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Dienstag, 16. Februar 2021, 16:00 Uhr ~14 Minuten Lesezeit Intellektuelle Selbstkastration Dichter und Denker waren in der Geschichte nicht immer Hofschranzen der Macht — umso mehr schockiert das Verhalten heutiger Intellektueller. von Stefan Barme Foto: Stock-Asso/Shutterstock.com Die Intellektuellen hätten sich in der Menschheitsgeschichte immerzu der Macht angebiedert. Jedenfalls behauptete dies der Ökonom Max Otte im Gespräch mit dem Philosophen Gunnar Kaiser. In den Kommentaren unter dem Video findet sich kein nennenswerter Widerspruch. Das ist erstaunlich, denn der Beweis des Gegenteils könnte relativ leicht erbracht werden. Überall auf der Welt, zu unterschiedlichsten Zeiten haben sich zahlreiche Intellektuelle mit ihrer geschliffenen Geistesschärfe der

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IntellektuelleSelbstkastrationDichter und Denker waren in der Geschichte nicht immer Hofschranzen der Macht —umso mehr schockiert das Verhalten heutiger Intellektueller.

von Stefan Barme Foto: Stock-Asso/Shutterstock.com

Die Intellektuellen hätten sich in derMenschheitsgeschichte immerzu der Machtangebiedert. Jedenfalls behauptete dies der ÖkonomMax Otte im Gespräch mit dem Philosophen GunnarKaiser. In den Kommentaren unter dem Video findetsich kein nennenswerter Widerspruch. Das isterstaunlich, denn der Beweis des Gegenteils könnterelativ leicht erbracht werden. Überall auf der Welt, zuunterschiedlichsten Zeiten haben sich zahlreicheIntellektuelle mit ihrer geschliffenen Geistesschärfe der

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Macht in den Weg gestellt. Unzählige Kunstwerke undgroße Werke der Literatur liefern Zeugnis davon ab.Gerade weil sich Intellektuelle in der Vergangenheitmeist nicht mit der Rolle von Hofschranzen begnügten,spüren wir in den Jahren 2020 und 2021 besondersschmerzlich, dass sie als Korrektiv zur Macht derzeitein Totalausfall sind.

Dass ihm seitens des überaus zahlreichen Publikums in denKommentaren nicht ganz entschieden widersprochen wurde — dasam 16. Januar dieses Jahres veröffentlichte Video verzeichnete am30. Januar 2021 rund 450.000 Aufrufe —, zeigt wie weitUnwissenheit, Ignoranz und Gleichgültigkeit hierzulande schongediehen sind, wenn es um unser abendländisches Erbe und unserekulturellen Traditionen geht.

Das Wesen der Intellektuellen

Nach Aussage von Professor Otte bestand die Aufgabe der

Der bekannte deutsche Ökonom, Fondsmanager undBestsellerautor Professor Max Otte hat im Rahmen eines Gesprächsmit dem Philosophen Gunnar Kaiser eine haarsträubendeBeschreibung der Intellektuellen präsentiert, die einerVerunglimpfung derselben gleichkommt und zudem eineaberwitzige Verzerrung der gesamten abendländischenKulturgeschichte impliziert. Auch wenn derWirtschaftswissenschaftler ganz sicher keine Herabwürdigung derDenker intendierte, ergibt sie sich nun einmal faktisch aufgrund dervon ihm vorgenommenen abstrusen Verdrehungen.

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Intellektuellen in der Geschichte der Menschheit seit jeher darin,die Menschen zu überwachen und einzuschwören. Hier derOriginalwortlaut aus besagtem Video ab Minute 40:24 (1):

„Es war im Gegenteil Aufgabe der Intellektuellen in der Geschichte der

Menschheit, die Menschen zu überwachen und sie einzuschwören. Die

Priester sind doch normalerweise (…) man legitimiert die Macht und

(…) erklären die Macht (…) Das heißt, ganz im Gegenteil, die

Intellektuellen waren immer schon in Masse die Bewahrer der Macht,

die Interpreten der Macht, die Hofschranzen, die Ausleger, die ähm,

natürlich gibtʼs auch immer wieder mal kritische, aber das sind dann

schon immer wirklich die Ausnahmen gewesen.“

Nun steht Max Otte mit dieser Auffassung durchaus nicht alleine da:Bei einer stichprobenartigen Durchsicht der Kommentare unterdem Video war kein Widerspruch auszumachen, dafür aber eineganze Reihe von Stimmen, die OttesIntellektuellencharakterisierung beipflichteten. Was in diesemZusammenhang nicht übersehen werden sollte: Einem solchenIntellektuellenbild förderlich ist das Agieren der beidenPhilosophen, die gemeinhin als die größten deutschen Denker derGegenwart gelten: Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk.

