsschon seit einigen Jahren bei Bayer in Le-verkusen. Er hatte ihnen vorgeschlagennach Deutschland zu kommen und holte siein einer Pension im damals jugoslawischenMaribor ab, wo sie wegen fehlender Einrei-sepapiere für Deutschland gestrandet wa-ren.

Zuerst arbeitete Mehmet Bali sechs Monatelang auf einer Baustelle in Langenfeld, eheauch er bei Bayer angestellt wurde und fünfJahre lang in der Produktion von Lackenund Farben tätig war. Seine Frau Müzeyyenarbeitete während dieser Zeit bei der

Schaumstofffabrik Illbruch in Langenfeld.Der kleine Muzaffer wurde mit seinemCousin und später mit seiner 1965 gebore-nen Schwester Güler von verschiedenen Ta-gesmüttern betreut, wo er schnell die deut-sche Sprache lernte. Eine dieser Tagesmüt-ter und ihr Mann waren kinderlos und hät-ten ihn zu gern adoptiert, was allerdings fürseine Eltern undenkbar war.

1966 eröffnete der Bruder der Mutter in Le-verkusen seinen ersten Imbiss, später grün-dete er die erste industrielle Bäckerei vontürkischem Brot, die zeitweise mit einerFlotte von 30 bis 40 Lieferwagen die ganzeRegion versorgte. Später verkaufte er daslukrative Geschäft und ging zurück in dieTürkei, während Familie Bali in Deutsch-

„Wir haben die meiste Zeit unseres Lebensin der Keupstraße verbracht und habenuns hier immer sehr wohl gefühlt!“

Mehmet Bali und seine Frau Müzey-yen sind 1964 nach Deutschland gekommen und leben seit 1968 in der Keupstraße.

Müzeyyen, Muzaffer und Mehmet Bali1964, Foto im türkischen Pass

Im Hinterhof der Keupstraße 50 in 1964Tochter der Familie Weiß, Muzafer und

Müzeyyen Bali

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land blieb. 1968 waren sie nach Köln-Mül-heim gezogen, in eine Mietwohnung imHinterhof bei Familie Weiß in der Keupstra-ße 50.

Kurz darauf eröffnete Vater Mehmet hierdie erste Eisdiele in der Straße, mit einerJukebox, die vor allem Jugendliche anzog.Das Geschäft lief unter einem anderen –deutschen – Namen, weil es den Türken da-mals mit einem Stempel im Pass untersagtwar, ein Gewerbe zu betreiben. Schon 1969wurde aus der Eisdiele das erste türkischeRestaurant in der Straße, das mit seinemstets frischen Döner bald so populär wurde,dass es türkische Gäste ausdem ganzen Ruhrgebiet anzog:aus Wuppertal, Dortmund, Es-sen. Auch Volkssänger undSchauspieler aus der Türkeikehrten hier ein, wenn sie aufTournee in der Region waren.Auf dem nebenstehenden Fotoaus 1970 ist rechts der bekann-te türkische Musiker Nuri Sei-güzel zu sehen. Die übrigendrei Gäste sind Mitglieder destürkischen Konsulats. MehmetBali, der hinter ihnen steht, hatgerade das Essen serviert.

Herr Bali meint, hier seider erste Döner inDeutschland angebotenworden und nicht in Ber-lin! Der damalige Kochihres Restaurants ist heu-te der Besitzer des Res-taurants Mevlana in derKeupstraße 45 – 51. BisMitte der 80er Jahre liefdas Geschäft sehr gutund Mehmet Bali betriebzu jener Zeit mehrereLebensmittelgeschäfte,Metzgereien und Bäcke-reien, auch in anderenStadtteilen Kölns.

