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2019. 128 S., mit 5 Abbildungen ISBN 978-3-406-73996-5 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/28457630 Unverkäufliche Leseprobe © Verlag C.H.Beck oHG, München Dietmar Rothermund Gandhi Der gewaltlose Revolutionär

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2019. 128 S., mit 5 Abbildungen ISBN 978-3-406-73996-5

Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/28457630

Unverkäufliche Leseprobe

© Verlag C.H.Beck oHG, München

Dietmar Rothermund Gandhi Der gewaltlose Revolutionär

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Die Idee des gewaltlosen Widerstands ist seit dem indischenUnabhängigkeitskampf fest mit dem Namen Gandhi verbun-den. Durch seine gewaltfreien Aktionen gegen die britischeHerrschaft erwarb sich Mahatma Gandhi weit über Indien hin-aus bis heute Glaubwürdigkeit und Autorität. Dietmar Rother-mund schildert das Leben Gandhis von seiner Kindheit undJugend in einer indischen Kleinstadt über sein Jurastudium inLondon, die prägenden zweiundzwanzig Jahre als Anwalt inSüdafrika und seinen Einsatz im indischen Freiheitskampf biszu seiner tragischen Ermordung kurz nach der Erlangung derindischen Unabhängigkeit. Wenn Gandhi gefragt wurde, was erder Welt mitzuteilen habe, sagte er, sein Leben sei seine Bot-schaft. Diese kurze Biographie will zum Verständnis dieser Bot-schaft beitragen.

Dietmar Rothermund ist Professor em. für die Geschichte Süd-asiens am Südasien-Institut der Universität Heidelberg, das erviele Jahre leitete. Er ist Fellow of the Royal Historical Society,London, und war Vorsitzender der European Association ofSouth Asian Studies. Zahlreiche, in viele Sprachen übersetzteVeröffentlichungen haben ihn international bekannt gemacht.Bei C.H.Beck erschien u.a. «Geschichte Indiens» (mit HermannKulke, 5. Aufl. 2018).

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Dietmar Rothermund

GANDHI

Der gewaltlose Revolutionär

C.H.Beck

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Mit 5 Abbildungen (© Associated Press, AP) und 1 Karte

Der Autor dankt dem Kartographen des Südasien-Instituts derUniversität Heidelberg, Herrn Niels Harm, für diese Karte, die

Britisch-Indien mit den Wirkungsstätten Gandhis zeigt.

3., durchgesehene Auflage. 2019

Originalausgabe© Verlag C.H.Beck oHG, München 2003

www.chbeck.deSatz: C.H.Beck.Media.Solutions, Nördlingen

Druck und Bindung: Druckerei C.H.Beck, NördlingenReihengestaltung Umschlag: Uwe Göbel (Original 1995, mit Logo),

Marion Blomeyer (Überarbeitung 2018)Umschlagabbildung: © Wallace Kirkland/Time Life Pictures/

Getty ImagesPrinted in Germany

isbn 978 3 406 73996 5

klimaneutral produziertwww.chbeck.de/nachhaltig

Die 1. Auflage dieses Buches erschien 2003 unterdem Titel «Mahatma Gandhi» in der Reihe C.H.Beck Wissen.

2., durchgesehene Auflage. 2011

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Inhalt

I. Gandhi:«Die Wahrheit transzendiert die Geschichte» 7

II. Der junge Gandhi:Von Gujarat nach London 111. Kindheit in Gujarat . . . . . . . . . . . . . . . 112. Ein «Gentleman» in London . . . . . . . . . . . 14

III. Prägende Jahre in Südafrika 181. Der Kuli-Anwalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 182. Der Ursprung des Satyagraha . . . . . . . . . . 26

IV. Einsatz im indischen Freiheitskampf 331. Begegnungen mit den indischen Bauern . . . . . 332. Die Kampagne der Nichtzusammenarbeit . . . . 413. Die Botschaft des Spinnrads . . . . . . . . . . . 504. Die Bedeutung der Steuerverweigerungskampagne

in Bardoli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55

V. Vom Salzmarsch zum Runden Tisch 621. Die symbolische Revolution . . . . . . . . . . . 622. Der Pakt mit dem Vizekönig . . . . . . . . . . . 673. Die Konferenz am Runden Tisch . . . . . . . . . 734. Das Fasten für die Unberührbaren . . . . . . . . 78

VI. Der Mahatma und die Kongresspartei 831. Gandhis Abschied vom Kongress . . . . . . . . 832. Der Sturz eines Rivalen . . . . . . . . . . . . . 893. Der Zweite Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . 914. «Tat oder Tod» . . . . . . . . . . . . . . . . . 94

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VII. Der einsame Mahner 971. Jinnah und Pakistan . . . . . . . . . . . . . . . 972. Die Herausforderung durch die Atombombe . . 1033. Teilung und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

VIII. Das ausgeschlagene Erbe 116

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

Hinweise für den LeserDie Schreibweise der indischen Wörter richtet sich nach der gegenwär-tig in Indien gültigen Umschrift in englischer Sprache (z.B. Panjab) undnicht nach der älteren englischen Umschrift (Punjab), bei der das «u»das kurze «a» bezeichnete (in Analogie zum englischen Wort «but»).Die englische Schreibweise indischer Städtenamen ist in jüngster Zeitkorrigiert worden. Statt der älteren englischen Bezeichnungen, die aufHörfehlern und Vereinfachungen beruhten, wurde hier die korrigierteSchreibweise übernommen, d.h. Mumbai statt Bombay, Varanasi stattBenares usw. Im Register wurde jeweils die alte Schreibweise in Klam-mern hinzugefügt.

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I. Gandhi:«Die Wahrheit transzendiert die Geschichte»

Im Gefängnis wurde Gandhi ein eifriger Leser. Im Jahre 1922widmete er vier Monate dem indischen Nationalepos Maha­bharata. Er gestand ein, dass er es bisher gemieden hatte, weiler es für eine Hymne auf Krieg und Gewalt hielt. Erst jetzt ver-stand er seine tiefere Bedeutung. Er las damals auch bedeutendeWerke der europäischen Geschichtsschreibung. Aber der Autordes Mahabharata stand ihm näher als die europäischen Histori-ker. Er schrieb darüber in seiner Zeitschrift Young India:

«Ich glaube an das Sprichwort, dass die Nation die glück-lichste ist, die keine Geschichte hat. Es ist meine Lieblingstheo-rie, dass unsere Hindu-Ahnen das Problem für uns dadurch ge-löst haben, dass sie die Geschichte, so wie sie heute verstandenwird, ignoriert haben, indem sie auf einem Fundament unbe-trächtlicher Ereignisse das Gebäude ihrer Philosophie errichte-ten. Das gilt für das Mahabharata …, sein unsterblicher, aberunbekannter Autor blendet gerade genug Übernatürliches inseine Erzählung ein, um dich zu warnen, dass du ihn nicht etwabuchstäblich beim Wort nimmst. (Die europäischen Historiker)bemühen sich unnötig darum, dir zu sagen, dass sie nur Tat-sachen und nichts als die Tatsachen berichten … Namen undFormen sind unwesentlich, sie kommen und gehen. Das, wasdauerhaft und daher notwendig ist, entgeht dem Historiker, dernur Ereignisse schildert. Die Wahrheit transzendiert die Ge-schichte.»