Beide stützen die Blockparteien und richten sich gegen die einzigeoppositionelle Kraft im Lande; Jürgen Habermas, indem erentschieden für das Postnationale, für die Europäische Union undgegen deren Kritiker, die „Rechtspopulisten“, eintritt; und PeterSloterdijk kann sich nicht nur vorstellen, dass Jens Spahn einenhervorragenden Bundeskanzler abgäbe, wie er uns kürzlich in einemInterview wissen ließ, er verteidigte auch das Verbot von Anti-Corona-Demonstrationen und kritisiert seit einigen Jahren immerwieder vehement die Alternative für Deutschland, die AfD.

Auch, um dieses „Vorbild“ zu relativieren, sollte die hier in Redestehende absurde Beschreibung der Intellektuellen auf keinen Fall

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unwidersprochen bleiben. Wagen wir also eine Gegenrede!

Zunächst einmal ist eine Begriffsklärung erforderlich: Obschon dieBezeichnung „Intellektuelle“ in Frankreich sporadisch schon zuBeginn des 19. Jahrhunderts auftaucht, ist sie erst im Zuge derDreyfus-Affäre, die in den 1890er-Jahren die französische Politikund Gesellschaft spaltete, populär geworden. Nachdem derRomancier Émile Zola in einem Aufruf gegen die Verurteilung desjüdischen Hauptmanns Alfred Dreyfus wegen Hochverratsprotestiert hatte, schlossen sich ihm wenige Tage später weitereSchriftsteller und Akademiker an, wie beispielsweise Marcel Proustund Anatole France. Ausgehend von einem Zeitungsartikel wurdediese Petition als „Protest der Intellektuellen“ bezeichnet (2).

„Diese Ursprungskonstellation des modernen Intellektuellenbegriffs

hatte mehrere Implikationen. Zum einen wurden die Intellektuellen

damit auf bestimmte inhaltliche Positionen festgelegt: Sie gelten in der

Regel als tendenziell links, staats- und religionskritisch, unabhängig,

als Anwälte der Wahrheit, des Universellen, der Demokratie und der

Menschenrechte. Zudem wurde an sie häufig die moralische

Erwartung gerichtet, unerschrocken und mit persönlichem Risiko für

die als richtig erkannte Position einzustehen; so wie Zola, der (…)

wegen Verleumdung verklagt wurde und für ein Jahr ins englische

Exil fliehen musste“ (3).

Wenn wir diesem gängigen, klassischen Intellektuellenbegriff folgen,wäre die von Max Otte vorgenommene, diesem diametralentgegengesetzte Charakterisierung des Intellektuellen freilichschon von vornherein vollkommen unsinnig. Es ist dem Autor aberauch dann mit allem Nachdruck zu widersprechen, wenn man denBegriff inhaltlich weiter fasst und unter Intellektuellen geistigschöpferische Menschen versteht, vor allem Philosophen,Schriftsteller, Akademiker, Journalisten und Künstler, die sichöffentlich zu gesellschaftlich oder politisch relevantenThemen/Debatten äußern.

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Die Intellektuellen als Gefahr für dieMächtigen

Freilich hat es zu allen Zeiten auch opportunistische Intellektuellegegeben, die die Macht, die Staatsideologie, ihren Mäzen gestützthaben, weil sie auf diese Weise zu Ruhm, gesellschaftlichem Einflussund wirtschaftlichem Wohlergehen gelangten oder einfach ihreHaut retteten; und es traten immer wieder auch Dogmatiker auf, diedie jeweilige Staatsdoktrin aus tiefster innerer Überzeugungverteidigt haben. Solche symbiotischen Beziehungen zwischenIntellektuellen und Regierenden gab es durchaus in allenhistorischen Epochen. Einen in dieser Hinsicht extrem seltenenGlücksfall stellt beispielsweise die berühmte Männerfreundschaftzwischen Johann Wolfgang von Goethe und Carl August vonSachsen-Weimar-Eisenach dar.