Mutter Müzeyyen Bali arbeitete von An-fang an mit ihm, abgesehen von einer kur-zen Unterbrechung, als 1972 ihr drittesKind und zweiter Sohn, Hakan, geborenwurde. Von 1978 bis 1980 musste sie dasGeschäft zwei Jahre lang sogar allein füh-ren, als ihr Mann wegen unerlaubter Ausü-bung eines Gewerbes denunziert und dazuverurteilt worden war, für zwei JahreDeutschland zu verlassen, „auf freiwilligerBasis“, wie der Richter feststellte. Es wareine sehr harte Zeit für sie und die drei Kin-der, der kleine Hakan war erst vier Jahre alt.Leider zeigte das Ausländeramt keinerlei

Müzeyyen, Muzaffer und Mehmet Bali, August 2015

Sark Restaurant 1970

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Verständnis für ihre schwierige Lage undihre dringende Bitte, man möge ihren Mannzurückkommen lassen. Man riet ihr, siekönne sich ja scheiden lassen und einen an-deren Mann heiraten! Erst Mitte der 80er

Jahre wurde das Gesetz geändert undMüzeyyen Bali konnte endlich einGewerbe anmelden.

1975 war die Familie in eine Miet-wohnung der Familie Pohl in derKeupstraße 44 gezogen und hatte dasbis dahin von Griechen geführte Le-bensmittelgeschäft übernommen. Da-mals gab es noch eine ganze Reihedeutscher, griechischer und italieni-scher Geschäfte in der Keupstraße,die alle allmählich türkischen Ge-schäften Platz machten. Aber das Zu-sammenleben mit den anderen Natio-nalitäten, die hier lebten, sei immersehr harmonisch gewesen. Leiderseien viele von den alten Einwohnernlängst weggezogen: der Apotheker,der Zahnarzt, Bäcker Renken, dieFahrschule, Fotograf Pönsgen, dieLotto-Annahme und viele andere,„zum Beispiel der Laden mit den Co-mics, die ich so liebte,“ sagt SohnMuzaffer. Der beste Freund seinesBruders Hakan, der Sohn des Bäckers

Renken, ist glücklicherweise nur auf die an-dere Seite des Clevischen Rings gezogen.

Zugegeben, es war nicht immer friedlichund harmonisch. In den 70er Jahren gab es

in den deutschen Knei-pen öfters Schlägereien„mit Äxten und Mes-sern“. Meist ging es da-bei um Frauen, und oftwaren Zuhälter beteiligt,anfangs Deutsche, späterTürken. In den 80er Jah-ren kamen dann vieleneue türkische und kur-dische Zuwanderer, vieledavon illegal, und einigevon ihnen verdienten ihrGeld mit Drogenhandelund anderen kriminellenAktivitäten. Es gab auch

10.6.2004 – am Tagnach dem Anschlag

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Sark Restaurant 1970

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Schutzgelderpressungen: „Damalshatte die Keupstraße einen sehrschlechten Ruf“. Und nachdem sichdie Lage allmählich wieder beruhigthatte, erfolgte 2004 der Nagelbomben-anschlag. Sohn Hakan erinnert sichmit Bitterkeit an die wiederholten Ver-höre durch die Polizisten, die in ihmwie in den anderen Bewohnern derKeupstraße einen Verdächtigen sahenund ihn dementsprechend behandel-ten.

Seit 1999 sind Mehmet und MüzeyyenBali in Rente. Die Rente ist leider sehrklein. 2001 sind sie in die Keupstraße124 gezogen: „Wir haben die meisteZeit unseres Lebens in der Keupstraßeverbracht und haben uns hier immersehr wohl gefühlt!“, sagt Müzeyyen,und sie freut sich, dass ihre Kinder inerreichbarer Nähe sind: Tochter Gülerwohnt mit ihnen zusammen, SohnMuzaffer lebt in Troisdorf, Sohn Ha-kan in Longerich, und die vier Enkel-kinder sind auch nicht weit.

Keupstraße Nr. 50 im Laufe von fünfzig Jahren: rechts 1927, links 1977, unten 2016

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Ayshe Halilova stammt aus Schumen, einer1500 Jahre alten geschichtsträchtigen, mul-tiethnischen Stadt mit ungefähr 90.000 Ein-wohnern, westlich von Warna am Schwar-zen Meer. Das alte Schumen mit seiner Fes-tung lag auf einem Berg, es wurde 1387 vonosmanischen Truppen besetzt, 1444 in ei-nem polnisch-ungarischen Befreiungsver-such von polnischen Truppen niederge-brannt und nach seiner vollständigen Zer-störung von seinen Einwohnern verlassen.Nach ihrer Rückkehr beschlossen sie, dieStadt im Tal neu anzulegen.