Gandhis Behauptung, dass die Wahrheit die Geschichte trans-zendiere, hat eine tiefere Bedeutung als die, die sie in diesem Be-richt über seine Lektüre zu haben scheint. Die Suche nach derWahrheit stand im Mittelpunkt von Gandhis Leben, aber dieswar nicht die Wahrheit, die sich mit den Methoden kritischerGelehrsamkeit ergründen lässt. Für ihn musste sich die Wahr-

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heit in wohlbedachter Aktion, die durch ein Gelübde unterstütztwurde, bewähren. Er sagte: «Die Wahrheit ist der Inbegriff desGelübdes.» Damit knüpfte er an die alte indische Vorstellungvom satyakriya (wahrmachen) an, doch er verwendete diesesalte Wort nicht, weil er es vermutlich nicht kannte. Das Prinzipdes Wahrmachens war ihm aber vertraut, weil er die indischeTradition bereits von früher Jugend an in sich aufgenommenhatte. Hätte er das Wort gekannt, so hätte er es vielleicht stattdes Neuwortes satyagraha (Festhalten an der Wahrheit) ver-wendet, das er selbst prägte. In alten indischen Texten beziehtsich satyakriya auf eine Art Gottesurteil, wobei der Betreffendeeinen Eid auf ein Geheimnis schwört, das nur ihm selbst be-kannt ist. Die Wahrheit, die hier gemeint ist, bewährt sich alsogerade nicht dadurch, das andere sie bestätigen können, son-dern dadurch, dass Gott sie kennt. Der vedische Gott Varunabestrafte unerbittlich jeden, der einen Meineid leistete. DieserStrafe setzte man sich also beim satyakriya bewusst aus.

Gandhi war nicht an der Geschichte als solcher interessiertund betonte, dass er sich nicht durch sie geprägt fühlte. Wenndie Wahrheit die Geschichte transzendierte, dann bot sie einenarchimedischen Punkt außerhalb der Geschichte, von dem ausman auf den Gang der Ereignisse Einfluss nehmen konnte. Siewar wie der Polarstern, den man im Auge behielt, wenn mannachts auf stürmischer See unterwegs war. Das nautische Ins-trument, das einem half, den rechten Kurs zu halten, war dasGelübde. Dieser Zugang zur Wahrheit war ein individueller;wenn Gandhi Massenkampagnen plante, so konnte er sie nurals Summe individueller Entscheidungen konzipieren. Er wargrundsätzlich gegen alle Theorien, die das menschliche Schick-sal als Produkt kollektiver Kräfte deuten. Der historische Mate-rialismus war ihm ebenso fremd wie die «unsichtbare Hand»,die nach wirtschaftsliberaler Auffassung die Kräfte des Markteslenkt. Jene, die an solche Theorien glauben, haben zwei Optio-nen, sie können entweder im Vertrauen darauf handeln, dassdie Geschichte auf ihrer Seite ist, oder aber abwarten, bis dieGeschichte sich auch ohne ihr Zutun bewegt. Beide Optionenwaren für Gandhi irrelevant, denn er glaubte an die bewusste

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individuelle Handlung, für die man bereit war, die persönlicheVerantwortung zu übernehmen. Paradoxerweise ermöglichte esGandhi gerade die Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte,selbst «Geschichte zu machen». Das bedeutete freilich auch eineUnbeugsamkeit, die viele, die es mit ihm zu tun hatten, schwerertragen konnten und die solche, die seine Handlungen imNachhinein zu interpretieren versuchten, verwirrte, weil sie sichdabei auf Theorien bezogen, die ihn nicht betrafen. Wer ihn alsVerräter der Revolution sah, als Vertreter bestimmter Interesseneinstufte oder als einen Mann betrachtete, der vorgab, gegenden Imperialismus zu kämpfen, und doch dazu beitrug, seineHerrschaft zu verlängern, der interpretierte Gandhi nicht nachdessen eigenen Maßstäben, sondern zwang ihn in das Prokrus-tesbett ideologischer Vorurteile.

Aber bei aller Unbeugsamkeit und Gesinnungsethik vergaßGandhi niemals seine Umgebung. Er wollte Menschen beein-flussen, daher musste er versuchen, sie zu verstehen. Er wirktein einem politischen Umfeld und musste es beachten. Er tat alldies, aber nicht so wie ein politischer Theoretiker, sondern alsunermüdlicher Beobachter. Er hielt Verbindung zu unzähligenMenschen und zeigte persönliche Anteilnahme an ihren Sorgenund Nöten. So sammelte er unwillkürlich viele Informationenund testete die Wirkungen seiner Aktionen. Oft kamen ihmKontakte, die er ohne jede eigennützige Absicht hergestellthatte, später zugute und halfen ihm auf überraschende Weise.

Solche Kontakte und Begegnungen gehörten zu dem ver-wirrenden Wechselspiel zufälliger Ereignisse, aus dem die Ge-schichte besteht. Aber Gandhi hatte eine geradezu magnetischeWirkung auf dieses Feld der Ereignisse. Er gab dem Fluss derEreignisse eine Richtung. Selbst ein Hellseher ist nicht unfehl-bar und kann im täglichen Leben Fehler machen. So machteauch Gandhi, der auf die Wahrheit baute, Fehler – sogar solche«von der Größe des Himalaya», wie er selbst eingestand. Politi-ker gestehen meist keine Fehler ein, sondern versuchen, sie zuvergessen, und hoffen, dass andere es auch tun. Für solche Poli-tiker waren Gandhis Geständnisse peinlich. Der Biograph istfreilich für solche Selbstkritik dankbar, sie erleichtert seine Ar-

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beit. Doch darf er sich nicht darauf verlassen. Gandhi machtenämlich auch Fehler, die er nicht als solche bemerkte und ein-gestand. Ein solcher Fehler war sein Entschluss, sich der Khi-lafat-Bewegung zu widmen, obwohl er kaum etwas über siewusste. Ein anderer Fehler war es, dass er seinen GegenspielerJinnah immer wieder unterschätzte und ihn dadurch dazuzwang, Dinge zu tun, die Jinnah von sich aus nicht getan hätte.Man könnte auch rügen, dass Gandhi in den letzten Jahrzehn-ten seines Lebens wenig Zeit darauf verwandte, Satyagrahis zutrainieren, und stattdessen auf die Wirkung seines spektakulä-ren Fastens vertraute, das nur vorübergehend Erfolg hatte, aberseine Gefolgsleute zu Zuschauern degradierte und sie nicht aufeigenständige politische Leistungen vorbereitete.

