Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an...

95
LVR-Landesjugendamt Rheinland Dokumentation Leuchtturm-Projekt PflegeKinderDienst

Transcript of Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an...

Page 1: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

LVR-Landesjugendamt Rheinland

LVr-Dezernat Jugend

Kennedy-Ufer 2, 50679 Köln

www.lvr.de

Dokumentation

Leuchtturm-projektpfl egeKinderDienst

Dok

umen

tati

on L

euch

ttur

m-p

roje

kt P

fl eg

ekin

derd

iens

t

Am modellprojekt beteiligte Jugendämter

Jugendamt der Stadt Bornheim•

Jugendamt der Stadt Duisburg•

Jugendamt der Stadt Düsseldorf•

Jugendamt der Stadt Kamp-Lintfort•

Page 2: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

Impressum

Landschaftsverband Rheinland

LVR-Dezernat Jugend

50663 Köln

Tel 0221 809-0

Fax 0221 809-4066

Redaktion

Ursula Hugot

LVR-Landesjugendamt

Tel 0221 809 6765

Mail [email protected]

Andreas Sahnen

Landeshauptstadt Düsseldorf

Pflegekinderdienst u. Adoptionsvermittlungsstelle

Tel 0211 899-6467

Fax 0211 892-9557

Mail [email protected]

Internet

www.lvr.de

Veröffentlicht Juli 2011

Autorin

Judith Pierlings

Universität Siegen

Zentrum für Planung und Evaluation

Sozialer Dienste (ZPE)

Tel 0271 7403436

Mail [email protected]

Layout und Gestaltung

Stefanie Hochum

Druck

LVR-Druckerei

Bestellung über

Bestellservice des LVR-Landesjugendamtes

Frau Breyer

Tel 0221 809-4022

Mail [email protected]

Page 3: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

Grußwort von Reinhard Elzer, LVR-Dezernent Jugend

Mit der vorliegenden Dokumentation des Forschungs-projektes „Leuchtturm-Projekt PflegeKinderDienst“ ist ein weiterer Schritt zur Unterstützung der Qua-lifizierung und Professionalisierung im Bereich der Fremdunterbringung in Vollzeitpflege von Kindern und Jugendlichen getan.

Das Projekt wurde aus Fördermitteln der Sozial- und Kulturstiftung des Landschaftsverbandes Rheinland und durch Eigenmittel der Landeshauptstadt Düs-seldorf realisiert. Darüber hinaus haben die beteilig-ten Kommunen Bornheim, Duisburg, Düsseldorf und Kamp-Lintfort umfangreiche Personal- und Zeitres-sourcen zur Verfügung gestellt. Unter der Leitung der Forschungsgruppe Pflegekinder der Universität Siegen wurde das Projekt über zwei Jahre umgesetzt.

Diese praxisorientierte Arbeitshilfe zur Vollzeitpflege enthält neben der Darstellung der zentralen Ergeb-nisse zahlreiche Auszüge des erhobenen Interviewma-terials. Diese Sequenzen begründen die formulierten Standards sehr anschaulich und beeindruckend.Sie stellt eine Messlatte zur Überprüfung der Qualität und der Standards in den einzelnen Kommunen dar.

Durch das vielfältige Zusammenwirken konnte eine Brücke zwischen ehemaligen Pflegekindern, Wissen-schaft und Fachpraxis geschlagen werden.

Besonderer Dank gilt den ehemaligen Pflegekindern, die die Bereitschaft und den Mut aufgebracht haben, sich für die Interviews zu öffnen. Sie gaben die Hin-weise, mit denen Forscher und Praktiker kritisch Stan-dards beschreiben konnten.

Ich freue mich, Ihnen hiermit den Abschlussbericht des Leuchtturm-Projektes PflegeKinderDienst zur Verfügung stellen zu können und hoffe, dass die Wei-terentwicklung des Pflegekinderwesens einen starken Impuls erhält und sich die Qualitätsstandards in den Kommunen an den Ergebnissen dieser Studie orientie-ren. Das LVR-Landesjugendamt wird auf Basis dieser Ergebnisse die Qualitätsentwicklung im Pflegekinder-wesen weiter intensiv begleiten.

Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Beteiligten, die engagiert, selbstkritisch und offen mitgewirkt haben.

Reinhard ElzerLandesrat

LVR-Dezernent JugendLeiter des Landesjugendamtes Rheinland

Page 4: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.
Page 5: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

Inhalt

Teil I: Einführung in das Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst

1 Einleitung 7

Das Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst – Entstehung, Aufbau, Hintergrund 8

Exkurs: Wie kommen wir zu Standards in der Pflegekinderhilfe? – Klaus Wolf 11

2 Theoretische Rahmung 14

Die Belastungs-Ressourcen-Balance 14

Schlüsselkategorien der bisherigen Forschungsprojekte 15

Teil II: Zentrale Projektergebnisse

3 Zwischen zwei Familien 19

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien 19

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 24

4 Herkunft und Biografie 27

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien 27

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 33

5 Besuchskontakte 35

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien 35

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 40

6 Verwandtenpflege – Judith Pierlings und Dirk Schäfer 43

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangstrategien 44

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 48

7 Pflegekinder und ihre Geschwister 50

Pflegekinder und ihre leiblichen Geschwister 50

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien 51

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 57

Pflegekinder und ihre „sozialen Geschwister“ 59

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – erste Überlegungen 61

8 Beendigung eines Pflegeverhältnisses und Nachbetreuung 62

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben,Ressourcen und Umgangsstrategien 62

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 66

Page 6: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

9 Normalitätserleben und Familienbilder von Pflegekindern – Dirk Schäfer 68

Die Perspektive des Pflegekindes – Aufgaben, Belastungen, Ressourcen und Umgangsstrategien 68

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 74

10 Wie nehmen Pflegekinder professionelle Dienste wahr? 76

Die Perspektive des Pflegekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien 76

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards 82

11 Zusammenfassung der Ergebnisse 85

Anmerkungen zum Abschluss – Klaus Wolf 88

12 Literatur 90

Page 7: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

Teil I Einführung in das Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Page 8: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.
Page 9: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

7

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Am Beginn des Berichtes soll der Dank an alle Ak-teure stehen, die das „Leuchtturmprojekt Pflegekin-derdienst“ möglich gemacht und zu seiner Verwirkli-chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern. Sie sind die Basis für die Arbeit in den Workshops, für die erarbeiteten Qualitätsstan-dards und somit auch für diesen Bericht. Unseren Ge-sprächspartnern gilt an dieser Stelle daher ein ganz besonderer Dank. Durch ihre Bereitschaft, mit uns zu sprechen und uns ihre Lebensgeschichte zu erzählen, lieferten sie eine reichhaltige Grundlage für die Wei-terentwicklung der Qualität in der Arbeit mit Pflege-kindern und ihren Familien. In den vergangenen zwei Jahren hatten wir die Möglichkeit, eine Vielzahl von au-ßergewöhnlichen und interessanten jungen Erwachse-nen zu treffen und Begegnungen zu haben, die jede für sich besonders und eindrucksvoll waren.

Ein großer Dank gilt auch unseren Projektpartnern. Dem LVR-Landesjugendamt und dem Jugendamt der Landeshauptstadt Düsseldorf als Institutionen für die Bereitstellung der finanziellen Mittel. Aber auch den zugehörigen Personen. Frau Hugot und Herrn Nör-tershäuser vom LVR-Landesjugendamt sowie Herrn Sahnen vom Pflegekinderdienst der Stadt Düsseldorf sei für die intensive Unterstützung in allen Projektpha-sen und die redaktionelle Bearbeitung des vorliegen-den Berichts herzlich gedankt. Frau Hochum vom LVR gilt ein Dank für das Layout und die grafische Gestal-tung des Abschlussberichtes.

Die Kolleginnen und Kollegen aus den Modellregionen haben das Projekt durch die Kontakte zu den Interview-partnern, aber vor allem durch ihre intensive Mitarbeit in den Werkstatttreffen, ihre fachliche Kompetenz und ihre Bereitschaft, zeitliche Ressourcen und viel Profes-sionalität einzubringen, entscheidend geprägt. Hierfür und für die sehr gute Zusammenarbeit bei der Erstel-lung des Abschlussberichts ein großer Dank. Mein Dank gebührt Klaus Wolf und besonders Dirk Schäfer für die große Unterstützung bei der Planung und Durchführung der Werkstatttreffen, der Aus-wertung des Interviewmaterials sowie der Zusam-menführung der Ergebnisse und der Erstellung des vorliegenden Berichts. Andrea Dittmann sei für die

Unterstützung bei der konzeptionellen Planung der Werkstatttreffen sowie die Möglichkeit der Reflektion im Projektverlauf gedankt. Die Kolleginnen und Kol-legen der Forschungsgruppe Pflegekinder waren als Gesamtheit eine große Unterstützung in den vergan-genen zwei Jahren, dafür ein Dank. Hier sei besonders Sabrina Blume gedankt, die durch viel Arbeit am In-terviewmaterial einen wichtigen Beitrag zum Gelingen des Projekts geleistet hat.

Überblick über den Bericht und einige formale Anmerkungen In dem hier vorliegenden Abschlussbericht werden der Verlauf und die Ergebnisse des zweijährigen For-schungsprojektes „Leuchtturmprojekt Pflegekinder-dienst“ vorgestellt. Zusätzlich soll mit diesem praxis-relevanten Bericht eine Arbeitshilfe für die konkrete Praxis zur Verfügung gestellt werden. Der Bericht glie-dert sich in zwei Teile:

Im ersten Teil werden der Hintergrund des Projektes sowie die einzelnen Projektphasen vorgestellt. Dabei wird auch ein Blick auf das methodischen Vorgehen und die Arbeitsschritte hin zu den konkreten Qualitäts-standards geworfen. Der erste Teil schließt mit einer theoretischen Rahmung des Projektes sowie Ausfüh-rungen über zentrale Schlüsselkategorien, die sich aus der Arbeit der Forschungsgruppe Pflegekinder bisher ergeben haben.

Im zweiten Teil folgt dann die konkrete Vorstellung der Themen, die im Projekt bearbeitet wurden. Die Vorstel-lung erfolgt in einem Dreischritt. Zunächst werden Be-lastungen und Ressourcen, die die ehemaligen Pflege-kinder benennen, aufgezeigt. Aus diesen werden dann Fachaussagen zu professionellen Haltungen innerhalb der Arbeit mit Pflegekindern abgeleitet und in einem weiteren Schritt konkrete Ziele für die Arbeit und dafür nötige Qualitätsstandards benannt.

Die einzelnen Kapitel folgen dabei stets diesem Aufbau und sind dadurch jeweils einzeln lesbar. Durch dieses Vorgehen erhoffen wir uns eine gute Nutzbarkeit des Be-richts in der alltäglichen Arbeit eines Pflegekinderdiens-tes. Durch grafische Hervorhebungen sind sowohl die Zitate als auch die konkreten Ziele für die Arbeit sowie die entsprechenden Empfehlungen direkt zu erkennen.

1 Einleitung

Page 10: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

8

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Durch diese Struktur entstehen zwar mitunter Red-undanzen zwischen den einzelnen Kapiteln, diese sind aber bewusst eingegangen worden, um die beschrie-bene Nutzbarkeit des Berichts zu ermöglichen.

An einigen Stellen im Bericht sind Beiträge anderer Autoren (Dirk Schäfer und Klaus Wolf) zu lesen. Dieser Wechsel der Autoren ist an den entsprechenden Stel-len gekennzeichnet.Zur besseren Lesbarkeit des Berichts wurde in den meisten Fällen die männliche Sprachform verwendet. Es sei darauf hingewiesen, dass bei den Beiträgen so-wohl die männliche als auch die weibliche Schreibform gemeint ist.

Das Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst – Entstehung, Aufbau, HintergrundDas Pflegekinderwesen in Deutschland ist – trotz For-derungen nach einheitlichen Rahmenbedingungen und der Weiterentwicklung von Qualitätsstandards1 – ge-kennzeichnet von großer Vielfalt. Oft arbeiten Pflege-kinderdienste, die örtlich nicht weit voneinander ent-fernt liegen, sehr unterschiedlich. Unterschiede zeigen sich beispielsweise in der Struktur der Pflegekinder-dienste, die sich etwa in der Frage nach der Fallfüh-rung, in der personellen Ausstattung der Dienste oder auch in der Fallzahl pro Mitarbeiter niederschlagen.2 Auch die Konzeptionen der Dienste variieren stark. Hinzu kommen Haltungen und persönliche Überzeu-gungen der Mitarbeiter Sozialer Dienste, die ihre Arbeit prägen und sich nur schwer verändern lassen. Viele dieser Sichtweisen basieren auf individuellen berufli-chen Erfahrungen. Hierzu gehören beispielsweise sehr grundsätzliche Überzeugungen zur getrennten oder gemeinsamen Unterbringung von Geschwistern oder rigide Vorstellungen zur Vermittlungspraxis. Zeitgleich haben die Pflegefamilien – in ihren verschiedenen

1 Vgl. hierzu Neues Manifest zur Pflegekinderhilfe (2010), Land-schaftsverband Rheinland (2009), Wolf (2008), Pierlings (2010)

2 Vgl. hierzu für das Rheinland: LVR (2007)

Ausgestaltungsformen – eine bedeutsame Rolle inner-halb der Hilfen zur Erziehung.3 Vor diesem Hintergrund ist es daher umso wichtiger, gut begründete und empi-risch gestützte Qualitätskriterien zu erarbeiten und die-se festzuhalten, um Pflegekindern nach einem schwie-rigen Start ins Leben gute Entwicklungs chancen zu ermöglichen. Darüber hinaus können gut begründete Standards auch den Pflegeeltern Sicherheit und Ori-entierung in ihrer anspruchsvollen Tätigkeit geben und den Mitarbeitern der Pflegekinderdienste beispiels-weise in unausweichlichen Kostendebatten zusätzlich als Argumentationshilfe dienen.Wie ist es aber möglich, solche fachlichen Standards so zu erarbeiten, um die bestehenden Schwierigkeiten tatsächlich zu verändern und Akzeptanz in der Praxis zu finden? Mögliche Barrieren auf dem Weg zu einem Transfer in die Praxis müssen dabei ebenso bedacht werden, wie die notwendige Bereitschaft zu einer tat-sächlichen Veränderung. Optionen, bei denen Empfeh-lungen aus einer rein wissenschaftlichen Perspektive in die Praxis getragen werden und die dabei Bedürf-nisse von Mitarbeitern aus Pflegekinderdiensten nicht angemessen berücksichtigen, scheinen genauso we-nig erfolgversprechend, wie etwa übergeordnete Kom-missionen – beispielsweise auf Länderebene – die Vor-schläge in die Praxis geben. Vor diesem Hintergrund startete im Juli 2009 das „Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst“ – ein Modell-projekt zur Steigerung der Wirksamkeit der Pflegekin-derdienste. Das zweijährige Forschungsprojekt ist eine Kooperation zwischen der Forschungsgruppe Pflege-kinder der Universität Siegen, dem Landschaftsver-band Rheinland (LVR), dem Jugendamt und den Pfle-gekinderdiensten der Landeshauptstadt Düsseldorf sowie den Pflegekinderdiensten der drei weiteren Mo-dellregionen Bornheim, Kamp-Lintfort und Duisburg.

3 Vgl. ebd. sowie Schilling, Fendrich, Pothmann, Wilk (2010), S.16 ff.

Kennzeichnet die Zitate aus den Interviews mit den Pflegekindern

Kennzeichnet die entwickelten Qualitätsstandards

Page 11: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

9

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Projektziele und ProjektaufbauBasierend auf biografischen Interviews mit ehemali-gen Pflegekindern und in enger Kooperation mit den fachlich ambitionierten Fachberatern der vier Modell-regionen, war das Ziel des Projektes, die Arbeit profes-sioneller Pflegekinderdienste weiterzuentwickeln und empirisch gestützte Qualitätsstandards für die Pflege-kinderhilfe zu erarbeiten. Durch die Auswertung der Interviews wurden dabei konkrete, empirisch gestützte Indikatoren für Ressourcen herausgearbeitet. Diese

Eröffnungsveranstaltung

Kontakt zu ehemaligen Pflegekindern und Interview-

führung

Transkription und Aufbereitung des Interview-

materials

Interviewphase ab Juli 2009

Dauer 6 Monate

Auswertung des Interview-materials nach zentralen

Belastungen und Ressourcen

Fünf halbtägige Werkstatt-treffen (in festen Arbeitsgrup-pen) pro Projektregion sowie

ein überregionales Werk-statttreffen zur gemeinsamen

Erarbeitung von Qualitäts-standards

Gemeinsamer Fachtag aller Projektbeteiligten

Werkstattphase ab Januar 2010 Dauer 1 Jahr

Aufbereitung der Ergebnisse in einem praxisnahen

Abschlussbericht

Vier regionale Abschluss-veranstaltungen

Zentrale Abschluss-veranstaltung beim

LVR-Landesjugendamt

Abschluss- und Transfer phase ab

Januar 2011Dauer 6 Monate

können primär den Pflegekindern selbst, aber auch den Pflegeeltern, den Herkunftsfamilien und weiteren Akteuren durch professionelle Dienste zugänglich ge-macht werden, um eine gute Entwicklung der Kinder auch unter besonderen Belastungen zu ermöglichen. Gerade die Perspektive der Pflegekinder als Experten ihrer eigenen Biografie bietet eine gute Möglichkeit, einer Weiterentwicklung und Absicherung der Qualität im Pflegekinderwesen näher zu kommen. Die folgende Skizze zeigt den Projektverlauf im Detail.

Page 12: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

10

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Die Interviewphase –Erhebung und Aufbereitung des Materials Insgesamt wurden in diesem Projekt 41 biografisch-narrative Interviews4 mit ehemaligen Pflegekindern geführt. Die Gruppe der Gesprächspartner umfasste 24 Frauen und 17 Männer im Alter von 18 bis 39 Jah-ren. Der Kontakt zu den Gesprächspartnern wurde in erster Linie mit Hilfe der Kooperationspartner in den jeweiligen Modellregionen hergestellt.5 In einer ers-ten Kontaktaufnahme durch die Interviewer der For-schungsgruppe wurden mögliche Fragen geklärt und ein Ort vereinbart, an dem das Gespräch in Ruhe und einer für den Gesprächspartner passenden und an-genehmen Atmosphäre stattfinden konnte. Zu einem Großteil fanden die Interviews in der Wohnung unserer Gesprächspartner statt. Aber auch öffentliche Orte, wie etwa Cafés, bewährten sich als geeignete Treff-punkte für ein Interview. Im Kontext der grundsätz-lichen Klärung wurden die Interviewpartner über die Anonymisierung ihrer Daten sowie die unterschiedli-chen Möglichkeiten der Weiterverwendung – Nutzung schriftlicher Zitate oder Audiozitate – informiert. Diese Vereinbarung wurde zudem in Form einer schriftlichen Einverständniserklärung fixiert.Basierend auf einer allgemeinen Erzählaufforderung wurden die Interviewpartner zu Beginn der Interviews zunächst eingeladen, ihre individuelle Lebensgeschich-te zu erzählen. In dieser Phase des Interviews ließen sich die Interviewer ganz auf die Erzählung ihres Gegen-übers ein, folgten der individuellen Rekonstruktions-leistung und versuchten die Dramaturgie des Erzähl-ten nachzuvollziehen und zu verstehen. Durch weitere Erzählanregungen und immanente Fragen wurde ver-sucht, die Interviewpartner zu weiteren Erzählungen zu ermutigen. In einem zweiten – stärker fokussierten – Teil des Interviews wurden die Gesprächspartner auch nach Themen wie beispielsweise der Zusammenarbeit mit dem Hilfesystem, der Hilfeplanung, mögliche Emp-fehlungen an Soziale Dienste oder dem Beginn und der Beendigung des Pflegeverhältnisses gefragt. Auch in diesem Teil des Interviews lag der Fokus darauf, durch die offenen Fragen Erzählungen auszulösen. In einem letzten Schritt wurden die Interviewpartner gebeten, auf einem Zeitstrahl – von der Geburt bis heute – die für sie wichtigen Stationen ihres Lebens einzuzeichnen, diese zu bewerten und zudem zu vermerken,

4 Zur Methode des narrativen Interviews vgl. Glinka (2003) 5 Einige wenige Gesprächspartner meldeten sich auch aufgrund

von Zeitungsberichten im Kontext der Auftaktveranstaltung.

an welchen Stellen Soziale Dienste „auf der Bühne ih-res Lebens“ auftauchten. Dieses Vorgehen löste zum einen nochmals weitere Erzählungen aus, eröffnete aber auch einen Zugang zu expliziten Deutungen und Erklärungen über die eigene Biografie. Die Interviews dauerten zwischen anderthalb und über drei Stunden und erfassten das Erleben über den ge-samten bisherigen Lebensweg. Die gewählte Perspek-tive bietet dadurch einen Einblick in Sozialisationsver-läufe und in Lebens- und Lernfelder der ehemaligen Pflegekinder. Die Gesprächspartner berichten zudem auch über ihre Erfahrung mit Herkunfts- und Pflegefa-milie sowie mit Sozialen Diensten und weiteren Institu-tionen. Somit bietet sich die Möglichkeit zu betrachten, welche Prozesse in diesem Kontext misslungen oder aber auch gelungen sind.

Die auf Tonträger aufgezeichneten Interviews wurden im weiteren Verlauf mehrmals angehört und dann vollständig oder in Teilen transkribiert. Hierbei wurden sämtliche persönliche Daten und Angaben anonymi-siert. Im weiteren Verlauf der Aufbereitung des Materi-als wurde ein individueller Zeitstrahl für das jeweilige Interview erstellt, der zentrale Daten aus dem Inter-view umfasste und gleichzeitig die Punkte, die der In-terviewpartner selbst als bedeutsam aufgegriffen hat-te, abbildete. So entstand ein erster Überblick über die jeweilige Biografie. Zusätzlich wurde ein Fragebogen ausgefüllt, der die zentralen Aspekte des Interviews sowie kurze Beschreibungen der Interviewsituation und der Gesprächsatmosphäre umfasste.6

In der weiteren Aufbereitung wurden die Interviews nach Themen kategorisiert. Dies erfolgte vor allem vor dem Hintergrund der „Belastungs-Ressourcen-Ba-lance“, also der Betrachtung der Relation von Belas-tungen und Ressourcen in der individuellen Biografie.7 Hier wurden Themen betrachtet, die vor allem für die professionellen Dienste und deren Zusammenarbeit mit den Pflegekindern von Bedeutung sind und die Frage berücksichtigen „Welche Ressourcen können

6 Zusammen mit den Interviews aus der „Pilotstudie zum Aufwachsen in Pflegefamilien“ sowie dem Projekt „Pflegekin-derstimme“ entsteht bei der Forschungsgruppe Pflegekinder auf diese Weise eine umfassende Datenbank, die rund 100 biografische Interviews mit ehemaligen Pflegekindern umfasst. Zu einigen wenigen Unterpunkten des vorliegenden Berichts wurden ergänzend Zitate aus den anderen beiden Forschungs-projekten genutzt. Der überwiegende Teil der verwendeten Interviews entstand im Rahmen des Leuchtturmprojekts.

7 Vgl. hierzu die Ausführung zur theoretischen Rahmung in die-sem Kapitel.

Page 13: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

11

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Fachkräfte zugänglich machen?“ beziehungsweise „Welche Belastungen erleben Pflegekinder, die von Fachkräften abgemildert werden können?“

Die Werkstattphase – auf dem Weg zu den StandardsDie anschließende Werkstattphase gliederte sich in fünf Arbeitstreffen pro Modellregion.Um dem Anspruch des Projektes – Erarbeitung von Handlungsempfehlungen in Koproduktion mit der Pra-xis – gerecht zu werden, wurde in einem ersten Work-shop vor allem die Themenfindung in den Mittelpunkt gestellt. Dabei lieferten die Interviews, ergänzt durch die fachliche Einschätzung der Fachkräfte, die Grundla-ge für die Entscheidung, welche Themen im folgenden Jahr diskutiert werden sollten. Gemeinsam wurde eine Prioritätenliste erarbeitet, wobei neben der Berück-sichtigung von zentralen Themen – wie beispielsweise das intensiv nachgefragte Thema Besuchskontakte – eine möglichst breite Themenstreuung zwischen den einzelnen Werkstattteams berücksichtigt wurde.

In den jeweils verbleibenden vier Werkstatttreffen wur-den die ausgewählten Themen dann mit dem konkre-ten Blick auf Handlungsempfehlungen für die weitere Praxis bearbeitet. Hierzu wurden die Eindrücke aus den Interviews – unterstützt durch schriftliche Zitate sowie Audiozita-te – zu dem jeweiligen Thema des Treffens durch die Referenten vorgestellt. Auch hier wurden wieder be-sonders die Belastungen und Ressourcen, die von den Interviewpartnern beschrieben wurden, in den Blick genommen. In der weiteren Bearbeitung des Materials wurden den Teilnehmern Interviewsequenzen vorge-legt, die zunächst anhand folgender Fragen betrachtet wurden:

Was löst das Material bei Ihnen aus? • Was fällt Ihnen auf? • Was gelingt hier aus fachlicher Perspektive gut? • Was gelingt hier aus fachlicher Perspektive • nicht? Wie hätte „Schaden“ vermieden werden können? • Was überrascht Sie? •

Zielführend und zentral war dann die Frage:Welche Konsequenzen in Richtung Standards • schlussfolgern Sie?

Nach einer Bearbeitung mehrerer Sequenzen in der beschriebenen Form, trugen die Teilnehmer die Ergeb-nisse zusammen und diskutierten diese im Plenum. Auf Basis des Erarbeiteten einigten sich die Beteilig-ten letztlich auf die Formulierung fachlicher Konse-quenzen. Der beschriebene Arbeitsprozess sowie die formulierten Ergebnisse wurden durch die Referenten des Workshops protokolliert und an die Teilnehmer zurückgegeben. In einer Überarbeitungsschleife hat-ten die Teilnehmer so nochmals die Möglichkeit, die Ergebnisse zu kommentieren. Auf diese Weise wurden die Ergebnisse als Grundlage für die im zweiten Teil des hier vorliegenden Berichts beschriebenen Quali-tätsstandards gesichert.

Exkurs: Wie kommen wir zu Standards in der Pfl egekinderhilfe? – Klaus WolfDie Forderung nach allgemeinen und verbindlichen Standards für leistungsfähige professionelle Dienste wird in den letzten Jahren so häufig erhoben, dass ein Konsens über die Notwendigkeit von Standards unter-stellt werden kann. Eine professionelle Praxis zeich-net sich demnach dadurch aus, dass nicht primär die privaten, persönlichen und individuellen Überzeugun-gen und Deutungsmuster das berufliche Handeln von Fachkräften bestimmen sollen, sondern empirisch gesicherte Wissensbestände („evidence-based“) und reflektierte Erfahrungen („aktueller Stand der Kunst“) auch dem autonomen beruflichen Handeln mit großen Entscheidungsspielräumen Struktur geben sollen. Mit Hilfe der Standards sollen die Qualität der Arbeit be-urteilt, Kunstfehler festgestellt und – auch den neuen Mitarbeitern – Orientierung vermittelt werden.

Allerdings schränken die Standards die individuelle Entscheidungsfreiheit ein. Freischaffende Künstler werden durch sie in ihrer Kunstausübung und Kreativi-tät begrenzt, die Bedeutung der eigenen Erfahrungen wird relativiert. Der Habitus des genialen Künstlers hat einen Vorteil – für den Künstler, weniger für die Adres-saten seiner Kunst: Er braucht sein Handeln nicht zu rechtfertigen, in der Abwägung von Alternativen seine Wahl nicht mit den Chancen und Risiken zu begrün-den und gegen Einwände zu verteidigen. Wer von sei-ner Kunst nichts versteht, darf nicht mitreden, wer sie versteht, stellt keine dummen Fragen. Auch deswegen endet die allgemeine Zustimmung zur Notwendigkeit von Standards oft, wenn es konkret wird. Wer sich ein-geschränkt fühlt, beklagt, dieser ihn irritierende Stan-dard sei falsch. Dann geht es eher darum, die eigene

Page 14: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

12

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Praxis zum Standard für andere zu machen und nicht, sich an allgemeine fachliche Regeln zu halten. Eine ernstzunehmende, grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass die Autonomie, die eine Profession ausmacht und die flexibles Handeln in hochkomplexen Situationen erfordert und ermöglicht, durch Standards nicht wesentlich reduziert werden darf. Es kann also nicht darum gehen, eine Liste von Handlungsvorschrif-ten und Ordnungen zu erstellen, die einen „Dienst nach Vorschrift“ erzwingt. Andererseits ist die Autonomie nicht völlig individuell, sondern kollektiv: die Angehö-rigen der Profession selbst definieren ihre Standards. Diese gelten dann allerdings verbindlich für die Ange-hörigen der Profession. Vor diesem Hintergrund musste das Leuchtturmpro-jekt eine Antwort auf die Frage finden: Auf welchem Wege können verbindliche Standards erarbeitet wer-den? Das war und ist eine schwierige Frage, weil es keine Standards in der Standardentwicklung gibt. Wie es nicht geht, ist oft relativ klar – zum Beispiel, dass Angehörige anderer Professionen Standards für die professionelle Soziale Arbeit entwickeln. Aber wie macht man es richtig?Die Antwort des Leuchtturmprojektes lautet: Auf der Basis von mit wissenschaftlichen Methoden gewon-nenen Daten (hier: Interviewaussagen von ehemali-gen Pflegekindern und ihrer Analyse) werden in einem Diskurs unter den Fachkräften (hier: Workshops) Vor-schläge erarbeitet und nachvollziehbar begründet. Der fachliche Diskurs hatte mehrere Ebenen: Die vielfälti-gen Workshops an den beteiligten Standorten, Rück-meldeschleifen mit Kommentaren der Forschungs-gruppe Pflegekinder der Universität Siegen und die gemeinsame Diskussion der (Zwischen-)Ergebnisse Standort übergreifend. Nicht die Universität gibt oder erlässt Standards, sie beteiligt sich an der Diskussi-on und dient ihr, indem sie das Material – wie verein-bart – aufbereitet: Interviews durchführt, transkribiert, analysiert und die Ergebnisse zur Verfügung stellt. Die eigentliche Festlegung von Standards leisten die Fachkräfte der beteiligten Pflegekinderdienste. Wis-senschaftliche Mitarbeiter (hier: Judith Pierlings und Dirk Schäfer) dokumentieren die Arbeitsergebnisse und entwickeln – wiederum mit mehreren Rückmel-deschleifen aller Beteiligten – den Text des Abschluss-berichtes. Er ist der gemeinsame Vorschlag an die anderen Fachkräfte in diesem Feld: Diese fachlichen Standards schlagen wir vor. Für sie haben wir gute, im Einzelnen überprüfbare Gründe.

In den sehr heterogenen Interviews mit den ehemali-gen Pflegekindern wurden besonders gelungene und manchmal sehr ungünstige Verläufe deutlich. Viele Erfahrungsberichte „schrieen“ geradezu nach fachli-chen Konsequenzen. Manche Schlussfolgerungen wa-ren unmittelbar evident und zugänglich. Andere erfor-derten eine komplexe Analyse. In jedem Fall mussten sie interpretiert werden. Die Interpretationen wurden auf ihre Plausibilität kollektiv geprüft (Validierung im Diskurs). Schließlich wurden sie in Aussagen zu wün-schenswerten Haltungen und Eckpunkten für fachli-che Standards verdichtet und zusammengefasst. Die beschriebenen Haltungen kennzeichnen die Grundphi-losophie, allgemeine handlungsleitende Prinzipien, die die Basis der flexiblen Entscheidungen im Einzelfall bilden können und den Suchbewegungen der Profes-sionellen eine Richtung geben sollen. Die Standards sind weiter operationalisiert, auf der größten Konkreti-onsstufe enthalten sie ganz spezifische Feststellungen (z. B. „Es muss einen Raum für begleitete Besuchs-kontakte im Amt geben.“). Die Definitionen von wünschenswerten Haltungen und Standards stellen das Ergebnis der gemeinsamen Ar-beit dar. Der Bericht soll nun verbreitet und in einer größeren Fachöffentlichkeit diskutiert werden. Zustim-mungen und Einwände können dann – in künftigen Ver-öffentlichungen in Fachzeitschriften und Fachbüchern – bilanziert werden. Dann können und müssen sie bis auf weiteres als verbindlich gelten. In diesem Projekt bilden die Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern die Datenbasis. Das ist für eine Pflegekinderhilfe ein zentraler Zugang, aber nicht der einzig wichtige. Weitere Praxisforschungsprojekte, die die Perspektiven der Pflegeeltern, der Herkunftsfa-milie, der leiblichen Kinder der Pflegeeltern und der Fachkräfte systematisch erheben und auswerten, sind notwendig. Erst dann besteht eine hinreichend breite Basis für ein ganzes System fachlicher Standards. Der Prozess der Standardentwicklung ist also noch längst nicht abgeschlossen, aber ein erster Schritt ist ge-macht: Erste Ergebnisse liegen vor und ein Weg, sie zu erarbeiten, wurde entwickelt und ausprobiert. Das Verfahren und die Ergebnisse können nun bewertet werden. Die Ergebnisse bilden außerdem erste Kris-tallisationspunkte für fachliche Standards in der Pfle-gekinderhilfe.