Ayshe Halilova gehört zur muslimischenMinderheit in Bulgarien, die ca. 10 Prozentbeträgt. Allerdings spielt die Religion inBulgarien keine bedeutende Rolle, in derVolkszählung von 2011 machten 20 Prozentder Bevölkerung keine Angaben zur Reli-gionszugehörigkeit. Sie ist die jüngste vonvier Schwestern. 1981 hat sie sehr jung, mit18 Jahren, ihren Mann geheiratet. Ihr ersterSohn, Hassan, wurde 1984 geboren, zweiJahre später folgte der zweite, Hüseyin. Bei-de sind mit ihr zwei Jahre nach der Schei-dung von ihrem Mann nach Deutschlandgekommen. Inzwischen sind beide verheira-tet und leben mit ihren Familien ebenfalls inKöln, sie hat eine kleine Enkelin. Warumsie ihre Heimat verlassen hat? „Ich bin aus-gebildete Schneiderin, aber es gab keine Ar-beit in meiner Heimat. Und außerdem woll-te ich die Welt kennen lernen, auch Amerikawürde ich gerne sehen.“

Sie kam 2002 von Schumen direkt nachKöln, wo bereits eine Nichte von ihr lebte.Ganz zufällig fand sie eine Wohnung in derKeupstraße 39. Kurz nach ihrer Ankunft inKöln fand sie Arbeit in einer türkischen Än-derungsschneiderei in der Keupstraße 53,die eine Aushilfe suchte, stundenweise undfür ein paar Tage in der Woche.

Sie verliebte sich in einen Türken und imOktober 2004 bekam sie ihren dritten Sohn,

„Die Leute hier in der Keupstraße sindsehr freundlich, viel freundlicher als an-derswo. Alle Geschäftsleute hier kennensich und helfen einander.“

Ayshe Halilova wurde 1963 in Schumen (Bulgarien) geboren. Sie kam 2002 nachKöln und betreibt eine Änderungsschneide-rei in der Keupstraße.

Ayshe Halilova 2002 in der Keupstraße 39

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Egüven. Im Mai 2004, als sie im 6. Monatschwanger war und vom Einkaufen amWiener Platz zurückkehrte, fand sie dieKeupstraße abgeriegelt, voller Polizei undalles in hellem Aufruhr – während ihrer Ab-wesenheit hatte es eine heftige Explosiongegeben und überall lagen Glassplitter,Stangen und andere Fassadenteile. Erst ver-mutete man eine Gasexplosion, bis sich her-ausstellte, dass es eine Nagelbombe war.Bis spätabends konnte sie nicht in ihreWohnung und musste den Tag bei einerFreundin verbringen, in banger Ungewiss-heit, aber gleichzeitig sehr erleichtert, dasssie zur Zeit der Explosion nicht in derKeupstraße war. Im August 2004 zog siedann in eine Wohnung am Ebertplatz. DerVater des Kindes verließ sie bald nach derGeburt wegen einer anderen Frau, mit der er

später nach Bulgarien zog. Als ihr kleinerJunge drei Jahre alt war und in den Kinder-garten gehen konnte, beschloss sie ihren Le-bensmittelpunkt wieder nach Mülheim zuverlegen, wo sie eine Wohnung in der Fritz-Lehmann-Straße fand. So konnte der kleineJunge vom Kindergarten – und später vonder Schule – zu ihr in die Schneiderei kom-men, und sie gingen später gemeinsam nachHause.

Inzwischen ist Egüven 11 Jahre alt und gehtin die Gesamtschule in Höhenhaus. Es istnicht leicht, einen Jungen ohne Vater zu er-ziehen. Aber sie unternehmen viel gemein-sam, gehen zusammen ins Schwimmbadund ins Schokoladenmuseum: „Köln ist soeine interessante Stadt, da gibt es viel zu se-hen und zu erleben, und es leben hier so vie-le Menschen aus unterschiedlichen Län-dern!“

Als ihr Chef und Inhaber des Geschäfts2007 in Rente und zurück in die Türkeiging, überließ er ihr die Änderungsschnei-derei mit allen Maschinen und Zubehör.