Gandhi sagte: «Mein Leben ist meine Botschaft.» Dieser Hin-weis sollte jeden dazu bewegen, sein Leben zu studieren, abernicht nur seine Höhepunkte. Gandhis Größe kann man nurdann richtig einschätzen, wenn man ihn im Kontext seiner Zeitsieht, im Konflikt der Entscheidungen, die notwendig aufgrundunzureichender Informationen getroffen werden mussten. Wieer sich so im Leben bewährte, war in der Tat bemerkenswert.

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II. Der junge Gandhi:Von Gujarat nach London

1. Kindheit in Gujarat

Mohandas K. Gandhi wurde am 2. Oktober 1869 in Porbandar,Gujarat, geboren. Sein Vater Karamchand war Premierministereines kleinen Fürstenstaats. Von solchen Fürstenstaaten gab esüber fünfhundert, die wie Insekten im Bernstein von Britisch-Indien umschlossen waren. Die britischen Kolonialherren hat-ten überall dort, wo es nicht viel zu holen gab, einheimischeFürsten in Amt und Würden belassen und sie nur einer indirek-ten Herrschaft unterworfen. In der Innenpolitik genossen sieweitgehende Autonomie. So war auch Gandhis Vater als Pre-mierminister in dem kleinen Staat ein mächtiger Mann. Dochdie Atmosphäre dieses Staates war für den jungen Gandhi er-drückend. Das Kommen und Gehen im Hause des Vaters, dasständige Flüstern und Intrigieren ödeten ihn an. Erst später, alsder Vater die Position eines Richters am Fürstengericht in Raj-kot einnahm, konnte er ihn von ganzem Herzen bewundern.Karamchand Gandhi war ein aufrechter und ehrlicher Mann, erbesaß keine reguläre Schulbildung, aber viel Erfahrung undhatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Das Gericht, demer angehörte, war ein Tribunal, das Streitigkeiten zwischen denFürsten Kathiawars, dem Westteil Gujarats, schlichtete. Die Ver-fahrensweise dieses Tribunals bestand nicht aus Verhör und Ur-teil, es ging hier um Vermittlung und Schiedsgerichtsbarkeit.Mohandas Gandhis Gerechtigkeitsempfinden wurde zutiefstvon dieser Arbeit seines Vaters in Rajkot geprägt.

Der andere entscheidende Einfluss auf den jungen Gandhiwar der der frommen Mutter, die oft Gelübde ablegte, die sichauf das Fasten und andere religiöse Praktiken bezogen. Gandhibewunderte die fröhliche Disziplin, mit der die Mutter diesenGelübden folgte. Die Rolle, die Gelübde in seinem späteren Le-

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ben spielen sollten, wurde auf diese Weise vorgezeichnet. Zu-gleich wurde Gandhi sowohl von dem volkstümlichen Vaishna-vismus, der in dieser Gegend Gujarats vorherrschte, als auchvon dem strengen Jainismus geprägt, der hier seit alter Zeit festverankert war. Der Vaishnavismus ist jene Form des Hinduis-mus, bei der Vishnu als höchster Gott angesehen wird. In seinervolkstümlichen Form betont er die hingebungsvolle Andacht,das Gebet und die Frömmigkeit. Der Jainismus ist eine Lehredie zeitgleich mit dem Buddhismus im 6. Jahrhundert vor Chris-tus in Ostindien entstand und sich von dort in den Süden undWesten des Landes verbreitete. In der Philosophie des Jainismussind Geist und Materie miteinander verbunden und nicht ge-trennt wie in anderen philosophischen Systemen. Einige derVorstellungen Gandhis, die westlichen Beobachtern seltsam er-schienen, gingen auf diese Philosophie zurück. Dass das indivi-duelle physische Verhalten metaphysische Konsequenzen habe,wurde von ihm ganz selbstverständlich vorausgesetzt. Er hattediese Ideen in seiner Jugend aufgenommen und kommentiertesie später nicht. Aber einige seiner scheinbar irrationalen Be-merkungen ergeben einen Sinn, wenn sie im Lichte dieser ander-sartigen Rationalität gesehen werden. In einem ganz primitivenSinn entsprach dieser Rationalität die Ansicht, dass das Flei-schessen der Grund dafür war, dass die Briten die vegetarischenHindus beherrschen konnten. Gandhi machte daher als Knabeeinige Experimente mit dem Fleischessen, obwohl ihm Fleischüberhaupt nicht schmeckte.

Die Welt der Briten war übrigens buchstäblich meilenweitentfernt von der des kleinen Fürstenstaats, in dem Gandhi auf-wuchs. Nur in der Schule drängte sich ihm die englische Unter-richtssprache auf, die ihm gar nicht gefiel. Er sagte später ein-mal, dass er Fächer wie Mathematik sicher viel rascher begriffenhätte, wenn sie ihm in der Muttersprache beigebracht wordenwären. Sein Englisch blieb bis zum Ende seiner Schulzeit rechtmäßig. Später meisterte er die englische Sprache in Wort undSchrift auf vorbildliche Weise, aber er hielt sie nach wie vor füretwas, das die Kolonialherren den Indern aufgezwungen hattenund das ihnen mehr schadete als nutzte. Er glaubte, dass diese

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Sprache ihre geistigen Fähigkeiten einengte und sie dazu ver-führte, zu wiederholen, was andere ihnen sagten, statt für sichselbst zu denken. Er verurteilte ganz besonders jene Inder, diedie gleiche Muttersprache hatten, aber dennoch Englisch mit-einander sprachen, weil sie das für «gebildet» hielten. Die Liebezu seiner Muttersprache Gujarati verlor er nie. Selbst als erschon viel auf Englisch veröffentlicht hatte, schrieb und publi-zierte er weiterhin auch auf Gujarati.