Page 15: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

13

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Weiterverwertung und Zusammenfügen der Ergebnisse – die Abschlussphase In der letzten Projektphase wurden die Ergebnisse aus den Workshops sowie das Interviewmaterial in dem hier vorliegenden Abschlussbericht zusammenge-tragen. Ziel des Berichts war es dabei, nicht nur die zentralen Themen, die in den Interviews thematisiert wurden, sowie die Ergebnisse der Workshops aufzu-greifen und zusammenzutragen, sondern eine konkre-te Arbeitshilfe für die Praxis zu gestalten.Zusätzlich wurden in der Abschlussphase des Projek-tes eine zentrale Abschlussveranstaltung sowie vier regionale Veranstaltungen konzipiert. Auf diese Weise werden die Ergebnisse einer möglichst breiten Fachöf-fentlichkeit zugänglich gemacht.

Page 16: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

14

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

An der Universität Siegen wurden seit 2006 unter der Leitung von Prof. Dr. Klaus Wolf der Forschungs-schwerpunkt Aufwachsen in Pflegefamilien und die zugehörige Forschungsgruppe Pflegekinder etabliert. Aktivitäten innerhalb dieses Forschungsschwerpunk-tes sind unter anderem Forschungsprojekte, die sich mit dem Aufwachsen in Pflegefamilien sowie den Belastungen und Ressourcen von Pflegekindern und Pflegeeltern beschäftigen.8

In den vergangenen Jahren wurden in diesem Kontext rund 100 Interviews mit ehemaligen Pflegekindern ge-führt. Die so in den Mittelpunkt gestellte Perspektive der Pflegekinder eröffnet die Möglichkeit, empirisch abgesicherte Aussagen darüber zu treffen, wie die Pflegekinder selbst die Unterbringung in einer neuen Familie mit allen Konsequenzen für ihr eigenes Leben empfinden. Dadurch können Fragen beantwortet wer-den wie: An welchen Stellen treten Schwierigkeiten oder Probleme auf, die das Leben der Kinder belastet haben oder bis heute belasten? Welche Kompetenzen und Fähigkeiten konnten die Kinder in ihrem neuen Lebensfeld (weiter-)entwickeln und welche Ressour-cen wurden ihnen zur Verfügung gestellt, die ihnen bei der Bewältigung schwieriger Lebensverhältnisse dienten? So können Grundlagenkenntnisse über das Aufwachsen unter schwierigen Bedingungen und auch Erkenntnisse für die Ausgestaltung des Pflegekinder-wesens auf der Grundlage der Rekonstruktion von bio-graphischen Erzählungen gewonnen werden.Die Auswahl der Interviews erfolgt nach den Kriterien des „theoretical samplings“ nach Glaser und Strauss9. Dadurch gelingt es, unter Verwendung von kontrastiv ausgewählten Interviews, den Untersuchungsgegen-stand in seiner vollen Differenzierung abzubilden und so ein breites Spektrum von biografischen Prozessen bei Pflegekindern zu erfassen. Die qualitative Aus-wertung jedes einzelnen Interviews erfolgt dann nach einem festgelegten System. In unterschiedlichen Aus-wertungsschritten werden die Interviews hinsichtlich spezifischer Fragestellungen und Themenschwer-punkte analysiert. Diese folgen den Schwerpunktset-zungen durch die Pflegekinder. Zudem werden die

8 Vgl. hierzu u.a. Schäfer (2011), Reimer (2011 und 2008), Jespersen (2011) sowie: http://www.uni-siegen.de/pflegekinder-forschung/

9 Vgl. Glaser, Strauss (2009)

Interviews zu Themen ausgewertet, die in der aktu-ellen Fachdiskussion eine wichtige Rolle spielen. Als theoretischer Rahmen dient dabei das Konzept der Belastungs-Ressourcen-Balance.

Die Belastungs-Ressourcen-BalanceDieses von Klaus Wolf entwickelte Modell liefert die Möglichkeit, einen spezifischen sozialpädagogischen Blick auf „Menschen in ihren Lebensverhältnissen und vor dem Hintergrund ihrer kollektiven und individuellen Biographien“10 zu werfen und dient somit als theoreti-sches aber auch als praxistaugliches Modell, das sich zur „Beschreibung und Analyse von Prozessen [eig-net], die die Relation von Belastungen und Ressourcen im Leben eines Menschen beeinflussen.“11 Grundlegend für das Modell ist das Verständnis, dass jeder Mensch bestimmte Entwicklungsaufgaben zu lösen hat.12 Hinzu kommt, dass sich innerhalb der individuellen Biografie und den spezifischen Lebens-verhältnissen weitere Aufgaben ergeben können. Im Fall von Pflegekindern kommen also zusätzliche An-forderungen hinzu, die ein besonderes, ein „pflegekin-derspezifisches“ Profil haben. So müssen sich Pfle-gekinder beispielsweise mit der Ablösung von ihren Eltern zu einem Zeitpunkt und in einer Komplexität aus einandersetzen, die sich von der Situation, in der sich andere Gleichaltrige befinden, klar unterscheidet. Zu diesen Schwierigkeiten haben sie häufig noch Er-fahrungen mit weiteren Problemlagen gemacht, wie extrem belastenden Familienverhältnissen, Armuts- oder Vernachlässigungserfahrungen oder dem Zu-sammenleben mit einem psychisch erkrankten oder suchtkranken Elternteil.

10 Wolf (2007), S.28111 Schäfer (2011), S.1412 Vgl. zu Entwicklungsaufgaben exemplarisch Rothgang (2009)

2 Theoretische Rahmung

Page 17: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

15

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Allerdings sind nicht nur die Aufgaben und die dar-aus möglicherweise resultierenden Belastungen in den Blick zu nehmen, sondern auch die Ressourcen, die die Bewältigung eben dieser Schwierigkeiten er-leichtert hätten. Denn „erst fehlende Ressourcen […] machen das Problem zu einem Problem.“13 Es ist also bedeutsam, ob einer Person die zur Bewältigung der jeweiligen Aufgabe relevanten Ressourcen zur Verfü-gung stehen oder nicht. Hierzu gehören beispielsweise materielle Güter, Orientierungsmittel (Zugang zu Wis-sen und Informationen), dichte persönliche Beziehun-gen und soziale Netzwerke oder auch Kenntnisse über erfolgversprechende Strategien zur Problembewälti-gung.14

Das Modell der Belastungs-Ressourcen-Balance macht es aus theoretischer Perspektive also möglich, die Aufgaben, Probleme und Ressourcen von Men-schen systematisch zu erfassen und zudem den Zu-sammenhang sowie auch die Abhängigkeit zwischen beiden Seiten zu betrachten und zu analysieren.Bezieht man die professionelle soziale Arbeit mit ein, lauten die zentralen Fragen: Welche Ressourcen kön-nen über die Sozialen Dienste zugänglich gemacht werden? Wie können Zugänge zu diesen erleichtert werden? Und welche Ressourcen wurden bei der Be-wältigung einer Aufgabe möglicherweise vorenthal-ten? Die Sozialen Dienste tauchen im Erleben der Pflegekinder mitunter auch als Einflussgrößen in der Lebensgeschichte auf und können deren Leben zuwei-len stark – teilweise auch belastend – beeinflussen.

13 Wolf (2003), S.9514 Vgl. Wolf (2007), S. 287

Der daraus resultierenden Verantwortung für die Ent-wicklung und die Entwicklungschancen der Pflegekin-der müssen sich die beteiligten Sozialen Dienste be-wusst sein.

Schlüsselkategorien der bisherigen ForschungsprojekteIn der Zusammenschau der bisherigen Arbeit der Forschungsgruppe Pflegekinder zeigen sich einige Schlüsselkategorien, die die Entwicklungschancen von Pflegekindern stark beeinflussen können und die einer besonderen Berücksichtigung durch das Pflegekinder-wesen und die zugehörigen Professionellen bedürfen. Exemplarisch sollen an dieser Stelle drei dieser Kate-gorien in aller Kürze vorgestellt werden.15

Kontinuität Wiederholte Ortswechsel und Beziehungsabbrüche, Instabilität und Unsicherheit über den zukünftigen Lebensmittelpunkt stellen gravierende Belastungen dar und können das kindliche Wohlergehen sowie die Entwicklungsbedingungen der Kinder erheblich ver-schlechtern und einschränken.16 Im internationalen Vergleich „münden Pflegeverhältnisse in Deutschland […] selten in Adoption durch die Pflegefamilie. Gleich-zeitig sind auch rechtzeitig geplante und stabile Rück-führungen in die Herkunftsfamilie eher selten […].“17

Viele Pflegekinder leben bedingt durch diese Situation unverhältnismäßig lange in einer für sie unsicheren Lage. In vielen der Interviews finden wir Beschrei-bungen von Biografien, die eben solche Brüche und Unsicherheiten und daraus weiter resultierende Be-lastungen aufweisen. Daher muss die Planung und Sicherung von Kontinuität („permanency planning“ zu deutsch: Kontinuität sichernde Planung) 18 ein zentra-les Leistungskriterium von Hilfen für Pflegekinder wer-den. An solchen Lösungen müssen Familiengerichte und Soziale Dienste gemeinsam arbeiten. Hierfür ist es wichtig, dass bei der Hilfeplanung, bei Entscheidungen des Familiengerichts und bei der Begleitung das Ziel der Kontinuitätssicherung besondere Berücksichti-gung findet. Es sollten „Versuchs- und Irrtums- Rück-führungs-Experimente“19 vermieden werden. Lassen

15 Vgl. hierzu auch Wolf (2010) 16 Vgl. Siegener Erklärung (2008) sowie Moore, Vandivere,

Kinukawa, Ling (2003) 17 Neues Manifest (2010) S.1318 Vgl. ebd.19 Wolf (2010), S.15

Aufgaben und

Probleme, die Mädchen und

Jungen in unserer Gesellschaft bewältigen

müssen

Besondere

Aufgaben und

Probleme von Kin-

dern mit extrem

belastenden

Erfahrungen.

Besondere

Aufgaben und Pro-

bleme von Kindern in

Pflege familien

Page 18: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

16

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

sich Diskontinuitäten nicht vermeiden, so sind sie an-gemessen zu gestalten und in „ihrer Konsequenz für Entwicklung und Wohlergehen durch unterstützende Bewältigungshilfe abzumildern.“ 20

PartizipationIn der Praxis der Sozialen Arbeit ist die Notwendigkeit der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an den für das eigene Leben relevanten Fragen unbestrit-ten. Gleichwohl deuten unsere Ergebnisse darauf hin, dass dieser Anspruch und die entsprechende Haltung nicht durchgängig in der Praxis realisiert werden. Im Erleben der Interviewpartner zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen einer tatsächlichen Beteiligung und einer „Scheinbeteiligung“. Es entsteht dabei häu-fig der Eindruck, dass Partizipation lediglich als ein formalisierter Prozess missverstanden wird. Gleich-zeitig zeigen die Interviews, dass Kinder und Jugend-liche Belastungen deutlich besser bewältigen können, wenn sie an Entscheidungen, die ihr Leben einschnei-dend beeinflussen, beteiligt werden und wenn sie spü-ren, dass ihre Wünsche und Ängste gehört werden und ein kompetenter, vertrauensvoller Erwachsener ihnen erklärt, was nun passieren wird und warum. In Anleh-nung an das Stufenmodell der Partizipation von Peter-sen21 halten wir es dafür für unerlässlich: 22

Kinder und Jugendliche über das, was mit ihnen • geschieht, auf eine ihrem Entwicklungsstand angemessene Weise zu informieren.Sie mit ihren Wünschen, Befürchtungen und Mei-• nungen zu hören und diese wertzuschätzen. Entscheidungen soweit wie möglich partner-• schaftlich auszuhandeln oder von Kindern und Jugendlichen selber treffen zu lassenBei allen Entscheidungen – auch wenn diese aus • gewichtigem Grund gegen den Willen des Kin-des getroffen werden – um ihre Zustimmung zu werben.

20 Neues Manifest (2010) S.13 21 Vgl. Arnstein (1966)22 Vgl. Reimer; Wolf, (2009)

Berücksichtigung der Geschwisterbeziehung Die Trennung von leiblichen Geschwistern wird in vie-len der geführten Interviews als Belastungspunkt be-schrieben. Häufig sind es gerade die älteren Geschwis-ter, die sich nach einer Trennung von den andernorts lebenden jüngeren Geschwistern weiterhin um diese sorgen. Sie haben oft in der Herkunftsfamilie die Sorge und Versorgung für die Geschwister sicher gestellt und dadurch wichtige Funktionen übernommen, die die Er-wachsenen nicht hinreichend erfüllen konnten. Sie be-lastet nach einer Trennung häufig die Unsicherheit über das Wohlergehen ihrer Geschwister. Es reicht für diese Pflegekinder nicht aus, für sich selbst einen sicheren Ort gefunden zu haben. Die Kenntnis über den Verbleib der Geschwister und ihr Wohlergehen wird zu einem relevanten Faktor für ein gutes Leben in der Pflegefa-milie. Ein sorgsamer Umgang mit der Geschwisterbe-ziehung und eine verstärkte Berücksichtigung müssen vor diesem Hintergrund weiter in den Mittelpunkt der professionellen Arbeit mit Pflegekindern rücken.

Page 19: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

Teil II Zentrale Projektergebnisse

Page 20: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

18

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Page 21: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

19

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

3 Zwischen zwei Familien

Dass Pflegekinder sich in unterschiedlicher Form zwi-schen zwei Familien wiederfinden, ist ein zentraler As-pekt ihrer Lebenssituation und kommt auch in einem Großteil der Interviews in unterschiedlicher Deutlich-keit zur Sprache.1 Dabei ist die Auseinandersetzung mit eigenen Unsicherheiten – als grundsätzliches Ge-fühl ebenso wie über die weitere Perspektive – genauso Gegenstand der Äußerungen, wie Fragen der Loyalität oder Beschreibungen der komplizierten Gefühlslage. Dass das Pflegekind in aller Regel zwei Familien hat – unabhängig davon, ob tatsächlich Kontakte bestehen oder nicht – ist also ein sehr vielfältiges Thema und beschäftigt die Praxis des Pflegekinderwesens ebenso wie die Herkunfts- und die Pflegeeltern. In der Literatur wurde diese familiäre Konstellation in Verbindung mit dem Thema Pflegekind erstmalig vor allem im Kontext systemischer Sichtweise diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass es nicht die ein-zelnen Reaktionen der beteiligten Erwachsenen sind, die das Pflegekind möglicherweise belasten, sondern „der Dauerstreß, unter dem das Kind steht, wenn es in die Situation des „pathogenen Dreiecks“ gerät.“2 Damit ist gemeint, dass das Pflegekind in eine Situa-tion geraten kann, in der es zu den unterschiedlichen Erwachsenen – also beispielsweise der Pflegemutter und der leiblichen Mutter – in Beziehung steht, gleich-zeitig aber die Sorge haben muss, dass die eine Bezie-hung die andere ausschließt.3 Yvonne Gassmann (2009) beschreibt die möglichen Konflikte des Pflegekindes als „oft an sich selbst gestellte Anforderungen, zwei Parteien gegenüber fair zu sein, unterschiedlichen An-sprüchen zu genügen und zu vermitteln.“4 Sie betont, dass der Hintergrund für mögliche Loyalitätskonflikte nicht zwingend Pflegeeltern und leibliche Eltern sein müssen, sondern dass auch die Änderungen von Wer-ten und Normen in den beiden Familien solche Kon-flikte zur Folge haben können.5

1 Aspekte dieser besonderen Konstellation werden auch im Kapitel 5 zu Besuchskontakten aufgegriffen.

2 Schumann (1987), S.613 Vgl. Gudat (1987) 4 Gassmann (2009), S.745 Vgl. ebd.

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien

Unklarheit über Perspektive und den weiteren LebensmittelpunktBereits zu Beginn eines Pflegeverhältnisses stellt sich für viele Pflegekinder die Frage der Zugehörigkeit und nicht selten besteht Unklarheit über den weiteren Le-bensmittelpunkt sowie die weiterführende Perspek-tive. So berichtet Raphael, der zusammen mit seiner Schwester in Verwandtenpflege lebte:

R: Ja, ich bin zu meiner Tante hingegangen, habe

gesagt: „Wann fahren wir wieder zu meiner, wann

fahren wir wieder nach Hause? Weil ich gern wie-

der zu meiner Mutter möchte.“ Meinte die: „Die erste Zeit

bleibt ihr erstmal bei uns.“ Da hab ich halt gefragt: „Wieso?

Warum?“ Meinte die: „Ja, deine Mutter braucht eine kleine

Auszeit und es wird auch nicht lange sein. Und dann könnt

ihr wieder zu deiner Mutter.“ Und dann, ich war früher sowie-

so ganz ruhig, hab sowieso nie über irgendwas gesprochen.

Dann war ich erstmal weg. Im Zimmer und hab mit keinem

gesprochen.

I: Was hast du denn dann, was ging denn im Zimmer dann

vor?

R: Gar nicht viel. Dann der Hass gegen meine Mutter und wa-

rum sie sich nicht getraut hat, mir das selbst zu sagen. Dass

wir jetzt erstmal eine längere Zeit nicht da sind. Fing das

dann an: „Warum? Hab ich irgendwas falsch gemacht?“ Ich

hab mir dann erstmal so ein bisschen die Schuld gegeben.

Man kann an diesem Zitat erkennen, welche Unklarheit über die weiterführende Perspektive und Unsicher-heit über den weiteren Lebensmittelpunkt Raphael empfunden hat. Es wird deutlich, dass auch die Infor-mationen, die ihm zur Erklärung des Wechsels in die Verwandtenpflege genannt werden, seine Unsicherheit nicht aufheben können. Belastende Alltagstheorien, wie hier die eigene Schuldzuweisung, tauchen häufig dann auf, wenn eine Situation nicht verstanden wird. Werden hier keine stimmigen Erklärungen angeboten, können diese Alltagstheorien zu einer Belastung des eigenen Selbstwertes führen.6

6 Vgl. hierzu Kapitel 9 Normaltätserleben und Familienbilder

Page 22: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

20

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Am Beispiel von Nora wird deutlich, dass das Thema der Unsicherheit über die Stabilität des Lebensortes auch über einen langen Zeitraum relevant sein kann. Nora beschreibt, dass sie, obwohl sie keinen Kontakt zur leiblichen Mutter hatte, über den Großteil des Pflege verhältnisses hinweg die Sorge hatte, dass die Pflege familie sie möglicherweise nicht behält:

Ich hatte halt immer Angst, dass ich abgegeben

werde. Das war das Schlimmste an diesem ganzen

Pflegegedöns. Sag ich jetzt mal. Also das war

wirklich das Allerschlimmste. Immer diese Angst zu haben,

die können mich jederzeit abgeben. Und ich denk mal, dass

ich deswegen zum Teil auch wirklich ja, also unterdrückt ge-

lebt hört sich jetzt ganz furchtbar an. Aber, dass ich oft auch

Sachen getan habe, ja, um einfach nett dazustehen. Also

wenn mich meine Eltern um irgendwas gebeten haben, hat

mich natürlich genervt. Was weiß ich, was auch immer. Müll

runter zu bringen, Spülmaschine auszuräumen, hab ich dann

gemacht, wo meine Brüder dann wahrscheinlich ein Theater

bis weiß ich nicht bis wohin gemacht hätten. Und da wahr-

scheinlich meine Eltern in manchen Situationen dann natür-

lich auch in ihrer Pubertät mit denen große Auseinanderset-

zungen hatten. Hatte ich nicht. Also ich hab mich dann

verzogen und hab das so für mich dann ausgemacht irgend-

wie. Also das war schon so dieses Gefühl, wieder abgegeben

zu werden. Das war ganz, ganz furchtbar. Und ich glaub, das

hat mich einfach auch ein paar schöne Momente gekostet.

So. Also ich hätte es einfacher leben können, mein Leben.

Das Gefühl des „dazwischen-seins“: Die Situation, zwei Familien zu haben und auch das Gefühl, zwischen diesen beiden Familien zu stehen, wird in einigen Interviews konkret angesprochen und etwa durch Formulierungen wie diese deutlich:

Das fand ich am schwierigsten. Dass ich immer

zwischen den Stühlen stand. Und mich quasi ent-

scheiden musste, wem ich glaube oder zu wem ich

möchte.

Wie äußert sich dieses Gefühl des „dazwischen-seins“ und die daraus möglicherweise resultierenden Loyali-tätskonflikte konkret für die Pflegekinder?

Hierzu gehört etwa das Erleben zweier unterschiedli-cher Familienkulturen. Die Pflegekinder müssen häu-fig erkennen, dass sich das Leben in der Pflegefamilie stark von dem in der Herkunftsfamilie unterscheidet und lernen, mit diesen Differenzen umzugehen.7 Dieses Gefühl des Erlebens unterschiedlicher Familien kulturen beschreibt Olivia, die bei ihren Groß-eltern gelebt hat und den dortigen Alltag und Umgang miteinander deutlich anders erlebt, als die Situation während ihrer Besuche bei der leiblichen Mutter:

Also, es herrschte auch ein ganz anderer Um-

gangston. Also hätte ich zu Oma und Opa gesagt:

„Boah, lass mich in Ruhe!“, dann wäre es schon,

also dann wären die glaub ich schon nicht so erfreut gewe-

sen. Und bei Mama war es einfach ganz normaler Umgangs-

ton. Und sich dann wieder umzugewöhnen, also was Sprache

anging, was Verhalten anging. Das ist schwer zu beschrei-

ben. Das ist so ein, ich glaube, das ist mehr so ein Gefühl.

Dass es bei Oma und Opa einfach geregelter ablief. Und ja,

einfach auch ein anderer Umgangston herrschte, ein höfli-

cherer. Und aber es war auch nicht so, dass bei Mama, dass

man sich jetzt gegenseitig beleidigt hat, sondern es war halt

ja eher so, wie wenn man mit seinen Freunden spricht. Also

es war schon schwer, von diesem flapsig ist auch das falsche

Wort. Also es war halt so ein salopperer Umgangston als bei

meinen Großeltern. Und ja, dass ich lange Fernsehen gucken

durfte. Und wenn man das drei Wochen hat und dann zurück

muss, denkt man sich: „Toll, warum darf ich das da und hier

nicht? Wo ist da jetzt der Sinn?“ Also es waren immer so zwei

Welten, in die man dann von denen man gewechselt hat.

Sich zwischen der Herkunftsfamilie und der Pflege-familie zu sehen, hat nicht selten zur Folge, dass die Pflegekinder die Sorge haben, sich irgendwann doch noch zwischen den Familien entscheiden zu müssen. Das passiert mitunter auch nur in der Phantasie, wird aber häufig auch im Kontakt mit der Herkunftsfamilie erlebt. So berichtet Caro über die Begegnung mit dem leibli-chen Vater:

I: Kannst du dich da noch so erinnern an die Tref-

fen mit dem, wie das dann so war? Den wieder zu

treffen?

7 Vgl. zu diesem Thema ausführlich: Reimer (2008) sowie Kapitel 9 Normalitätserleben und Familienbilder

Page 23: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

21

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

C: Die waren eigentlich jedes mal unangenehm, weil jedes

mal kam dann immer so was wie „Komm zurück nach Hau-

se“, „Wir vermissen dich“, „Deine Mutter vermisst dich“ und

von meiner Seite aus war das eher so: ich wollt gar nicht mehr

zurück. Aber das sagt man ja auch nicht so direkt anschei-

nend. Es war immer ziemlich unangenehm. Auch immer so

heimlich so ja: „Willst Du nicht doch lieber zurückkommen?

Du musst das einfach nur sagen, dann geht das auch.“

Julia erlebt den Wunsch der leiblichen Mutter nach Zusammenleben im Brief- beziehungsweise Telefon-kontakt und beschreibt die eigene Auseinandersetzung damit:

Und bei Telefonaten stellte sich das mit meiner

leiblichen Mutter auch heraus, dass sie dann in so

eine Richtung Wahnvorstellung ging: „Ja und wenn

du dann hierhin kommst, dann hab ich hier noch ein Zimmer

für dich eingerichtet und alles ist schon fertig und du kannst

direkt hier bleiben“ und das waren dann so Aussagen, die mir

halt ziemlich Angst gemacht haben, wo ich gesagt hab: „Nein

das möchte ich so nicht“. Dann kam natürlich auch die ganze

Identitätskrise hinzu, mitten in der Pubertät „Wo gehör ich

eigentlich hin? Was sind meine Pflegeeltern eigentlich für

mich? Was bedeutet meine leibliche Mutter für mich?“ Dass

ich dann mit fünfzehn gesagt hab: „Nein, jetzt ist mal Schluss.

Ich muss mal zur Ruhe kommen. Das ist mir alles viel zu

viel.“

An diesem Zitat zeigt sich, dass das Thema Unsicher-heit, wie bereits zu Beginn des Kapitels dargestellt, und die Frage der Zugehörigkeit zu der einen oder an-deren Familie meist in der Zeit der Pubertät nochmals an Relevanz gewinnen können. Am Beispiel von Julia wird deutlich, dass Pflegekinder an dieser Stelle häufig besonders und in verschärfter Form die Fragen nach der eigenen Zugehörigkeit und Identität zu bearbeiten haben und sich hier von anderen Jugendlichen und de-ren Herausforderungen unterscheiden. Mögliche Strategien der Pflegekinder Der Umgang mit verschiedenen Lebensweisen und dem Gefühl „dazwischen zu sein“ sowie die Integration dieser Konstellation in das eigene Leben verlangt von dem Pflegekind spezifische Leistungen. Wie am gerade vorgestellten Beispiel gezeigt, ist es häufig so, dass der Abbruch oder zumindest das zeitweilige Einstellen des Kontakts zu den leiblichen Eltern eine solche Strate-gie ist. Diese Strategie dient der Entlastung, kann aber auch wieder die Frage der Zugehörigkeit aufwerfen.

Nicht selten ist die Ablehnung der einen oder anderen Art zu leben ein Vorgehen, durch das eine Abgrenzung vollzogen wird. So beschreibt Pia, deren Herkunfts-familie immer wieder wegen krimineller Vergehen mit der Polizei zu tun hatte, ihre Ablehnung einer solchen Lebensweise:

Weil bei uns wurde dann vor Weihnachten einge-

brochen, da hab ich dann noch zu Hause gewohnt.

Und die Kriminalpolizei stand dann da und als ich

dann gesagt hab, wie ich heiße, haben sie aufgeschrieben in

einem durch. Habe ich mich dann schon geschämt. Da sagte

der: „Von den Hermanns?“ Ich sag: „Ja.“ „Boa, willst du auch

mal ausprobieren? Die hatten schon deine ganze Familie an-

gehabt. Die Handschellen.“ Ich sag: „Nee.“ Ich sag: „Aber ich

such mir eben ein Loch, wo ich mich verstecken kann.“ Ich

sag: „Ich bin nicht so. Ich mach eine Ausbildung.“ Ich sag:

„Ich hab nie geklaut, ich hab nie irgendwas anderes ge-

macht.“ Ich sag: „Ich will die Handschellen nicht haben.“ Ich

sag: „Ich brauch die nicht.“ Da war das schon ein bisschen

peinlich. Für mich. Ja und mein Vater hat dann auch am

Abend gesagt: „Siehst du, wir haben nie gelogen, wir haben

immer die Wahrheit gesagt.“ Ja und von da an war für mich

klar: „Mit dem Pack willst du nix zu tun haben.“ Das war dann

so für mich der Schlussstrich mit dem Suchen, mit dem Fra-

gen.

Auch die Betitelung der Herkunftseltern, etwa durch Verwendung des Vornamens oder auch die Bezeich-nung als Erzeuger, sind hier als Strategien zu nennen, die die Pflegekinder nutzen, um für sich Klarheit zu ge-winnen. So beschreibt eine Interviewpartnerin:

Weil sie mich auch in irgendeinem Telefonat mal

fragte: „Wieso nennst du mich denn nicht Mama.“

Ich sag: „Weil du nicht meine Mama bist. Meine

Mama ist jemand für mich, der immer für mich da war. Der

sich immer um mich gekümmert hat.“ Ich sag: „Du bist ein-

fach Petra.“ So einfach.

Gefühle gegenüber beiden Familien/Unklarheit in der eigenen Gefühlswelt: Dass das Pflegekind zwei Familien hat, schlägt sich nicht nur in den konkreten Gefühlen des „dazwischen- seins“ und dem Umgang mit diesen nieder, sondern berührt auch weitere Bereiche der eigenen Gefühls-welt. So kommt es nicht selten vor, dass die Pflegekin-der die Sorge haben, die eine oder andere Seite zu ent-täuschen, wenn beispielsweise einem Kontaktwunsch nicht entsprochen wird oder aber gerade der Kontakt

Page 24: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

22

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

gesucht wird. Hannes hat erst seit kurzem Kontakt mit seinem leiblichen Vater und beschreibt die Gefühle seiner Pflegefamilie gegenüber folgendermaßen:

Es kam, als ich glaube ich siebzehn war, kam wohl

ein Brief, der ist ans Jugendamt gerichtet worden

von der damaligen Lebensgefährtin meines leibli-

chen Vaters, dass er mich wahnsinnig gerne kennen lernen

würde. Und ja, zu dem Zeitpunkt. Ich muss dazu sagen, es

würde meinen Pflegeeltern wahnsinnig weh tun. Die wissen

auch absolut nichts davon, dass ich im Kontakt mit ihm ste-

he. Weil für mich einfach dieser dieser Bruch da drin steht

„Ihr seid meine Eltern.“ Und dann kommt natürlich auch die

Frage so: „Warum brauchst du das jetzt auf einmal?“ So in

gewisser Weise vielleicht auch eine Verlustangst ihrerseits,

der ich einfach nicht nachgehen möchte. Wir sind alle so

glücklich, wie es jetzt ist.

An den beschrieben Empfindungen zeigt sich der Lo-yalitätskonflikt, in dem Pflegekinder sich befinden können: auf der einen Seite die Sorge, etwas, das man sich in den neuen Familien aufgebaut hat, zu riskie-ren – etwa durch Kontakte mit der leiblichen Familie – und auf der anderen Seite das Interesse an der ei-genen Herkunft. In diesem Zusammenhang stellt die Sorge, die Pflegeeltern, ihre Unterstützung und das gemeinsame Familienleben zu enttäuschen oder in Frage zu stellen, eine zusätzliche Verkomplizierung der Gefühlslage dar. Oft kommen zum Interesse an der eigenen Herkunft auch noch Verantwortungsgefühle für das Herkunftssystem hinzu, hier vor allem für die leiblichen Geschwister.Im Zitat aus dem Interview mit Melanie wird dieser Konflikt offensichtlich. Die Sorge, das Familienleben möglicherweise zu riskieren und gleichzeitig die Be-deutung, die der leibliche Bruder hat sowie der Wunsch, ihm zu liebe doch in Kontakt mit dem Herkunftssystem zu gehen, sind hier zu erkennen:

Das war, es lief gut, ich hatte Geschwister, ich hat-

te eine Mama, ich hatte einen Papa, ich hatte

Freunde. Es lief gut und ich wollte es auch eigent-

lich nicht irgendwie riskieren, ne. Mit achtzehn hab ich sie

dann kennen gelernt so. Auch für meinen Bruder. Eigentlich

hab ich es zuliebe meines Bruders getan. Weil ich finde im-

mer, Geschwister sind wichtig. Und ja, irgendwann sind die

Eltern nicht mehr da, dann hat man nur noch Geschwister.