Keupstraße 51, 2016

Keupstraße 51, 1926

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Das Geschäft läuft gut, immerhin hat sie 33Jahre Berufserfahrung und inzwischen einefeste Stammkundschaft.

Die Tatsache, dass sie schon vor ihrer An-kunft Türkisch sprach, hat ihr das Leben inder Keupstraße sehr erleichtert, aber da-durch hatte sie auch wenig Anreiz ernsthaftDeutsch zu lernen. Sie hat jetzt vor, besserDeutsch zu lernen und ist sehr zuversicht-lich, dass sie es schafft: „Ich sprach jaschon drei Sprachen, als ich nach Deutsch-land kam: Bulgarisch, Türkisch und Rus-sisch!“Alle diese Jahre hatte sie für eine ei-gene Wohnung gespart, die sie dann endlichin Köln-Rath kaufen konnte, und in die sie

am 1. April 2015 einzog. Sie freut sich inRath zu wohnen: „Es ist dort so ruhig undgrün!“ Da sie so hart für die Wohnung spa-

ren musste, hat sie jahre-lang keinen Urlaub nehmenkönnen, und auch diesesJahr fehlt das Geld für eineUrlaubsreise – es gibt nochso viel in ihrer Wohnung zurenovieren. Sie denkt mitWehmut an den schönenUrlaub mit ihrer türkischenFreundin in Didim, an derÄgäisküste der Türkei. InBulgarien war sie das letzteMal 2014, zur Beerdigungihrer Mutter. Trotz des Um-zugs fühlt sie sich auch inder Keupstraße weiterhinzu Hause: „Die Leute hiersind sehr freundlich, vielfreundlicher als anderswo.Zum Beispiel grüßt mansich gegenseitig auf derStraße, auch wenn mansich nicht kennt. Und alleGeschäftsleute hier kennensich und helfen einander,sie laden sich gegenseitigein.“

Einige Jahre litt sie, wiealle anderen in der Keup-straße, unter den Verdächti-gungen, denen alle wegendes Nagelbombenanschlagsausgesetzt waren. Aber in-zwischen sind Zusammen-

halt und Stimmung wieder gut.

Es gibt nur ein großes Problem: der Mangelan Parkplätzen und die Rücksichtslosigkeit,mit der manche Autofahrer ihren Wagen aufPrivatparkplätze stellen, so dass sie manch-mal lange warten muss, bis der Besitzer sei-nen Wagen wegfährt und sie zu ihrem Autogelangen kann. „Die Keupstraße sollte eineautofreie Einkaufstraße werden, nur fürFußgänger, wie die Schildergasse!“, das istihr Wunsch. Außerdem wünscht sie sich

In der Schneiderei 2004 mit einer Freundin

2005 mit dem Sohn Hüseyn

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eine größere Vielfalt von Geschäften in derKeupstraße: „Weniger Goldgeschäfte unddafür eine Bäckerei mit deutschem Brot,richtig gutem Schwarzbrot! Und wir brau-chen einen Drogeriemarkt.“

Die Schneiderei 2016 von außen

und von innen

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Mit ca. 200.000 Einwohnern ist Burgas, dieHeimatstadt von A.N., die viertgrößte StadtBulgariens und hat eine lange und bewegteGeschichte. Bereits vor 6000 Jahren siedel-ten hier Menschen, die von Landwirtschaftund Salzgewinnung lebten. Vor der bulgari-schen Eroberung im Jahr 708 war die Stadtund die gesamte Region von Thrakern, Per-sern, Makedoniern, Rom und Byzanz be-herrscht worden. 1453 kam sie endgültigunter türkische Herrschaft und blieb – abge-

sehen von einem kurzen Intervall von 1828-1829 unter Russland – bis 1885 Teil des os-manischen Reiches.

Die Bevölkerung von Burgas ist so vielfäl-tig wie die Geschichte: neben der bulgari-schen Mehrheit besteht sie überwiegend ausTürken und Roma, aber auch Armeniern,Russen und Nachfahren von Krim- undKaukasus-Tataren sowie Tscherkessen.