Der indische Nationalismus, der in der Gründung des Natio-nalkongresses im Jahre 1885 in Mumbai (Bombay) seinen Aus-druck fand, als Gandhi das College in Bhavnagar besuchte,beeindruckte ihn damals noch nicht. Wäre er als Sohn eines west-lich gebildeten Vaters in Mumbai aufgewachsen, dann hätte ervon diesem neuen Phänomen, das die Bildungsschicht begeis-terte, sicher viel gehört. Aber die Fürstenstaaten Gujarats stan-den der Entwicklung in Britisch-Indien fern und behielten dieseDistanz noch lange bei. So gesehen war es eine ganz ungewöhn-liche Entscheidung der Familie Gandhi, den jungen Mohandaszum weiteren Studium nach England zu senden. Die Familiewar der Meinung, dass mindestens einer von ihnen der Karrieredes einige Jahre zuvor verstorbenen Karamchand folgen sollte.Zukünftig, so sagte man sich, würde es kaum möglich sein, einesolche Stellung ohne einen in England erworbenen akademi-schen Grad zu erlangen. Die Entscheidung fiel den Gandhis nichtleicht. Die Tatsache, dass Mohandas bereits verheiratet war undseine junge Ehefrau Kasturba und ihr Baby daheim lassenmusste, spielte dabei keine Rolle, sie würden in der Großfamiliegut aufgehoben sein. Aber Gandhis Mutter fürchtete, dass derjunge Mann den unmoralischen Einflüssen des Westens erlie-gen würde, und ließ ihn daher gar nicht gern ziehen. Schließ-lich ließ sie ihm von einem Jainmönch ein Gelübde abnehmen,dass er auf Fleisch, Alkohol und Frauen verzichten werde, erstdann durfte er nach London reisen. Er hatte sich inzwischenganz und gar mit diesem Reiseplan identifiziert und brannte da-rauf, in London zu studieren. Das Gelübde, das er vor der Ab-reise ablegte, war sein erstes, es sollten später noch viele anderefolgen.

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2. Ein «Gentleman» in London

Als der junge Gandhi in London ankam, fühlte er sich gar nichtwohl. Sein Englisch war noch sehr bescheiden, und der weißeFlanellanzug, den er trug, als er an einem kühlen Oktobertagdas Schiff verließ, erschien ihm nun als sehr unpassend. In Raj-kot hatte er Briten in solchen Anzügen herumlaufen sehen, aberniemand hatte ihm gesagt, dass sie sie nicht daheim in der kal-ten Jahreszeit trugen. Er versuchte, sich so schnell wie möglichden Sitten und Gebräuchen der britischen Gesellschaft anzupas-sen. In seiner Autobiographie «Meine Experimente mit derWahrheit» verurteilte er später seine Bemühungen darum, Fran-zösisch sprechen und Geige spielen zu lernen, Tanzstunden zunehmen, teure Anzüge zu tragen und mit der Kutsche zu fah-ren, statt zu Fuß zu gehen. Der Leser der Autobiographie ge-winnt den Eindruck, dass all dies nur Launen eines extravagan-ten jungen Mannes waren, denn als solche schildert sie Gandhi.Aber all diese Bemühungen hatten einen gemeinsamen Nenner:Gandhi bemühte sich nach Kräften darum, ein «Gentleman» zuwerden.

Die Gesellschaft des spätviktorianischen England war sehrklassenbewusst und zugleich überaus offen. Wer sich den Le-bensstil eines «Gentleman» leisten konnte, wurde als solcherakzeptiert, solange er die Spielregeln beachtete. Gandhi war so-zusagen ein männliches Gegenstück der «fair lady», die vonProfessor Higgins trainiert wurde. Er gab zwar bald einige deroberflächlichen Umgangsformen des «Gentleman» auf, aber erbemühte sich eifrig um die Verbesserung seiner Englischkennt-nisse. Er las täglich die Daily News, den Daily Telegraph unddie Pall Mall Gazette. Der englische Journalismus seiner Zeithatte einen hohen Standard. Die Pall Mall Gazette war die füh-rende liberale Zeitung. John Morley war bis 1883 ihr Chefre-dakteur gewesen, und zur Zeit, als Gandhi sich in London auf-hielt, war es W. T. Stead, den Gandhi ganz besonders respektierte.Stead hatte eine neue Art der Berichterstattung eingeführt. Erdiskutierte soziale Probleme und berichtete über neue Bewegun-gen, so etwa über Madame Blavatskys Theosophie oder Wil-

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liam Booths Heilsarmee. Gandhi sollte später einer der bedeu-tendsten Journalisten des 20. Jahrhunderts werden, der fasttäglich Berichte schrieb. Er verdankte viel dem Beispiel des bri-tischen Journalismus, den er in seinen Londoner Jahren kennenund schätzen gelernt hatte.

Das britische politische Leben wandelte sich in diesen Jahrenauf entscheidende Weise. Gladstones Liberalismus war ins Ab-seits geraten. Er hatte seine wichtigsten Leistungen vollbracht.Wirtschaftswachstum und der Sieg der bürgerlichen Demokra-tie wurden nun als gegeben hingenommen. Doch die Liberalenhatten keine Antworten auf die dringenden Fragen der Zeit. Siekonnten weder zur Stützung des britischen Imperialismus bei-tragen noch den sozialen Wandel bewältigen, der sich aus demRückgang der Bedeutung der Landwirtschaft und dem Aufstiegder Industrie ergab. Gladstone war 1885 von der britischenNiederlage im Sudan empfindlich getroffen worden, und als er1886 die Autonomie Irlands zu seinem Programm machte, ver-lor er vollends die Unterstützung der Wähler. Die KonservativePartei hatte einen neuen Aufschwung erlebt, und als Gandhisich in London aufhielt, stand der konservative PremierministerLord Salisbury auf der Höhe seiner Macht. Die Liberale Parteihatte sich über die irische Frage zerstritten. Gespalten bedeutetesie für Salisbury keine ernsthafte Herausforderung. Stattdessenkamen zu jener Zeit neue politische Kräfte auf, die sich späterin der Labour Party zusammenfanden. Der Aufstieg dieser Par-tei war jedoch zu jener Zeit noch nicht absehbar. Es gab einenWirrwarr von Reformbewegungen aller Art. Anarchisten, Vege-tarier, Kommunisten und Sozialisten warben um die Gunst desPublikums. Zugleich wies der Streik der Dockarbeiter von 1889auf die wachsende Bedeutung der Gewerkschaften hin. Gandhiverfolgte diesen Streik sehr aufmerksam, doch ihn beeindruck-ten weniger die Gewerkschaftsführer als der große Vermittler,Kardinal Manning, der zur Beilegung des Streiks beitrug. Alsder Gujarati-Dichter Narayan Hemchandra Gandhi in Londonbesuchte, berichtete ihm Gandhi über den Streik und die RolleMannings. Hemchandra bestand darauf, Manning zu treffen.Gandhi, der zu schüchtern gewesen wäre, für sich selbst um ein

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Interview zu bitten, arrangierte es für Hemchandra und beglei-tete ihn als Dolmetscher.