Indes, wenn man die Geistesgeschichte, und zwar sowohl diedeutsche und europäische als auch die außereuropäische, Revuepassieren lässt, wird man feststellen, dass Max Ottes Verdikt grobfalsch ist — der Finanzexperte hat hier in fremdem Garten einenkapitalen Bock geschossen.

Denn es ist mitnichten so, dass Intellektuelle in derRegel Speichellecker sind, die das Volk im Sinne derjeweiligen Regierung indoktrinieren oder garüberwachen. Vielmehr sind es überwiegend Freigeister,die sowohl dem Staat als auch der Religion und derGesellschaft kritisch gegenüberstehen und aus ebendiesem Grunde für die Machthaber unbequem undmitunter sogar brandgefährlich sein können.

Deshalb — und nicht etwa, weil ihnen eine Hofschranzenmentalitäteigen wäre — ließ Mao Zedong während der GroßenKulturrevolution Hunderttausende von Intellektuellen verfolgen,foltern und töten; in der Sowjetunion und im ehemaligen Ostblock

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erlitten unzählige Dissidenten das gleiche Schicksal; und inDeutschland sowie in anderen europäischen Ländern und inbestimmten lateinamerikanischen Staaten sahen sich im 20.Jahrhundert sehr viele Geistesmenschen aus politischen Gründendazu gezwungen zu emigrieren.

Die Intellektuellen als Kritiker vonStaat, Gesellschaft und Religion

Dass das Bild vom unterwürfigen, auf Machterhalt undRegierungspropaganda fokussierten Intellektuellen dietatsächlichen Verhältnisse in allergröbster Weise verzerrt, zeigt sichauch — und zwar auf äußerst eindrucksvolle Weise —, wenn wir unsauf eine zeiten- und länderübergreifende Reise durch dieMenschheitsgeschichte begeben. Dabei wollen wir — da hier keineausufernde Darstellung und keine endlosen Namenslistenbeabsichtigt sind — ausschließlich die bedeutenden Intellektuellenberücksichtigen, also sozusagen die geistige Champions League.

Deutschland, Österreich, Schweiz

Beginnen wir im deutschsprachigen Raum. Die herausragendenIntellektuellen der vergangenen Jahre und der Gegenwart wie HansMagnus Enzensberger, Botho Strauß, Peter Handke, EckhardHenscheid, Roger Willemsen, Rolf Peter Sieferle, Norbert Bolz undRüdiger Safranski wird sicherlich niemand als devoteRegierungstreue, als Hilfstruppen der politischen Führung oderBewahrer der Macht einstufen.

Und auch ihre „Vorgänger“: Heinrich Heine, Georg Büchner, ArthurSchopenhauer, Friedrich Nietzsche, Hermann Hesse, Stefan Zweig,Robert Musil, Hermann Broch, Karl Kraus, Kurt Tucholsky, Thomas

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Mann, Ernst Jünger, George Grosz und Max Beckmann — um auchzwei hochintellektuelle Maler zu nennen —, Walter Benjamin,Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse, GüntherAnders, Hannah Arendt, Max Frisch, Gerd-Klaus Kaltenbrunner,Odo Marquard, Robert Spaemann …, waren allesamt keineambitionierten Regierungslakaien, sondern begnadeteGeistesmenschen, die offen, ironisch, mal leise, mal laut, scharf odersubtil politische, gesellschaftliche und geistig-kulturelle Missständethematisierten.

Zwei Zitate sollen genügen: Georg Büchner forderte: „Friede denHütten! Krieg den Palästen!“ und Hermann Hesse, der in politischenDingen wesentlich hellsichtiger war als der mit ihm befreundeteThomas Mann, schrieb schon im Jahr 1919: „Staat ist Staat. UndPolitik ist Politik und beide taugen nichts und sind beschisseneEinrichtungen. Sie sind da, um uns den Geist zu knebeln (…)“; undvierzig Jahre später konstatierte er: „Die politische Vernunft liegtnicht mehr dort, wo die politische Macht liegt. Es muss ein Zustromvon Intelligenz und Intuition aus nichtoffiziellen Kreisen stattfinden,wenn Katastrophen verhütet oder gemildert werden sollen“ (4).Nach Hofschranzentum klingt das nicht gerade. Und wo sind bloßall die Intellektuellen, die „immer schon in Masse die Bewahrer derMacht“ waren?