„Eigentlich sollte die IG Keupstraße uns ander Vorbereitung des Birlikte-Fests beteiligen“

A.N. wurde 1974 in Bulgarien geboren.Er ist nach mehreren Aufenthalten inBerlin und Köln erst 2011 in die Keup-straße gezogen.

Keupstraße bei Nacht, 2015

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A.N. gehört zur muslimisch-türki-schen Minderheit, die vor allem ge-gen Ende der kommunistischenHerrschaft unter Todor Schiwkow(1954 bis November 1989) untermannigfaltiger Repression zu lei-den hatte: zum Beispiel mussten sieihre türkischen Namen ablegen,durften kein Türkisch sprechen,und alle türkischen Schulen wurdengeschlossen. 380.000 von ihnenwurden in Arbeitslager verschlepptund zur Auswanderung gezwun-gen, die auch nach dem Macht-wechsel im November 1989 an-hielt. Über 150.000 muslimischebulgarische Staatsangehörige sinddamals ausgewandert, vorwiegend in dieTürkei, aber auch in westeuropäische Län-der. Auch A. N.s Schwiegervater verließ füreinige Jahre Bulgarien und lebte von 2009bis 2011 in der Keupstraße, ehe er zurücknach Bulgarien ging. Er war es auch, der A.N. bewog nach Köln zu kommen, nachdemer schon 2001 für kurze Zeit in Köln undmehrmals in Berlin gewesen war, wo seinjüngerer Bruder lebte. Zuletzt kam er 2011nach Köln, zog in die Wohnung seinesSchwiegervaters in der Keupstraße und be-schloss zu bleiben.

Im November 2013 folgte dann seine FrauFatma, mit der er seit zwanzig Jahren ver-heiratet ist und zwei Kinder hat: TochterEvelyn ist 19 Jahre alt, in Bulgarien verhei-ratet und hat ein kleines Mädchen, Frances-ka. Sohn S. ist mit den Eltern nach Köln ge-kommen. Er ist jetzt zehn Jahre alt und gehtin die 2. Klasse der GemeinschaftsschuleAn St.Theresia, in der viele bulgarischeKinder sind. Er hat sich in den zwei Jahrensehr gut eingelebt: „Er hat schon gutDeutsch gelernt und dolmetscht für die an-deren Kinder, und auch für uns!“. A.N.selbst hat noch Schwierigkeiten mit derdeutschen Sprache. Schon bald nach seinerAnkunft hat er an einem Deutschkurs einesdeutsch-türkischen Vereins teilgenommen,der leider wegen Platz- und Lehrermangelsnicht mehr stattfindet. So wartet er auf den

Beginn eines neuen Kurses, der ab erstemQuartal 2016 vom Jobcenter mit Beteili-gung von lokalen Firmen unter dem Namen„Zuper“ in der Schanzenstraße starten undDeutschunterricht und Berufsausbildungvereinen soll. In seiner Heimat hat A.N.während seines Militärdienstes von 1993bis 1995 im Baugewerbe gearbeitet und warzuletzt Leiter einer Baubrigade. Bei seinerEntlassung bekam er darüber ein Zeugnis,und danach war er als Maler und Anstrei-cher beschäftigt. Er möchte gern weiter indiesem Beruf arbeiten und sich qualifizie-ren. Seine Frau hat nach ihrer Ankunft sehrschnell Arbeit in einem türkischen Restau-rant in der Keupstraße gefunden, wo sienach Bedarf arbeitet, in der Regel vormit-tags und nachmittags je zwei Stunden. Da-mit ist es für sie nicht möglich, an einemSprachkurs teilzunehmen.