Die Frage, ob die leibliche Familie gemocht oder so-gar geliebt werden muss, taucht in diesem Kontext

ebenfalls häufig auf. Vorstellungen, wie beispielsweise eine Beziehung zur Mutter sein sollte, möglicherweise Idealbilder über eine solche Beziehung und gleichzei-tig die Erkenntnis, dass diese Gefühle dem leiblichen Elternteil gegenüber aber nicht vorhanden sind, sind ein wichtiger Aspekt, mit dem sich die Pflegekinder auseinanderzusetzen haben.

Die Frage nach der WahrheitDass es mehrere Sichtweisen auf das eigene Leben und beispielsweise die Gründe für den Wechsel in die Pflegefamilie geben kann und diese sich dann auch noch deutlich voneinander unterscheiden, ist ein wei-terer verunsichernder Aspekt. Die Frage, wer denn nun die Wahrheit sagt, macht Pflegekindern oft zu schaffen, wie es etwa auch im Interview mit Olivia zur Sprache kommt:

Es gab dann so einen Streit. Also das das ging

dann vor Gericht, das zwischen Mama und Oma

und Opa. Und das ist natürlich auch hängen ge-

blieben. Also dass meine Oma und Opa auf meine Mutter

überhaupt nicht gut zu sprechen waren und da also gar nicht

mehr miteinander gesprochen haben, sondern nur noch über

Anwälte kommuniziert haben. Und ja, das hat das natürlich

auch geprägt das Verhältnis. Ja und dass meine Mutter halt

so unregelmäßig zu den Treffen gekommen ist. Mittlerweile

kenne ich beide Seiten der Geschichte und hab versucht, mir

so ein bisschen ein eigenes Bild zu machen. Aber ich weiß

nicht. Also ich weiß halt nicht, wer in welchem Punkt die

Wahrheit sagt und wo übertrieben wurde.

Was hilfreich war – Ressourcen Die komplizierte Gefühlslage der Pflegekinder, die Probleme und Aufgaben, denen sie sich stellen müs-sen, wurden ausführlich dargestellt. Was beschreiben die Gesprächspartner aber als hilfreich oder nützlich im Umgang mit möglichen Loyalitätskonflikten, Un-sicherheiten oder anderen Belastungen, die im Leben zwischen zwei Familien auftauchen? Dass die Situation zwischen Pflegefamilie und Her-kunftsfamilie geregelt ist und Kontakte untereinander ohne große Probleme möglich sind, erweist sich als eine förderliche Ressource. Maik betont, dass es hilf-reich war, dass die Mutter und die Pflegefamilie gut miteinander auskamen und ein Austausch zwischen ihnen stattfand:

Page 25: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

23

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Es war eigentlich immer gut in der Pflegefamilie,

die haben sich gut um mich gekümmert. Das ist

auch so: Da, in der Pflegefamilie, da ist halt meine

Mama und mein Papa. Meine leibliche Mutter, die nenne ich

beim Namen oder sage Mutter zu der einfach so. Die sieht,

die akzeptiert das auch. Die hatte auch nie Probleme mit der

Pflegefamilie, weil die sich immer gut verstanden haben, die

haben sich ausgetauscht.

Eine wohlwollende Betrachtung der Herkunftsfamilie und eine Einordnung von deren Verhaltensweisen, die für das Pflegekind belastend sein können, werden als hilfreich beschrieben. So schildert Leyla eine Situati-on nach einem Treffen mit der leiblichen Mutter. Sie berichtet, wie die Pflegemutter die Verhaltensweisen der leib lichen Mutter erklärt hat, ohne diese dabei ab-zuwerten:

Vier Stunden, nein drei Stunden später bin ich

dann zu meinen Eltern gefahren und ja bin dann

bei meinen Eltern voll ausgeflippt. Also was heißt

voll ausgeflippt, also jetzt nicht so aggressiv oder so, aber

dass ich mich dann tierisch über sie aufgeregt habe und mei-

ne Mama hat gesehen wie schlecht es mir geht, die weiß wie

sehr die Person lügt. Die hat kein schlechtes Wort über die

Frau verloren und das muss auch mal erstmal jemand schaf-

fen. Und die hat die ganze Zeit noch gesagt: „Die hat ihre

Gründe dafür, dass sie so ist, du musst sie so nehmen wie sie

ist, dann darfst du entweder keinen Kontakt mehr mit ihr ha-

ben oder aber du nimmst sie so wie sie ist. Aber du kannst

sie nicht ändern und es wird immer so sein. Sie wird dich

immer wieder aufs Neue verletzen und so was und sie sieht

das selber gar nicht.“ Sie hat keinmal ein schlechtes Wort

verloren über sie.

Für Leyla scheint es zudem sehr hilfreich gewesen zu sein, dass sie direkt nach dem Kontakt mit der leib-lichen Mutter eine Ansprechpartnerin hatte, mit der sie das Zusammentreffen besprechen und ihre Wut und ihren Ärger verbalisieren konnte.

Ein offener und ehrlicher Umgang innerhalb der Pfle-gefamilie damit, dass es eine Herkunftsfamilie gibt, wird zusätzlich als förderlich beschrieben. Dass auch die Pflegeeltern sich den dazugehörigen Themen stel-len und sich darauf vorbereitet haben, wirkt sich hier ebenfalls als hilfreich aus. So beschreibt eine Intervie-wpartnerin die Unterstützung der Pflegeeltern im Kon-text der Kontaktaufnahmen durch die Mutter:

Meine Eltern oder meine Pflegeeltern wie es dann

ja richtig heißt, die haben sich auch immer mit mir

zusammengesetzt, wenn das Thema auf den Tisch

kam. Weiß ich nicht jetzt Weihnachten stand an, da hab ich

ein Päckchen gekriegt und meine Eltern haben mir das im-

mer, ja immer gegeben, die haben mir nie irgendwelche

Briefe oder Telefonate irgendwie vorenthalten oder ver-

schwiegen. Die sind da sehr offen mit umgegangen, weil die

ja wussten, was dann auf die auch zukommen wird, ne? Dass

sie sich diesem Thema Pflegekind irgendwann stellen müs-

sen.

Wenn wir also zusammenfassend davon sprechen, dass sich Pflegekinder zwischen zwei Familien wie-derfinden und dies häufig auch zu einer Auseinander-setzung mit Loyalitätskonflikten führt, dann finden wir aus der Perspektive von Pflegekindern folgende posi-tive Merkmale:

Austausch zwischen beiden Familien ist ohne • größere Probleme möglich. Beide Seiten haben Verständnis füreinander.Die Rollen der Beteiligten sind klar – „Das eine • ist Mama, das andere ist Mutter“.Über Personen der Herkunftsfamilie wird kein • böses Wort verloren, deren Verhaltensweisen werden erklärt.Es herrscht ein offener Umgang damit, dass es • eine Herkunftsfamilie gibt, die sich möglicher-weise meldet oder schreibt. Die Pflegeeltern sind auf das Thema vorbereitet und können das Pflegekind im Umgang mit möglichen Loyalitäts-konflikten unterstützen.Es gibt selbstwertschonende Möglichkeiten der • Abgrenzung für das Pflegekind.

An Problemlagen, denen ein kompetenter Pflege-kinderdienst begegnen sollte:

Unklarheit über den weiteren Lebensmittelpunkt • und die weiterführende Perspektive.Selbstwertbelastung beispielsweise durch • Schuldzuweisungen.Sorge, ob die Pflegeeltern das Pflegekind • „behalten“ werden.Umgang mit sehr unterschiedlichen Familien-• kulturen.Angst, sich möglicherweise für die eine oder • andere Familie entscheiden zu müssen. Mögliche Bedrängung zur Rückkehr in die • Herkunftsfamilie.

Page 26: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

24

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Belastungen in der eigenen Gefühlswelt (z. B. • „Enttäusche ich die eine oder andere Seite? Habe ich Verantwortung für meine Herkunftsfamilie?“).Fragen danach, wer „die Wahrheit“ • hinsichtlich des eigenen Lebens sagt(frühe Biografie, Kindheit).

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Grundlegend für eine professionelle Arbeit, die den be-schriebenen Problemlagen gerecht wird beziehungs-weise Ressourcen eröffnen kann, ist es zu berücksichti-gen, dass Unsicherheiten im Leben eines Pflegekindes immer wieder auftauchen und alte Narben erneut auf-brechen können. Vor allem Übergänge – neben dem Wechsel in die Pflegefamilie auch beispielsweise bio-grafische Übergänge wie der Schulwechsel oder die Pubertät – sind Punkte in der Biografie, an dem dies wahrscheinlicher wird. Dies muss seitens der Profes-sionellen berücksichtigt werden.8 Wie ausführlich dargestellt, sind die Loyalitätskonflik-te der Pflegekinder häufig mit der Sorge verbunden, die eine oder andere Familie zu enttäuschen, Gefühle zu verletzen oder auch Verantwortungen nicht nach-zukommen. Eine Sensibilität der professionellen Kraft für dieses Thema ist hier von großer Bedeutung. Die aus dem Leben zwischen zwei Familien möglicher-weise entstehenden Belastungen und Verquickungen zeigen sich besonders in solchen Pflegeverhältnis-sen, die durch ein hohes Maß an Beziehungsinvolvie-rung geprägt sind. Hierzu gehören Verwandtenpflege-verhältnisse oder auch Pflegeverhältnisse innerhalb des sozialen Netzwerks, etwa im Freundeskreis der Herkunftseltern. Auch diese Situation erfordert eine besondere Aufmerksamkeit seitens der beteilig-ten Professionellen. Für den Umgang mit möglichen Loyalitätskonflikten ist die Haltung gegenüber dem Herkunftssystem ein zentraler Punkt. Grundsätzlich sollte es keine urteilende Haltung der Professionel-len gegenüber der Herkunftsfamilie geben. Daher ist die Trennung von Handlung und Person erforderlich. Dazu gehört eine wertschätzende Haltung gegen-über der Herkunftsfamilie und eine für das Kind un-missverständliche Ablehnung gegenüber Verfehlun-gen und groben Verstößen in der Herkunftsfamilie (zum Beispiel Gewalt und Misshandlung).

8 Vgl. hierzu auch Kapitel 4 Herkunft und Biografie

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Unsicherheit ist ein Thema, das alle am Pflege-verhältnis beteiligten Personen beschäftigt. Es

ist Ziel und Aufgabe der professionellen Arbeit des Pflegekinderdienstes, hier eine weitestgehende Si-cherheit, Beruhigung und Stabilität herzustellen. Um dieses Ziel und einen konstruktiven Umgang mit mög-lichen Unsicherheiten zu erreichen, müssen Ressour-cen im Pflegekinderdienst etabliert und dem Pflege-kind zugänglich gemacht werden. Das bedeutet:

Der Fachberater ist klar benannter Ansprech-• partner, der dem Kind, genau wie den anderen Beteiligten, Gesprächsangebote macht und hier die bestehenden Unsicherheiten themati-siert. Hierzu gehört auch, dass der Fachberater Unsicherheiten, die er bei den Pflegeeltern und dem Pflegekind wahrnimmt (beispielsweise der Eindruck, dass das Kind trotz klarer Perspektive unsicher zu sein scheint, ob es in der Pflege-familie verbleiben kann), verbalisiert und in der Beratungsarbeit aufgreift. Das Kind bekommt die Möglichkeit, seine • Unsicherheit immer wieder auszusprechen (auch dort, wo sie „unvernünftig“ erscheint). Das Gefühl wird respektiert und eine ehrliche Einschätzung gegeben.Es existieren Möglichkeiten des Austauschs für • Pflegekinder untereinander sowie für die Pflege-eltern. Entsprechende Gruppen sind zu etablieren beziehungsweise die Pflegefamilie ist bei der Anbindung zu unterstützen. Es gibt eine besondere Sensibilität für das Thema • zum Zeitpunkt von Übergängen im Leben des Pflegekindes, also etwa beim Wechsel der Schule oder im Übergang in die Pubertät. Der Fachbera-ter muss zu diesen Zeitpunkten der Pflegefamilie und dem Pflegekind die zugehörigen Angeboten verstärkt nahebringen.

Page 27: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

25

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Auch das Erleben von Unklarheit wurde durch das Material ausführlich dargestellt. Es ist zen-

trale Aufgabe und Ziel des Pflegekinderdienstes, für das Pflegekind und alle am Pflegeverhältnis Beteilig-ten eine weitestgehende Klarheit herzustellen. Hierzu gehört Klarheit in der Begründung des Pflegeverhält-nisses, in der Perspektive, in den Rollen und Funktio-nen der beteiligten Personen sowie in möglicherweise widersprüchlichen Aussagen der Beteiligten.

Hierzu ist erforderlich, dass der Fachberater alle • beteiligten Personen von Beginn an offen und ehrlich über die jeweils aktuelle Perspektive des Pflegeverhältnisses informiert. Die Pflegekinder sind möglichst früh, altersge-• recht und umfassend zu informieren. Der Fach-berater sollte hierfür auch Einzelkontakte mit dem Pflegekind wahrnehmen. Die Bewahrung und Vermittlung von Informatio-• nen zum Aufnahmegrund, zur Herkunftsfamilie und zum weiteren Verlauf des Pflegeverhältnis-ses sind Aufgabe des Fachberaters. 9

Der Fachberater muss versuchen, Rollenklarheit • herzustellen. Hierzu gehören Absprachen mit den Beteiligten darüber: „Wer ist wer?“ und „Wer übernimmt im Pflegeverhältnis welche Funk-tion?“ Entsprechend der Phase des jeweiligen Pflegeverhältnisses ist zu klären, ob und welche Aufgaben Herkunftseltern übernehmen können. Bei Fragen wie: „Wer sagt die Wahrheit?“ muss • der Fachberater immer berücksichtigen, dass beide Seiten (z.B. Herkunftseltern und Pflege-eltern) subjektive Wahrnehmungen haben. Seine Aufgabe ist es, diese Differenzen mit den betei-ligten Erwachsenen zu kommunizieren und dem Pflegekind altersangemessen zu vermitteln.

9 Vgl. hierzu auch Kapitel 4 Herkunft und Biografie und die dorti-gen Ausführungen zur Biografiearbeit.

Um für das Pflegekind einen hilfreichen Um-gang mit der komplexen Situation „zwei Famili-

en“ und mit Loyalitätskonflikten zu finden, braucht es Sensibilität für das Thema durch die beteiligten Er-wachsenen. Der Fachberater muss die Relevanz des Themas gegenüber Pflege- und Herkunftseltern von Beginn an und fortlaufend kommunizieren. Zur kon-kreten Umsetzung muss folgendes gewährleistet sein:

Die Pflegeeltern müssen bereits im Vorfeld einer • Pflegeelternschaft auf dieses Thema und mög-liche Aufgaben vorbereitet werden. In den ent-sprechenden Kursen sind Pflegeelternbewerber darauf vorzubereiten, dass zu einem Pflegekind immer auch eine weitere Familie gehört, mit der es Kontakt gibt oder geben kann, die eigene Bedürfnisse hat oder über die das Kind Informa-tionen haben möchte. Die weitere Sensibilisierung der Pflege- und • Herkunftseltern zum Thema Loyalitätskonflikte ist entscheidend und Aufgabe des Fachberaters. Hierzu benötigt es in der Anbahnung des Pflege-verhältnisses mindestens zwei getrennte Termine mit den jeweiligen Familien sowie einen gemein-samen Termin.

Eine Sensibilität für die möglichen Konflikt- und Problemlagen im beschriebenen Themenfeld ist

auch eng verbunden mit der Haltung gegenüber dem Herkunftssystem. Das Ziel sind eine wertschätzende Haltung (auch der Pflegeeltern) gegenüber den Perso-nen der Herkunftsfamilie und einordnende Aussagen zum Geschehen.

Es ist Aufgabe des Fachberaters, beide Aspekte • zu verbalisieren und im Kontakt mit der Pflege-familie diese getrennt voneinander zu betrachten. Den Pflegeeltern muss im Vier-Augen-Kontakt die Möglichkeit gegeben werden, über ihre Sor-gen bezüglich des Themas zusprechen. Der Fachberater muss dem Kind altersgerech-• te Angebote zu Erklärung und Einordnung des Geschehens in der Herkunftsfamilie (wie z.B. Misshandlung, Vernachlässigung, psychische Krankheit) machen.

Page 28: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

26

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Sensibilität für das Thema aufzubringen, be-deutet auch, den Pflegekindern die klare Er-

laubnis zu geben, sowohl in die Richtung der einen als auch der anderen Familie interagieren zu dürfen und so einen möglichen Umgang mit Loyalitätskonflikten zu finden. Die Pflegeeltern sollten dem Pflegekind die „offizielle“ Erlaubnis erteilen, dass es seine leiblichen Eltern sprechen, treffen und gern haben darf. Auch um die Erlaubnis der leiblichen Familie oder einer anderen abgebenden Stelle (beispielsweise einer Bereitschafts-pflegefamilie) für ein Leben in der Pflegefamilie sollte geworben werden. Um diese schwierige Aufgabe erfül-len zu können, dürfen die Beteiligten, also Herkunfts-eltern, Pflegeeltern oder andere abgebende Stellen, nicht alleine gelassen werden, sondern müssen vom Fachberater unterstützt und beraten werden.

Pflegeeltern sind bei dieser schwierigen Aufgabe • durch Einzelgespräche sowie die Anbindung an Pflegeelternnetzwerke zu unterstützen. Herkunftseltern oder andere abgebende Stellen • sind durch den Fachberater auf den Wechsel des Kindes vorzubereiten, hierbei sollte die Erlaubnis eingeworben werden. Die bereits benannten Ein-zeltermine sowie der gemeinsame Termin sind hierfür zu nutzen. Ist es nicht möglich, dass das Pflegekind die • Zustimmung zum Leben in der Pflegefamilie bekommt, muss durch den Fachberater oder eine andere Person (z. B. eine für das Kind bedeut-same Person aus dem sozialen Umfeld oder der erweiterten Familie) die Erlaubnis erteilt werden.

Voraussetzung für die Übernahme dieser und weiterer Funktionen ist eine Vertrauensbezie-

hung zwischen Fachberater und Kind. Damit sie ent-stehen kann, ist ein regelmäßiger Kontakt unverzicht-bar. Auch bei den folgenden Themenfeldern wird dies immer wieder deutlich.

Page 29: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

27

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

4 Herkunft und Biografi e

Das Thema Herkunft und Biografie beschäftigt das Pflegekinderwesen seit Jahren sehr. Hintergrund ist eine kontroverse Debatte, die sich in den beiden Kon-zepten von Pflegefamilie als Ersatzfamilie oder als Ergänzungsfamilie niederschlug.1 Auch die Arbeit der Pflegekinderdienste war über lange Zeit durch die Zuordnung zum einen oder anderen Konzept geprägt und hatte daher eine gänzlich unterschiedliche Praxis manchmal benachbarter Pflegekinderdienste zur Fol-ge.2 Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass ein in-dividuellerer Umgang mit dem Thema sinnvoller ist. So gehen Gehres und Hildenbrand (2008) davon aus, dass Pflegefamilien im tatsächlichen Leben nie vollständig Ergänzungs- oder Ersatzfamilie sind, sondern sich zwischen beiden Polen befinden. Sie betrachten es als ideal, wenn die Pflegefamilie es schafft, zwischen bei-den Polen zu wechseln und so den Bedürfnissen des Kindes gerecht werden.3 Die Auseinandersetzung mit dem Herkunftssystem ist aber nicht nur ein Thema, welches die Professio-nellen insbesondere hinsichtlich der Identitätsfindung von Pflegekindern und der damit unabdingbar verbun-denen Suche nach den eigenen Wurzeln beschäftigt, sondern was auch in der Erinnerung der ehemaligen Pflegekinder einen großen Stellenwert einnimmt. Da-bei fällt auf, dass die eigene Herkunft unterschiedlich wichtig ist, abhängig von der aktuellen Lebenssituation oder Lebensphase. Gleichwohl gibt es nahezu kein In-terview, in dem das Thema nicht berührt wird. Zentraler Kristallisationspunkt ist immer wieder das Thema der Besuchskontakte, das im nächsten Kapitel daher gesondert und ausführlich betrachtet werden soll. Bedeutsam ist jedoch auch, dass das Thema leib-liche Eltern auch bei Ausbleiben der Kontakte relevant wird und Pflegekinder sich irgendwann mehr oder we-niger bewusst mit der eigenen Herkunft auseinander-setzen.

1 Vgl. zur vergleichenden Darstellung beider Konzepte Sauer (2008), S. 22 ff.

2 Vgl. Wolf (2008)3 Vgl. Gehres, Hildenbrand (2008)

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und UmgangsstrategienUm das Thema in seiner breiten Vielfalt darzustellen, wird die unterschiedliche Kontakthäufigkeit bzw. Re-gelmäßigkeit der Kontakte mit dem Herkunftssystem vorgestellt. Hierbei lassen sich grob drei verschiede-ne Gruppen – kein Kontakt, unregelmäßiger Kontakt, einigermaßen regelmäßiger Kontakt – identifizieren. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es sich um ein sehr vielfältiges Thema handelt und die Unterteilung in Gruppen vor allem der übersichtlicheren Darstellung des Themas dienen soll. Innerhalb der drei Gruppen werden nacheinander mögliche Belastungen, Um-gangsstrategien, aber auch Ressourcen für die Pflege-kinder herausgearbeitet. Zudem wird die Verbindung zum Thema Biografie bzw. Biografiearbeit hergestellt.

Keinen Kontakt mit (Teilen) der Herkunftsfamilie:Die Zahl der Gesprächspartner, die nie in irgendeiner Form Kontakt zu beiden leiblichen Eltern hatten, ist nicht besonders groß.Häufiger ist die Konstellation, in der zumindest ein leibliches Elternteil bekannt ist oder sogar Kontakt be-standen hat. Meist ist dies die leibliche Mutter. Dass kein Kontakt zu einem Elternteil besteht und dieser nicht bekannt ist, wird in einigen Interviews als normal beschrieben. Häufig wird hier zusätzlich das fehlende eigene Interesse betont. So berichtet Niklas, dass er nie Kontakt zu seinem leiblichen Vater gehabt hat und dies auch nicht in seinem Interesse liegt:

Wobei ich auch sagen muss, für mich ist Vater ein-

deutig der, den ich jetzt habe. Da ist nie irgendwie

ein anderes Gefühl aufgekommen oder so. Hier

und da hab ich Dinge gehört oder so, aber das hat mir auch

schon völlig gereicht um festzustellen, dass da kein Interes-

se vorhanden ist. Für mich ist das einfach ein quasi bemitlei-

denswerter Mann, ist halt so. Er müsste jetzt, sage ich mal,

zwanzig Jahre Unterhalt nachzahlen. Deswegen ist er immer

noch nicht aufgetaucht, aber möchte ich auch gar nicht, inte-

ressiert mich auch wirklich nicht. Das ist für mich ein frem-

der Mensch, fremder als du jetzt. Hab ja nie mit ihm gespro-

chen.

Am Beispiel von Niklas zeigen sich zwei weitere Punk-te, die in dieser Gruppe häufig zu finden sind. Zum ei-

Page 30: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

28

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

nen die Sichtweise, dass es sich bei der Pflegefamilie um die „tatsächliche Familie“ handelt und die Pflege-eltern die „tatsächlichen Eltern“ sind. Zum anderen die Distanzierung von potentielle Kontakt mit (Teilen) der Herkunftsfamilie als mögliche Umgangsstrategie sowie auch die Betonung der geringen Bedeutsamkeit, die diese hat. Gleichwohl kann die Gleichgültigkeit und die Betonung der geringen Bedeutsamkeit immer auch ein Umgang mit Verletzungen sein. Professionel-le sollten hier versuchen, mögliche Doppelbotschaften zu entschlüsseln. Julia beschreibt, dass sie zunächst unglücklich darü-ber war, dass sie nie erfahren hat, wer ihr leiblicher Vater ist und auch durch die leibliche Mutter keine In-formationen bekommen konnte. Durch die Betonung der positiven Zeit in der Pflegefamilie distanziert sie sich aber auch wieder von diesem Gefühl:

Ich habe zum Beispiel nie erfahren, wer mein leib-

licher Vater war. Ich habe sie danach gefragt, im

Brief und auch per Telefon. Ja, man muss einfach

dazu sagen, meine leibliche Mutter ist eine sehr schlichte

Person – sage ich mal – also auch vom Intelligenzquotienten

stufe ich die halt sehr niedrig einfach ein, weil sie konnte mir

darauf auch keine Antwort geben. Also sie sagte dann mal,

es war ein Italiener, dann war es ein Türke, dann war es ein

Pole, dann war es ein Deutscher. Und ich glaube nicht, dass

sie das so zusammen bekommt, wer das war. Was ich natür-

lich dann irgendwo auch sehr schade fand, weil ich dachte,

das wäre ja schon schön, die andere Hälfte irgendwo auch

mal kennenzulernen. Und heute denke ich mir: „Ich brauche

das eigentlich gar nicht mehr.“ Heute finde ich das gar nicht

wichtig. Ich finde heute wichtig, dass ich Eltern habe, die

mich ein Leben lang unterstützt haben.

Bedeutsam ist, dass das Thema leibliche Eltern auch bei Ausbleiben der Kontakte meist relevant wird, die Pflegekinder sich trotz eines Ausbleibens oder einer Ablehnung des Kontakts irgendwann mehr oder weni-ger bewusst mit der eigenen Herkunft und den leib-lichen Eltern auseinandersetzen. Fehlendes Wissen über die leiblichen Eltern sorgt hier nicht selten da-für, dass die Pflegekinder sich in ihrer Phantasie mit den leiblichen Eltern beschäftigen, was in vielen Fällen eine Belastung sein kann. So beschreibt beispielsweise Melanie, wie sie immer wieder die Phantasie hatte, der leibliche Vater sei eine besonders wichtige und liebevolle Person. Dass er psychisch erkrankt ist, wusste sie nicht:

Mein Vater, der hat ja dann die Vaterschaft ganz

spät anerkannt und hat auch kein Sorgerecht. Das

war halt für mich eigentlich irgendwie immer so

eine Hoffnung, dass der es irgendwie besser macht als mei-

ne Mutter. Dass ich ihn irgendwann kennenlernen möchte.

Dass der dann toll ist und nicht doof ist so und ja. Aber ir-

gendwie war es halt nicht so und ich habe auch eigentlich

keinen Kontakt gehabt in der Zeit. Erst wirklich mit 18 wurde

mir das bewusst, als ich nach Bildern gefragt habe. Da habe

ich auch erst erfahren, dass der krank ist. Also für mich war

das immer so: „Ja, das ist bestimmt noch jemand, der ist

ganz nett so.“ Wie man halt als Kind so denkt.

Hannes, dessen leibliche Mutter bereits verstorben ist, beschreibt im Verlauf des Interviews, dass er keinen Kontakt zu ihr haben wollte und eine eher negative Meinung über sie hatte. Gleichzeitig wird aber die Be-lastung in Form von Enttäuschung darüber erkennbar, nun keine Möglichkeit mehr zu haben, an Informati-onen zu kommen. Als Umgangsstrategie versucht er, sich nachträglich selber das Verhalten und die Lebens-situation seiner leiblichen Mutter in der Vergangenheit zu erklären:

Dass meine Eltern eine mehr als negative Einstel-

lung zu meiner leiblichen Mutter hatten, ist glaube

ich verständlich aus dem Kontext heraus. Aber

dass ich diese Meinung dann natürlich auch annehme, denke

ich, ist relativ natürlich. Meine Schwester [Pflegeschwester

Anmerkung J.P.] hat ja eigentlich auch dieselbe Meinung

vertreten. Und dass sie mir nicht gut getan hätte. Und der

Meinung bin ich auch. Ich finde, dass ich jetzt einfach nicht

die Möglichkeit habe, mit ihr über diese ganze Sache zu

sprechen. Um viele offene Fragen vielleicht auch einfach zu

klären. Vielleicht war sie, ich meine, ich weiß gar nicht, wann

sie geboren wurde. 1958 beziehungsweise 1959. Ich bin 81

zur Welt gekommen. Wenn ich mir überlege, als ich in dem

Alter von 22 war. Mit einem Kind auf einmal da zu stehen.

Wäre mir auch ein bisschen too much gewesen.

Für Julia, die den direkten persönlichen Kontakt mit der leiblichen Mutter immer abgelehnt hat und den leiblichen Vater nicht kennt, sind es die Fragen nach der körperlichen Ähnlichkeit beziehungsweise das Wissen, dass sie bei eigenen Kindern keine verwandt-schaftlichen Ähnlichkeiten zu ihren Pflegeeltern finden wird, die sie sehr beschäftigen und belasten:

Page 31: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

29

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Klar, was mich schon beschäftigt und auch immer

beschäftigen wird, ist, wenn ich mal irgendwann

Kinder habe, dass die eben keine Ähnlichkeit ha-

ben. Und dann meine Eltern, die meine Pflegeeltern sind,

dass ich da nie sagen kann: „Ah, ist ja von Opa Fritz“ oder so.

Also, ich denke das ist schon was, was mich dann, wenn ich

irgendwann mal die ersten Kinder habe noch mal sehr tief in

den Keller ziehen wird. Weil meine Geschwister sagen kön-

nen: „Ach guck mal. Wie der Onkel“ und das werde ich halt

nie sagen können und ich denke schon, dass mich das noch

mal so ein Stückchen runter ziehen wird, ich aber auch weiß,

dass das nicht alles im Leben ist.

Unregelmäßiger Kontakt Viele der Interviewpartner berichten von unregelmäßi-gen Kontakten mit den leiblichen Eltern während des gesamten Verlaufs des Pflegeverhältnisses. Hier vari-ieren nicht nur die Häufigkeiten und der Zeitpunkt der Kontakte, sondern auch der Umgang mit dieser Situ-ation. So beschreiben einige der ehemaligen Pflegekinder, dass das nur unregelmäßige Auftauchen der leiblichen Eltern zunächst mit Enttäuschung und Traurigkeit ver-bunden war. Hier ist häufig der Beginn des Pflegever-hältnisses der Zeitpunkt, über den berichtet wird. Im Interview mit Chris findet sich die Beschreibung der Situation, wie er auf den Besuch der leiblichen Mutter gewartet hat:

War schon nicht so toll. Um zehn vor zwei am

Fenster. Also ein großes Wohnzimmerfenster mit

Blick auf die Hauptstraße. Und wenn sie nach ei-

ner Stunde nicht kam, hat meine Mutter meistens gesagt,

meine Pflegemutter meistens gesagt so: „Ja, sie kommt eh

nicht mehr“ und ich habe dann da gestanden. Gestanden.

Natürlich wirst du von Stunde zu Stunde immer enttäuschter

und das tut auch weh. Aber ich habe halt die Hoffnung meist

nicht aufgegeben, dass sie irgendwann um vier, fünf Uhr

nachmittags noch kommt. Dann hatte ich zwei, vier Stunden

da gestanden. Und ich habe später mal gemerkt, ich habe

den gleichen bedepperten Blick dabei drauf gehabt, wie mein

Hund. Ich war enttäuscht drei, vier Tage lang und dann war

es einfach gegessen.

Viele der ehemaligen Pflegkinder haben in diesem Kontext Erklärungen entwickelt, um für sich das Fern-bleiben der Eltern rechtfertigen und erklären zu kön-nen und so mit der Enttäuschung umgehen zu können. So heißt es etwa im Interview mit Chris weiter:

Ich wusste, dass sie Taxifahrerin ist. Das ist an-

sonsten auch eine gute Ausrede vielleicht als Kind.