Antike und Mittelalter

Verlassen wir Deutschland und wenden wir uns der Wiege desAbendlandes zu! Einer der größten Denker derMenschheitsgeschichte, Platon, war sowohl von der Herrschaft derDreißig Oligarchen als auch von der Attischen Demokratie derartangewidert, dass er zu einem vehementen Kritiker der politischenVerhältnisse seiner Zeit wurde und einen von Philosophen regiertenStaat forderte.

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Auch die Kyniker um Diogenes von Sinope sowie Platons LehrerSokrates waren alles andere als Hofschranzen, die um die Gunst derHerrschenden buhlten. Vielmehr wird Sokrates wohl sehr vielenPolitikern Angstschweiß auf die Stirn getrieben haben, als ererklärte, dass man die Staatsgeschäfte ausschließlich Bürgernanvertrauen dürfe, die aufgrund ihres Wissens und Könnens dazuqualifiziert seien, und nicht solchen, deren Einfluss sich allein derGunst der Massen oder ihrer vornehmen Herkunft verdanke. Erwandte sich mit seinen Forderungen also sowohl gegen denGeburtsadel als auch gegen die Demokraten.

Und auch das dritte große Geistesgenie der Antike, Aristoteles, warkein vor der Macht buckelnder Denker. Seine politischenÜberzeugungen unterschieden sich radikal von denen seinesSchülers Alexanders des Großen; überhaupt hatte der Lehrer desAbendlandes gar keine Zeit für schnöde Staatspropaganda, da ersich bekanntlich sehr intensiv mit höheren Dingen, mit diversenWissenschaften und Philosophie, befasste. Schließlich sollte auchnicht übersehen werden, dass in der Antike sowohl in Griechenlandals auch in Rom Satiren und Schmähreden äußerst populär waren, indenen die führenden Männer des Staates und die Mitglieder derOberschicht mit beißendem Spott und Invektiven überzogenwurden. Zu den bekanntesten und schärfsten Spöttern zählen diegriechischen Dichter Archilochos und Aristophanes sowie dierömischen Satiriker Lucilius und Juvenal.

Von den größten Köpfen der Antike nun zum überragenden Autordes europäischen Mittelalters: Dante Alighieri, der Verfasser der„Göttlichen Komödie“, des literarischen Hauptwerks seinesZeitalters, musste alle seine öffentlichen Ämter niederlegen undseine Heimatstadt Florenz verlassen, weil er nicht zu den dezidiertpro-päpstlich gesinnten schwarzen Guelfen gehörte und zu keinemGesinnungswechsel bereit war. Für den Fall seiner Rückkehr wurdeer von den Florentinern zum Tod durch Verbrennung verurteilt.

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Nun repräsentiert der italienische Dichterfürst mit seinemaufmüpfigen Verhalten aber keineswegs eine Ausnahme in Bezugauf das Mittelalter. Denn in Deutschland — aber auch in anderenLändern wie England, Spanien, Frankreich und Italien — ist diepolitische Lyrik des Hochmittelalters dadurch gekennzeichnet, dasssie neben Lobpreisungen vor allem auch eine harsche Kritik sowohlan den weltlichen als auch an den geistlichen Herrschern umfasste.

So war beispielsweise Walther von der Vogelweide, der als derbedeutendste deutschsprachige Lyriker dieser Zeit gilt, einerbitterter Kritiker des Papstes, bedachte gleichzeitig aber auchweltliche Oberhäupter und Würdenträger mit scharfen Spottversen;Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, stand im Dauerkonfliktmit Heinrich II., gegen den er beharrlich „Propagandaschriften“verfasste, bis er schließlich von dessen Rittern in der Kathedrale vonCanterbury ermordet wurde; der Spanier Pedro López de Ayala übtin seinem mehr als 8.000 Verse umfassenden „Reimwerk am Hofe“äußerst harte Kritik an Papst und Klerus sowie am König und an denBeamten …

Europa

Der nach allgemeiner Auffassung größte englische Romancier,Charles Dickens, kritisierte in seinem Werk das viktorianischeGesellschafts- und Staatssystem und tendierte ebenso wenig zurAnbiederung an die Regierenden wie die allermeisten seinerintellektuellen „Kollegen“.

Man denke etwa an Thomas Morus, Jonathan Swift, Rudyard Kipling,G. K. Chesterton, Oscar Wilde, E. M. Forster, Aldous Huxley undGeorge Orwell („all government is evil“). Auch Douglas Murray, einerder führenden britischen Intellektuellen unserer Tage, wäre hier zunennen.