Hemchandra war nur ein durchreisender Gast, aber es gab danoch einen anderen Landsmann Gandhis in London, der einenbleibenden Eindruck auf ihn machte: Dr. Pranjivan Mehta. Dergute Doktor hatte Gandhi bei seiner Ankunft in London emp-fangen und war sein väterlicher Freund geworden. Er hatte Juraund Medizin studiert und war nicht nur ein perfekter «Gentle-man», sondern auch ein eindrucksvoller Intellektueller, mit demGandhi alle Fragen diskutieren konnte. Ebenso wichtig fürGandhi waren die Gespräche mit den Brüdern Bertram und Ar-chibald Keightley, die ihn in die Theosophie einführten und ihmviele Fragen über seine eigene Religion stellten. Gandhi war alsHindu in der lebendigen Tradition seiner Heimat aufgewach-sen, aber hatte sie nie bewusst reflektiert. Dazu wurde er nundurch die Fragen der Keightleys gezwungen. Sie waren sehr be-lesen und luden Gandhi ein, die Bhagavadgita und andere Hin-du-Schriften mit ihnen zu studieren. Durch sie lernte er auchMadame Blavatsky und ihre neue Schülerin, die irische Sozia-listin Dr. Annie Besant, kennen, die sich 1889 der Theosophi-schen Gesellschaft angeschlossen hatte. Es wäre gar nicht über-raschend gewesen, wenn auch Gandhi nun dieser Gesellschaftbeigetreten wäre. Aber er stand wohl einigen der recht esote-rischen Lehren Blavatskys eher skeptisch gegenüber.

Es gab da aber eine andere Bewegung, der sich Gandhi mitgroßer Begeisterung anschloss: die Vegetarische Gesellschaft. Erhatte Henry Salts Buch A Plea for Vegetarianism gelesen, dasihn sehr beeindruckt hatte. Bisher war er nur aufgrund seinerHerkunft Vegetarier gewesen und wegen des Schwurs, den ervor seiner Reise nach England hatte leisten müssen. Nun aberwurde er Vegetarier aus Überzeugung. Salt lieferte ihm die Ideo-logie, die ihm bisher gefehlt hatte. Für Salt war der Vegetaris-mus nicht einfach nur eine Frage der gesunden Lebensführung,sondern stand in einem größeren Zusammenhang. Er schriebspäter eine Biographie Henry Thoreaus, des amerikanischenApostels des bürgerlichen Ungehorsams. Gandhi traf Salt nie,korrespondierte aber über drei Jahrzehnte mit ihm. Er war ihm

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stets dankbar für die Hilfe, die seine Schriften, unter anderem,ihm in einer schwierigen Zeit seines Lebens bedeuteten. DieVegetarische Gesellschaft wurde für Gandhi aber auch noch inanderer Hinsicht wichtig. Er wurde ihr Schriftführer und sam-melte seine ersten Erfahrungen als Organisator und Journalistim Rahmen dieser Tätigkeit. Der junge «Gentleman» war einbegeisterter «Reformer» geworden – aber auch das passte zumZeitgeist jener Jahre.

Neben allen diesen Tätigkeiten widmete sich Gandhi ernst-haft seinem Jurastudium. Er büffelte Latein, während seine Stu-dienkollegen sich zumeist damit durchmogelten, dass sie sichÜbersetzungen der betreffenden Texte besorgten. Gandhi warkein brillanter, aber ein sehr gewissenhafter Student, der seineZeit in London gut nutzte. Nach drei Jahren hatte er sein Exa-men bestanden und konnte sich nun «Barrister» nennen, aberals er 1891 seine Praxis in Mumbai aufnahm, hatte er keinenberuflichen Erfolg. Er war viel zu schüchtern, um seine Man-danten vor Gericht überzeugend zu vertreten. Aber er konntegut Petitionen verfassen und andere Schriftsätze erstellen. Da-mit verdiente er sich recht mühsam seinen Lebensunterhalt.Wäre ihm nicht der Zufall zu Hilfe gekommen, so hätte er wohlbis ans Ende seiner Tage auf solche Weise still und bescheidengelebt. Doch ein muslimischer Händler aus Gujarat, der einemGeschäftsfreund in Südafrika einen Gefallen tun wollte, wurdeauf Gandhi aufmerksam. Südafrika gehörte damals noch wieIndien zum britischen Weltreich, so konnte Gandhi als in Lon-don ausgebildeter Anwalt dort ohne weiteres praktizieren. DerFreund des Händlers war in einen Rechtsstreit verwickelt, indem es um eine hohe Summe ging. Indische Rechtsanwälte gabes damals in Südafrika noch nicht, und die britischen Anwältedort sahen auf indische Klienten herab und bemühten sich nichtbesonders um sie. So bekam Gandhi das Angebot, diesen Fall zuübernehmen und nach Südafrika zu reisen.

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III. Prägende Jahre in Südafrika

1. Der Kuli-Anwalt

Ursprünglich war Gandhis Entsendung nach Südafrika nichtsanderes als eine zeitlich eng begrenzte Geschäftsreise. Er reiste1893 ab und hätte noch im selben Jahr zurückkehren können.Doch – abgesehen vom gelegentlichen Heimaturlaub – sollteer 21 Jahre in Südafrika verbringen. Diese Jahre prägten ihn.Alles, was er später in Indien bewirkte, beruhte auf seiner süd-afrikanischen Erfahrung als Führer der indischen Minderheit,eine Rolle, in die er allerdings erst allmählich hineinwuchs.