Als A.N. beschloss, nach Deutschland zuziehen, hatte er keine allzu großen Erwar-tungen. Er findet, dass das Leben hier aufjeden Fall besser ist als in Bulgarien, woAngehörige der türkisch-muslimischenMinderheit weiterhin als Bürger zweiterKlasse angesehen werden. Aber das neueLeben in Deutschland ist nicht einfach. DieEinzimmerwohnung, die für seinen Schwie-gervater ausreichte, ist für einen Dreiperso-nenhaushalt zu klein, und mit 400 Euro

Keupstraße 97 – 117, 1975

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Warmmiete pro Monat ist sie zu teuer. Dazukommen die Probleme mit der allgegenwär-tigen Bürokratie, die wegen ungenügenderSprachkenntnisse schwer zu bewältigensind. Und nicht zuletzt fühlen sie sich in derKeupstraße nicht willkommen: „Letzthin,als ich auf der Keupstraße mit einem türki-schen Bekannten sprach, kam ein andererTürke und warf mir vor: ,Ihr habt die Keup-straße versaut!‘“

A.N. ist allerdings der Ansicht, bulgarischeZuwanderer würden oft von Arbeitgebernund Vermietern wirtschaftlich ausgebeutet.Ihm sind Fälle bekannt, in denen der gesetz-liche Mindestlohn nicht gezahlt wird oderüberteuerte Mieten verlangt werden. „DieKeupstraße ist für ihre vielen guten Restau-rants und Bäckereien/Konditoreien bekannt,aber kaum einer ist sich bewusst, dass die-jenigen, die unter schlechten Bedingungendie schmutzigste Arbeit machen, vor allembulgarische Frauen sind!“

Auch stört ihn, dass Jugendliche Drogen –überwiegend Haschisch – konsumieren. Anverschiedenen Orten sind hinter den Häu-

sern gebrauchte Spritzen zu finden. In man-chen Häusern gibt es Ratten, und generelllässt die Sauberkeit in den Hinterhöfen zuwünschen übrig. Trotzdem lässt es sich inder Keupstraße leben: „Die Keupstraße istnicht ungefährlich, aber ich selbst fühlemich nicht bedroht. Ich habe ein paar türki-sche Freunde, und da ich türkisch spreche,kann ich mit allen reden.“ Dennoch, wenner woanders eine geeignete Wohnung fände,würde er wegziehen.

Er wünscht sich, dass die Stadt die Miss-stände durch entsprechende Kontrollen beiVermietern und Arbeitgebern unterbindet.Das Verhältnis zwischen türkischstämmigenBewohnern der Keupstraße und den in denletzten Jahren zugezogenen Neuankömm-lingen, nicht nur Bulgaren, sollte verbessertwerden. Auch das wäre ein Thema für „Bir-likte“, wo Toleranz und Zusammenhalt ge-feiert werden. „Bisher waren wir nicht ander Vorbereitung des Festes beteiligt, abereigentlich wäre das schon eine Aufgabe fürdie IG Keupstraße und Birlikte.“

Gärten hinter der Keupstraße, 2016

Östliches Ende der Keupstraße, 2016

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Muammer Akkoyuns Eltern waren erst inden zwanziger Jahren aus Thessaloniki nachIzmit gekommen – einer Stadt mit inzwi-schen einer Million Einwohner östlich vonIstanbul – im Zuge des Bevölkerungsaus-tauschs nach dem Zerfall des osmanischenReichs, der Machtübernahme von MustafaKemal Pascha und den darauf folgenden be-waffneten Auseinandersetzungen zwischender Türkei und Griechenland. Nach einemzweijährigen Mathematik- und Chemiestu-dium an der Universität in Istanbul war erunter der damals herrschenden Militärjuntawegen politischer Aktivitäten gezwungendie Türkei zu verlassen. Eigentlich hatte ersowieso vor, sein Studium im Ausland fort-zusetzen, gegen den Willen seines Vaters,welcher der Meinung war, dass ein Studiumleicht zu politischer Radikalisierung führenkönne. Er ließ sich dadurch nicht abschre-cken und brach 1960 nach Frankfurt amMain auf, wo er anfangs an einer TankstelleAutos wusch und durch einen Kollegen vonArbeitsmöglichkeiten auf der dortigen US-Militärbasis erfuhr. Da er ganz gute Eng-