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Und wie stellt sich unsere Intellektuellenfrage im Hinblick aufFrankreich dar? Nun, die Aussage, dass die beiden gegenwärtig wohleinflussreichsten Intellektuellen unseres Nachbarlandes, MichelHouellebecq und Michel Onfray, die Bevölkerung auf denMacronismus einschwören, würde ersteren sicherlich schmunzelnund zum Weinglas greifen und letzteren herzhaft lachen lassen.

Gustave Flaubert, Honoré de Balzac, Louis-Ferdinand Céline,Georges Bataille, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Philippe Muray —um nur einige herausragende intellektuelle Autoren zu nennen —waren weder rückgratlose Diener noch überzeugte Verteidiger derpolitischen Machthaber ihrer Zeit. Auch Renaud Camus und Alain deBenoist sowie die sogenannten Neuen Philosophen, „Nouveauxphilosophes“ wie Alain Finkielkraut, André Glucksmann und PascalBruckner lassen sich in keiner Weise als Überwacher der Menschenund Bewahrer der Macht charakterisieren.

Und auch einer der großen italienischen Denker der Gegenwart undüberhaupt einer der brillantesten Intellektuellen der westlichenWelt, Giorgio Agamben, ist himmelweit davon entfernt, alssystemstabilisierender Handlanger der Politik zu fungieren, wasbeispielsweise auch für seine ebenso berühmten wie einflussreichenLandsleute Pier Paolo Pasolini und Umberto Eco — einer derentschiedensten Gegner von Silvio Berlusconi — gilt.

Entsprechendes ist für den größten Schriftsteller der spanischenLiteraturgeschichte, den Autor des Don Quijote, Miguel deCervantes, und für die beiden bedeutendsten spanischenPhilosophen, José Ortega y Gasset und den außerhalb Spaniensbeinahe gänzlich unbekannten Miguel de Unamuno, zu verbuchen.

Russland

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Begeben wir uns nun ins zaristische Russland! Auch LewNikolajewitsch Tolstoi war kein liebedienerischer Stützer der Macht,sondern ein aufgrund seiner Ideen sowohl vom Staat als auch vonder Kirche Geächteter, der polizeilich überwacht wurde. FjodorMichailowitsch Dostojewski wurde aus politischen Gründen zumTode verurteilt und verbrachte nach einer Scheinhinrichtungmehrere Jahre in einem Straflager in Sibirien. Der größte DichterRusslands, Alexander Sergejewitsch Puschkin, und auch sein „Vize“Michail Lermontow hatten den Zarenhof und im Falle Puschkinssogar den Zaren selbst verspottet und wurden deswegen nachSüdrussland verbannt.

Was die bolschewistische Sowjetunion anbelangt, wären denGenannten vor allem die als Ausnahmelyrikerin verehrte AnnaAchmatowa sowie der überragende Erzähler Iwan Buninhinzuzufügen, der als erster russischsprachiger Autor denNobelpreis für Literatur erhielt. Des Weiteren ist insbesondere auchauf die Vertreter der „Samisdat“-Literatur, der „Selbstverlag“-Literatur“, hinzuweisen, einer systemkritischen, über nichtoffizielleKanäle verbreiteten Untergrundliteratur, die auch in anderenLändern des Ostblocks wie beispielsweise in Polen, derTschechoslowakei, Ungarn und in der DDR in nennenswertemUmfang rezipiert wurde. Der bekannteste Name der sowjetischenSamisdat-Literatur ist der Systemkritiker Alexander Solschenizynmit seinem Hauptwerk „Archipel Gulag“.

Nord- und Südamerika

Auch jenseits des Atlantiks, in den USA, wollen sich dieIntellektuellen partout nicht in das von Professor Otte gezimmerteProkrustesbett zwängen lassen. Neben unzähligen anderen Namensind hier vor allem die folgenden Autoren schlagende Beispiele:Henry David Thoreau, einer der größten amerikanischen

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Schriftsteller und Philosophen, leidenschaftlicher Verfechter deszivilen Ungehorsams und Verfasser des Essays „Über die Pflicht zumUngehorsam gegen den Staat“, T. S. Eliot, Mark Twain, Tom Wolfe,Philip Roth, Susan Sontag, Thomas Pynchon sowie der Linguist undGesellschaftskritiker Noam Chomsky, der ebenso wie der ItalienerGiorgio Agamben zu den weltweit angesehensten Intellektuellenzählt.