Gandhis Bestimmungsort in Südafrika war Durban, dieHauptstadt der Provinz Natal, die von britischen Zuckerrohr-pflanzern beherrscht wurde. Die dortige afrikanische Bevölke-rung, die Zulus, waren nicht dazu zu bewegen, auf den Planta-gen zu arbeiten – und die Sklaverei war schon lange abgeschafft.Deshalb waren die Plantagenbesitzer auf die Einfuhr indischerKulis angewiesen, die sich vertraglich für fünf Jahre für eine Ar-beit verpflichteten, die nicht viel besser als Sklavenarbeit war.Danach siedelten sie sich als freie Arbeitskräfte dort an. So warim Laufe der Zeit eine beträchtliche indische Bevölkerung zu-sammengekommen. Neben den «Kulis» gab es auch indischeHändler und Handwerker, aber für die Briten waren alle dieseLeute «Kulis» – und Gandhi war also ein «Kuli-Anwalt», dereinzige, den es in Südafrika gab.

Die Gujarati-Händler, die sich dort angesiedelt hatten, warenmeist Muslime und wegen ihrer Namen und ihrer Kleidungwurden sie von den unwissenden Briten für Araber gehalten. Sieließen die Briten auch gern in diesem Glauben, denn so konntensie sich von ihren indischen Landsleuten, den dunkelhäutigenTamil-Kulis, absetzen. Von indischer Solidarität war also inSüdafrika nichts zu spüren, sie wurde erst durch Gandhi herauf-beschworen. Doch das dauerte geraume Zeit. Zuerst begegnete

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ihm sogar sein Mandant Dada Abdullah mit Misstrauen. Demschuldete ein entfernter Verwandter in Prätoria 40000 Pfund,um deren Rückzahlung sich Gandhi bemühen sollte. Dada Ab-dullah fürchtete jedoch, dass Gandhi sich hinter seinem Rückenmit dem Schuldner auf einen Vergleich einigen könnte, der ihmzum Nachteil gereichen würde. Schließlich gelang es Gandhi inder Tat, einen Vergleich herbeizuführen, der jedoch Dada Ab-dullah voll zufrieden stellte. Gandhi riet beiden Parteien davonab, einen teuren Rechtsstreit zu führen. Sie sollten lieber einenSchiedsspruch akzeptieren. Der Schiedsspruch ging zu Abdul-lahs Gunsten aus, und der zeigte sich großzügig, indem er einerRückzahlung der Schulden in Raten zustimmte. Gandhi erwarbsich so das Vertrauen beider Parteien, aber nicht nur dies – erkam damit auch zu großem Ansehen bei allen Gujarati-Händ-lern Südafrikas. Darauf hatte er es bei seinem Vorgehen gar nichtangelegt. Er war nur so vorgegangen, wie er es aus der Praxisseines Vaters in Rajkot kannte.

Das Vertrauen des Prozessgegners Tyeb hatte er bei seinerAnkunft in Prätoria freilich zunächst auf eine Weise erworben,die gar nichts mit dem Prozess zu tun hatte. Gleich nach seinerAnkunft in Prätoria hatte er Tyeb darum gebeten, eine Ver-sammlung der indischen Minderheit der Stadt einzuberufen, umüber Fragen von gemeinsamem Interesse zu sprechen. Das warnicht etwa ein geschicktes Ablenkungsmanöver, sondern ent-sprang Gandhis persönlicher Betroffenheit. Er hatte auf derFahrt nach Prätoria die Rassendiskriminierung am eigenen Lei-be erfahren und war empört. Er wollte erreichen, dass die Indersich dagegen gemeinsam zur Wehr setzten. Indem er zusammenmit Tyeb an dieser Aufgabe arbeitete, gewann er sein Vertrauen.So hatte er, ohne es eigentlich zu beabsichtigen, damit begon-nen, sein südafrikanisches Netzwerk aufzubauen. Die Absicht,ein Netzwerk zu begründen, konnte er schon deshalb nicht ha-ben, weil er ja mit einer baldigen Rückreise nach Indien rech-nete. Doch diesem ersten Schritt auf dem Weg zur Stiftung indi-scher Solidarität sollten bald weitere folgen.

Als der dankbare Abdullah in Durban einen Abschiedsemp-fang für Gandhi gab, erfuhr Gandhi dort zufällig, dass die Inder

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demnächst durch ein neues Gesetz ihres Wahlrechts beraubtwerden sollten. Abdullah und seine Kollegen wussten darum,waren betrübt, aber gedachten nichts dagegen zu tun. Solangeman ihre Geschäfte nicht beeinträchtigte, mochte ihnen dasWahlrecht egal sein. Doch Gandhi war davon überzeugt, dassman den Anfängen wehren und gegen den Verlust des Wahl-rechts Widerstand leisten müsse. Das britisch geprägte Natalhatte bisher nicht solche Anzeichen der Rassendiskriminierunggezeigt wie das benachbarte, von Buren beherrschte Transvaal.Es lebten zu dieser Zeit rund 40000 Europäer und etwa ebensoviele Inder in Natal. Die Einwanderung kleiner europäischerHändler und Handwerker, die in direktem Wettbewerb mit denIndern standen, hatte das Klima auch in Natal verändert. DasGesetz, das den Indern das Wahlrecht aberkannte, war ein Aus-druck dieses politischen Klimawechsels. Gandhi organisierteden Natal Indian Congress, der gegen das Gesetz protestierte, esletztlich aber doch nicht verhindern konnte. Aber die Organisa-tion blieb bestehen und führte den Kampf um die Rechte derindischen Minderheit weiter.

Bisher hatte Gandhi nur im Kreise der Gujarati-Händler An-sehen und Einfluss gewonnen, doch wieder wollte es der Zufall,dass er auch bei den Tamil-Kulis überraschend berühmt wurde.Ein solcher Kuli war zu ihm gekommen und hatte ihm sein Leidgeklagt. Kulis konnten es sich nicht leisten, Rechtsanwälte zubezahlen. Jeder andere Anwalt hätte den Kuli wohl rasch vordie Tür gesetzt. Gandhi aber hörte sich geduldig an, was dieserihm über seinen britischen Herrn berichtete, der ihn übel zuge-richtet hatte. Er brachte den Kuli zu einem Arzt, der ihn behan-delte und ein Attest ausstellte, das Gandhi einem Richter vor-legte. Der Brite hätte wegen Körperverletzung verurteilt werdenkönnen, aber das hätte das Problem des Kulis nicht gelöst.Gandhi handelte einen Kompromiss aus; der Kuli wurde einemanderen Herrn unterstellt, der ihn besser behandelte. Die Nach-richt davon verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Kulis,die von nun an große Stücke auf Gandhi hielten. Sogar die Zei-tungen in der indischen Heimat der Kulis berichteten darüber.Wieder einmal war es Gandhi gelungen, sein südafrikanisches

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Netzwerk auszubauen, ohne dies beabsichtigt zu haben. Dochnachdem er die Verbindung zu den Tamil-Kulis hergestellt hatte,bemühte er sich sogar darum, Tamil zu lernen.