So: „Meine Mama ist Busfahrerin. Vielleicht hat sie

gerade keine Zeit.“

Nicht selten kommt es nach dem wiederholten Aus-bleiben der Besuchskontakte dazu, dass sich die Pfle-gekinder mit dem Fernbleiben der Eltern abfinden.Im Interview mit Nils zeigt sich der prozesshafte Cha-rakter dieser Auseinandersetzung. Zunächst ist er vom Ausbleiben der Besuchskontakte enttäuscht, später arrangiert er sich mit dieser Situation:

Also wo es noch regelmäßig war, habe ich mich

natürlich auch gefreut. Ich wusste, das war der

normale Wochenablauf. Einmal in der Woche kam

meine Mutter und wo es dann immer nur noch seltener wur-

de, wo sie nicht mehr regelmäßig kam, kamen dann so halt

als erstes Zweifel auf: „Warum kommt die denn nicht?“ Ist

man natürlich traurig, fragt dann die Pflegemutter: „Warum

kommt sie nicht?“ Und dann, ich kann mich da nicht mehr

dran erinnern, was sie gesagt hat. Aber ich denk mal, dass

sie dann gesagt, dass sie krank ist: „Sie kann nicht. Mutter

ist schwer krank und deswegen kann sie nicht kommen. Aber

sie wird auf jeden Fall wieder kommen.“ Danach kam sie ja

irgendwann gar nicht mehr wieder. Da kann ich mich jetzt

aber auch nur noch an Bruchteile erinnern, dass es dann

eben halt so war, dass ich dann irgendwie auch erstmal für

eine kurze Zeit richtig runter war. Also richtig eine tiefe Pha-

se für mich hatte, seelisch. Meine Mutter [die Pflegemutter

Anmerkung J.P.] hat dann versucht, mich aufzubauen. Hat

sich mit mir anders beschäftigt, hat meine Schwester hinzu-

gezogen. Ja, dann waren wir spielen und haben das und dies

gemacht, hier rumgewuselt, da rumgewuselt. Und irgend-

wann in den Jahren, wenn man dann die Mutter dann als

richtige Bindungsperson ansieht, man vergisst ganz man

vergisst die andere Mutter.

Weiter beschreibt Nils, wie er nicht mehr an die leib-liche Mutter gedacht hat und in der Pflegemutter eine neue Bezugsperson gefunden hat, sich aber dennoch immer wieder damit konfrontiert sah, dass es auch die leibliche Mutter gibt:

Sie ist wahrscheinlich im Unbewussten noch drin.

Aber man vergisst sie, wenn die Beziehung zu der

Mutter so gut ist, wie ich sie hatte. Dann denkt

man echt: „Ach, das ist meine Mutter. Warum soll ich noch an

die andere denken?“ Also würde ich jetzt mal sagen, das wird

Page 32: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

30

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

bestimmt dann im Unbewussten dann so ablaufen. Warum

sollte ich dann noch an meine andere Mutter denken, wenn

ich weiß, dass ich es hier besser habe. Das ist meine leibli-

che Mutter. Man sieht sie auch wirklich total auch als leibli-

che Mutter an. Bis man halt dann eben, wenn man älter ist,

damit konfrontiert wird, dass man halt weiß, dass das eine

Pflegemutter ist.

Einige Gesprächspartner beschreiben die Kontakte zu den leiblichen Eltern als recht unspektakulär und un-persönlich. Hier wird häufig betont, dass die Beziehung zu den leiblichen Eltern nicht mehr möglich sei. So berichtet Steffi:

Mal brach der Kontakt ab, mal kam er wieder. Also

früher hat mir das überhaupt nichts irgendwie, das

war mir, ganz ehrlich, das war mir egal. Weil ich

hatte nie so einen Kontakt wie Mutter und Kind, das gab es

nie und wird es auch nicht geben, weil dafür, ich weiß nicht,

bin ich nicht in der Lage. Sie vielleicht schon, aber ich will

das einfach nicht. So ist das. Also ich leg jetzt auch keinen

Wert darauf, dass ich jetzt jedes Wochenende oder so dahin

gehe oder wir viel unternehmen oder so. Die kommt jetzt

einmal die Woche hierhin, ist auch gut, ich gehe da auch mal

zwischendurch hin, aber mehr ist nicht.

In der Phase der Adoleszenz taucht dann häufig doch noch der Wunsch nach Kontakt mit der Herkunftsfa-milie auf, auch wenn es zuvor keinen oder längere Zeit keinen Kontakt gegeben hat. Oftmals sind es Fragen im Zusammenhang mit der eigenen Entwicklung oder nach den eigenen Wurzeln, die die Pflegekinder hier antreiben. So beschreibt Dana, wie sie als Kind keinen Kontakt zum leiblichen Vater haben wollte, ihn dann als Ju-gendliche aber doch kennenlernen möchte:

Ja ich weiß nur, dass wir einen Brief vom Jugend-

amt oder einen Anruf, weiß ich gar nicht mehr ge-

nau, bekamen, dass der Herr Schmidt uns gerne

kennenlernen möchte, aber daraufhin haben wir gesagt:

„Nein, wir nicht“ und dann hat er es dann auch irgendwo

aufgegeben. Dann hat er gesagt: „Ja ok, dann warte ich halt,

ob die Kinder das möchten. Wenn nicht dann nicht, wenn ja

dann ja.“ Und mein Vater ist schon relativ alt. Ich glaub der

wird jetzt dieses Jahr 62 und dann hab ich gedacht vor vier

Jahren ungefähr: „Der wird irgendwann sterben und dann

hast du den nicht kennengelernt.“ Verlieren kann man ja

nichts dabei. Ja und seitdem gibt es eigentlich auch

einen guten Kontakt. Er fand die Entscheidung auch damals

nicht schlimm, als wir gesagt haben: „Nein, wir sind nicht

interessiert.“

Viele dieser später einsetzenden Kontakte werden aber auch nach kürzerer Zeit wieder eingestellt. Häufig ist das der Fall, wenn der Kontakt nicht gut verlaufen ist, oder das Verhalten der leiblichen Eltern als unange-messen beschrieben wird. So berichtet Olivia, dass sie keinerlei Sympathie für ihren Vater empfinden konnte und seine körperliche Anwesenheit ihr unangenehm war:

Und ja also es war auch erstmal das letzte Treffen.

Dann ist er halt mit Mama wieder zusammen ge-

kommen. Und in der Zeit hab ich Mama auch gar

nicht gesehen. Also ich war vielleicht zweimal da, wenn er da

war. Und ich konnte das aber gar nicht haben. Also ich glau-

be, ich hab selten so einen unsympathischen Menschen ge-

sehen. Also, der mir so unsympathisch war. Was vielleicht

natürlich, also davon bin ich überzeugt, dass es auch einfach

Gefühle sind, die da mitspielen. Dass er mir vielleicht nicht

so unsympathisch wäre, wenn ich ihn einfach nur fremd auf

der Straße treffen würde. Aber durch die Sache halt. Dass er

sich solang nicht gemeldet hat und durch die Art, wie er ist

finde ich es ganz unsympathisch.

Was hilfreich war – RessourcenKlar erkennbar ist, dass es für die Kinder und Jugend-lichen, die keinen oder unregelmäßig Kontakt zur Her-kunftsfamilie hatten, hilfreich war, wenn ihnen jemand bei Bedarf Zugang zu Informationen über die eigene Herkunft verschaffen konnte beziehungsweise bei der Einordnung möglicher Phantasien über die eigene Her-kunft behilflich war. Als sehr konstruktiv beschreiben einige Gesprächspartner in diesem Zusammenhang die Kooperation mit ihrem jeweiligen Ansprechpartner im Pflegekinderdienst. Das Interview mit Melanie zeigt diese Aspekte sehr eindrücklich. So beschreibt sie, wie nützlich es war, dass die zustän-dige Fachberaterin ihr Informationen über die psychi-sche Erkrankung des Vaters besorgt hat und somit ihre Ängste beruhigen konnte:

Ja vor allem weil ich dachte: „Toll jetzt hat der so

eine Erkrankung. Ist das genetisch? Kriege ich das

auch? Und hab ich das vielleicht schon? Und kann

ich das weitergeben?“ Wo Frau Schweiger sich aber direkt,

die hatte mir das erzählt und die hatte mir direkt gesagt: „Ja

also ich hab mich auch schlau gemacht, dass das auch eine

Erziehungssache ist und dass das nur ein Prozent der Men-

Page 33: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

31

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

schen bekommt.“ Da bin ich auch ganz froh, dass Frau

Schweiger direkt so mitgedacht hat und gesagt hat: „Also ich

kann sie beruhigen, es ist nicht, dass sie das unbedingt ha-

ben müssten.“ Ja da war ich ganz froh.

Im Interview mit Melanie nimmt aber auch die Arbeit an ihrem Lebensbuch einen sehr großen Stellenwert ein. Sie betont hierbei die Wichtigkeit, die eigenen Wurzeln zu kennen und – mit Hilfe der Fachberaterin – Zugang zu weiteren Punkten der eigenen Herkunft zu bekommen:

Also zu dem Lebensbuch, das ist so entstanden.

Ich bin ungefähr mit anderthalb jetzt in die Pflege-

familie gekommen, in der ich jetzt quasi komplett

groß geworden bin. Und ja ich hatte immer vermisst, dass

jeder in der Klasse oder von den Freundinnen oder so immer

ein Buch hatte „Mein erster Zahn“ und „Mein erster Schritt“

und dann hatte ich das Frau Schweiger erzählt und die hatte

mir gesagt: „Ja dann machen wir doch so was wie ein Le-

bensbuch, was halten sie davon?“ Und es war für mich ei-

gentlich ganz schön, weil ich eigentlich so auf die Reise ge-

hen konnte und auch Leute treffen konnte, denen ich schon

mal begegnet bin. Ich war schon mal in einer Pflegefamilie,

das wusste ich nicht, das ist dann rausgekommen. Und die

haben wir dann auch angeschrieben, die haben dann auch

Fotos mitgegeben und so was. Das war ganz schön auch so

von der leiblichen Familie mehr Leute kennenzulernen. Zu

gucken, wen gibt es da alles. Und ja dann haben wir uns halt

auf die Reise gemacht.

Oft sind es die Pflegeeltern, die neben den eigenen Er-klärungsversuchen der Pflegekinder Begründungen für das Fernbleiben der leiblichen Eltern finden, die Pflegekinder in einer möglichen Enttäuschung trösten oder die Pflegekinder in den Kontaktversuchen unter-stützen und so zu einer wichtigen Ressource werden.4 Auch in der Idee, möglicherweise wieder Kontakt auf-zunehmen, können die Pflegeeltern und Gespräche mit ihnen sehr bedeutsam sein. Haben die Pflegekinder die Möglichkeit zu erfahren, dass die leiblichen Eltern sich verändert haben und ihre Probleme „in den Griff bekommen haben“, wird dies ebenfalls positiv betrachtet. Nicht selten etablie-

4 Die Veröffentlichungen von Jespersen (2011) und Schäfer (2011) geben umfassend Einblick in die Perspektive von Pflege eltern. Zudem wird in der Publikation zum Projekt „Pflegekinderstimme“, Reimer (2011), die Perspektive der Pflegeeltern gesondert berücksichtigt.

ren sich hier Kontakte und werden längerfristig auf-recht erhalten.

So beschreibt Dana die positive Veränderung der psy-chisch labilen Mutter und den heute recht positiven Kontakt:

Und wie gesagt, der wirkliche Kontakt ist ja jetzt er

seit einem Jahr, anderthalb wieder aufrecht. Seit

sie halt diese Therapie gemacht hat und die hat ihr

dann auch sehr, sehr viel geholfen, muss man sagen.

Fühlen die Pflegekinder sich in der Pflegefamilie ver-wurzelt, sicher in der Zugehörigkeit und besteht eine gute Beziehung zu den Pflegeeltern, dann wird die Wiederaufnahme des Kontakts mit der Herkunftsfami-lie für sie gut möglich. Die Gewissheit, den Platz in der Pflegefamilie nicht zu gefährden und die Unterstützung der Pflegeeltern bei der Kontaktaufnahme zu haben, ermöglichte einigen Interviewpartnern die Kontaktauf-nahme als junge Erwachsene. So beschreibt Leyla:

„Und als ich meinen richtigen Vater das erste Mal

gesehen hab, als ich angekommen bin, bei denen

zu Hause war und meine Sachen abgelegt hatte,

das Erste was ich gemacht hab ist meine Mama, also meine

Adoptivmutter, angerufen. Ich musste als Erstes meine

Mama anrufen, der das erzählen, das war mit wichtiger als

alles andere, das war mir wichtiger

als jetzt die anderen Menschen erst kennen zu lernen, ich

musste erst meine Mama anrufen und sagen „ich bin gut an-

gekommen ich hab mein Papa gesehen der sieht genauso

aus wie ich.“ Ja.

Weitestgehend regelmäßiger Kontakt Dass Kontakt zu den leiblichen Eltern relativ regelmä-ßig über den gesamten Verlauf des Pflegeverhältnisses besteht, finden wir in einigen Interviews. Die Bewer-tung dieser Art des Kontakts variiert und auch die Aus-wirkungen auf die Pflegekinder unterscheiden sich. Es fällt auf, dass in Netzwerkpflegeverhältnissen und auch in Verwandtenpflege häufiger durchgängi-ger Kontakt mit der Herkunftsfamilie stattfindet. Ist die Perspektive für das Pflegekind dabei nicht klar, kann diese Konstellation zur Belastung werden. So beschreibt Nala, die eine gewisse Zeit bei Bekannten ihrer leiblichen Eltern aufwächst, wie sie durchgängig Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hatte:

Page 34: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

32

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Also, ich kann mich erinnern, dass dann halt an

den Wochenenden halt, also ich meine, dass ist ja

klar, dass ein Kind traurig ist, wenn es am Wo-

chenende halt von der Mutter wieder in die Pflegefamilie

kommt. Aber ist halt so die Frage, wie man als Mutter damit

umgeht. Sag ich mal. Man kann entweder das Kind bestär-

ken und sagen: „Ja, ich bin auch ganz traurig.“ Oder man

kann jetzt sagen: „Ja, okay, wir sehen uns dann nächstes

Wochenende wieder.“ Und irgendwann fing das an, dass mei-

ne Mutter da halt so wie soll ich sagen? Also das Quengelige

von mir so ein bisschen unterstützt hat. Und das halt so ein

bisschen aufgebauscht hat. Und ja dann halt anfing so: „Ja,

wäre ja schon schön, wenn du wieder hier wärst.“

Im Zitat mit Nala zeigt sich, dass es eine Unklarheit darüber gab, wo sie hingehörte beziehungsweise wo ihr aktueller Lebensmittelpunkt war. Es wird deutlich, dass sie mit dieser schwierigen Situation allein war und von der leiblichen Mutter nicht das erwünschte Verhalten gezeigt wurde, sondern diese ihre Verunsi-cherung noch unterstützt hat5.

Was hilfreich war – Ressourcen Das Interview mit Niklas ist eines der wenigen, in dem sich die Beschreibung eines durchgängigen und stressfreien Kontaktes finden lässt. Es wird im Verlauf des Interviews sehr deutlich, dass für Niklas der Ver-bleib in der Pflegefamilie und die weitere Perspektive gesichert waren. Die Beteiligten waren sich hierüber alle einig, auch für die leibliche Mutter war der Verbleib des Sohnes in der Pflegefamilie klar und der Kontakt konnte auf dieser Basis recht entspannt stattfinden:

„Der Kontakt war von Anfang an da. Das heißt also

ich kann ja erst berichten, seit ich drei bin und

dann war es halt immer so im drei Wochen Takt,

dann vier, später wurden es dann sechs. Also sie kommt

dann vorbei so am Wochenende zum Beispiel. An einem

Samstag kommt sie dann vorbei. Dann bringt die irgendwel-

che Teilchen mit und dann wird Kuchen gegessen oder Kaf-

fee getrunken, dann wird ganz normal gefragt: „Und wie wa-

ren die Wochen?“ und schieß mich tot. „Wie ist es gewesen?“,

dass sie dann halt immer einen Eindruck davon gehabt hat,

wie ich mich entwickle oder so, was weiß ich. Einfach Zeit

verbringen mit dem Kind schätze ich mal

5 Vgl. hierzu auch Kapitel 3 zum Thema „Zwischen zwei Familien“

Wenn wir also die Auseinandersetzung der Pflegekin-der mit ihrer Herkunft und die potenziellen Kontakt-häufigkeiten betrachten, dann finden wir an positiven Merkmalen, die es durch professionelle Arbeit mög-lichst zu gewährleisten gilt:

Zugang zu Informationen über die Herkunfts-• familieZugang zu ergänzenden Informationen, • die hilfreich für das Verstehen der eigenen Herkunft sein können (z.B. über psychische Erkrankungen, kulturelle Hintergründe, körper-liche Erkrankungen etc.) Unterstützung, wenn für das Pflegekind der • richtige Zeitpunkt zur Auseinandersetzung mit der Herkunft da ist Erklärung angeboten bekommen, warum kein • Kontakt stattfindetErnstnehmen des Wunsches nach Ausbleiben • oder Wiederbelebung des Kontaktes Klarheit über die Perspektive in der Pflegefamilie•

An Belastungen, denen ein kompetenter Pflegekinder-dienst begegnen muss, zeigen sich:

Belastende Phantasien über die eigene Herkunft• Sorgen über mögliche Vererbungen von z.B. • psychischen ErkrankungenFehlende körperliche Ähnlichkeit mit jemandem• Belastung, weil ggf. keine Möglichkeit mehr • besteht, leibliche Eltern noch kennenzulernen Enttäuschung über Fernbleiben der leiblichen • ElternBelastende Umgangsstrategien, wie Verdrängung•

Page 35: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

33

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Grundsätzlich ist die eigene Biografie in all ihren Fa-cetten und mit allen Aspekten, die dazu gehören, ein hohes Gut. Es ist Aufgabe des Fachberaters, die Bio-grafie des Pflegekindes im Blick zu behalten und auf das Thema Herkunft immer wieder einzugehen. So wird dem Pflegekind die Möglichkeit gegeben, das The-ma aufgreifen zu können, wenn es von ihm selbst als passend erlebt wird. Dabei geht es nicht zwingend um den tatsächlichen Kontakt, vielmehr muss zwischen tatsächlichem Umgang mit dem Herkunftssystem und Aufklärung über die Herkunft unterschieden werden. Die Aufklärung des Pflegekindes über die eigene Her-kunft und das Gewährleisten einer Möglichkeit sich dazu äußern zu können, sind Aufgaben des Fachbera-ters. Dass das Thema Herkunft des Pflegekindes für die Pflegeeltern ein mit Sorgen und Ängsten verbun-denes Thema ist, muss der Fachberater ebenfalls in seiner Arbeit berücksichtigen. Er muss das Thema Herkunft von Beginn des Pflegeverhältnisses bzw. der Vorbereitung potentieller Pflegeeltern bis in die Hilfe-planung tragen.

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Der Fachberater muss das Thema Herkunft im-mer im Blick haben und sehen, ob es für das

Pflegekind oder die Pflegeeltern möglicherweise gera-de bedeutsam ist, also beispielsweise Fragen in diese Richtung auftauchen. Er muss hierfür gesprächsträch-tige Situationen arrangieren und Angebote für Biogra-fiearbeit machen.

Der Fachberater fungiert hier als eine Art Über-• setzer. Er gibt dem Pflegekind die Möglichkeit, sich (auch im Vier-Augen-Kontakt) zum Thema Herkunft zu äußern, er übersetzt aber auch die Position der Pflegeeltern. Ziel ist es, dass das Thema Herkunft – mit allem Für und Wider – zwischen Pflegeeltern und Pflegekind kommuni-ziert werden kann.Die Pflegeeltern erhalten Informationen über • Netzwerke und Austauschmöglichkeiten mit an-deren Pflegeeltern, um dort die Möglichkeit der Anbindung und des Gesprächs zu haben.

Wie aus den Interviews deutlich wurde, ist das Thema der Herkunft und der eigenen Biografie

zu unterschiedlichen Zeitpunkten für das Pflegekind relevant. Biografiearbeit ist daher ein Schwerpunkt in der Betreuung eines Pflegeverhältnisses. Das heißt konkret:

Es liegt in der Verantwortung des Fachberaters, • dass dem Pflegekind sein Status („Ich bin Pflege-kind“) bekannt ist oder bekannt gemacht wird.Der Zeitpunkt für Biografiearbeit ist individuell • für den jeweiligen Einzelfall zu bestimmen.Der Fachberater klärt: „Wer macht mit wem • wann was?“ (Z.B. können auch andere Instituti-onen wie Kindergarten, Heimeinrichtungen etc. bedeutsam sein).Die Pflegeeltern müssen von Anfang an befähigt • werden, die Biografie des Pflegekindes mit zu pflegen. Dazu brauchen sie entsprechende Infor-mationen und Motivation durch den Fachberater. Hierfür müssen geeignete Angebote vorgehalten werden. Das bedeutet, Angebote in der Vorbe-reitung auf ein Pflege verhältnis genauso wie im laufenden Pflege verhältnis, beispielsweise in Form von Fortbildungsveranstaltungen.Der Fachberater muss Raum und Zeit für Biogra-• fiearbeit haben und die Möglichkeit und Bereit-schaft zur Fortbildung mitbringen. Er braucht Kenntnisse über Arbeitsmaterialien wie Lebens-buch, Familienwappen, Fotos von Lebensorten (als Alternative zu Bildern von Personen) etc. Der Fachberater muss die Grenzen seiner • Möglichkeiten erkennen und auch in Erwägung ziehen, dass ggf. eine therapeutische Begleitung von Biografiearbeit notwendig werden kann.

Für die Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft muss das Pflegekind nicht zwingend in

Kontakt mit der Herkunftsfamilie sein. Das heißt, es muss unterschieden werden zwischen persönlichem Umgang und Auskunft über die Herkunftsfamilie und deren aktuelle Situation. Hier ist der Zugang zu Infor-mationen für das Pflegekind von besonderer Bedeu-tung:

Der Fachberater muss die Biografie des Pflege-• kindes im Blick haben, offen sein für Informa-tionen über diese und sie sichern, auch wenn aktuell das Thema Biografie nicht relevant ist. Er kann selber der Bewahrer von Erinnerungen

Page 36: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

34

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

sein oder andere Bewahrer im Umfeld des Kindes aktivieren.Bei Übergängen ist durch den zuständigen Fach-• berater darauf zu achten, dass Informationen oder Erinnerungsstücke (wie z.B. Fotos) durch die abgebende Stelle – beispielsweise Bereitschafts-pflege – mitgegeben werden. Der Fachberater muss die Bereitschaft besitzen, • dem Pflegekind Informationen zu angrenzen-den Themen zugänglich zu machen. Entweder recherchiert er diese selbst oder macht alterna-tiv dem Pflegekind andere Informationsquellen zugänglich.

Klarheit über die eigene Perspektive wirkt sich, wie dargestellt, positiv und hilfreich auf die Aus-

einandersetzung mit der eigenen Herkunftsgeschichte aus. Daher gilt auch in diesem Kontext:

Der Fachberater sollte alle beteiligten Personen • von Beginn an offen und ehrlich über die jeweils aktuelle Perspektive des Pflegeverhältnisses informieren. Die Pflegekinder sind möglichst früh, altersge-• recht und umfassend zu informieren, der Fachbe-rater sollte hierfür auch Einzelkontakte mit dem Pflegekind haben.

Page 37: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

35

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

5 Besuchskontakte

Wie bereits im vorherigen Kapitel beschrieben, ist der Besuchskontakt häufig der Kristallisationspunkt in der Diskussion um die Frage nach dem Umgang mit dem Herkunftssystem.1 Hier können verschiedene Betei-ligte mit kontroversen Interessen aufeinander treffen. Dies trifft nicht nur auf die Pflegekinder, ihre leiblichen Eltern und ihre Pflegeeltern zu. Kontroversen gibt es auch innerhalb der Behörden, etwa zwischen Pflege-kinderdienst und Allgemeinem Sozialen Dienst (bzw. Bezirkssozialdienst) oder zwischen den beteiligten Fachdisziplinen wie z. B. Justiz, Psychiatrie, Psycholo-gie und Sozialer Arbeit. Hinzu kommt, dass Regelun-gen zum Umgang mit dem Herkunftssystem und vor allem die Gestaltung von Besuchskontakten von den verschiedenen Jugendämtern und Pflegekinderdiens-ten unterschiedlich gehandhabt werden und auch hier häufig ideologische Debatten ausgetragen werden.

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und UmgangsstrategienDie Interviews mit den ehemaligen Pflegekindern bein-halten vielfältige Aussagen über die konkrete Situation des Besuchskontaktes. Dabei zeigt sich, dass der Kon-takt zum Herkunftssystem häufig prozesshaft verläuft, sich also verändern und entwickeln kann. Zudem fällt auf, dass Besuchskontakte sehr unterschiedlich or-ganisiert und gestaltet werden. So erhalten wir durch die Interviews Einblick in die verschiedenen Kontakt-formen. Es unterscheiden sich hierbei nicht nur die Häufigkeit der Kontakte, sondern auch die Orte (im Jugendamt, bei der Pflegefamilie, bei der Herkunfts-familie, im Park etc.), die beteiligten Personen (Pfle-geeltern, Geschwister, Professionelle) und die Art des Kontaktes (über das Wochenende, kurzfristige Kontak-te, Kontakte per Brief oder Telefon). Die Wahrnehmung und Beurteilung der Kontakte variieren dabei, so dass es nicht zu einer pauschalen Aussage kommen kann, welche Kontaktform die Beste ist, sondern zu einer Einschätzung, was aus fachlicher Sicht unabdingbar ist.Im Folgenden werden Belastungs- und Ressourcen-quellen für die Pflegekinder vor, während und nach der konkreten Kontaktsituation vorgestellt.

1 Vgl. hierzu Kapitel 4 zu Herkunft und Biografie und die dortigen Hinweise auf die theoretische Auseinandersetzung.

Belastungsquellen vor den BesuchskontaktenEinige Gesprächspartner erinnern sich, dass die bevor-stehenden Besuchskontakte körperliche und psychi-sche Reaktionen ausgelöst haben. Es wird beispiels-weise von Schlafstörungen, körperlichem Unwohlsein wie Kopf- oder Bauchschmerzen oder schlechten Träumen berichtet. Martin erinnert sich an die Zeit kurz nach dem Wechsel in die Pflegefamilie:

Ja, damals war ich dann halt ein kleines Kind, habe

das Ganze ja noch nicht so richtig verstanden so.

Und da hatte ich auch noch, also da gab es noch

Besuchskontakte zu meiner leiblichen Mutter. Ja und ich war

halt immer so, wie soll ich sagen? Enttäuscht. Also ich hab

mich so gefühlt, dass meine Mutter mich nie haben wollte.

Weil ich das Ganze nicht verstanden hab so. Und ja. Mir ging

es nach den Besuchen und auch vor den Besuchen ging es

mir immer voll scheiße. Es hat sich halt dann damit bemerk-

bar gemacht, dass ich halt sehr aufgeregt war im Kinder-

garten. Auch zu Hause. Ich konnte nicht schlafen so. Ich hab

dann auch die Nähe zu meiner Pflegemutter sehr oft gesucht

so.

Ein weiterer wichtiger Aspekt im Erleben der Besuchs-kontakte bezieht sich auf die Möglichkeit der eigenen Einflussnahme. In diesem Zusammenhang beschrei-ben einige Gesprächspartner, dass sie nicht darauf einwirken konnten, ob ein Kontakt überhaupt stattfin-det oder nicht. So erinnert sich Adem daran, dass er zwar immer wieder gefragt wurde, ob er seine leibli-che Mutter denn sehen möchte, letztlich auf seinen Wunsch sie nicht sehen zu wollen, zunächst jedoch keine Rücksicht genommen wurde:

Ja klar, ich wurde andauernd gefragt. Wirklich von

jedem. Ich hab natürlich auch soviel Leute vom Ju-

gendamt kennengelernt, weil immer wieder je-

mand Neues für mich zuständig war. Und jeder hat mich die-

selbe Frage gefragt. So: „Ja, wie sieht es denn mit Besuchen

und deiner Mama aus?“ Hab ich immer das Selbe gesagt:

„Nein! Auf gar keinen Fall.“ Ich meine, wenn es eine liebe,

harmlose Frau gewesen wäre, hätte ich das natürlich im Le-

ben nie gesagt. Da hätte ich auch keinen Grund für gehabt.

Aber ich hatte halt schon meine Gründe so. Wie ich heute

auch noch habe.

Page 38: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

36

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Zu einem späteren Zeitpunkt im Interview kommt er auf das Thema erneut zu sprechen

Also, hätte man uns von Anfang so geglaubt, dass

meine richtige Mama wirklich einen an der Waffel

hat und wir keine bösen Menschen sind, und ich

auch nicht irgendwie entführt wurde oder so irgendwas oder

ich auch einen guten Grund habe, warum ich meine Mama

nicht mehr wiedersehen will, hätte man mich da besser

nachvollziehen können und hätte sagen können: „Okay, das

ist wirklich krass da. Er braucht auf jeden Fall auch nicht

mehr da irgendwie Kontakt zu haben“. Und da waren auch

sämtliche irgendwie Versuche, um mich mit ihr da irgendwie

zusammen zu führen. Das war auch einmal irgendwie, das

war auch bei einer Psychologin oder so was Ähnlichem, kei-

ne Ahnung. Da wurde dann auch so ein Treffen arrangiert

oder so was. Ich bin da nur reingegangen, ich hab dann die

Augen zugemacht und meinte: „Ich will dich nie wieder se-

hen“ und bin dann raus gerannt so. Dass halt diese jämmer-

lichen Versuche halt unterlassen werden sollten so.

An diesem Beispiel zeigt sich eine zentrale Belastungs-quelle, die Besuchskontakte mit sich bringen können: das fehlende Erleben von Kontrolle seitens der Pfle-gekinder und damit verbunden, das Empfinden eines Ausgeliefert-Seins in einer belastenden und mitunter sogar dramatischen Situation.

Was hilfreich war – Ressourcen vor Kontakt Melanie berichtet im Gegensatz zu Adem von einer Einflussmöglichkeit auf den potentiellen Kontakt mit der leibliche Mutter. Sie erinnert sich, dass sie von der Fachberaterin über den Kontaktwunsch der Mutter in-formiert wurde, aber letztlich ihr Wunsch berücksich-tigt wurde, keinen Kontakt haben zu wollen:

Ja, genau. Ich hab gesagt: „Ich möchte das nicht.“

Ich glaube, das war die Frau Jentsch damals vom

Jugendamt. Die hatte mir dann erklärt: „Ja, deine

Mama möchte dich wiedersehen. Und du weißt ja, wer das

ist, ne?“ Und dann, ich wusste das, natürlich wusste ich das.

Und dann habe ich gesagt: „Aber ich möchte das nicht.“ Also

die hatte mich auch mehrfach dann gefragt an dem Tag: „Bist

du dir sicher?“ Und ich wollte das halt gar nicht.

Hinsichtlich der Wiederaufnahme der Kontakte, etwa im Jugendalter, wird von den Gesprächspartnern her-ausgestellt, wenn sie selbst die Initiatoren eines Tref-fens gewesen sind. So heißt es in einem Interview:

Und dann habe ich meinen Pflegeeltern mal ge-

sagt, dass ich auch gerne meine Mutter noch mal

wiedersehen würde. Und die haben das dann wei-

tergeleitet ans Jugendamt. Und die haben das dann weiter

organisiert.

Was die Gefühlslage der Pflegekinder angeht, so zeigt sich, dass es sich entlastend auswirkt, wenn die Kon-takte für das Pflegekind zu erwarten sind. Routinen und klare Abläufe können dafür sorgen, dass Sicher-heit im Umgang miteinander entsteht. Im Kontext kla-rer Kontaktstrukturen und Regelmäßigkeiten werden Besuchskontakte nahezu als Normalität beschrieben. So formuliert ein Interviewpartner:

Es war normal, dass meine Mama hier immer wie-

der mal vorbeikam. Ich weiß, dass es eigentlich

nicht normal ist mehrere Mütter zu haben, aber

für mich war es normal.