lischkenntnisse hatte, bekam er auf Anhiebeine Stelle als Schreiner. Gleichzeitigschrieb er sich zum Maschinenbaustudiumein und sah sich schon auf dem besten Wegzum Erfolg. Leider dauerte die Freude nichtlang: er musste zurück in die Türkei, um sei-nen Militärdienst zu absolvieren. Immerhindurfte er als Lehrer in einem Dorf in Ost-anatolien arbeiten, bis er 1963 im Rang ei-nes Leutnants aus der Armee entlassen wur-de und zurück nach Frankfurt reisen durfte.Kurz vor seiner Entlassung hatte er in Pa-mukkale fünf junge deutsche Touristen ge-troffen und sich mit ihnen angefreundet. Ei-ner von ihnen arbeitete als Chemiker bei derFirma Rheinisches Spritzgusswerk in Dell-brück, die vor allem Plastikteile für dieAutoindustrie herstellte. Er vermittelte ihmeine Anstellung bei seiner Firma. MuammerAkkoyan zog im April 1964 von Frankfurtzuerst nach Odenthal, und dann nach Mül-heim in die Keupstraße Nr. 40. Im Erdge-schoss des Hauses befand sich die Gastwirt-schaft Fassbender, wo er sich mit seinen tür-kischen Freunden zu treffen pflegte. Undhier lernte er die Familie Fassbender ken-nen.

Da er inzwischen recht gut Deutschsprach und sich auch sonst ganz gut mitden Verhältnissen in seiner neuen Heimatauskannte, wurde er von seinen Lands-leuten oft gebeten zu übersetzen, für sieFormulare auszufüllen oder sie auf Be-hördengängen zu begleiten. 1965 bot ihm

„Die Keupstraße ist immer noch einspezielles kleines Universum.“

Muammer Akkoyun – dessen Vorname„langes Leben“ bedeutet – wurde1939 in Izmit geboren und lebt seit1960 in Deutschland.

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Johann Witt, Pächter der Gaststätte Fass-bender, mit Tochter Gerdi und MuammerAkkoyun 1966

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der Gastwirt zusätzlich zu seiner Ar-beit in der Dellbrücker Firma einenJob als Kellner an, aber er fungierteoft auch als Schlichter bei den da-mals recht häufigen Streitereien undSchlägereien zwischen den türki-schen, kurdischen und deutschenGästen: „Jede Woche berichteten sieim Radio über Schlägereien in derGaststätte Fassbender!“ Der Anlassdafür war meist eine Frau.

Im Laufe der Zeit hatte sich ein recht inni-ges Verhältnis zwischen ihm und der damalsfünfzehnjährigen Tochter des Gastwirts ent-wickelt, das der Vater auf keinen Fall dul-den wollte. Also zog Muammer Akkoyunnach Merheim, aber jeden Tag brachte erseine Gerdi zur Berufsschule und holte siewieder ab, um dann spät in der Nacht zuFuß nach Hause zu laufen, weil er kein Geldfür Straßenbahn und Bus hatte. So kam esmanchmal vor, dass er bei seiner Arbeit inder Dellbrücker Firma vor Müdigkeit zusammenbrach. Nachdem Gerdischwanger wurde und in den Hunger-streik trat, um ihre Eltern zu zwingenihr zu erlauben Muammer zu heiraten,gaben die Eltern letztendlich schwerenHerzens nach und erlaubten die Heirat.Sie stellten allerdings die Bedingung,dass er vorher die zukünftige Schwie-germutter und seine Braut nach Izmitbringen und sie mit seinen Eltern be-kannt machen müsse. Nachdem er sei-nem Vater geschworen hatte, dass erstets seiner Verantwortung gegenüberseiner türkischen und seiner neuendeutschen Familie gerecht werden wür-de, hatte er auch dessen Segen. Darauf-hin mussten noch unendliche behördli-che Schwierigkeiten überwunden wer-den, ehe sie schließlich am 24. Juni1966 heiraten konnten, kurz bevor ihreerste Tochter, Aylin, geboren wurde.1971 kam die zweite Tochter, Britta,auf die Welt, und 1974 folgte der SohnRoger Mehmet Johann. Während die-ser Zeit wohnten sie in einer Wohnungüber der Gaststätte.