Zunächst hatte er es nur mit Fällen einzelner Kulis zu tun,aber dann kam ein Problem auf ihn zu, das alle Kulis betraf.Der Landtag von Natal verabschiedete ein Gesetz, das jedemKuli, der seine Vertragszeit abgeleistet hatte und als freier Ar-beiter in Natal bleiben wollte, eine Kopfsteuer von 25 Pfundauferlegte. Das war für einen armen Kuli eine horrende Summe,die er niemals aufbringen konnte. Die Pflanzer, die weiterhinVertragskulis einführen wollten, gaben dem Druck der europäi-schen Mehrheit nach, die das Anwachsen der indischen Bevöl-kerung durch das Verbleiben freier Arbeiter verhindern wollte.Der von Gandhi gegründete Natal Indian Congress nahm sichder Sache an und bewirkte, dass die Kopfsteuer von 25 auf3 Pfund ermäßigt wurde. Das war immer noch viel Geld, aberauf alle Fälle wurde so die Ausweisung aller freien Tamil-Arbei-ter abgewendet, die die höhere Summe unweigerlich zur Folgegehabt hätte.

Gandhi war nun so engagiert in Südafrika, dass er daran den-ken musste, endlich seine Familie nachzuholen, die in den ver-gangenen Jahren wenig von ihm gesehen hatte. Seine Frau unddie beiden Söhne Harilal und Manilal sowie ein Neffe solltenihn nach Südafrika begleiten. Dazu fuhr er 1896 nach Indien.Während seines Aufenthalts dort veröffentlichte er das nach derFarbe seines Umschlags so genannte «Grüne Pamphlet», einenBericht zur Lage der indischen Minderheit in Südafrika, der all-gemeines Aufsehen erregte und auszugsweise von den Tageszei-tungen nachgedruckt wurde. Dies war Gandhis Debüt auf demGebiet des politischen Journalismus – und es hätte ihm fast dasLeben gekostet. Bei der Rückkehr wurde er in Durban beinahevon der aufgebrachten weißen Bevölkerung gelyncht. Ein Metz-germeister führte den Mob an, und Gandhi wurde nur durchden mutigen Zugriff der örtlichen Polizei gerettet. In Londonwurde sogar der Kolonialminister Joseph Chamberlain auf die-sen Fall aufmerksam und forderte die Regierung von Natal auf,die Schuldigen zu bestrafen. Doch Gandhi, der wohl wusste,

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wer ihm nach dem Leben getrachtet hatte, weigerte sich, Na-men zu nennen und Anzeige zu erstatten. Er sagte, die politischeLage insgesamt sei an seiner Verfolgung schuld gewesen. SeineVerfolger respektierten ihn für diese Haltung, und er konnteseine Tätigkeit noch erfolgreicher fortsetzen.

Der Einsatz für die indische Minderheit wurde freilich immerschwieriger, weil die Zahl der diskriminierenden Gesetze immergrößer wurde. So wurde zum Beispiel eine Lizenzpflicht fürHändler eingeführt, die die indischen Kaufleute von den Launeneines weißen Beamten abhängig machte, der ihre Lizenzen nachBelieben verlängern oder widerrufen konnte. Dennoch glaubteGandhi weiterhin an die grundsätzliche Gerechtigkeit im briti-schen Weltreich, und als die Briten dieses Reich im Burenkriegverteidigten, stellte sich Gandhi auf ihre Seite und organisierteeine indische Sanitätertruppe. Nach dem britischen Sieg solltenihn die neuen Machthaber jedoch gründlich enttäuschen. Sieerwiesen sich als ebenso rassistisch wie die Buren. Diese hat-ten zwar viele diskriminierende Gesetze erlassen, hatten sie aberoft recht nachlässig gehandhabt, die Briten wandten sie nun mitaller Strenge an.

Zu dieser Zeit besuchte Gandhi wieder einmal Indien undnahm 1902 an der Sitzung des Nationalkongresses in Kolkata(Kalkutta) teil. Nach seiner Gründung im Jahre 1885 war diesenationale Sammlungsbewegung zunächst recht erfolgreich ge-wesen. Doch nach der britisch-indischen Verfassungsreformvon 1892, die den Indern mehr Sitze im Legislativrat des Vize-königs einbrachte, war es still um den Nationalkongress gewor-den. Auch die übliche Jahressitzung von 1902 bot wenig, wasGandhi hätte beeindrucken können. Aber er konnte seine Kon-takte zu Gopal Krishna Gokhale erneuern, der der führende li-berale Nationalist Indiens war. Er hatte bereits 1896 längereGespräche mit ihm geführt. Gandhi achtete Gokhale und wäresicher sein Gefolgsmann geworden, wenn er in Indien geblie-ben wäre. Er hatte sogar vor, sich in Mumbai als Rechtsanwaltniederzulassen, doch da erreichte ihn die Bitte der indischenMinderheit in Südafrika, sie beim bevorstehenden Besuch desbritischen Kolonialministers Chamberlain zu vertreten. Gandhi

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reiste rasch nach Südafrika zurück und verfasste in Durban einePetition, die dem Minister überreicht werden sollte. Er wolltedarauf auch in Johannesburg, der Hauptstadt des Transvaal,eine Petition vorlegen, doch die Beamten dort ließen das nichtzu. Die Petitionen erwiesen sich letztlich ohnehin als nutzlos.Aber die Weigerung hatte Konsequenzen. Gandhi beschloss,seine Praxis nach Johannesburg zu verlegen, um den Beamtendort Paroli zu bieten.

Johannesburg war ein fremdes Pflaster für Gandhi. Es wareine Bergarbeiterstadt, und die Lage der indischen Minderheitwar dort noch schlechter als anderswo in Südafrika. Die meis-ten Inder lebten in einem miserablen Ghetto. Als dieses von ei-ner Pestepidemie befallen wurde, pflegte Gandhi die Opfer undorganisierte mit Hilfe der Stadtverwaltung die Maßnahmen zurmedizinischen Versorgung der Betroffenen. Von Johannesburgaus hielt Gandhi aber auch weiterhin Kontakt mit Durban, woer 1903 die Zeitung Indian Opinion und 1904 die PhoenixFarm gegründet hatte. Die Farm war ein Experiment im SinneJohn Ruskins, dessen Buch Unto this last («Auch diesem Letz-ten») Gandhi 1904 mit großer Begeisterung gelesen und späterauch ins Gujarati übersetzt und unter dem Titel Sarvodaya inIndian Opinion veröffentlicht hatte. Auf der Farm sollten sichalle mit ihrer Hände Arbeit ernähren, auch Indian Opinionwurde dort redigiert und gedruckt. Unto this last ist ein Zitataus der biblischen Geschichte über die Arbeiter im Weinberg,bei der auch der zuletzt gekommene Arbeiter den gleichen Lohnerhält wie die anderen. Für die Gujarati-Leser war diese Anspie-lung nicht leicht einzuordnen, dafür verstanden sie sofort, wasmit sarvodaya (der gemeinsame Aufstieg aller Menschen) ge-meint war.