Belastungsquellen in der konkreten Kontaktsituation und nach den Kontakten In der konkreten Kontaktsituation benennen die In-terviewpartner unterschiedlichste Belastungsquellen. Häufig wird auch im Kontakt von körperlichen Reakti-onen wie Unwohlsein oder Übelkeit berichtet. Weitere Belastungen haben mit den eigenen Empfindungen gegenüber den leiblichen Eltern und deren Verhal-ten im Kontakt zu tun. Hinzu kommen Belastungen, die durch die eigentliche Situation und die Inszenie-rung des Treffens entstehen. Dass das Benehmen der Herkunfts eltern als nicht passend und mitunter sogar übergriffig erlebt wird, wird von einigen Interviewpart-nern geschildert. Zu große körperliche Nähe bzw. Ver-suche der körperlichen Kontaktaufnahme werden hier als problematisch beschrieben, unabhängig davon, ob es sich um Kontakte als Kinder oder auch als Jugend-liche handelt. So erinnert sich Nora an die Situation, in der sie als junge Erwachsene ihre Mutter wiedergese-hen hat:

Also das erste Treffen lief einfach so ab, dass sie

dann kam, mich dann weiß ich nicht wie lange ge-

drückt hat, wo ich einfach total steif war und gar

nichts machen konnte und sie eigentlich gerne in die Ecke

geschubst hätte und einfach raus gegangen wäre so. Und da

fing es halt an, dass ich, ich hab angefangen zu weinen und

hab während des ganzen Treffens auch nicht mehr aufge-

hört.

Page 39: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

37

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Ein weiterer Aspekt ist das Erleben und Fühlen von Bedrängung durch die leiblichen Eltern im Besuchs-kontakt.2 Es werden Wünsche nach der Rückkehr des Kindes formuliert oder sogar konkrete Pläne für das „Zurückholen“ vorgestellt. Dieses Erleben ist im Inter-view mit Caro ein zentraler Aspekt ihrer Erinnerung an die Besuchskontakte. Sie beschreibt, dass die leibli-chen Eltern sie immer wieder aufgefordert hätten, zu-rück zu kommen. Auch in begleiteten Kontakten sei es zu solchen Situationen gekommen:

Und eine Person vom Jugendamt saß auch noch

dabei. Und das Treffen, an das ich mich erinnere,

das verlief eigentlich ganz positiv. Außer, dass da

dann halt auch schon wieder Vorwürfe kamen: „Warum willst

du nicht zurück nach Hause?“

Einige ehemaligen Pflegekinder beschreiben, dass sie Fragen an die leiblichen Eltern gehabt oder sich Erklä-rungen von ihnen gewünscht hätten, die leiblichen El-tern aber nicht in der Lage waren, die Kontakte hierfür zu nutzen.Claudia beschreibt, wie Sie sich als Jugendliche mit der leiblichen Mutter getroffen hat und ihr Fragen stel-len wollte, diese aber nicht beantwortet wurden. Das Verhalten der Mutter stellt für sie eine große Enttäu-schung dar:

Wir hatten mehrere Treffen und für meine Mutter

war es immer schwierig quasi über diese Sachen

zu reden, die mir wichtig sind. Also: „Warum ist

das so? Und wie ist das entstanden? Und warum hast du

mich weggegeben und meinen Bruder behalten?“ Und „War-

um hast du überhaupt noch mal ein Kind gekriegt? Wenn das

Erste ja auch nicht funktioniert hat?“ Und meine Mutter woll-

te halt nicht darüber sprechen und die hätte am liebsten so

direkt gehabt, wir machen nur schöne Sachen und damit hat

sich das. Ich hab mir gedacht so: „Du hattest gut achtzehn

Jahre Zeit dich vorzubereiten.“ Also ich hätte mir einen Zettel

gemacht zumindestens. Und hätte aufgeschrieben, was mein

Kind auf jeden Fall wissen will.

Bei den Pflegekindern, die ihre leiblichen Eltern eher unregelmäßig gesehen haben, finden wir vielfältige Beschreibungen, in denen unsere Gesprächspartner Gefühle der Fremdheit oder auch der Ablehnung ge-genüber den leiblichen Eltern empfinden und diese im Interview klar formulieren.

2 Vgl. hierzu Kapitel 3 Zwischen zwei Familien

So heißt es beispielsweise in einem Interview:

Also es war irgendwie merkwürdig, dann vor einer

fremden Frau zu stehen, zu sitzen und dann zu

wissen: „Hey, das ist deine Mutter. Aber eigentlich

kennst du die gar nicht.“

In einigen wenigen Interviews finden wir Beschreibun-gen massiver Übergriffe im Besuchskontakt, so erin-nert sich ein Interviewpartner, wie die leibliche Mutter ihn im Kontakt geschlagen hat:

Man glaubt dann auch halt an das Gute im Men-

schen, so denkt man so „Ja, okay. Wenn die hier

und da mal zu Besuch kommt, ist schon in Ord-

nung.“ Man hat sich dann irgendwo dann getroffen im Park

und so was. Also, ich kann mich noch so verschwommen er-

innern. Und da war sie auch einmal noch, das weiß ich noch

ganz genau, bei uns. Da waren wir da ganz normal so im

Wohnzimmer, hatten eine Eisenbahn aufgebaut, mit der ich

gespielt hatte. Da war meine Pflegemama mal kurz auf Toi-

lette gegangen und in der Zeit ist sie sofort aufgestanden, hat

mich geschlagen.

Beschreibungen über die Gestaltung und Begleitung der Kontakte unterscheiden sich erheblich. Äußerun-gen darüber, dass es für die Kinder zum Teil unklar war, warum ein Kontakt überhaupt stattfindet oder auch warum sie nach dem Treffen nicht zurück zu den leiblichen Eltern können, finden wir ebenso wie Be-schreibungen, aus denen der Eindruck entsteht, dass sich die Pflegekinder in der Kontaktsituation ausgelie-fert und alleine fühlten. In vielen Gesprächen wird nicht erinnert, ob der Kontakt begleitet wurde. Wie bereits im Zusammenhang mit Belastungen vor dem Kontakt beschrieben, kann es auch im Kontakt eine Belastung sein, wenn das Pflegekind den Eindruck hat, dass es keinen Einfluss auf den Verlauf des Kontakts hat. Das Gefühl, während der Begegnung nicht geschützt und auf sich alleine gestellt zu sein, schlägt sich in einigen Gesprächen nieder. So berichtet ein Interviewpartner, dass er sich nicht durch die Mitarbeiterin des Jugend-amtes begleitet gefühlt habe:

Diese vom Jugendamt? Ja klar, die war natürlich

für meine Mutter da. Die hat mich null beschützt,

sag ich mal. Für die war das immer nur die arme,

arme Frau und so. Ich war nebensächlich dann. Also hatte

ich zumindest so im Gefühl.

Page 40: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

38

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Deutlich wird an diesem Beispiel auch, dass die Funk-tion, die die fachliche Begleitung im Kontakt hatte, dem Gesprächspartner nicht klar war.Dass manche Pflegekinder in der Kontaktgestaltung den Eindruck hatten, dass es nicht um sie geht und sie in ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen werden, kann eine weitere Belastungsquelle darstellen. Im In-terview mit Melanie hat es den Anschein, dass sie sich auf sich gestellt gefühlt hat und niemand anwesend war, der ihre Bedürfnisse in den Blick genommen hat. Sie berichtet:

Nach ein paar Jahren ist die mal wieder gekom-

men und hat uns besucht. Das weiß ich noch, ich

kann aber nicht sagen, wie alt ich war. Aber ich

wusste, dass sie meine Mutter war und die Situation war

auch irgendwie ein bisschen blöd, fand ich so aus meiner

Sicht. Weil sie hatte immer Angst, dass meine Pflegeeltern

mich ihr wegnehmen sozusagen. Und ja, da war sie wie ge-

sagt noch mal da und das war aber irgendwie komisch. Ich

hab quasi, sie hat so gesessen wie Sie jetzt, ne? Ich hab da

quasi an ihrem Bein gehangen, weil ich wusste, wer sie war.

Und die hatten sich aber so unterhalten und, also meine

Mütter halt untereinander, und ich hatte das Gefühl halt,

dass ich nicht so beachtet worden bin, wie ich mir das ge-

wünscht hätte, ne?

Auch nach den Kontaktsituationen finden wir Beschrei-bungen körperlicher Beschwerden und seelischer Symptome wie Anspannung. So berichtet Vanessa:

Ich hab auch probiert mit ihr Kontakt aufzuneh-

men. Und danach hab ich gesagt: „Ich will das al-

les nicht mehr.“ Weil mir das danach jedes Mal

weh getan hat. Es hat mich auch immer jedes Mal hart ge-

troffen. Und diese Schmerzen wollte ich einfach nicht mehr

haben. Weil da jedes was Mal kaputt gegangen ist und dann

kam es wieder hoch.

Auffällig ist, dass solche Reaktionen vor allem bei den Kontakten vorzukommen scheinen, die wenig organi-siert und geplant anmuten.

Was hilfreich war – Ressourcen im Kontakt und nach dem Kontakt Als Ressourcen innerhalb der Kontaktsituation lassen sich die Begleitung im Kontakt und die Unterstützung innerhalb der Gesamtsituation herausstellen. Hier sind es vor allem die Pflegeeltern, deren Beteiligung oft als großer Beistand beschrieben wird. Vielfach wird

geschildert, wie Pflegeeltern als „moralische Unter-stützung“ mit zu den Treffen genommen wurden. So heißt es bei einer Interviewpartnerin:

Meine Pflegeeltern wollten mich halt auch davor

schützen, dass halt meine Mutter dann alkoholi-

siert da ankommt zu den Treffen. Und das für mich,

weiß nicht, noch mal so ein Rückschlag ist oder so was. Da

waren halt meine Pflegeeltern auch ziemlich vorsichtig mit.

Also, dass die dann erst noch dabei gesessen haben.

Aber auch im Kontakt am Telefon oder per Brief wird die Unterstützung durch die Pflegeeltern als hilfreich beschrieben. So berichtet Caro hinsichtlich der Be-drängung durch die leiblichen Eltern, wie ihre Pflege-eltern mit der Situation umgegangen sind:

Ja, was ich immer unangenehm fand, ich hab halt

auch häufig Briefe geschickt bekommen oder bin

angerufen worden. Und mit meinen Eltern telefo-

niert habe ich gar nicht gerne. Weil da kamen halt perma-

nent Vorwürfe, warum ich nicht zurück komme. Und in den

Briefen ebenso. Und die Telefonate hab ich dann gar nicht

mehr entgegen genommen. Und die Briefe hab ich dann erst

von meinen Pflegeeltern lesen lassen. Und wenn da halt so

was drin stand, wollte ich die gar nicht mehr lesen. Also die

haben dann alles durchgelesen und wenn es Grüße zum Ge-

burtstag waren oder zu Weihnachten hab ich das auch gern

gelesen. Wenn da nicht weiter was drin stand halt außer

„Frohe Weihnachten“. Und aber so längere Briefe hab ich im-

mer zum Lesen gegeben. Und die haben dann halt entschie-

den, ob das zumutbar ist oder ob sie das lieber noch wegle-

gen.

Auch in der Idee möglicherweise wieder Kontakt auf-zunehmen, können die Pflegeeltern und Gespräche mit ihnen sehr bedeutsam sein. So beschreibt Lukas, der zum Zeitpunkt des Interviews überlegt, ob er nach lan-ger Zeit wieder Kontakt zu seiner Mutter aufnehmen soll, wie er dies mit den Pflegeeltern besprochen hat:

Ja und meine Eltern haben mir gesagt: „Ja guck

mal. Wenn du jetzt alleine dahin fährst: Du hast

niemanden. Du kannst da nicht einfach sagen: „Ja,

komm nimm mich mal in den Arm oder so. Du kannst nicht

drüber reden.“ Die haben mir vorgeschlagen zum Beispiel,

dass halt: „Wenn wir nach A-Stadt fahren, dass wir das dann

verkuppeln können, dass du dann für ein paar Stunden bei

deiner Mutter bist. Dass wir dich dahin bringen. Dass du mit

deiner Mutter ein paar Stunden verbringst und wir dich

Page 41: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

39

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

abends wieder abholen. Und dann kannst du, wenn du willst,

kannst du drüber reden. Du kannst dich ausheulen.“ Und so.

Dass ich dann jemanden habe dann so.

An diesem Beispiel wird eine zusätzliche Ressource offenkundig. Besteht nach dem Kontakt die Möglich-keit oder das Angebot, die Situation noch mal zu be-sprechen, kann dies eine Quelle der Unterstützung für das Kind sein. Sind Professionelle als lenkende Kraft in den Besuchs-kontaktsituationen erkennbar, wird dies in aller Regel positiv benannt. Beschreibungen beziehen sich hier vor allem auf die ersten Begegnungen mit den leiblichen Eltern oder eine Wiederaufnahme des Kontakts. So erinnert sich Dana an die Situation, als sie als Ju-gendliche erstmals den leiblichen Vater traf:

I: Und dieses Treffen? Wie war das dann?

D: Das war total komisch. Also meine Tante [Pfle-

gemutter Anmerkung J.P.] haben wir mitgenom-

men als moralische Unterstützung. Ja, mein Vater ist al-

leine gekommen und Frau Hachen saß mit am Tisch. Und

ich muss sagen, Frau Hachen hat das Gespräch mehr oder

weniger geleitet. Klar mein Vater hat erzählt. Ich kannte die

Version schon aus der Sicht meiner Mutter warum wir unse-

ren Vater nicht kannten. Ja, dann hörte ich auch dann mal die

Version von meinem Vater. Das Gespräch war eigentlich, das

war nach einer Stunde oder so schon beendet, weil uns dann

keine Fragen mehr eingefallen waren.

Ein Punkt, an dem die Beteiligung der Professionellen sehr deutlich wahrgenommen wird, ist der einer mög-lichen Wiederaufnahme der Kontakte. Hier sind die Professionellen häufig als Unterstützung zu erkennen, sie werden als hilfreiche Informationsquelle und Weg-bereiter zu einem möglichen Kontakt beschrieben. So nimmt beispielsweise Nora als erwachsene Frau für den zweiten Kontakt zur leiblichen Mutter nochmals die Unterstützung des ehemals zuständigen Mitarbei-tern beim Pflegekinderdienst in Anspruch.

Und ich glaube, deswegen war mir dieses zweite

Treffen auch noch mal wichtig, um da einfach zu

zeigen, dass ich auch erwachsen oder groß gewor-

den bin. Dass ich auch meinen Mund aufmachen kann und

auch mit ihr sprechen kann. Ich hab einen Brief geschrieben.

Und hab den zu dem Herrn Käuser geschickt. Der war noch

mal so nett und hat den Brief also weitergeleitet.

Melanie beschreibt in diesem Zusammenhang auch die Örtlichkeit des Jugendamtes als hilfreich für ihre aktuelle Situation:

Ja bei den Treffen jetzt beim Jugendamt, also ich

hab meine Mutter erstmal übers Jugendamt ge-

troffen. Weil ich dachte: „Ist eine Situation: Ist nicht

bei mir, ist nicht bei ihr.“ Ist halt, fühlt sich keiner dann so

sicher und der andere unsicher. Das ist halt ganz gut dann.

Alternative Kontaktformen als RessourceObwohl Besuchskontakte – wie wir gesehen haben – viele Belastungsquellen beinhalten können, ist es wichtig zu betonen, dass das Thema Herkunft und leib-liche Eltern auch ohne Kontakte relevant bleiben kann und auch gerade das Ausbleiben der Kontakte eine Be-lastung darstellen kann. So sind die Frage nach den eigenen Wurzeln, das Thema der körperlichen Ähn-lichkeit oder Phantasien über die leiblichen Eltern in vielen Interviews Gesprächsgegenstand. In diesem Zu-sammenhang werden beispielsweise Kontaktmöglich-keiten, die nicht mit einer konkreten Begegnung ver-bunden sind, von den Gesprächspartnern beschrieben. So berichtet Julia, wie sie Telefon- und Brief kontakt zur Mutter gehalten hat und auf diese Weise für einen gewissen Zeitraum mit der Mutter Kontakt pflegen konnte, um vor allem ihrem Wunsch nachzugehen, ei-nen Eindruck von der Mutter zu bekommen:

Mit neun habe ich dann auch Kontakt zu meiner

leiblichen Mutter aufgenommen über Briefe und

Telefonate. Ich fand die auch total interessant,

wollte die aber nie kennen lernen. Ich wollte die nie sehen,

also ein Foto hat mir ausgereicht, Briefe haben mir ausge-

reicht, die Stimme zu hören hat mir ausgereicht, aber ich

wollte diese Person nie sehen. Wahrscheinlich weil ich, ja ich

hatte immer Angst wenn die mich sieht, wenn man sich mal

trifft, dann behält die mich, dann gibt die mich auch nicht

mehr raus.

Sehr hilfreich beschreiben einige Gesprächspartner die Möglichkeit, über ihre Ansprechpartner im Pflegekin-derdienst Informationen über die leiblichen Eltern zu bekommen, auch wenn gerade kein Kontakt besteht. Es zeigt sich, dass so ein Umgang mit ambivalenten Gefühlen gefunden werden kann. Lukas beschreibt, wie sich der Kontaktwunsch zur leiblichen Mutter ver-ändert hat und wie er Auskünfte von seiner Fachbera-terin bekommen hat:

Page 42: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

40

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Ich hab halt auch schon mal gesagt so: „Ich

wünschte, dass meine Mutter tot wäre.“ Und so.

Ja und jetzt ist das komplett anders. Seitdem ich ausgezogen

bin auch schon mal ein bisschen vorher so. Ich weiß nicht,

ich denke so oft an meine Mutter so. Weil ich höre ja immer

von Frau Karla so, ich frage ja immer nach so, die bekommt

jetzt Hilfe, dass die es schafft mit ihren Kindern. Die wird ja

immer betreut und so. Und ich find das ja toll, dass meine

Mutter sich bemüht so. Zeigt mir ja, dass sie auch anders

kann.

Zusammenfassend wird deutlich, dass wir es hier mit einem sehr vielfältigen Thema zu tun haben. Nicht nur die Art und Häufigkeit möglicher Kontakte variieren stark, sondern auch das Erleben der konkreten Situ-ationen unterscheidet sich, sowohl zwischen den ein-zelnen Gesprächspartnern als auch im Verlauf eines Pflegeverhältnisses. Dennoch geben die Interviews Aufschluss über positi-ve Merkmale, die es durch professionelle Arbeit mög-lichst zu gewährleisten gilt:

Möglichkeiten der Einflussnahme für das Kind • auf Stattfinden, Gestaltung und Fortsetzung der Kontakte.Kontakte sind berechenbar in ihrer Durch-• führung, es herrscht teilweise Normalität.„Ich bin nicht allein“ – Begleitung und • Unterstützung durch professionelle Kräfte und die Pflegeeltern.Moderation von Kontakten und Gesprächen.• Unterstützung durch Professionelle und Pflege-• eltern in Kontakt(wieder)aufnahme mit den leiblichen Eltern.Ideen und Angebote für alternative • Kontaktformen.Es gibt Örtlichkeiten für einen Kontakt.• Für die Kontakte bestehen vor- und nach-• bereitende Gesprächsangebote.

An Problemlagen, denen ein kompetenter Pflege-kinderdienst begegnen soll, zeigen die Interviews auf:

Körperliche und psychischer Reaktionen vor, • während und nach dem Kontakt.Den Eindruck haben, keinen Einfluss auf Statt-• finden und Gestaltung des Kontakts zu haben.Als unpassend erlebtes Verhalten der leiblichen • Eltern wie Bedrängung oder ein Zuviel an körper-licher Nähe.

Keine Informationen von den leiblichen Eltern • bekommen, die man sich von ihnen erhofft hatte.Gefühl, im Kontakt nicht geschützt und auf sich • allein gestellt zu sein.Die eigenen Bedürfnisse werden nicht • berücksichtigt.

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Grundsätzlich gilt, dass ein ausschließliches Verhar-ren in einem „Entweder-Oder“ zum Thema Besuchs-kontakt keinem der Beteiligten hilft, da es auf diese Frage keine pauschale Antwort gibt. Vielmehr gilt es, zu einer Entdramatisierung von Besuchskontakten zu kommen und diese sowohl von überhöhten Erwartun-gen als auch übertriebenen Befürchtungen zu befrei-en. Dazu muss berücksichtigt werden, dass es sich bei Besuchskontakten zwischen Pflegekindern und Eltern um einen veränderbaren, flexiblen Prozess handelt. Dieser Prozess findet zwischen Eltern, Kindern und Pflegefamilie statt, orientiert sich an den vorhandenen oder auch an den sich entwickelnden Beziehungen zwischen den Beteiligten und bedarf klarer Rahmen-bedingungen sowie einer verbindlichen Gestaltung, die eindeutig in den Aufgabenbereich des Pflegekinder-dienstes fällt. Zuständig ist der für das Pflegeverhält-nis insgesamt zuständige Fachberater.Von besonderer Bedeutung sind die kindlichen Signale in Bezug auf die Kontakte. Diese müssen ernst genom-men und in ihrer Bedeutungszuschreibung laufend geprüft werden. Zudem gilt es, den Lebensraum des Kindes als Schutzraum zu verstehen. Begegnungen können hier nur in Einzelfällen und nach vorheriger Klärung stattfinden. Zu Beginn eines Pflegeverhältnis-ses kann der Lebensraum in keinem Fall zum Begeg-nungsraum werden.

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Bevor Besuchskontakte durchgeführt werden, bedarf es zunächst der Klärung, ob Kontakte

aktuell stattfinden können. Das Kindeswohl hat hierbei oberste Priorität.

Es gilt verschiedene Parameter zu berücksichti-• gen: In welcher Phase ist das Pflegeverhältnis? Wie sieht der aktuelle Belastungsgrad des Kindes

Page 43: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

41

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

aus? Wo steht es in seiner Entwicklung und in der Integration in die Pflegefamilie? Zur Klärung ge-hört ebenfalls, die Kinder ernst zu nehmen, ihre Reaktionen zu beobachten und zu dokumentieren sowie die Beantwortung der Frage, ob Besuchs-kontakte derzeit für ein Kind zumutbar sind. Der Fachberater sollte hierbei sowohl die Beobach-tungen der Pflegeeltern berücksichtigen als auch seine eigenen, hiervon unabhängigen Wahrneh-mungen und Einschätzungen einfließen lassen.Finden aktuell keine Kontakte statt, sind alterna-• tive Informationskontakte für die leiblichen Eltern zu planen (ohne Kinder).

Finden Kontakte statt, muss vor den Kontakten unter den Beteiligten klar sein, wer welche

Funktionen und Aufgaben im Besuchskontakt hat. Die Vorbereitung sollte möglichst so erfolgen, dass sich alle Beteiligten wertgeschätzt und ernst genommen fühlen. Grundsätzlich gilt für die Vorbereitung:

Besuchskontakte sind durch den Pflege-• kinderdienst zu organisieren und zu gestalten. Die Vorbereitung der Herkunftsfamilie obliegt in • der Regel dem Pflegekinderdienst, ggf. in Zusam-menwirken mit anderen für die Herkunftsfamilie zuständigen Fachdiensten / Institutionen.Für den jeweiligen Einzelfall relevante Themen • (wie beispielsweise psychische oder körperliche Erkrankungen in der Herkunftsfamilie, besondere Konstellationen in der Herkunftsfamilie) müssen berücksichtigt werden und ggf. vorab mit den Beteiligten besprochen werden. Die Pflegeeltern brauchen Unterstützung und • Vorbereitung für ihre zweiteilige Aufgabe, einer-seits dem Pflegekind Schutz zu gewährleisten und andererseits die Kontakte konstruktiv zu unterstützen. Sie benötigen hier Gesprächsan-gebote sowie die Anbindung an unterstützende Netzwerke.

Damit der Kontakt für alle Beteiligten klar und einschätzbar sein kann, gilt es vor dem Kontakt

durch den Fachberater des Pflegekinderdienstes fol-gende Aspekte zu klären:

An welchem Ort findet der Kontakt statt?• Wer nimmt am Kontakt teil?• Wird der Kontakt begleitet? Wenn ja, durch wen?• Welche Spielregeln haben während des Kontakts • Gültigkeit?

Die Beantwortung dieser Fragen leitet über zur Gestaltung der konkreten Kontaktsituation und

der dafür relevanten Standards.Einigkeit unter den beteiligten Fachdiensten besteht darüber, dass zu Beginn eines Pflegeverhältnisses die Treffen an einem neutralen und zunächst gleichblei-benden Ort stattfinden müssen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass es innerhalb des Jugendamtes / des Dienstes einen Raum für solche Begegnungen geben muss. Ebenfalls besteht Einigkeit darüber, dass es eine fachliche Begleitung der Kontakte geben muss. Betrachtet man den Besuchskontakt als etwas Verän-derbares, so ist klar, dass sich der Ort des Treffens so-wie die Intensität und Form der Betreuung verändern können, diese Veränderungen aber bedacht erfolgen sollten. Für die fachliche Arbeit der Pflegekinderdiens-te bedeutet dies also konkret:

Besuchskontakte müssen an einem neutralen – • zu Beginn konstanten – Ort stattfinden. Der Lebensraum ist der Schutzraum des Kindes. Nur in begründeten Fällen kann der Lebensraum zum Begegnungsraum werden. Es muss ein Raum für Besuchskontakte beim • Pflegekinderdienst vorhanden sein.Besuchskontakte müssen fachlich so lange • begleitet werden, wie es das Pflegekind, die Pfle-geeltern, die Herkunftseltern oder der Pflegekinderdienst für notwendig halten. Die Notwendigkeit einer Begleitung sollte im Prozess des Pflegeverhältnisses auch immer wieder überprüft werden.

Um gewährleisten zu können, dass sich im Be-suchskontakt bestenfalls alle Beteiligten, vor

allem aber das Pflegekind, sicher fühlen können, braucht es klare Absprachen. Diese konkreten Rege-lungen ergeben sich häufig aus der individuellen Ar-beitsweise und dem jeweiligen Fall, gleichzeitig besteht aber die Notwendigkeit, zentrale Aspekte als Quali-tätsmerkmale festzuhalten:

Begrüßung, Verabschiedung und Verhalten • während des Umgangs werden durch den Fachberater mit allen Beteiligten geklärt. Hierzu können beispielsweise Regelungen über die Rei-henfolge des Ankommens im Besuchsraum oder auch Absprachen für Abschiedrituale gehören. Der Fachberater übernimmt in den ersten • Besuchskontakten eine aktive Rolle: Begrüßung

Page 44: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

42

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

der Teilnehmer, Erklärung des Zwecks des Treffens etc. Der Fachberater entscheidet in der konkreten • Besuchssituation wie und ob der Kontakt statt-finden kann oder beendet werden muss. Dies gilt insbesondere, wenn vorab vereinbarte Regelun-gen nicht eingehalten werden.

Um die vielfältigen Themen, die ein Besuchs-kontakt mit sich bringen kann, genauso wie

mögliche Belastungen des Pflegekindes abfedern zu können, ist es wichtig, dass der Fachberater nach dem Besuchskontakt als Ansprechpartner – vor allem für das Pflegekind – zur Verfügung steht. Dies kann und darf nicht die alleinige Aufgabe der Pflegeeltern sein. Das bedeutet:

Die Nachbetreuung der Besuchskontakte ist • Aufgabe des Fachberaters. Er muss dies klar kommunizieren, vor allem gegenüber dem Pfle-gekind.

Wie dargestellt wurde, ist für viele Pflegekinder das Thema des Kontaktes mit der leiblichen

Familie auch dann präsent, wenn keine Kontakte statt-finden. Vielmehr kann das Thema auch bei jungen Erwachsenen nochmals an Relevanz gewinnen oder der Wunsch bestehen, einen abgebrochenen Kontakt wieder aufzunehmen. Hier ist ein wichtiger Faktor, dass das Pflegekind die Möglichkeit hat, dabei Unter-stützung zu finden. Es gilt daher festzuhalten:

Der Fachberater sollte auf Anfrage auch nach • Beendigung des Pflegerverhältnisses oder nach einem Kontaktabbruch Vermittler zwischen Pfle-gekind und Herkunfts familie bleiben. Wenn die leiblichen Eltern keinen Kontakt zum • Pflegekinderdienst halten, sollten diese jährlich angeschrieben und „erinnert“ werden. Dadurch wird verhindert, dass Pflegekinder sehr spät und sehr plötzlich auf ihre leiblichen Eltern treffen. Diese Maßnahme kann sehr zeitaufwendig sein, hat aber vermutlich einen enormen langfristigen Wert für das Pflegekind.

Page 45: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

43

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

6 Verwandtenpfl ege1 – Judith Pierlings und Dirk Schäfer1

Verwandtenpflege, also die Betreuung eines Pflege-kindes im Haushalt mindestens eines verwandtschaft-lich mit dem Kind verbundenen Pflegeelternteils, ist zunächst die älteste und ursprünglichste Form der Pflegefamilie. Gleichzeitig ist es aber ein Bereich des Pflegekinderwesens, der nur langsam Teil einer Pro-fessionalisierungsdebatte in Deutschland wird. Diese Situation hat verschiedene Gründe. So ist ein großer Teil der Verwandtenpflegeverhältnisse selbstorgani-siert und dem Jugendamt beziehungsweise dem Pfle-gekinderdienst nicht bekannt oder wird erst deutlich nach ihrem Beginn bekannt.2 Hinzu kommt, dass die Verwandtenpflege innerhalb des jeweils örtlichen Pfle-gekinderhilfesystems einen unterschiedlichen Rang einnimmt. So herrscht eine uneinheitliche Bewilli-gungspraxis zwischen den verschiedenen Jugendäm-tern. Neben den Verwandtenpflegeverhältnissen, die gar nicht in Verbindung mit dem Hilfesystem stehen, gibt es Konstellationen, in der die Beteiligten zwar Kontakt zum Hilfesystem haben, aber keine Hilfen zur Erziehung erhalten – sei es, weil sie dies nicht möch-ten oder auch, weil sie die Voraussetzung für die Ge-währung nicht erfüllen.3 Wird Hilfe gemäß §33 SGBVIII gewährt, zeigen sich auch erhebliche Unterschiede in der quantitativen Bedeutung der Verwandtenpflege für die einzelnen Kommunen. So zeigen Zahlen aus dem Rheinland für das Jahr 2007 diese Bandbreite.4 In rund 16 % der Kommunen waren 40 % und mehr der be-treuten Pflegekinder in Verwandtenpflege (gemäß §33 SGBVIII) untergebracht. Dem gegenüber lag bei rund 20 % der befragten Jugendämter der Anteil der Pfle-gekinder, die in dieser Form der Fremdplatzierung un-tergebracht waren, bei weniger als 10 %. Diese Zahlen zeigen in Ansätzen die unterschiedliche Handhabung in der Praxis und verweisen damit auch auf die jeweili-gen „Fremdplatzierungs philosophien“.5

1 Wir beziehen uns im weiteren Verlauf des Textes auf Verwandten pflege nach §33 SGBVIII

2 Vgl. Blandow (2004), S. 183. Er geht davon aus, dass rund 70 % der Pflegeverhältnisse bei Verwandten über private Absprachen entstehen.

3 Vgl. hierzu ausführlich Blandow (2008),S.4. Er bezeichnet diese Gruppe als halbformelle Verwandtenpflege

4 Vgl. Landschaftsverband Rheinland (2007), S.27 ff. Die Daten basieren auf einer Befragung der Jugendämter im Rheinland durch den LVR.