Gleichzeitig entwickelte er sich beruflichweiter: 1969 übernahm er für kurze Zeit denHähnchengrill in der Keupstraße 92, reno-vierte Haus und Laden, musste dann aberbeides aufgeben, als er wegen Waffenbesit-zes verhaftet wurde. Von 1971 bis 1974 warer bei der Firma Strabag in der auf Compu-ter umgestellten Buchhaltung angestellt.1974 eröffnete er mit einem deutschenFachmann in der Keupstraße 38 ein Büro

Keupstraße 36: Johann Witt vor seinerGaststätte im September 1980

Familie Akkoyun 1979 vor dem Eingang zum Kölner Zoo (Roger, Gerdi und Muammer,

Aylin und Britta)

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für Übersetzungen, Buchungen für Flugrei-sen und Buchhaltung. Er führte damals über20 Buchhaltungen von türkischen Ge-schäftsleuten, überwiegend aus der Keup-straße. Nebenbei war er auch als Immobi-lienmakler tätig.

1992 gründete er mit drei deutschenRechtsanwälten aus Aachen eine Rechtsbe-ratungsfirma im Haus Ecke Heitkampstra-ße/Keupstraße, das bis dahin eine Bank be-herbergt hatte. Er führte die Firma dort miteiner Kölner Rechtsanwältin bis 1995, dannzogen sie in Räume über der Firma Harbekeam Clevischen Ring, bis er das Geschäft aneine Rechtsanwaltskanzlei verkaufte.

„Ich war damals eine Art Stammes-ältester der türkischen Communityin Mülheim, ja sogar darüber hin-aus. Manchmal riefen mich Leutean, die inzwischen nach Berlin oderanderswohin gezogen waren, undbaten mich um Rat und Schutz.“

1980 kaufte er ein Haus in Longe-rich, in das er mit seiner Familienach umfangreichen Umbauarbei-ten 1984 einziehen konnte. Anfangdes Jahres 2000 beschlossen er undseine Frau, Köln zu verlassen undnach Waldbröl zu ziehen, um der

Familie seiner Tochter undihrem ersten Enkel (inzwi-schen sind es zwei) näherzu sein. Vor vier Jahren istseine Frau an Krebs gestor-ben, nach 45 sehr glück-lichen Ehejahren: „Sie warmein Ein und Alles, ichhabe sie abgöttisch ge-liebt!“

Glücklicherweise sind sei-ne Kinder in Reichweite.Seine zweite Tochter, dieauch zwei Kinder hat, lebtin Köln-Weidenpesch. SeinSohn Roger ist Anfang2015 zurück in die Keup-

straße gezogen, wo er bis zu seinem 14. Le-bensjahr aufgewachsen ist. Auch nachdemer weggezogen ist, pflegt Muammer Akkoy-an weiter seine Beziehungen zur Keupstra-ße, in den letzten Jahren allerdings eher te-lefonisch. Vater und Sohn finden, dass esleider die sehr persönlichen Beziehungen,die noch bis in die 90er Jahre zwischen denBewohnern herrschten, inzwischen nichtmehr gibt, alles sei sehr viel anonymer ge-worden. Auch sei die Vielfalt verloren ge-gangen: „Jetzt ist es eine rein türkischeStraße“. Aber sie sind sich einig: „DieKeupstraße ist immer noch ein spezielleskleines Universum.“

Muammers 1. Büro 1974 in der Keupstraße 38

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Karneval in der Keupstraße 1981

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Keupstraße 36, Muammer Akkoyun im Oktober 2015

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Verwendete Bilder:

Historische Fotos: Rheinisches Bildarchiv der Stadt KölnFotos aus heutiger Zeit: Peter Bach, Helmut Goldau, Tal Kaizmann und Joachim RömerEtliche Fotos wurden von den Interviewten zur Verfügung gestellt.

Publikationen der Geschichtswerkstatt Mülheim:

Köln-Mülheim in der NS-ZeitErgebnisse unserer Spurensuche über die Jahre 1933 – 1945Dezember 2009, 56 Seiten A4

Jüdisches Leben und Verfolgung in Köln-MülheimDezember 2009, 44 Seiten A5

100 Jahre Köln-Mülheim2014, 78 Seiten A5 Die Broschüren können als pdf von unserer Webseite heruntergeladen werden.

Kontakt:info@geschichtswerkstatt-muelheim.dewww.geschichtswerkstatt-muelheim.de

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www.geschichtswerkstatt-muelheim.de