Im Jahre 1906 wurde Gandhis Leben durch einige schwer-wiegende Entscheidungen von Grund auf geändert. Im Zulu-land hatte ein Mann mit seinem Speer einen weißen Steuerein-treiber getötet. Damit begann der Zulu-Aufstand, der von denWeißen blutig niedergeschlagen wurde. Sie hatten eine Milizaufgestellt, deren Hauptmann ausgerechnet der Metzgermeisterwar, der Gandhi einst beinahe gelyncht hatte. Wie schon wäh-

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Abb. 1: Gandhi umgeben von Mitarbeitern seines Anwaltsbürosin Johannesburg, 1902. Gandhi war der erste farbige Anwalt Südafrikas,

der bei Gericht zugelassen war.

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rend des Burenkriegs organisierte Gandhi auch diesmal eine in-dische Sanitätertruppe. Er wurde aus nächster Nähe Zeuge desblutigen Abschlachtens der Zulus, die mit ihren Speeren nichtgegen die Gewehre der Weißen ankamen. Gandhi hatte das Ge-fühl, dass er auf der falschen Seite stand und tröstete sich nurdamit, dass er als Sanitäter verwundete Weiße und Schwarzegleichermaßen versorgte. Während der Nächte auf dem Schlacht-feld dachte Gandhi über sein Leben nach und kam zu dem Ent-schluss, seinen bürgerlichen Beruf aufzugeben und sich ganz derpolitischen und sozialen Arbeit zu widmen. Auch beschloss er,ein Keuschheitsgelübde abzulegen.

Erik Erikson hat versucht, so wie er es in seiner berühmtenStudie über den jungen Luther getan hatte, auch in Gandhis Le-ben eine Identitätskrise zu orten. In dem Buch Gandhi’s Truth(«Gandhis Wahrheit») hat er den Textilarbeiterstreik in Ahme-dabad im Jahre 1918 in diesem Sinne gedeutet. Doch wenn sicheine zentrale Identitätskrise in Gandhis Leben bestimmen lässt,so ist es seine Krise im Jahr 1906. Das Keuschheitsgelübde, dasGandhi bis zum Ende seines Lebens einhielt, spielte dabei einebesondere Rolle. Im Sinne dessen, was zuvor über die metaphy-sischen Folgen des physischen Verhaltens gesagt wurde, erwar-tete Gandhi auch von der sexuellen Enthaltsamkeit Wirkungen,die dem modernen Leser absurd erscheinen mögen. In einemGespräch mit einem indischen Nationalisten sagte Gandhi spä-ter einmal, dass er vom Einhalten des Keuschheitsgelübdes er-wartet habe, dass die sexuelle Energie sich in spirituelle Energieumsetzt, nur habe er dieses Stadium äußerster Perfektion wohlnie erreicht, denn sonst hätte er allein durch den Gedanken anetwas dessen unmittelbare Verwirklichung in der materiellenWelt hervorrufen können. Dieser Glaube macht auch verständ-lich, warum Gandhi es sich geradezu als persönliche Schuld an-rechnete, wenn er die Gewalttaten anderer nicht verhindernkonnte. Ohne Zweifel hatte die Brutalität, die er während desZulu-Aufstands unmittelbar erlebte, ihn dazu gebracht, alles zuversuchen, um solcher Gewalt Einhalt zu gebieten. Dass seinGelübde ihn dazu doch nicht ermächtigte, blieb für ihn stetseine unbewältigte Herausforderung.

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Gandhis Frau Kasturba musste sich mit seinem Entschlussabfinden. Sie teilte weiterhin sein Leben als treue Ehefrau undMutter seiner vier Söhne. Später folgte sie ihm auch ins Gefäng-nis, wo sie 1944 von ihm umsorgt und gepflegt starb.

Bald nach der radikalen Umstellung seines Lebens wurdeGandhi mit einer neuen Regierungsmaßnahme konfrontiert, diedazu führte, dass er eine neue Form des passiven Widerstandskonzipierte, die er bald darauf satyagraha (Festhalten an derWahrheit) nannte. Die Bezeichnung «passiver Widerstand» er-schien ihm unzureichend, weil seine Art des Widerstands zwargewaltfrei, aber durchaus nicht passiv war. Es ging schließlichum den Bruch als ungerecht empfundener Gesetze, bei dem sichdie Gesetzesbrecher bewusst den Strafaktionen der Obrigkeitaussetzten.

2. Der Ursprung des Satyagraha

Die Regierung des Transvaal hatte ein Gesetz geschaffen, dasdie Inder dazu zwang, sich registrieren zu lassen. Bürger, die anEinwohnermeldeämter gewöhnt sind, werden darin keine be-sondere Maßnahme sehen. Aber weder in Großbritannien nochin irgendeiner der britischen Kolonien waren Menschen je dazugenötigt worden, sich registrieren zu lassen. Auch im Transvaalsollten dies nach dem neuen Gesetz nur die Inder tun. Es waralso eine offensichtlich diskriminierende Maßnahme. Zunächstwar das Gesetz noch nicht verabschiedet und bedurfte der Zu-stimmung des Königs. Der Transvaal erhielt erst 1907 die Auto-nomie, die es erlaubte, solche Gesetze auch ohne königliche Er-laubnis einzuführen. Gandhi und der muslimische KaufmannH. O. Ali wurden im Auftrag der indischen Minderheit nachLondon entsandt, um zu bewirken, dass der König die Erlaub-nis verweigere. Das tat er denn auch, aber dies hatte nur auf-schiebende Wirkung. Das Gesetz wurde verabschiedet, sobaldder Transvaal autonom wurde. Bis zum Juli 1907 sollten sichalle Inder registrieren lassen. Schon vor der Reise nach Londonhatte Gandhi eine große Versammlung im Empire Theatre inJohannesburg abgehalten, um gegen das Gesetz zu protestieren.

Massaquoi
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