5 Ebd., S.28

Betrachtet man im Vergleich beispielsweise das Vor-gehen in den Niederlanden, so zeigt sich, dass hier mit der Verwandtenpflege anders umgegangen wird, 2004 waren rund 25 % der Pflegeverhältnisse im sozi-alen Nahraum6 des Kindes installiert. Hierfür werden Aspekte der sozialen Netzwerkpflege genutzt. Neben der Suche nach Pflegeverhältnissen im sozialen Netz-werk gehören unter anderem die konkrete Beteiligung der Pflegekinder und ihrer Angehörigen bei der Suche nach einer geeigneten Person für die Hilfeleistung zu diesem interaktiven Prozess.7 Gleichwohl wird auch hierzulande von verschiedenen Stellen die Notwendigkeit gesehen, an Arbeitshilfen und Konzepten für eine fachliche Weiterentwicklung der Verwandtenpflege zu arbeiten. Hier sei beispiels-weise auf die Jahrestagung des LVR-Landesjugend-amtes im Jahr 2008 und die daraus entstandene „Königswinterer Erklärung“8, das „Neue Manifest zur Pflegekinderhilfe“9 sowie exemplarisch das Konzept „Kinder und Jugendliche in Verwandtenpflege – kon-zeptioneller Arbeitsansatz der Verwandtenpflege“10 verwiesen.Auch das Leuchtturmprojekt formuliert als Ergebnis die Notwendigkeit, eigene Konzepte für diese beson-dere Form der Inpflegenahme zu erarbeiten. Das Pro-jekt kann – basierend auf der Perspektive der Pflege-kinder – keine vollständige Konzeption hervorbringen. Dessen ungeachtet können wir einige erste Qualitäts-empfehlungen formulieren und haben so einen wich-tigen Schritt getan, der einer dringenden Fortsetzung bedarf. Wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass viele Aspekte, die wir im Folgenden vorstellen und diskutieren, auch für Kinder und Jugendliche zutreffen, die in Pflegeverhält-nissen bei Bekannten und Freunden der Herkunfts-familie leben.

6 Blandow (2004), S.1917 Vgl. ausführlich Portengen, van der Neut (1999) sowie Blandow

(2004), S. 182 ff.8 Vgl. Landschaftsverband Rheinland (2008)9 Vgl. Neues Manifest zur Pflegekinderhilfe. (2010), S. 44 10 Vgl. Gerling-Nörenberg (o.J)

Page 46: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

44

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und UmgangstrategienVieles von dem, was wir im Kontext des Themas Loya-litätskonflikte bereits vorgestellt haben, finden wir in besonderer Ausprägung in der Verwandtenpflege.11

Hierzu gehören in besonderem Maße das Gefühl des Dazwischen-Seins, die Frage der Zugehörigkeit oder auch die Frage, wer der Beteiligten die Wahrheit sagt – beispielsweise über die Gründe für das Zustande-kommen des Pflegeverhältnisses. All diese Fragen sind insbesondere in der Verwandtenpflege Thema und spielen auch immer wieder in die Bereiche hinein, die im Folgenden einzeln vorgestellt werden. Gleich-zeitig bringt die Verwandtenpflege ihre ganz eigenen Belastungen und Aufgaben für das Pflegekind mit sich. Sie liefert aber auch Ressourcen, die von unseren Ge-sprächspartnern als hilfreich beschrieben wurden. Übergang in die Pfl egefamilieWir finden in der Verwandtenpflege relativ häufig eine Art Selbstorganisation des Pflegeverhältnisses. In vie-len Fällen sind es akute Notsituationen, aus denen das Pflegeverhältnis entsteht. Auch ist die geplante Ver-weildauer in vielen Fällen zunächst nur auf kürzere Zeit angelegt, entwickelt sich dann aber doch zu einer dauerhaften Unterbringungsform. Für die Professio-nellen heißt das, dass sie erst relativ spät in das Pfle-geverhältnis einsteigen können und so keine Chance haben, die Anbahnung und den Wechsel adäquat zu begleiten. Eine Überprüfung der Pflegefamilie gestal-tet sich vor diesem Hintergrund häufig schwierig. Für die Pflegekinder kann das bedeuten, dass der Wechsel sehr abrupt und ungeplant erlebt wird und eine Un-klarheit über Lebensmittelpunkt und Perspektive mit sich bringen kann: So erinnert sich Olivia folgendermaßen an den Wech-sel zu den Großeltern, der eigentlich gar nicht dauer-haft geplant war:

Also meine Mutter wollte mit mir zur Familienthe-

rapie. Hat darauf bestanden. Und sie sollte aber

schon eine Woche früher oder zwei Wochen früher

los, um diesen körperlichen Entzug ohne mich zu machen.

Also ich sollte in der Zeit zu Oma und Opa. Und ja, meine Mut-

ter hat darauf bestanden, nur mit ihrem damaligen Lebens-

gefährten zusammen Familientherapie zu machen. Auf jeden

11 Vgl. Kapitel 2 zum Thema Zwischen zwei Familien

Fall war das wohl so nicht möglich und dann wollten die

an dem Abend bevor ich zu Oma und Opa kommen sollte,

wollten die abhauen. Und dann haben Oma und Opa so ein

schlechtes Gefühl gehabt an dem Abend. Und haben gesagt:

„Wir holen die Olivia schon heute Abend ab.“ Und sind dann

auch dahin gefahren. Und da waren die Sachen schon ge-

packt und die waren gerade auf dem Weg nach unten. Und

dann war es also eine ziemlich knappe Sache, dass ich also

dann im Oktober zu Oma und Opa gekommen bin. Und ja,

also es war schon abrupt. Und der Übergang, also ich weiß

nicht mehr soviel von dem Übergang, wie es dann die ers-

te Zeit bei Oma und Opa war. Der Vorteil war halt, dass ich

sonst schon jedes Wochenende da war und immer gerne da

war. Dass ich mich schon immer auf das Wochenende ge-

freut habe und dass dann der Übergang nicht so schlimm

war. Aber ich weiß aus Erzählungen von meinen Großeltern,

dass die erste Zeit ganz schlimm gewesen sein muss. Dass

ich immer geweint habe und nachts wach war und geschrien

habe und um mich geschlagen habe im Schlaf.

Auch wenn das Verwandtenpflegeverhältnis von Be-ginn an längerfristig geplant war und gemeinsam mit den professionellen Kräften organisiert wurde, kann es sich dennoch als schwierig erweisen, einen tatsächli-chen Neubeginn zu gestalten. Der Wechsel in die Ver-wandtenpflege ist meist nicht einfacher zu gestalten als in jedem anderen Pflegeverhältnisse. Der Über-gang bleibt für die Pflegekinder ein einschneidendes und schwierig zu bewältigendes Erlebnis, selbst dann, wenn die Betreuungspersonen bekannt sind und von den Kindern gemocht werden. Geht es bei einer frem-den Pflegefamilie eher um Themen wie Orientierung in einer unbekannten Umgebung, kann es bei dem Über-gang in die Verwandtenpflegefamilie beispielsweise zur Tabuisierung der Themen kommen, die mit der Fremdplatzierung zu tun haben.So erinnert Dana den geplanten und organisierten Wechsel zu Tante und Onkel:

Ja, als wir dann bei meiner Tante ankamen, dann

ging das Leben ganz normal weiter. Da wurde nicht

groß drüber gesprochen, was jetzt passiert oder

wie auch immer. Sondern die haben uns einfach nur ver-

sucht, in das ganz normale Familienleben zu integrieren.

Ohne groß darüber zu sprechen, warum wir jetzt da sind oder

wie auch immer. Die konnten ja im Grunde genommen auch

nix dafür. Außer, dass sie „Ja“ gesagt hatten.

Page 47: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

45

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Besuchskontakte Ähnlich wie das gesamte Pflegeverhältnis sind auch die Besuchskontakte häufig selbst organisiert und finden zumeist ohne Begleitung oder Organisation durch den Pflegekinderdienst statt. Vielmehr gestalten die Fami-lien untereinander die Besuche und deren Häufigkeit, was für die Pflegekinder zu einer Belastung werden kann. Zum Teil beschreiben unsere Gesprächspartner hier auch längerfristige Kontakte, etwa über das Wo-chenende oder für einige Wochen während der Ferien. Sehr häufig wird in diesem Zusammenhang die Pro-blematik einer Wiedereingewöhnung bei den Pflege-eltern geschildert. Hier berichtet Raphael von seinen Empfindungen nach Kontakten zur Mutter:

Ja, das war bei uns, also bei mir war es immer ganz

schlimm, wenn wir unsere Mutter gesehen haben.

Die mal getroffen haben oder wir haben auch eine

Zeitlang, ich war mal eine ganze Woche auch bei der gewesen

und habe mal bei der geschlafen. Und danach war ich halt, als

ich dann wieder zu Tante und Onkel kam, war ich eigentlich

nur niedergeschmettert. War total durcheinander und so.

Gemeinsame Geschichte der Pfl egefamilie und der Herkunftsfamilie Bei der Verwandtenpflege besteht bereits eine Bezie-hung zwischen den Menschen der Pflegefamilie und der Herkunftsfamilie. Es handelt sich um eine natür-liche Konstellation, die nicht erst von außen entwor-fen werden muss. Die beteiligten Personen teilen eine gemeinsame Geschichte. Neben positiven Aspekten, kann diese besondere Konstellation aber auch Belas-tungen mit sich bringen. Uns begegnen Aussagen darüber, dass Verhaltenswei-sen der jeweils einen oder anderen Seite negativ be-wertet werden. So beschreibt Olivia diese Problematik folgendermaßen:

Als Beispiel, dass ich um sechs zu Hause sein

muss und habe dann mit Mama telefoniert, habe

mich halt darüber aufgeregt über Oma und Opa:

„Ich muss schon um sechs zu Hause sein, alle anderen dür-

fen viel länger als ich.“ Und dann sie so: „Ja, das ist typisch

für Oma und Opa! Die sind immer so streng! Das war bei mir

schon so! Ich musste auch immer so früh zu Hause sein.“ Ja

und dann ein anderes Beispiel, dass halt meine Oma und Opa

gesagt haben: „Ja die Mama war auch unmöglich. Die ist an

Omas achtzigstem Geburtstag mit dem Bollerwagen ausge-

zogen. Wir hatten das ganze Haus voller Gäste! Was meinst

du, was die gedacht haben?“

Das Pflegekind erlebt an dieser Stelle ein Gefühl des Dazwischen-Seins. Es wird nicht klar, welche der an-gebotenen Erwachsenenperspektiven tatsächlich Ori-entierung liefern kann. Obwohl eine positive Einfühlung in Probleme der Her-kunftsfamilie möglich ist, finden wir auch Interview-aussagen, die das Gegenteil belegen und aus denen hervorgeht, dass Situationen in der Herkunftsfamilie nahezu Tabuthemen in der Pflegefamilie sind. So be-schreibt Tobias, dass im Zusammenleben mit der Pfle-gefamilie der Suizid seiner Mutter kaum besprochen werden konnte:

Aber wirklich gesprochen worden ist da nie wirk-

lich drüber, muss man sagen. Also wenn, dann

gab es einen Konflikt, einen richtigen, aber nicht,

dass man sich jetzt einfach mal hingesetzt hätte und darüber

geredet hätte. Da gab es ein paar wenige Momente schon wo

ich, wenn jetzt jemand merkte, ich hatte einen wirklichen

Durchhänger wieder am Geburtstag meiner Mutter oder so

oder am Todestag, dann hat man schon so ein bisschen da

drüber mal geredet. Aber ja so wirklich kontinuierlich ist es

nie geworden eigentlich. Das war immer, das war aber auch

so viel, was halt vorher vorgefallen ist zwischen meiner Mut-

ter und meinem Onkel.

Rollenkonfusion Für alle Beteiligten kann es mitunter schwierig sein zu klären, wer welche Rolle innerhalb des Pflegeverhält-nisses einnimmt. Pflegekinder müssen beispielsweise einen Umgang damit finden, dass eine z. B. als Tan-te bekannte Person Teile der Mutterrolle übernimmt, gleichzeitig aber nicht die Mutter ist. Dana beschreibt, dass die Tante nicht offiziell die Mut-ter sein durfte, gleichzeitig in ihrem Verhalten oder in der Außenwahrnehmung keine Unterschiede zwischen den eigenen und den Pflegekindern gemacht hat:

Ja, das wurde von Anfang an sehr getrennt. Wir

durften nie „Mama, Papa“ sagen, sondern es wur-

de immer gesagt: „Tante, Onkel“. Also uns wurde

gesagt: „Der Kinder wegen.“ Weil wenn die hören: „Die zwei

nennen die jetzt auch Mama oder Papa ...“ Meine Tante hat

das nie getrennt. Wenn jemand gefragt hat: „Sind das Ihre

Kinder?“ hat sie gesagt: „Ja, sind alle meine.“ Mein Onkel

war da schon mal ein bisschen was anders. Der hat immer

gesagt: „Ja, drei Eigene, zwei Geliehene.“ Aber irgendwo war

immer, mal wurde es getrennt, mal nicht.

Page 48: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

46

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Olivia erinnert sich, wie ihre Mutter, die die Mutter rolle im Alltag nicht füllen konnte, letztlich versucht hat, eine Freundin zu sein, was für Olivia nicht der richtige Weg war:

Ich glaube auch noch, das war es, was Mama ver-

sucht hat. Also eher eine Freundin zu sein als eine

Mutter. Weil eine Mutter hatte ich ja in dem Sinne

schon, meine Oma. Und das glaube ich, deswegen hat sie

einfach versucht, eher eine Freundin zu sein. Was ich aber

gar nicht wollte. Weil ich wollte eigentlich eine Mutter ha-

ben.

Im weiteren Verlauf des Interviews beschreibt sie dann auch die eigenen Bemühungen, ein aus ihrer Sicht normales Mutter-Tochter-Verhältnis zu gestalten:

Aber trotzdem hatte man ja immer dieses Bild von,

also Mütter müssen einem ja eigentlich vertraut

sein. Das sind ja, ist ja deine Mutter. Und ja, man

hatte, also ich habe halt versucht, dass das schon so, wie sag

ich das am besten? Also ich hab schon versucht, dass es ein

Mutter-Tochter-Verhältnis ist. Oder ja, versucht es so zu ge-

stalten. Auch wenn die Vertrautheit ja eigentlich gar nicht da

ist. Aber halt dadurch, dass man, dass man das so eingebläut

bekommt, ja dann: „Die ist ja deine Mutter und deine engste

Vertraute.“ Und ja, das war schon schwierig da also nicht in

dieses, eigentlich nicht in diese Rolle zu passen, die einem

aber, also die man eigentlich erfüllen sollte.

Auch für die verwandten Pflegeeltern ist es mitunter schwer, mit den verschiedenen Rollen zu zurechtzu-kommen. So beschreibt Tobias, wie schwierig es sei-ner Meinung nach für die Großmutter gewesen sein muss, mit ihrer eigenen Mutterrolle und dem Verlust der Tochter – Tobias Mutter – umzugehen:

Also ich sage mal das Zusammenleben damals

mit meiner Oma war auch nicht sonderlich leicht.

Halt eine ältere Frau und halt ja auch geprägt

durch Krieg durch alles und selber geprägt dadurch, dass

meine Mutter sich, dass ihre Tochter sich das Leben genom-

men hat.

Dana beschreibt, dass für ihren Onkel der Umgang mit seinen leiblichen Kindern und seiner Vaterrolle nach der Aufnahme zweier Verwandtenpflegekinder ein an-derer wurde:

Ja, der Onkel ist meist im Hintergrund. Ein wirkli-

ches Verhältnis zu dem hatte ich jetzt erst kurz

bevor ich dann gegangen bin. Weil da hat der dann

auch noch mal versucht, mir ein Vater zu sein. Oder bezie-

hungsweise mit mir über die Probleme zu sprechen. Und da

ist ihm dann eigentlich auch erst bewusst geworden, als ich

mich dann entschieden hatte zu gehen, wie wichtig ich ihm

dann doch geworden bin über die Zeit. Und er sich eigentlich

kaum gewagt hat, das zu zeigen. Weil er das halt vor den vor

seinen eigenen Kindern nicht zeigen wollte. Oder konnte. Er

sagt oder hat mir gesagt, er hat damals, als er uns genom-

men hat, hat er quasi damit aufgehört seine Kinder mehr zu

lieben. Er hat einfach alles runter gefahren, mehr oder weni-

ger auf kalt gestellt und versucht, uns alle gleich zu halten.

Ob das jetzt positiv oder negativ ist, ich weiß es nicht. Meine

Cousine sagt oft, sie hat halt die Liebe ihres Vaters vermisst

in den Jahren, wo wir da waren.

Diese Verhaltensweisen wirken sich dann im Gegenzug wieder auf das Pflegekind und seine Situation in der Familie aus. Zudem zeigt das Beispiel, dass es auch für die leiblichen Kindern in der Pflegefamilie, in die-sem Beispiel also Cousin und Cousine der Pflegekin-der, nicht leicht ist mit der veränderten Situation und den veränderten Rollen – sowohl den eigenen als auch denen der Eltern – umzugehen.

Schwierigkeiten in der AbgrenzungDass verwandte Personen das Pflegeverhältnis über-nommen haben, wird von unseren Gesprächspartnern positiv bewertet und ist häufig mit Gefühlen der Dank-barkeit verbunden. Gleichzeitig kann aber gerade die Zeit der Ablösung von der verwandten Pflegefamilie problematisch sein. So beschreibt Olivia, wie schwie-rig die Ablösung von der Großmutter und ihr eigenes schlechtes Gewissen zu bewältigen waren:

Bis zum Tod von meinem Opa. Dann war Oma un-

heimlich fixiert auf mich. Aber ich meine, ich war

dann, ich war achtzehn. Und auf dem besten Weg,

ja kurz vorm Ausziehen. Also ich wusste, ich mache nächstes

Jahr mein Abitur und dann bleibe ich auf jeden Fall nicht

mehr zu Hause wohnen. Und Oma hat unheimlich geklam-

mert. Also das war noch mal schwierig. Wo ich Oma dann

gesagt habe: „Hey, also das geht mir echt zu weit. Du musst

dir irgendwas suchen, womit du deine Zeit verbringen kannst.

Du kannst dich nicht die ganze Zeit um mich kümmern. Mein

Zimmer aufräumen. Staub wischen bei mir und meine Sa-

chen, meinen Schrank neu sortieren. Also das geht einfach

nicht.“ „Ich hab es doch nur gut gemeint.“ Toll, habe ich wie-

Page 49: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

47

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

der ein schlechtes Gewissen gekriegt und gedacht: „Natür-

lich hat Oma es nur gut gemeint.“

Was hilfreich war – RessourcenDie bereits bestehende Beziehung zwischen der Pflege-familie und der Herkunftsfamilie und die gemeinsame Geschichte können für die Pflegekinder zu einer Res-source werden. Im positiven Sinne kann diese gemein-same Geschichte ein höheres Maß an Verständnis für die Situation, in der die Herkunftsfamilie sich befin-det, bedeuten. Den verwandten Pflegeeltern gelingt es möglicherweise besser, bestimmte Problemlagen aus der Herkunftsfamilie, wie zum Beispiel eine psy-chische Erkrankung, zu erklären. So beschreibt Olivia, dass seitens der Großeltern immer ein offener – aus ih-rer Sicht altersgerechter – Umgang mit Informationen über die Drogensucht der Mutter und das Zustande-kommen der Verwandtenpflege geherrscht hat:

Wobei ich das Gefühl hatte, dass Oma und Opa

schon versucht haben, das in der Waage zu halten.

Also die haben mir auch von Anfang an gesagt, wa-

rum ich bei ihnen bin. Und zumindest, als ich alt genug war,

das zu verstehen, haben sie mir immer versucht das zu er-

klären und so, dass ich es auch nachvollziehen kann. Also zu

Hause war es einfach ganz normal, darüber zu sprechen. Es

war nichts Schlimmes, nichts Verbotenes, nichts wo jemand

gesagt hätte so: „Ah Olivia, darüber redet man aber nicht“,

sondern das war immer ein offener Umgang mit dem Thema.

Darauf haben Oma und Opa auch sehr viel Wert gelegt.

Die gemeinsame Geschichte der Pflege- und der Herkunftsfamilie kann eine bereichernde Ressource für die Biografiearbeit sein. So haben beispielsweise Großeltern einen Zugang zu Informationen oder Bil-dern des Pflegekindes, die für diesen Aspekt nutzbar gemacht werden können. Nicht zuletzt beinhaltet die gemeinsame Geschichte auch, dass die Pflegeeltern das Kind bereits kennen und hier möglicherweise ei-nen entsprechenden Wissensschatz haben.

Ein Wechsel in die Pflegefamilie findet in aller Regel zum Zeitpunkt einer sehr kritischen Situation im Le-ben des Pflegekindes statt. Erfolgt der Wechsel in ein einigermaßen vertrautes Lebensumfeld und in ver-traute Beziehungen, kann dies eine große Entlastung bedeuten. Tobias beschreibt dies – nach dem Tod der Mutter und einer belastenden Zeit in einer betreuten Wohneinrich-tung – sehr klar:

Ja es war, also es war erstmal eine riesen Erleich-

terung auf jeden Fall doch zu wissen, ich habe da

jetzt jemand hinter mir, weil das brauchte ich ein-

fach. Ich brauchte irgendwie ein ganz festes Umfeld, was

mich da gehalten hat. Weil ich habe einfach gemerkt damals,

es geht nicht mehr. Also es war so, ich wäre da echt fast so

abgestürzt und ich war halt einfach erstmal froh und mit die-

ser Erleichterung kam dann erstmal eine riesen Müdigkeit

auch emotional und ich habe sehr viel geschlafen in der ers-

ten Zeit.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich die Verwandtenpflege neben der Auseinandersetzung mit einem Großteil der Themen, die auch in einem regulä-ren Pflegeverhältnis auftauchen, mit spezifischen The-men und Besonderheiten aufgrund der Verquickung von Herkunftsfamilie und Pflegefamilie auseinander-setzen muss.

An positiven Merkmalen, die es durch professio-• nelle Arbeit zu gewährleisten beziehungsweise zu nutzen gäbe, finden wir: Bereits bestehende Beziehungen, die als • Ressource genutzt werden können.Verständnis und Erklärungen für Problemlagen • in der Herkunftsfamilie.Ressourcen (Erinnerungen, Fotos, Geschichten) • für die Nutzung in der Biografiearbeit.Kenntnisse über das Pflegekind, die genutzt • werden können.Wechsel in ein vertrautes Umfeld und zu • vertrauten Personen und dadurch entstehende Erleichterung und Entlastung.

Gleichzeitig gibt es aber auch Belastungspotentiale, denen ein Konzept zur Verwandtenpflege und ein kom-petenter Pflegekinderdienst begegnen müssten:

Abrupte Übergänge in kritischen Zeiten mit einer • häufig sehr uneindeutigen Perspektive. Ein klarer Neubeginn, wie in Fremdpflegeverhält-nissen, ist aufgrund familiärer Verstrickungen häufig problematisch.Selbstorganisation des gesamten Pflegeverhält-• nisses und der Besuchskontakte, verbunden mit Unklarheit für die Pflegekinder.Die gemeinsame Geschichte der Pflege- und der • Herkunftsfamilie. Verstrickungen in verschiedene Wahrheiten sowie negative Äußerungen über die jeweils anderen Personen.

Page 50: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

48

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Tabuthemen, die das Pflegekind nicht ansprechen • kann oder darf.Konfusion in den verschiedenen Rollen und • Rollenerwartungen auf allen Seiten – häufig verbunden mit Loyalitätskonflikten. Schwierigkeiten in der altersgemäßen • Abgrenzung (hier vor allem von Großeltern).

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass die Verwand-tenpflege eine Form der Pflegefamilie ist, die es in ih-rer Besonderheit zu wertschätzen und zu würdigen gilt. Sie kann in vielen Fällen den bisherigen Lebenskontext des Kindes einigermaßen stabil halten und bestehende Beziehungen nutzen. Verwandtenpflegeverhältnisse sind dabei keine Selbstläufer, sondern brauchen neben vielem, was andere Pflegefamilien an Unterstützung brauchen, in Teilen eine besondere Betreuung und Begleitung. Diese Begleitung kann mitunter intensiver sein als in Fremdpflegeverhältnissen. Es gilt, durch professionelle Arbeit die Stärken und Ressourcen der Verwandtenpflege zu nutzen und zu unterstützen und genauso ihre Grenzen anzuerkennen. Die Beteiligten müssen dabei unterstützt werden, einen konstruktiven Umgang miteinander zu etablieren. Für diese profes-sionelle Arbeit ist es notwendig, dass

es klare Zuständigkeiten für die Verwandten-• pflege gibteigene Konzepte für die Verwandtenpflege ent-• wickelt werden, die auch eigene Seminare für Verwandtenpflegeeltern sowie eigene Gruppen für Verwandtenpflegeeltern zum Austausch beinhaltenFachkräfte für dieses Arbeitsfeld besonders • qualifiziert werden.

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Ein erster und grundlegender Schritt muss die Erarbeitung einer Rahmenkonzeption für die

Verwandtenpflege sein, die die Ergebnisse des Projekts sowie der weiteren aktuellen Forschung aufnimmt und weiter bearbeitet. Fachkräfte, die im Arbeitsfeld Ver-wandtenpflege tätig sind, müssen besonders geschult werden. Konkret bedeutet dies, dass

jedes Jugendamt ein entsprechendes • Schulungsangebot vorhalten bzw. den Zugang zu einem solchen eröffnen muss,die Teams der Pflegekinderdienste eine Fachkraft • zu diesem Thema qualifizieren sollten und entsprechende räumliche und finanzielle • Ressourcen vorgehalten werden.

Die Begleitung von Pflegefamilien sollte hier besonders kontinuierlich erfolgen, denn auf-

grund möglicher Verquickungen der erwachsenen Personen besteht die Gefahr, dass das Kind (noch) we-niger Empfänger für mögliche Notsignale hat. Es be-steht die Gefahr der Verinselung des Kindes, der durch ein intensiveres Hinschauen vorgebeugt werden muss. Relativ häufige Kontakte beugen zudem einem mögli-chen Kontaktverlust zur Familie vor und eröffnen für die Fachkraft die Möglichkeit – auch im Nachhinein – zu einem akzeptierten und bedeutenden Akteur inner-halb des Pflegeverhältnisses zu werden.

Kontakte mit Begleitung der Verwandtenpflege-• familie müssen durch eine entsprechend qualifi-zierte Fachkraft durch geführt werden. Es sollte mindestens sechs Kontakte im Jahr • geben, bei denen der Fachberater sowohl mit den Pflegeeltern als auch mit dem Pflegekind alleine ausführlich sprechen und einen engen Kontakt entwickeln kann. Um der Verwandtenpflegefamilie die Kontakte • zu erleichtern, sollten niederschwellige Kontaktangebote ermöglicht werden, hierzu können beispielsweise Frühstücks-angebote, gemeinsame Ausflüge oder Veranstaltungen, wie Weihnachtsbasare oder ähnliches, gehören.

Page 51: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

49

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Die konkrete Betreuung der Verwandtenpflege-verhältnisse sollte zum einen die potentiellen

Ressourcen in den Blick nehmen, gleichzeitig sollte die Fachkraft aber auch immer die möglichen Grenzen und Problemfelder in die Betreuungsarbeit mit ein-beziehen.

Der Fachberater sollte Angebote zur Biografie-• arbeit machen, die sich die besondere Konstel-lation in der Verwandtenpflege zu Nutze ma-chen und deren Ressourcen ausschöpfen. Das heißt, dass vorhandene Informationen über die Herkunfts familie (Fotos, Geschichten, Erinne-rungstücke) hier aufgegriffen werden sollten.Um einen Umgang mit Selbstorganisationen • innerhalb des Pflegeverhältnisses zu finden, sollte der Fachberater Absprachen und Regeln moderieren und deren Umsetzung im Blick haben, um insbesondere dem Pflegekind Sicherheit und Klarheit zu vermitteln.Auch in diesem Kontext kann die Schaffung • niederschwelliger Kontaktmöglichkeiten hilfreich sein.

Viele Themen, die ein Pflegeverhältnis beglei-ten, bedürfen in der Verwandtenpflege einer be-

sonderen Berücksichtigung. Wie aus den Zitaten deut-lich wurde, gehören hierzu: Perspektiventwicklung, Rollenklarheit, Biographiearbeit, Loyalität und Über-gang in die Pflegefamilie. Zudem muss sich ein Verwandtenpflegeverhältnis aber auch den Herausfor-derungen stellen, mit denen sich auch ein Fremdpfle-geverhältnis auseinanderzusetzen hat. Um dieser be-sonderen Konstellation gerecht zu werden, braucht es

Moderation im gesamten verwandtschaftlichen • Beziehungsgeflecht, beispielsweise wie dies im Rahmen der Methode der „Familiengruppen-konferenz“ entwickelt wurde.12 Angebote gemeinsam mit anderen Verwandten-• pflegefamilien. Hierbei sollten verwandtenpflege-spezifische Themen aufgegriffen werden. Schaffung von regelmäßigen Austausch-• möglichkeiten für Verwandtenpflegefamilien untereinander. Hier ist die Entwicklung von Netzwerken zur gegenseitigen Unterstützung besonders bedeutsam und kann beispielsweise durch die Etablierung eines Stammtisches oder ähnlichem erfolgen. Zur möglichen Anbindung an andere Pflege familien sollten auch allgemeine Treffen und Angebote für die Verwandtenpflege-familien offen sein.

12 Vgl. Hansbauer, Hensen, Müller, von Spiegel (2009)

Page 52: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

50

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

7 Pfl egekinder und ihre Geschwister

Geschwisterbeziehungen sind häufig die längsten Beziehungen, die Menschen haben. Und trotz dieses Wissens bleibt das Thema Geschwister in der Fach-diskussion um Fremdunterbringung bis dato eher ein Randständiges. Nur langsam werden die Bedeutsam-keit, die die Beziehung zu Geschwistern haben kann, die Perspektive von Kontinuität und die Betonung des Erhalt von Beziehungen1 in den professionellen Dis-kurs aufgenommen und in praktische Handlungsemp-fehlungen umgesetzt. Dabei setzen sich Professionelle immer wieder beispielsweise mit der Frage nach der gemeinsamen oder getrennten Unterbringung von Geschwistern auseinander. Sie treffen ihre Entschei-dung letztlich aber eher auf Basis von persönlicher Erfahrung als auf der Grundlage empirischer Untersu-chungen. Das Leuchtturmprojekt Pflegekinderdienst möchte dem entgegentreten, indem auf den Unter-suchungsergebnissen beruhende Handlungsempfeh-lungen formuliert werden.Ein weiterer Schritt, um zusätzliche Erkenntnisse zu erlangen, ist ein Forschungsprojekt der Forschungs-gruppe Pflegekinder der Universität Siegen, das in Kooperation mit dem Sozialpädagogischen Institut (SPI) von SOS Kinderdorf Deutschland durchgeführt wird. Basierend auf der Perspektive von Kindern und Jugendlichen, die aktuell in SOS-Kinderdörfern leben, sowie den retrospektiven Darstellungen von jungen Erwachsenen, die dort gelebt haben, werden Einblicke in Geschwisterbeziehungen im Kontext von Fremd-betreuung und familiärer Vorbelastung gewonnen. So werden neue Erkenntnisse über günstige und förder-liche Entscheidungen, Prozesse und Strukturen bei der Fremdunterbringung von Geschwisterkindern er-langt.2

1 Vgl. Walper, Thönnissen u.a. (2009), S. 60 ff 2 Die Projektergebnisse werden veröffentlicht in den Materialien

des Sozialpädagogischen Instituts (SPI) der SOS Kinderdörfer Band 17: Wolf, Klaus; Petri, Corinna (2011): Fallstudie zur Situ-ation von Geschwisterkindern in SOS Kinderdörfern.

Aber auch die leiblichen Kinder in Pflegefamilien wer-den von den Pflegekindern häufig als Geschwister wahrgenommen. Diese „sozialen Geschwister“ wer-den sowohl in der theoretischen Diskussion als auch in der konkreten fachlichen Debatte allerdings nur sehr wenig beachtet.3 Dabei zeigt sich, dass sie eine große Bedeutung für das Pflegeverhältnis haben und zu wichtigen Bezugspersonen für das Pflegekind wer-den können. Im weiteren Verlauf des Kapitels werden diese Bedeutungen, aber auch mögliche Belastungen, die sich aus der Beziehung zu den „sozialen Geschwis-tern“ ergeben können weiter aufgegriffen. Im Projekt „Pflege kinderstimme“ wurden zusätzlich einige Inter-views mit leiblichen Kindern geführt.4 Zu betonen gilt, dass die leiblichen Kinder innerhalb der Pflegefamilie mehr Aufmerksamkeit bekommen müssen und es hierzu ergänzender Forschung dringend bedarf.