Wenden wir nun den Blick von Nordamerika in Richtung Süden! Dielateinamerikanischen Schriftsteller sowie überhaupt dieIntellektuellen dieses Kontinents gelten insbesondere mit Blick aufdas 20. Jahrhundert als in besonderem Maße politisch engagiert.Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie sich mehrheitlich für dieBewahrung der bestehenden Regierungssysteme einsetzten und dasVolk dementsprechend bei der Stange hielten, sondern ganz imGegenteil.

Ähnlich wie Sartre und seine Mitstreiter in Frankreich bereitete dieübergroße Mehrheit von ihnen, die anti-kapitalistisch, sozialistischorientiert war, jahrzehntelang die Revolution, den Sturzreaktionärer, liberal-kapitalistischer beziehungsweiseautokratischer Systeme vor. In den Fällen, in denen dies glückte,wurden sie aber oftmals von den neuen Machthabern über kurzoder lang so sehr enttäuscht, dass sie ihr Engagement aufgabenbeziehungsweise sich anderen Ideen zuwandten.

Fassen wir unsere Länder-, Kultur- und Epochengrenzenüberschreitende Reise kurz zusammen:

Die Aussage, die Intellektuellen seien schon immer —von seltenen Ausnahmen abgesehen — konformistischeBewahrer der bestehenden Machtverhältnisse, aktiveUnterstützer der Regierenden beziehungsweiseÜberwacher/Einschwörer des Volkes gewesen, isthanebüchener Unsinn.

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Vielmehr zeigen die Intellektuellen im Allgemeinen die Tendenz, diesie auszeichnende Fähigkeit zu eigenständigem und scharfemDenken dazu zu nutzen, das Zeitgeschehen kritisch zu beobachtenund zu kommentieren.

Und deshalb ist es ja so erstaunlich, dass sie in der Corona-„Krise“ —wenn wir von punktuellen Ausnahmen wie dem Italiener GiorgioAgamben einmal absehen — so eine erbärmliche Figur abgegebenhaben, wofür sich aber durchaus Erklärungen finden lassen (5).

Zum Abschluss sei noch auf ein Phänomen hingewiesen, das derThese des machtstabilisierenden Impetus der Intellektuellenebenfalls eklatant widerspricht, im Rahmen unseres Überblicks abernicht eigens erwähnt wurde: die Protestliteratur. Ein Beispiel fürdiese Textgattung ist die von dem französischen Dichter undPhilosoph Étienne de La Boétie um das Jahr 1548 verfasste„Abhandlung über die freiwillige Knechtschaft“, in der er sich gegendie Monarchie wendet. An einer Stelle betont er, dass man denHerrscher gar nicht umbringen müsse, es würde genügen, wennman einfach nicht mehr gehorche (6): „Seid entschlossen, nichtmehr zu dienen, und ihr seid frei!“

Quellen und Anmerkungen:

(1) https://www.youtube.com/watch?v=MrFAhZqK0xw(https://www.youtube.com/watch?v=MrFAhZqK0xw) (2)https://docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte#cite_ref-11(https://docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte#cite_ref-11)

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(3) Ebenda.(4) Volker Michels: „Außenseiter wird man nicht freiwillig“, in:Hermann-Hesse-Jahrbuch, Band 1, Tübingen, Niemeyer, 2004, Seite37(5) https://www.rubikon.news/artikel/intellektuelle-bankrotterklarung(https://www.rubikon.news/artikel/intellektuelle-bankrotterklarung) (6) Vgl. dazuhttps://www.deutschlandfunkkultur.de/protestliteratur-frueher-und-heute-aufrufe-zur-revolte-von.1270.de.html?dram:article_id=446890(https://www.deutschlandfunkkultur.de/protestliteratur-frueher-und-heute-aufrufe-zur-revolte-von.1270.de.html?dram:article_id=446890)

Stefan Barme, Jahrgang 1966, promovierte undhabilitierte in Romanischer Sprachwissenschaft an denUniversitäten Mainz und Trier und ist zudem Diplom-Übersetzer. Er war mehrere Jahre als Dozent anverschiedenen deutschen Hochschulen tätig undGastprofessor an der Universität Wien. Nach mehrerenlängeren Auslandsaufenthalten, unter anderem inPortugal, Brasilien und Russland, arbeitet er seit 2013freiberuflich als Übersetzer und veröffentlichtezahlreiche wissenschaftliche Publikationen sowie Essaysund Artikel in verschiedenen Print- und Online-Medien.

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