Pfl egekinder und ihre leiblichen GeschwisterEin sehr großer Teil unserer Interviewpartner hat leibliche Geschwister und Halbgeschwister. Viele ha-ben mit diesen gemeinsam in der Herkunftsfamilie gelebt, eine weitere Gruppe berichtet von später ge-borenen Geschwistern. Aber nicht nur die Vielfalt an Geschwisterkonstellationen fällt auf, sondern auch die Unterschiedlichkeit im Umgang und im Kontakt mit den verschiedenen Geschwistern. Kennen sich die Ge-schwistern untereinander oder wissen sie lediglich von der Existenz des jeweils anderen? Besteht Kontakt und wenn ja, in welcher Form? Welche Gefühle und Emp-findungen existieren gegenüber leiblichen, aber auch gegenüber Pflegegeschwistern?

3 Eine Publikation zum Thema: Marmann, Alfred (2006) 4 Vgl. Reimer (2011)

Page 53: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

51

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien

Wechsel in die Pfl egefamilieVon vielen unserer Gesprächspartner wird die Tren-nung von der leiblichen Familie beziehungsweise der konkrete Moment des Übergangs in die Pflegefamilie als belastende Situation erinnert. Nicht zu wissen, wie es weitergeht, plötzlich und unerwartet an einen frem-den Ort zu kommen, keine Möglichkeiten zur Verab-schiedung zu haben, sind hier nur einige Aspekte. Die als unvorbereitet erlebte Trennung von den leiblichen Geschwistern kann eine weitere Belastungsquelle sein, wie es beispielsweise Desiree im Interview beschreibt:

Es hat uns keiner „Tschüss“ gesagt oder so, das

war dann halt so. Und vor allem, wie gesagt, das

Schlimmste war halt mit meinen Schwestern. Ich

konnte nicht „Tschüss“ sagen oder irgendwas. Ich wurde als

kleines Kind ins Auto gesteckt und weg und ich hab anschei-

nend dann ziemlich nach meinen Geschwistern geschrien.

Und das fand ich eigentlich viel schlimmer als wie gesagt

nicht mehr bei meinen Eltern zu sein, nach denen hab ich

jetzt nicht großartig geheult.

Mögliche Belastungen bei gemeinsamer UnterbringungUns stehen nur wenige Interviews zur Verfügung, in denen leibliche Geschwister zusammen untergebracht waren. In diesen zeigt es sich als eine mögliche Be-lastungsquelle, wenn Strategien und Rollen aus der Zeit in der Herkunftsfamilie, beispielsweise im Kon-text der Versorgung und Verantwortung für jüngere Geschwister, weiter aufrecht erhalten werden. Es fällt den Kindern hier mitunter schwer, sich von diesen zu lösen. Werden diese Rollen und Strategien auch in der Pflegefamilie weiterhin eingenommen, können sie sich hemmend auf die individuelle Entwicklung auswirken. So beschreibt zum Beispiel Nicole, wie sie bis heute an den alten Rollen festhält:

Und ja, es ist so wie immer noch für Mela so, dass

sie so die Mutterrolle immer noch übernimmt.

Aber das ist bei mir auch so, dass ich egal was

Mela sagt, dass ich darauf irgendwie höre. Weiß ich nicht, das

ist ganz komisch. Obwohl ich irgendwie, weiß ich nicht, es ist

nicht richtig, aber es ist, ich muss es mir abgewöhnen und

sie vielleicht auch. Und ich glaube das ist für uns beide nicht

gut.

Die füreinander übernommene Verantwortung wirkt sich so aus, dass die Geschwister Probleme und Be-lastungen unter sich ausmachen und beispielsweise Sorgen über die leibliche Familie, Besuche der leibli-chen Eltern oder ähnliches fast ausschließlich gemein-sam besprechen. Hier besteht nur wenig Zugang für erwachsene Vertrauenspersonen, die möglicherweise steuernd eingreifen könnten.Wir finden im Interviewmaterial einige Beispiele, in de-nen das Pflegeverhältnis bei einem der Geschwister-kinder früher beendet wurde als bei dem anderen, weil beispielsweise Konflikte in der Pflegefamilie zu einer Beendigung oder einem Wechsel in eine andere Hilfe form führten. Diese veränderte Situation im Zu-sammenleben kann als Belastung erlebt werden. So beschreiben die Geschwister Hanna und Mark, die ge-meinsam interviewt wurden, wie es massive Probleme in der Pflegefamilie gab und was der Auszug von Mark für Hanna bedeutet hat:

H: Und ja, wie gesagt, das waren immer wieder

Diskussionen. Nachdem mein Bruder dann aus-

gezogen ist, war ich dann der Buhmann.

M: Ja, das war das Schlimmste eigentlich für uns, dass ich

sie da alleine gelassen hab.

H: Ja, das hat mir auch sehr weh getan. Ja mir ging es dann

da auch nicht viel besser

M: Hat sie glaub ich ein bisschen mehr mitgenommen, wo

ich dann ausgezogen bin, weil ich hab auch, wo ich gegan-

gen bin, hab ich sie noch nicht mal in den Arm genommen,

ich war so eiskalt gewesen, ich hab einfach gesagt: „Ich will

raus, ich möchte nicht mehr.“ Und dann hab ich den Feh-

ler halt gemacht, dass ich sie halt nicht in den Arm genom-

men hab und bin einfach gegangen. Das war glaub ich das

Schlimmste gewesen.

Erkennbar wird hier die Belastung durch die Verantwor-tung für das andere Geschwisterteil, eigentlich steht Mark hinter der Entscheidung in eine Heim einrichtung wechseln zu wollen, gleichzeitig hat er große Schwie-rigkeiten damit, seine Schwester zurück zu lassen. Es wird an diesem Beispiel deutlich, dass eine gemein-same Unterbringung möglicherweise nicht allen Be-dürfnissen der Pflegekinder gerecht werden und die gemeinsame Unterbringung zusätzliche Belastungs-quellen hervorbringen kann. Diese sollten mit den Vor-teilen einer gemeinsamen Unterbringung abgewogen werden.

Page 54: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

52

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Ausbleiben von Kontakten und keine Informationen Wenn zu den leiblichen Geschwistern kein Kontakt möglich war, dieser aber gewünscht wurde, wird dies in vielen Interviews als klare Belastungsquelle be-schrieben. Hier geht es vor allem um die Geschwister, mit denen es zuvor ein Zusammenleben in der Her-kunftsfamilie gegeben hat. Über das Ausbleiben von Kontakten mit ihren Ge-schwistern berichtet beispielsweise Rebecca:

Ja, also was auch anderes, was noch schlimm war

in der Pflegefamilie, dass meine fast alle meine

Geschwister leben auch hier in C-Stadt. Und wir

hatten auch früher immer guten Kontakt und dann wollte ich

die halt oft besuchen, aber ja das, das ging halt nicht. Also

weil meine Pflegemutter, meine damalige, wollte das nicht.

Die wollte, dass wir in ihre Familie reinintegriert werden und

wir gehörten zu ihnen. Und das war für mich der Horror, ich

hab es nicht verstanden, ich dachte immer, sie mag das

nicht, weil ich irgendwie, ja, weil ich wusste es auch nicht. Ich

dachte irgendwie, sie möchte nicht, dass ich zuviel weg bin

und wenn es dann darum ging, mit meinen Freunden zu

verab reden, das war in Ordnung, aber mit meinen Geschwis-

tern, das wollte sie nicht. Also sie wollte mich da so ein biss-

chen abschneiden und mich in ihre Familie mit aufnehmen.

Obwohl das sowieso nicht geklappt hat von ihren Kindern aus

schon nicht. Aber irgendwie hat sie es dann doch immer pro-

biert und ja, damit hab ich, also das fand ich auch ganz

schlimm. Auch weil ich manchmal denke, also wenn ich jetzt

so Hilfeplanprotokolle lese, dass ich da manchmal über mei-

ne Geschwister rede, dass ich irgendwie keinen Kontakt

mehr zu denen haben möchte, wenn ich das jetzt heute lese,

denk ich nur wie konnte ich damals nur so denken.

In diesem Beispiel ist zu erkennen, dass der fehlende Kontakt zu den Geschwistern eine Belastung für Re-becca darstellt. Sie kann als Kind nicht nachvollziehen, warum sie keinen Kontakt mehr zu den Geschwistern haben kann und versucht, für sich eine Erklärung zu finden, warum es keine Kontaktmöglichkeit gab. Das Beispiel zeigt, dass das Thema „leibliche Geschwister des Pflegekindes“ auch die Pflegeeltern sehr stark be-rührt und von ihnen entsprechende Kompetenzen im Umgang erfordert.

Der Eindruck, selber keine Einflussmöglichkeit auf Kontakte zu den leiblichen Geschwistern zu haben, zeigt sich im gemeinsamen Interview mit den Geschwistern Mark und Hanna. Beide beschreiben, dass sie sich durch die Pflegeeltern manipuliert gefühlt haben:

Als wir bei der einen Pflegefamilie waren, da wur-

de auch unser Kontakt zu unserer leiblichen also

zu unserer anderen Schwester, wurde dann ja ir-

gendwie untersagt. Verboten. Also die haben uns, ja ausge-

trickst kann man sagen. Die haben uns manipuliert. Haben

uns erzählt, dass sie unsere Schwester getroffen haben, dass

sie kein Wort gesprochen hat, dass sie weggeguckt hat. Und

so hat man uns dann im Prinzip klargemacht, dass sie ei-

gentlich gar nichts mit uns zu tun haben möchte. Und dass

weder ein Anruf kommt noch eine Karte geschickt wird. Da-

bei war das ganz anders. Sondern meine Schwester hat

schon den Kontakt zu uns gesucht, aber der wurde halt im-

mer abgewimmelt.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass eigentlich Kon-takt zu der leiblichen Schwester gewünscht gewesen wäre, dieser aber nicht ermöglicht wurde. Die Inter-viewpartner haben für sich keine Möglichkeit gesehen, die Situation zu verändern und es letztlich hinnehmen müssen, dass es keinen Kontakt gab. Das Beispiel gibt auch einen Hinweis auf mögliche Unsicherheiten und Ängste der Pflegeeltern, die durch Kontakte mit dem Herkunftssystem, hier mit der leiblichen Schwester, hervorgerufen werden können.

Kurzzeitige Kontakte – Belastungen und Umgangsstrategien Einige unserer Gesprächpartner berichten auch davon, dass sie in kurzen Phasen mit den leiblichen Geschwis-tern, mit denen sie in der Herkunftsfamilie gelebt ha-ben, Kontakt hatten. Hier taucht mitunter das Thema der unterschiedlichen Entwicklung der Geschwister auf. Die Interviewpartner schildern in diesem Zusam-menhang, wie sie es erlebt haben, die Geschwister in einer veränderten Lebenssituation und teilweise auch mit gewandelter Persönlichkeit oder Lebenshaltung wieder zutreffen. Oft wird dies als schwierige Situation empfunden. Eine mögliche Umgangsstrategie ist hier, wieder Distanz zu den leiblichen Geschwistern und de-ren Lebensstil herzustellen, wie das Beispiel von Adem zeigt, der über die Kontaktaufnahme mit seiner leib-lichen Schwester und deren Veränderung berichtet:

„Die Monate bevor wir uns halt getroffen haben,

haben wir auch immer telefoniert und so. Und da

hat man das auch immer halt mitbekommen, wo

ich dann halt meinte so: „Und was machst du so ja in deiner

Freizeit?“ „Ja ich geh oft nach B-Stadt.“ Ich so: „Oh cool, ich

geh auch nach B-Stadt. Wo gehst du denn hin?“ „Ja, an den

Page 55: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

53

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Freiheitsplatz. Da sind voll viele nette Leute so. Und wenn die

nett sind, komm ich da auch öfter hin.“ Ich so: „Was? An den

Freiheitsplatz so?“ Hab ich so nachgehört, ja ok da gehen ja

eigentlich nur Penner hin. Deswegen. Da hat sie auch immer

mit abgehangen so. Auch irgendwie, dass die dann auch

wirklich Drogen genommen hat, harte Drogen, wirklich harte

Drogen, die einem die Psyche zerstören. Das war halt ein

komplett fremder Mensch. Das war, das ist an sich eigentlich

schon traurig so, aber, ich konnte halt damals schon die Ent-

scheidung treffen „Ok damit will ich abschließen“ und hab es

dann auch gemacht.

Adem beschreibt an mehreren Stellen des Interviews die massive Veränderung seiner Schwester und seine Schwierigkeiten, sie wiederzuerkennen. Er betont da-bei, dass er zwar Mitleid mit ihr empfunden hat, macht aber gleichzeitig deutlich, dass er sich von ihr und ih-rer Art zu leben distanzieren musste.Auch berichten einige der Gesprächspartner davon, dass sie die nachgeborenen Geschwister zwar kurz getroffen haben, den Kontakt aber nicht aufrecht er-halten mochten. So beschreibt Hannes, dass er kei-ne tatsächliche Verbindung zu seinem (Halb-)Bruder empfindet und den Kontakt auch nicht wieder aufgrei-fen möchte:

Meinen Halbruder hat meine damalige Freundin

dann auch ausfindig gemacht, den hab ich dann

über das tolle Netzwerk XY kontaktiert. Ja mit ihm

hab ich mich dann auch getroffen. Er ist halt bei meiner leib-

lichen Mutter geblieben, hatte nicht wirklich ein schönes Le-

ben. Der ist halt mit dem Alkoholkranken, und meine Mutter

war wohl auch mit dabei, groß geworden. Hat viel einstecken

müssen, war im Alter von 15 in der Kinderpsychiatrie wohl.

Hat seinen Hauptschulabschluss abgebrochen, Drogenkarri-

ere. So wirklich, ja das volle Programm wirklich durch. Es ist

zwar vom Gefühl her irgendwie mein Halbruder, aber ich

habe mich zweimal mit ihm getroffen, wir hatten so ein biss-

chen oberflächlich Kontakt, aber ich selber kann es nicht. Es

tut mir wahnsinnig leid. Andererseits sehe ich wie froh und

glücklich ich bin, dass ich, dass mir das erspart geblieben

ist, dass ich eine schöne Kindheit hatte.

Es zeigt sich an diesem Beispiel, dass Hannes die Situ-ation des Bruders belastet und auch seine Vorstellung, wie das eigene Verhalten ihm gegenüber zu sein hätte, den Umgang mit der Situation nicht leicht macht. Es wird erkennbar, dass eine große Sorge besteht, sich das, was im Kontext einer neuen Familie – also der Pflegefamilie – aufgebaut wurde, möglicherweise wie-

der kaputt zu machen. Eine denkbare Umgangsstra-tegie ist hier das gänzliche Ablehnen der Kontakte zu den unbekannten Geschwistern und die Betonung der Fremdheit. Solche Bewältigungsversuche haben im-mer auch einen Preis. Fachkräfte sollten Pflegekinder bei ihren Suchbewegungen unterstützen.

Verantwortung für Geschwister bei getrennter Unterbringung Das Thema der Verantwortung für die leiblichen Ge-schwister ist häufig sehr zentral für die ehemaligen Pflegekinder und gründet in aller Regel in der Zeit in der Herkunftsfamilie. Hier haben sich unsere Ge-sprächspartner oftmals um das Wohl ergehen und bei-spielsweise die Versorgung der – meist jüngeren – Ge-schwister gekümmert. So beschreibt etwa Robert, wie er für seinen jüngeren Bruder gesorgt hat:

„R: Obwohl ich da noch ziemlich jung war, aber ich

hab mich sehr verantwortlich auch für meinen

Bruder gefühlt. Der ist zwei Jahre jünger als ich.

Und so dass wir auch, dass wir so Brot haben. Einfach so

Kleinigkeiten einfach, die ich gemacht hab, weil meine Mut-

ter es nicht mehr geschafft hat einfach.

I.: So was wie Brote schmieren oder was meinst du?

R.: Ja, genau so etwas, halt für meinen Bruder und mich

halt. Das, weil meine Mutter, die war ja, die war einfach nicht

ansprechbar und auch nicht, die hat sich da, ich will nicht

sagen, sie war keine, die hat mich nicht geschlagen oder so.

Sie war jetzt nicht so eine Horrormutter. Aber sie hat einfach

mit sich selber viel zu viel zu tun gehabt. Also statt sich da ein

bisschen noch um uns zu kümmern. Trotzdem so haben wir

sie halt immer, weil es ja auch unsere Mutter ist, immer ge-

schützt da auch und so. Von Nachbarn und so. Also schon so

richtig, weiß ich nicht. In dem Alter, dass man das so schon

ausprägt findet, war für mich dann auch erstaunlich. Jetzt,

wo ich zurück blicke. Hab dann auch als Sechsjähriger oder

Siebenjähriger sogar Alkohol für meine Mutter geholt.

Wie im Beispiel von Robert kommt es häufig vor, dass neben der Verantwortung für leibliche Geschwister auch noch die Verantwortung für die leiblichen Eltern übernommen wurde. Dieses Verhalten und die Sorge um die leiblichen Geschwister hört bei vielen Intervie-wpartner nicht mit dem Verlassen der Herkunftsfamilie auf, vielmehr machen sie sich auch nach dem Wech-sel in die Pflegefamilie Gedanken und Sorgen über den Verbleib sowie das Wohlergehen der leiblichen Ge-schwister. Dies zeigt auch das Beispiel von Katrin:

Page 56: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

54

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Und der Emil, der ja jetzt noch bei meiner leibliche

Mutter wohnt, der hing auch ziemlich an mir, der

hat mich auch manchmal Mama genannt, weil ich

war halt immer so die Bezugsperson für ihn gewesen bin und

wir haben dann auch den ganzen Tag immer Kinderserien

geguckt, ich hab für ihn gekocht, ich hab für ihn alles ge-

macht, und irgendwann bin ich dann halt weg. Da bin ich

dann noch einmal, als ich zu den Pflegeeltern gezogen bin,

da bin ich noch einmal dahin übers Wochenende, und da war

sie wieder nachts weg, und da hab ich mich noch um ihn ge-

kümmert und hab gesagt: „Ja Emil, wie geht‘s dir denn hier

ohne mich?“, und da sagte er ja hier: „Mama haut mich im-

mer“, und da hab ich gesagt: „Das darf doch wohl nicht wahr

sein.“ Und da sagte er auch: „Mama hat gesagt ich darf dir

das nicht sagen, sonst gibt‘s noch mehr Haue. Bitte sag das

keinem.“ Und da hab ich dann versucht mit der Frau vom

Pflegekinderdienst drüber zu sprechen, aber ich hatte keine

Beweise, ich hab gesagt: „Was soll ich denn machen, soll ich

den Jungen fotografieren oder auf ein Tonband aufnehmen?

Was soll ich denn machen?“ Ja, ich dürfte mich da nicht ein-

mischen. Und dann kam das dann halt übers Jugendamt

wieder zu ihr und seitdem haben sie gesagt, ich dürfte meine

Geschwister auch nicht mehr sehen, die hab ich jetzt be-

stimmt schon fünf Jahre nicht mehr gesehen.

Am Beispiel von Katrin ist zu erkennen, dass der eige-ne Wechsel in eine Pflegefamilie nicht unbedingt die erhoffte Entlastung mit sich bringt, sondern dass die Sorge um das Wohlergehen der Geschwister eine Be-lastungsquelle bleibt.Interessant ist, dass das Thema leibliche Geschwis-ter und Verantwortung auch auftaucht, wenn die Ge-schwister erst nach dem Wechsel in die Pflegefamilie geboren wurden. In mehreren Interviews berichten un-sere Gesprächspartner über diese Konstellation und die häufig neue Rolle des größeren Geschwisterteils. Diese veränderte Lage kann durchaus Belastungen mit sich bringen, häufig dann, wenn die Pflegekinder sich allein mit der Situation fühlen. So berichtet Julia:

Für die war ich auch ganz wichtig, als die erfahren

haben: „Oh, wir haben noch eine ältere Schwes-

ter!“ Ja, waren die da total heiß drauf, haben mich

auch angerufen, mir ihre Probleme erzählt und was es bei

denen Neues gibt. Also das fand ich auch sehr schön, dann

mal in diese Rolle der älteren Schwester reinzuschlüpfen,

ne? Weil ich selber als Jüngstes, ich fand das natürlich im-

mer toll, in Watte gepackt zu werden, und selber mal einfach

mal ganz stark zu sein, zu sagen: „Ich bin jetzt die ältere

Schwester und ihr könnt zu mir kommen, egal, was ist.“ Das

hab ich schon sehr genossen, doch. Aber das wurde auch

irgendwann zuviel für mich, als ich gesagt hab: „Nur in die-

ser Verpflichtung, in dieser Verantwortung zu stehen ja, parat

zu sein für Anrufe, das ist mir zuviel. Dafür haben die immer

noch ihre Mama, wo die auch mit reden können. Oder zur Not

ihren Papa.“ Ja, das hab ich genossen, aber ich war dann

auch froh, weil da hab ich gleichzeitig den Kontakt mit mei-

ner leiblichen Mutter auch mit abgebrochen, bin ich auch

sehr froh, dass das heute dann auch so dabei geblieben ist.

Am Beispiel von Julia zeigt sich, dass sie, obwohl sie nie mit den leiblichen Geschwistern zusammengelebt hat, sich für die jüngeren Geschwister verantwortlich fühlt und sich um sie kümmert. Gleichzeitig birgt die neue Rolle und die daraus resultierende Verantwor-tung aber auch eine zusätzliche Belastungsquelle, von der sich Julia zu distanzieren versucht.

Auch im Interview mit Melanie wird diese Konstellation erkennbar:

Meine leibliche Mutter wollte auch immer Kontakt

haben. Das war für mich, ja, ich hab immer gesagt:

„Ich möchte das nicht.“ Also ich wollt es eigentlich

nie als Kind. Auch da war ich zehn, elf stand für mich fest, es

tut zwar weh, dass sie mich abgegeben hat, aber sehen möch-

te ich sie auch nicht, weil ich wüsste nicht, wo ich dann hinge-

höre so richtig. Also das hat man mir weder ausgeredet noch

sonst irgendwas. Sie hat es immer behauptet und das hat

mich immer so wahnsinnig gemacht. Ich hab eigentlich ge-

wusst, dass ich das nicht schaffen würde, auch seelisch nicht.

Weil es halt sehr anstrengend ist alles. Mit achtzehn hab ich

sie dann kennengelernt so. Auch für meinen Bruder. Eigent-

lich hab ich es zuliebe meines Bruders getan. Weil ich find

immer, Geschwister sind wichtig. Und ja, irgendwann sind die

Eltern nicht mehr da, dann hat man nur noch Geschwister.

Dann bin ich dahin gekommen in die Familie. Und war eigent-

lich schlimm für mich, weil ich direkt an eine Baustelle ge-

kommen bin. Mein Bruder war körperlich und seelisch total

krank, ein paar Monate danach haben die den eingeliefert,

weil es so schlimm war. Und für mich war direkt: „Oh Gott. Du

musst helfen, du musst hier die Mutterrolle übernehmen.“

Und das war mir zu anstrengend. Vor allem, weil ich auch vor

der Prüfung dann stand. Meine Ausbildung gemacht hab. Und

dann hab ich irgendwann gesagt: „So, jetzt erstmal nicht

mehr. Kann ich nicht mehr. Möchte ich auch nicht vor der Prü-

fung.“ Ja und dann ist das erstmal so ein bisschen einge-

schlafen. Obwohl ich den Kontakt gern nochmal aufnehmen

würde jetzt in nächster Zeit. Für meinen Bruder zumindest.

Page 57: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

55

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

In beiden Beispielen entsteht der Eindruck, dass die Kontaktaufnahme mehr oder weniger selbst organi-siert wurde und es nach kurzer Zeit zu einer Überfor-derung und Überlastung kam, es taucht keine erwach-sende Unterstützung auf, die bei der Kontaktaufnahme mit den leiblichen Geschwistern beteiligt war.In beiden Beispielen wird klar herausgestellt, dass der Kontakt den Geschwistern zuliebe aufgenommen wurde. Melanie unterstreicht, dass sie den Kontakt zur leiblichen Mutter als Notwendigkeit auf sich genom-men hat, um Kontakt zum Bruder zu haben, obwohl sie gleichzeitig betont, dass sie diesen Kontakt eigentlich nicht wollte. Es zeigt sich an dieser Stelle, dass es hilf-reich gewesen wäre, Geschwisterkontakte unabhängig von Kontakten zur Mutter stattfinden zu lassen.

Vorwürfe im Kontext leiblicher Geschwisterschaft Wir finden in den Interviews unterschiedliche Bereiche, in denen das Thema Geschwister mit Vorwürfen gegen-über den leiblichen Eltern aber auch der Geschwister untereinander verbunden wird. Zum einen sind dies Aussagen darüber, dass nicht verstanden wurde, wa-rum die leiblichen Geschwister bei den leiblichen El-tern bleiben durften. Die Gesprächspartner fragen sich hier nach den Gründen und suchen Erklärungen. So berichtet eine Interviewpartnerin, wie sie die leibliche Mutter gefragt hat:

Warum hast du mich weggegeben und meinen

Bruder behalten?

Gleichzeitig wird den leiblichen Eltern aber auch vor-geworfen, dass sie noch einmal Kinder bekommen ha-ben, obwohl es mit den ersten Kindern, in aller Regel den Interviewpartnern, bereits „nicht geklappt hat“. Es werden Unverständnis und mitunter auch Wut über das Verhalten der leiblichen Eltern und die fehlende Ein-sicht formuliert. So äußert sich ein Interviewpartner:

Ich wusste ja, dass sie schon schwanger ist.

Ich nur wieder: „Mein Gott, lernst du nie dazu?“

Das habe ich ihr auch klipp und klar im Gespräch

gesagt.

Zusätzlich taucht die Konstellation auf, dass die Pfle-gekinder das Gefühl haben ihre als besser interpre-tierten Startmöglichkeiten in der Pflegefamilie von den leiblichen Geschwistern vorgeworfen zu bekommen und sich mit diesen Vorwürfen auseinandersetzen zu

müssen. So beschreibt Marina die Vorwürfe ihres leib-lichen Bruder:

Der ist auch kein Unschuldslamm. Der macht mir

ja ständig die Vorwürfe: „Du hast ja ein besseres

Leben gehabt als ich, du bist regelmäßig in den

Urlaub gefahren.

Weiter heißt es in dem Interview:

Die Geschichte meiner Mutter war so, dass es

hieß: „Welches Kind geben wir jetzt ab? Das, was

drei Jahre schon bei uns lebt, die Familie also

schon kennt? Oder einen Säugling, der noch nicht weiß, was

um ihn rum passiert?“ Und da haben sie dann gesagt: „Ist

okay, dann geben wir das kleine Kind halt weg.“ Das war das,

was meine Mutter mir erzählt hat, aber wie gesagt, die Story

glaube ich ihr nicht. Ja, und daraufhin hat mein Bruder mir

immer wieder gesagt so: „Ja, du bist das ja Schuld und ich

hab nie ein gutes Leben gehabt, du hast alles in den Hintern

geschoben bekommen.“ Weil meine Pflegeeltern mich halt

auf alle Art und Weise abgesichert haben. Ich hatte mehrere

Sparkassenbücher, Bausparvertrag, alles Mögliche halt. Die

haben halt wirklich für mich gesorgt, dass ich mit 18 halt

abgesichert bin und mein Leben irgendwie aufbauen kann,

Führerschein et cetera. Ja, ne? Und mein Bruder musste

sich alles selber erarbeiten. Die Sparkassenbücher von uns,

die meine leiblichen Eltern aufgemacht haben, hat mein leib-

licher Vater beide leer gemacht, alles versoffen, weil er kein

Geld mehr hatte. Habe ich auch nur gesagt: „Ach, heißt das

jetzt auch, dass ich das Schuld bin?“ So, ne? Nach dem Mot-

to „Den Schuh zieh ich mir dann auch noch an, wenn du

willst.“ Aber mein Bruder ist in der Hinsicht so zwiespältig.

Mal ist er lieb und freundlich und mal ist er dann am rum-

wettern und ich hab jetzt auch kaum noch Kontakt zu ihm. So

ab und zu telefonieren wir mal, aber er sucht den Kontakt

dann, nicht mehr ich.

Eine Umgangsstrategie ist hier häufig das Formulie-ren von Rechtfertigungen gegenüber den leiblichen Geschwistern oder die Abgrenzung von ihnen sowie eine Reduktion der Kontakte, genau wie es Marina im Beispiel formuliert.

Es wird zusammenfassend deutlich, dass das Thema der leiblichen Geschwisterschaft neben den Fragen nach Kontakt auch noch weitere, möglicherweise be-lastende Aspekte umfassen kann. Es zeigt sich, dass nicht nur die Zeit in der gemeinsamen Herkunftsfa-

Page 58: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

56

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

milie Konfliktthemen mit sich bringen kann, sondern auch das getrennte Leben und die unterschiedlichen Entwicklungen Belastungen hervorbringen können.

Was hilfreich war – Ressourcen In den Interviews, in denen Geschwister gemeinsam untergebracht waren, lässt sich eine Ressource klar erkennen: Die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unter-stützen und füreinander da zu sein. Hinzu kommt der positive Aspekt, dass eine wichtige Bezugsperson er-halten bleiben kann. Raphael beschreibt, wie er und seine Schwester sich gegenseitig unterstützt haben:

Und dann war direkt meine Schwester da. Und hat

mich erstmal in den Arm genommen, mir zuge-

sprochen. Bei ihr waren halt auch so Situationen

gewesen, denn sie hatte auch Kontakt zu unserem Vater auf-

genommen. Vorher auch schon, als wir in der Pflegefamilie

waren. Ich wollte es nicht, weil ich mir sage: „Wer sechzehn

Jahre kein Bock auf mich hat, der braucht jetzt auch nicht

kommen.“ Und da war sie halt auch erst total, ist jetzt eine

Situation wo sie total durcheinander war und dann hab ich

auch gesagt: „Dann komm ich beim ersten Gespräch komm

ich dann mit.“ Bin ich wegen ihr mitgegangen. Obwohl ich

meinen Vater gar nicht sehen wollte.

An dem Beispiel wird deutlich, welche Bedeutung der geschwisterliche Zusammenhalt für die Geschwister gehabt hat und wie sie sich in ihrer besonderen Situati-on gegenseitig Unterstützung und Halt geben konnten. Zu betonen ist an dieser Stelle, dass die Geschwister bereits in der Herkunftsfamilie neun Jahre zusam-mengelebt hatten und die gemeinsame Unterbringung sicher auch vor diesem Hintergrund einen Schutzfak-tor dargestellt hat. Finden regelmäßige und gewünschte Kontakte zu den leiblichen Geschwistern statt, so werden diese sehr positiv beschrieben. Pia berichtet über den durchgän-gigen Kontakt zur getrennt untergebrachten Zwillings-schwester:

Ja, die ist dann mal einen Nachmittag zu uns ge-

kommen oder auch über das Wochenende mal. Da

hab ich dann mit meiner Zwillingsschwester ge-

spielt und mein kleiner Bruder, mit dem ich sonst immer ge-

spielt hab, der war dann drittes Rad am Wagen. Ja und da

hab ich dann gesagt: „So, jetzt spiel ich mit meiner Zwillings-

schwester, morgen bist du wieder dran.“ Jedes Mal, wenn

meine Zwillingsschwester da war, durfte mein kleiner Bru-

der nicht mitspielen. Da waren die zwei Oberzicken zusam-

men und das war gut. Ja, wie wir gefahren sind, wieder ge-

trennt wurden, klar, war das Geheule groß, weil man seine

Schwester ja nicht unbedingt gerne abgibt, aber da hab ich

mir gedacht: „So. Und in zwei Wochen siehst du die ja sowie-

so wieder. Dann fährst du dahin und dann nimmst du das mit

und das mit und das mit.“ Da war ich schon am planen, was

ich alles für Spielzeug mitnehme. Aber wir haben uns nie ge-

fragt, warum wir immer wieder getrennt werden. Weil es

war, eigentlich war es schön so. Weil so hättest du ja sonst

noch ein Geschwister mehr gehabt, womit du noch musstest

dein Spielzeug teilen musstest. Und wenn die dann geht,

brauchst du ja nicht mehr teilen, da kannst du das Spielzeug

ja alles wieder für dich haben. So ungefähr. Oder es war auch

schön hinterher, wenn wir gesagt haben: „Geburtstagsfeier.“

Hab ich eine Woche vorher gefeiert, sie eine Woche nachher.

Und dann haben wir zwei Geburtstage gefeiert. Weil jeder

dann auch noch mal Geschenke gekriegt hat. War schon

praktisch.

Bei Pia zeigt sich eine Entlastung dadurch, dass ein re-gelmäßiger Kontakt stattfand. Sie konnte die Kontakte als etwas Erwartbares genießen und diese in ihren All-tag integrieren. Im weiteren Verlauf des Interviews be-schreibt Pia die Erklärungen, die sie für die Trennung der Schwestern bekommen hat:

Meine Pflegemutter, die wollte uns ja auch beide

haben, genauso wie deren Pflegeeltern uns beide

nehmen wollten. Aber dadurch, dass wir beide un-

terernährt waren und auch nie richtig essen wollten und mei-

ne Zwillingsschwester auch noch krank war, hat das Jugend-

amt gesagt: „Wenn Sie beide nehmen, sowohl die Familie als

auch die Familie, eine stirbt. Sie kriegen nicht beide groß.“

Und deshalb hat das Jugendamt dann damals gesagt, es ist

besser, wenn wir getrennt werden. Und genauso hat mir mei-

ne Mama das auch erklärt hinterher, wo ich dann gefragt hab,

wieso die nicht bei mir ist. Hat sie dann gesagt: „Weil eine von

euch eventuell gestorben wäre.“ Oder es gar nicht die Mög-

lichkeit gegeben hätte, sich um beide so extrem zu kümmern,

weil wir mussten alle zwei Stunden gefüttert werden. Und

bloß nicht bewegen nach dem Essen, also wir wurden wie Vö-

gelchen ernährt. Und ich sag mal so, meine Zwillingsschwes-

ter hat die Familie auch gut getroffen. Vielleicht würden wir

uns jetzt gar nicht mehr verstehen, wenn wir zusammen groß

geworden wären. Weil so muss ich sagen, sie ruft an, wenn

sie Probleme hat. Oder ich ruf sie an, wenn ich irgendwas auf

dem Herzen hab und wir sind, obwohl wir so weit auseinander

sind, sind wir trotzdem füreinander da.

Page 59: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

57

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Es entsteht hier der Eindruck, dass für Pia die Erklärun-gen, die sie für die Trennung von der Schwester durch Pflegeeltern und den Pflegekinderdienst bekommen hat, sehr hilfreich waren. Sie hat eine Begründung für das getrennte Leben erhalten und konnte diese in ihre eigene Lebensgeschichte und den eigenen Alltag gut integrieren.

Wenn wir Pflegekinder und ihre leiblichen (Halb-) Ge-schwister betrachten, dann finden wir, neben vielen unterschiedlichen Beziehungskonstellationen, auch einen recht unterschiedlichen Umgang mit dem The-ma. Gleichwohl lassen sich einige positive Merkmale feststellen, die es durch professionelle Arbeit mög-lichst zu gewährleisten gilt:

Es werden Beziehungen zu wichtigen Bezugs-• personen aufrechterhalten. Es gibt die Möglichkeit zur gegenseitigen Unterstützung.Es gibt die Möglichkeit zu regelmäßigen • Kontakten mit den leiblichen Geschwistern.Die Kontakte verlaufen geplant und sind • erwartbar.Es gibt Erklärungen dafür, warum leibliche • Geschwister nicht zusammen untergebracht werden können.Das Pflegekind bekommt Informationen über • den neuen Lebensort des leiblichen Geschwister-kindes.Es gibt eine Trennung von Besuchskontakten mit • leiblichen Geschwistern und leiblichen Eltern.

An Problemlagen, die ein kompetenter Pflegekinder-dienst konstruktiv beantworten muss, zeigen sich:

Geschwisterkinder übernehmen stark die Verant-• wortung füreinander und können sich dadurch in ihrer Entwicklung hemmen. Das Pflegekind erhält keine Informationen über • den neuen Lebensort der leiblichen Geschwister und ist im Unklaren über deren Wohlergehen.Es gibt keine Möglichkeiten, Kontakt zu leiblichen • Geschwistern zu bekommen und es herrscht der Eindruck, hierauf keinen Einfluss nehmen zu können.Die Pflegekinder treffen die Geschwister verän-• dert und können diese nicht in ihr eigenes verän-dertes Leben integrieren.Es tauchen Konfliktthemen und Vorwürfe zwi-• schen den leiblichen Geschwistern auf. In der Auseinandersetzung gibt es keine Unterstützung.

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Grundsätzlich gilt es, die Geschwisterbeziehung wertzuschätzen und als potentielle Ressource zu be-trachten. Geschwisterkinder können äußerst wichtige Bezugspersonen sein und der Erhalt von konstanten Bezugspersonen kann für die Entwicklung des einzel-nen Pflegekindes sehr bedeutsam sein. Geschwister-beziehungen, egal, in welcher Konstellation die Unter-bringung erfolgt, müssen daher mehr in den Fokus der Professionellen gelangen und von diesen mehr in das Bewusstsein der Pflegeeltern gebracht werden. Die am Pflegeverhältnis beteiligten Professionellen haben in diesem Kontext eine hohe Verantwortung, die es stärker zu berücksichtigen gilt. Bei der Klärung einer gemeinsamen oder getrennten Unterbringung von Geschwistern gilt es, möglichst klar verschiedene Faktoren, die für oder gegen eine gemeinsame Unterbringung sprechen, abzuwägen. Dabei muss es vor allem um die individuelle Bedürf-nislage des einzelnen Kindes gehen. Entscheidet man sich für eine gemeinsame Unterbringung von Ge-schwisterkindern, so kann die Unterbringung in einer „normalen“ Pflegefamilie nicht die Regel sein. Wird der Geschwisterbeziehung eine so große Bedeutung eingeräumt, kann die Konsequenz sein, eher andere (familienanaloge) Unterbringungsformen zu wählen. Entscheidet man sich dennoch für eine Pflegefamilie, gilt es zu berücksichtigen, dass sich in aller Regel die Bedarfe der gemeinsam untergebrachten Geschwis-terkinder potenzieren und es daher die Folge sein muss, dass aufnehmende Pflegefamilien mehr Unter-stützung erhalten. Es darf keine Hemmung bestehen, in der Hilfeform Pflegefamilie zusätzliche Hilfen zu in-stallieren. Für die konkrete Umsetzung bedeutet das:

Page 60: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

58

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Besteht die Notwendigkeit, dass Geschwister-kinder fremduntergebracht werden, bedarf es

zuvor einer genauen Klärung über die Möglichkeiten der gemeinsamen oder getrennten Vermittlung. Die Bedeutung der Geschwisterbeziehung muss gegen-über der individuellen Bedürfnislage des einzelnen Kindes abgewogen werden.

Bei der Frage nach gemeinsamer und getrennter • Unterbringung in einer Pflegefamilie müssen vor allen anderen Punkten die individuellen Bedarfs-beschreibungen berücksichtigt werden. Hierzu gehören die individuelle Lebensgeschichte des einzelnen Kindes, mögliche Traumatisierungen in der Herkunftsfamilie oder auch die individu-ellen Entwicklungsbedingungen. Im Gegenzug muss die Bedeutung der Geschwisterbeziehung abgewogen werden. Hier gilt es unter anderem zu berücksichtigen, wie alt die Kinder sind und wie lange sie in der Herkunftsfamilie zusammen gelebt haben. Eindeutig gegen eine gemeinsame Unterbringung sprechen Misshandlungs- und Missbrauchserfahrungen durch die Geschwister-kinder. Wird sich für eine gemeinsame Unterbringung • in einer Pflegefamilie entschieden, bedeutet dies eine deutliche und langfristige Erhöhung von Betreuung, Beratung und finanziellem Kontingent (zum Beispiel §33 Satz 2 SGBVIII). Eine Nutzung anderer Hilfeformen, wie familienanaloge Unter-bringungsformen oder Kinderdörfer, ist ebenfalls zu prüfen. Werden Geschwisterkinder getrennt voneinander • untergebracht, bedarf es einer hohen Transpa-renz und altersgemäßer Partizipation. Hierzu gehören Erklärungen über die Entscheidung zur Geschwistertrennung, Informationen über die Geschwisterkinder und ihren möglichen neuen Lebensort sowie Erklärungen für die Situation, wenn ein Geschwisterkind in der Pflegefamilie verbleibt. Zudem müssen Kontaktangebote vorgehalten werden (s. u.). Dies sind Aufgaben des Fachberaters.

Der Pflegekinderdienst muss Kontaktmöglich-keiten für leibliche Geschwister anbieten und

unterstützen. Vorab gilt es durch den Fachberater zu verstehen, • was der Hintergrund für den Kontaktwunsch des Kindes ist. (Ist das Motiv Verantwortung für das Geschwisterkind? Gab es Parentifizierung in der Herkunftsfamilie?). Darauf basierend sollte die Steuerung der Kontakte erfolgen. Es ist Aufgabe des Fachberaters, die Qualität • der Geschwisterbeziehung einzuschätzen und entsprechende Kontakte zu gewährleisten. Diese müssen, je nach Bedarf des Kindes, nicht zwin-gend persönliche Kontakte sein. Es gehören hierzu auch Kontaktformen wie Briefe, Bilder, Berichte, Informationen, Telefonate oder Fotos. Ähnlich wie bei Kontakten zu leiblichen Eltern • müssen auch bei Kontakten unter Geschwistern Absprachen über die Gestaltung des direkten Kontaktes getroffen werden.5 Kontakte zu leiblichen Geschwistern müssen • unabhängig von Kontakten mit leiblichen Eltern möglich sein und vom Pflegekinderdienst initiiert werden.Da Geschwisterkontakte auch eine Belastung • darstellen können, gilt es genau abzuwägen, ob diese stattfinden, beispielsweise, wenn ein Kind Kontakt möchte, das andere aber nicht. Hier können die beschriebenen alternativen Kontaktformen hilfreich sein.Es bedarf einer sorgfältigen Nachbereitung • der Kontakte und einer Beobachtung der Reaktion der Kinder, genau wie bei Kontakten zu den leiblichen Eltern. Der Fachberater kann die Quelle von Informati-• onen über die Geschwister sein und so auch in einer späteren Kontaktaufnahme hilfreich sein.

5 Vgl. hierzu Kapitel 5 zu Besuchskontakten

Page 61: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

59

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Das Thema Geschwister ist sehr wichtig und bedeutsam, es muss bereits in der Vorberei- tung eines Pflegeverhältnisses intensiv besprochen werden.

Schon vor Beginn eines Pflegeverhältnisses muss • die Haltung der potentiellen Pflegeeltern zum Thema Geschwister genau erfragt und bespro-chen werden. Eine Änderung von Einstellungen im Verlauf des Pflegeverhältnisses ist vergleichs-weise schwieriger. Die Wichtigkeit des Themas für die Pflegekinder muss vermittelt werden, auch bedarf es hier entsprechender Angebote an Biografiearbeit. Im jeweiligen Einzelfall müssen die aufnehmen-• den Pflegeeltern auf mögliche Herausforderun-gen im Kontext des Themas Geschwister vorbe-reitet werden.

Die Jugendhilfe muss den einzelnen Bedarfen von Ge-schwisterkindern gerecht werden.

Hierzu bedarf es einer getrennten Betrachtung • von Geschwisterkindern. Dazu gehören getrennte Hilfeplanung, Aktenführung und Perspektiv-klärung. Das bedeutet nicht, dass der Kontext der Geschwisterbeziehung ausgeblendet wird.

Der zuständige Fachberater muss Konflikt-themen zwischen Geschwisterkindern berück-

sichtigen und hier (gemeinsame) Beratungsangebote machen.

Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es unter-• schiedliche Biografien und Lebensverläufe von Geschwisterkindern gibt und diese folgenreich sein können. Zu diesen Folgen können Gefühle wie Neid, Vorwürfe oder Schuldgefühle gehören.Der zuständige Fachberater muss auf diese • Auswirkungen adäquat reagieren und entspre-chend beraten. Hierzu gehört die Beratung der Pflegeeltern oder auch die Einbeziehung eines in der Herkunftsfamilie verbliebenen Geschwister-kindes in eine biografische Beratungssequenz. Ziel ist hier das versöhnliche Arbeiten.

Pfl egekinder und ihre „sozialen Geschwister“Neben den leiblichen Geschwistern nehmen auch die „sozialen Geschwister“ eine bedeutsame Rolle in den Interviews mit den ehemaligen Pflegekindern ein. Hier-zu gehören zum einen die leiblichen Kinder der Pfle-geeltern, zum anderen mögliche weitere Pflegekin-

der innerhalb der Pflegefamilie. Die Unterscheidung dieser beiden Formen von Geschwistern wird von den meisten Gesprächspartnern nicht vorgenommen. Viel häufiger werden die Pflegegeschwister – in welcher Konstellation auch immer die Verbindung besteht – als Geschwister beschrieben. Im Rahmen des Projektes wurde sich vor allem mit den leiblichen Geschwistern auseinandergesetzt. Das Thema „soziale Geschwister“ wurde nicht in vergleichbarem Umfang behandelt. Es sollen dennoch einige erste Überlegungen vorgestellt werden.

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und UmgangstrategienAls eine mögliche Belastungsquelle im Kontext so-zialer Geschwisterschaft stellt sich die Sorge heraus, dass die leiblichen Kinder von den Pflegeeltern mehr geliebt werden als das Pflegekind.6 Trotz einer Beto-nung der Normalität und Wichtigkeit der Beziehung zu den Pflegebrüdern, beschreibt zum Beispiel Nora die Zerrissenheit zwischen der Zuneigung zu ihrem Pfle-gebruder und der Sorge, dass sie doch nicht genug sein könnte für die Pflegeeltern. Es zeigt sich, dass es immer wieder als belastendes Thema für die Pflege-kinder auftauchen kann, nicht das leibliche Kind der Familie zu sein:

Zwei Brüder, ein Bruder der ein Jahr älter ist und

der andere Bruder ist sechs Jahr jünger. Ein Nach-

zügling. Das war schon eine sehr kritische Zeit

auch für mich als er noch nachgekommen ist. Also weil da

war so für mich auch dieses Thema, ich reiche denen nicht

so. Die wollen doch lieber noch was Eigenes und ich meine

mit einem kleinen Kind geht man natürlich auch anders um,

wie mit einem sechs-, sieben-, acht-, neunjährigen. Also das

war schon manchmal, er hat mir schon viel genommen. Also

ich hab ihn geliebt über alles, also da durfte nichts dran

kommen. Ich hatte immer Angst, wenn er alleine dann ir-

gendwann unterwegs war und so, aber ich weiß es gab so ein

paar Situationen oder Momente wo ich also wirklich dran zu

knacken hatte. Das war so auf der einen Seite war er mir

unheimlich wichtig und auf der anderen Seite denk ich mal,

hatte auch viel mit Neid zu tun. So da hatte ich es ja mitbe-

komme, wie es ist als Baby in der Familie groß zu werden.

Und das war immer so ein Punkt, den ich mir immer ge-

wünscht hab irgendwie.

6 Vgl. hierzu Kapitel 9 Normalitätserleben und Familienbilder

Page 62: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

60

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Trotz der Betonung einer Normalität in der Geschwis-terbeziehung kann es zur Belastung werden, dass im-mer wieder Unterschiede zu den Pflegegeschwistern festgestellt werden. Hierzu gehört beispielsweise, dass sich die leiblichen Kinder der Pflegefamilie nicht in ähnlicher Intensität mit Themen wie Herkunft, Iden-tität oder Zugehörigkeit zur Familie auseinanderset-zen müssen. Ein Beispiel liefert das Interview mit Tina, die beschreibt, wie sie sehr wohl Unterschiede zu ih-ren Pflegegeschwistern gesehen hat, die Familie diese aber gleichzeitig nicht verstehen und sehen konnte:

Und ich habe dann wirklich alles auf die Goldwaa-

ge gelegt, ne. Was die gesagt haben, was die ge-

macht haben und hab gesagt: „Siehst du, die hat

schon wieder ein Bonbon mehr gekriegt als ich, ne. Das

muss doch irgendwas heißen.“ So war das dann eben. Weil

ich auf alles total so richtig bis ins kleinste Detail, ich habe

alles nicht kontrolliert, sondern auf alles komplett bis ins

kleinste Detail geachtet. Ja. Und das war dann halt so aus-

schlaggebend dafür, dass ich total unzufrieden war. Dass ich

wütend auf meine Eltern wurde und die gar nicht verstanden

haben, was Sache ist. Die wussten ja auch nicht mit der Situ-

ation umzugehen, die kannten es doch gar nicht von vorher

und die wussten ja auch nicht, was da auf die zukommt. Mei-

ne anderen Geschwister, die halt in der Pflegefamilie die

leiblichen Kinder sind, die mussten sich mit so was ja nie

beschäftigen. [...] Und so hab ich natürlich auch noch ge-

merkt: „Hey, da ist ja wohl ein Unterschied.“ Und das macht

einen dann noch trauriger und dann ist man noch emotiona-

ler. Das bleibt dann auch einfach nicht aus. Und dadurch,

dass die einen dann nicht verstehen. Weil die sagen: „Was hat

die denn jetzt für ein Problem? Ist die bekloppt oder was?“

Und dadurch fühlt man sich gar nicht verstanden, weil sie

einen auch wirklich nicht verstehen, weder die Geschwister

noch die Eltern noch die Freunde, bei denen alles toll ist.

Dass das eigene Verhalten gegenüber den Pflegeel-tern und Konflikte in der Beziehung mit ihnen auch zu Problemen mit den Pflegegeschwistern führen kön-nen, ist eine weitere Belastungsquelle. Anja beschreibt im Interview, wie sich der Pflegebruder, der ihr sehr wichtig war, klar von ihr distanziert und ihr Verhalten gegenüber der Pflegemutter missbilligt hat:

Aber die haben immer zu mir gestanden, egal, was

gewesen ist. Außer der Große. Als es dann halt mit

den Diebstählen angefangen hat, hat er, mich ver-

stoßen kann man nicht sagen, aber er hat dann gesagt so:

„Ja, komm, verzieh dich, lass mich in Ruhe. Du tust den El-

tern nur noch weh, das kannst du nicht machen.“ Jetzt so

nach und nach kommt der Kontakt wieder, hat mich jetzt halt

auch zu seinem Geburtstag eingeladen und er merkt halt,

dass ich eine hundertachtzig Grad Wendung gemacht habe.

Dass ich halt wirklich sag so: „Hör mal, ich stehe zu dem,

was ich gemacht habe. Ich mache meine Ausbildung, ich ma-

che dies, ich hab die Schule gemacht, ich helfe meinen Pfle-

geeltern regelmäßig.“

Obwohl die Zitate die Perspektive der Pflegekinder be-schreiben, zeigen sie doch an einigen Stellen, welche Belastungsquellen sich auch für die leiblichen Kinder aufgrund des Pflegeverhältnisses ergeben können.7

Was hilfreich war – Ressourcen In einigen Interviews wird klar erkennbar, dass die Pflegegeschwister ein wichtiger und hilfreicher Aspekt beim Wechsel beziehungsweise beim Ankommen in der Pflegefamilie waren. Sie liefern häufig Orientierung und sind erste Anknüpfungspunkte für die Pflegekin-der. Steffen beschreibt, wie entscheidend sein Pflege-bruder für den Wechsel in die Pflegefamilie war:

Und Tobi war einfach, ich glaube, Tobi war dieser

Funke, der gesagt hat: „Das ist deine Familie.“ Das

war mein Bruder. Komischerweise, aber ich bin da

echt ganz fest überzeugt, dass das mein Bruder war. Weil ich

einfach wirklich mit dem alles gemacht hab irgendwie. Also

ich hab wirklich, ja, mit dem rumgetobt und so. Ich hab alles

gemacht mit dem.

Viele der Interviewpartner betonen hier die Normalität innerhalb der Pflegefamilie und in der Beziehung zu ih-ren Pflegegeschwistern. Als wichtig wird beschrieben, dass es im Alltag keine großen Unterschiede zwischen den Geschwistern gab. Hier gibt es häufig Formulie-rungen, dass es war „wie bei anderen Geschwistern auch“. Nora beschreibt beispielsweise ihre Dankbar-keit darüber, dass es keine verbale Ausgrenzung gab:

Ja, dass ich also wirklich immer die Schwester

war, vom ersten Tag an war ich halt die Schwester

und nicht das Pflegekind oder die Stiefschwester

oder welche Ausdrücke es da auch immer noch gibt. Und

auch nie irgendwie so, dass sie gesagt hätten im Streit „Ja,

dann geh doch“ oder „Was willst du denn hier?“ Oder sonst

irgendwas.

7 Vgl. hierzu Reimer (2011) und die Auswertung der Interviews mit leiblichen Kindern, S120 ff.

Page 63: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

61

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Für viele Gesprächspartner ist die Akzeptanz durch die Pflegegeschwister an dieser Stelle sehr bedeutsam. So beschreibt Julia die Beziehung zu ihren Pflege-geschwistern:

I.: Wie stelle ich mir das so vor, das Zusammen-

leben?

J.: Ich glaube, wie in jeder normale Familie, also

ich hab noch einen älteren Bruder, der ist achtundzwanzig

und meine Schwester, die ist jetzt zweiunddreißig. Die sind

beide die leiblichen Kinder meiner Pflegeeltern. Und ich den-

ke, das war oder das ist ganz normal gewesen, die Entwick-

lung. Also Streitigkeiten zwischen Geschwistern, dass man

sich lieb hat zwischen Geschwistern, dass man sich mal

rauft, dass man sich mal ärgert, ich denke, das ist eine ganz

normale Geschichte hier auch gewesen, ne? Ich wurde glau-

be ich von meinem Bruder und meiner Schwester schon sehr

geliebt, doch. Das denke ich schon. Und die haben da auch

nie einen Unterschied gemacht, also das merke ich auch

heute noch, dass mein Bruder mich in vielen Dingen einfach

auch noch unterstützt und mich auch in Schutz nimmt. Ja,

und für mich da ist.

Zusammenfassend sind positive Merkmale, die im Kontext sozialer Geschwisterschaft auftauchen: Pflegegeschwister können den Übergang in die Pflege-familie erleichtern.

Es zeigt sich als hilfreich, wenn die Geschwister-• beziehung etwas Normales ist und das Pflege-kind als Geschwisterkind und nicht als Pflegekind angesehen wird.Im Alltag werden kaum Unterschiede zwischen • den Kindern gemacht.

Problemlagen in diesem Themenfeld, denen ein kom-petenter Pflegekinderdienst begegnen sollte:

Die Pflegekinder müssen sich mit Themen • wie Zugehörigkeit zur Familie und Herkunft auseinandersetzen, was die leiblichen Kinder in der Pflegefamilie nicht tun müssen. Es kann hier zur Belastung werden, wenn kein Verständnis für die Situation erlebt wird. Das Pflegekind kann die Sorge haben, dass die • leiblichen Kinder den Pflegeeltern mehr bedeu-ten oder mehr geliebt werden.Eigenes Fehlverhalten gegenüber den Pflege-• eltern kann zur Belastung der Geschwister-beziehung oder zur Distanzierung der Pflege-geschwister führen.

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – erste Überlegungen

Leibliche Kinder sind wichtige Akteure inner-halb des Pflegeverhältnisses.

Sie müssen bereits in die Vorbereitung eines • Pflegeverhältnisses altersgemäß eingebunden werden.Leibliche Kinder müssen im Laufe des Pflege-• verhältnisses kontinuierlich im Blick behalten werden. Sie sind Teil des Systems. Der Fachbe-rater sollte sich auch dem leiblichen Kind als Ansprechpartner zur Verfügung stellen und auch hier Vier-Augen-Kontakt haben.

Die Beziehung zu den Pflegegeschwistern kann eine wichtige Ressource für das Pflegekind sein,

von den Pflegegeschwistern akzeptiert zu werden, ist hier sehr bedeutsam.

Der Fachberater sollte bei den Kontakten zur • Pflegefamilie auch die Beziehung zwischen den Pflegegeschwistern im Blick haben.Ähnlich wie bei leiblichen Geschwistern kann es • auch bei Pflegegeschwistern hilfreich sein, Konfliktthemen zwischen Geschwisterkindern zu berücksichtigen und hier (gemeinsame) Beratungsangebote zu machen.

Page 64: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

62

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

8 Beendigung eines Pfl egeverhältnisses und Nachbetreuung1

1

Häufig bleiben Pflegekinder bis zum Erreichen der Volljährigkeit und darüber hinaus in ihrer Pflegefami-lie. Und obwohl der Zeitpunkt der Beendigung in je-dem Pflegeverhältnis kommt, wird das Thema in den Konzeptionen und auch in der praktischen Auseinan-dersetzung eher randständig behandelt. Dabei ist es für die Pflegekinder – aber auch für die Pflegeeltern – ein wichtiger Punkt im gemeinsamen Leben als Pfle-gefamilie. Es ist häufig angstbesetzt und wird daher oft tabuisiert. Bei der Beendigung wird außerdem die rechtliche Rahmung des Pflegeverhältnisses sichtbar: Die Hilfe zur Erziehung endet, was bleibt an privater, nun nicht mehr rechtlich gestützter Beziehung, Sor-ge und Zuständigkeit? Damit stehen das Ersatzfami-lienverständnis und das „Natürliche“ einer Familie in Frage. Aus solch schwierigen, pflegefamilienspezifi-schen Aufgaben entstehen besondere Ansprüche an eine professionelle Begleitung. Es geht also neben der Klärung und möglichen Zusicherung weiterer Hilfsan-gebote für das Pflegekind auch um die Situation, wie es nach einem offiziellen Ende mit der Familie und den eingegangenen Beziehungen weitergeht. Denn die Situation ist eine schwierige, da auf der einen Sei-te „keine Solidarität des gemeinsamen Lebensweges [besteht], denn das Betreuungsverhältnis ist rechtlich festgelegt und befristet. Es dauert längstens bis zum 27. Lebensjahr, in den meisten Fällen allerdings nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit.“2 Gleichzeitig ist es aber so, dass „Pflegeeltern und Pflegekinder u.U. lange Zeit zusammen [leben ] und […] eine wechsel-seitig affektive, vertrauensvolle Beziehung und die ent-sprechenden Formen der Solidarität [begründen].“3 Daher ist es ein Anliegen des Projektes, dieses Thema aufzugreifen und einige zentrale Aspekte für die gute Gestaltung der Beendigung und auch der Nachbetreu-ung eines Pflegekindes zusammenzutragen.

1 Die Beendigung eines Pflegeverhältnisses ist nur ein zentraler Übergang innerhalb eines Pflegeverhältnisses. Zum Ankom-men in der Pflegefamilie vgl. das entsprechende Kapitel in Reimer (2011).

2 Gehres, Hildenbrand (2008), S.25. Es sei darauf hingewiesen, dass es sich bei einem Verbleib bis zum 27. Lebensjahr um Hilfen gemäß §35a SGBVIII beziehungsweise §54 Abs.3 SGBXII handelt.

3 Ebd.

Wir beschäftigen uns hier vor allem mit den Aspekten einer regulären Beendigung des Pflegeverhältnisses sowie in Teilen mit einer vorzeitigen Beendigung. Wir befassen uns unter dieser Überschrift nicht mit dem Aspekt Rückführung, da wir hierzu kaum Angaben in den Interviews haben und auch nicht mit Beendigung durch Adoption. Der Fokus liegt vor allem auf der Rol-le, die die Professionellen in diesem Kontext überneh-men sollten.

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben,Ressourcen und UmgangsstrategienIm Kontext möglicher Belastungen durch die Endlich-keit eines Pflegeverhältnisses lassen sich zwei wesent-liche Aspekte unterscheiden. Zum einen sind dies eher grundlegende Sorgen und Ängste vor einer grundsätz-lichen Endlichkeit des Pflegeverhältnisses. Dies kann auch nur in der Phantasie der Pflegekinder auftauchen oder weit vor dem Zeitpunkt der Volljährigkeit ein The-ma für das Pflegekind sein. Häufig wird aber auch der achtzehnte Geburtstag mit einem möglichen Ende des Pflegeverhältnisses verknüpft. An dieser Stelle zeigt sich einmal mehr, dass Unsicherheit immer wieder ein Thema für das Pflegekind sein kann.4 Fragen nach der Zugehörigkeit zur Familie über das Ende des Pflegeverhältnisses hinaus gehören hier ebenso dazu wie Fragen, wo beispielsweise das Weih-nachtsfest in Zukunft gefeiert wird. So beschreibt bei-spielsweise Desiree:

Man wusste ja auch nicht so hundert Prozent: „Was

ist wenn ich achtzehn bin?“ Weil ich wusste, das ist

meine Pflegefamilie, die haben mich ganz normal

behandelt und so. Aber als Kind macht man sich dann schon

Gedanken: „Was ist eigentlich, wenn ich achtzehn bin? Ist das

dann immer noch meine Familie? Weil das ist ja nicht meine

richtige Familie, ich habe nicht den Namen von denen. Oder

muss ich dann in ein Heim oder muss ich dann irgendwas.“

Man weiß es ja nicht. Also meine Pflegeeltern, die haben im-

mer gesagt: „Du bist unser Kind und du gehörst zur Familie“,

aber trotzdem macht man sich da mit Sicherheit schon ein

bisschen Gedanken.

4 Vgl. hierzu auch Kapitel 3 Zwischen zwei Familien

Page 65: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

63

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Hinzu kommen mögliche Belastungsquellen, die sich aus der konkreten Beendigungssituation beziehungs-weise aus der direkten Auseinandersetzung mit einem möglichen Ende ergeben.

Abbruch beziehungsweise Wechsel in eine andere Einrichtung Besondere Formen der Beendigung stellen der Ab-bruch und der Wechsel in eine andere Hilfeform dar. Tatsächliche Abbrüche, die mit einem kurzfristigen und unplanmäßigen Ausscheiden aus der Pflegefa-milie (meist mit dramatischen Komponenten) sowie einem Ausscheiden aus den Hilfen zur Erziehung ver-bunden sind, wurden in den Interviews nur sehr sel-ten beschrieben. Meist handelte es sich hierbei um Konflikte im Jugendalter und die Entscheidung aus der Pflegefamilie auszuziehen und beispielsweise beim Freund oder der Freundin unterzukommen. Häu-fig kam es aber nach dieser konfliktreichen Situation nach einer gewissen Zeit wieder zu Kontakten mit den Pflegeeltern. In mehreren Interviews werden allerdings Probleme und Auseinandersetzungen mit den Pflegeeltern und Wechsel in eine andere Hilfeform beschrieben. Hier kann es zur Belastung werden, wenn die Pflegekinder das Gefühl haben, ihr Zuhause verloren bzw. verspielt zu haben. So beschreibt zum Beispiel Marina die Situa-tion, die zum Wechsel in ein Betreutes Wohnen geführt hat und wie sie diesen Wechsel erlebt hat:

Sie hat halt immer wieder versucht, mich noch

mal auf die gerade Bahn zu bekommen, aber so

mit fünfzehn, kurz vor dem Sechzehnten hat sie

dann gesagt so: „Es bringt nichts mehr.“ Weil es dann halt

immer wieder mal rausgekommen ist, bin ich halt auch ir-

gendwann so in den Drogensumpf mit reingerutscht. Dann

hab ich mir dafür das Geld einfach genommen und dann hat

sie dann gesagt: „Komm, Kind, geh. Bringt nichts mehr.“ Bin

ich dann in dieses Betreute Wohnen, wo sie mich dann auch

einigermaßen wieder runter bekommen haben. Davon wis-

sen die meisten ja auch gar nichts, weil war wirklich schon

heftig. Ich hab am ersten Abend, nachdem ich da gewesen

bin, hat meine Mutter mich ja noch rein gebracht mit mei-

nem Bruder. Und dann bin ich mit meinem Freund zusam-

men an den Fluss gegangen, hatten wir uns dahin gesetzt

ans Wasser, hatten uns den Sonnenuntergang angeguckt

und ich hing da nur noch und war nur noch am weinen, ne.

Eine halbe Stunde durchgehend. Nur noch gesagt so: „Schei-

ße, guck dir das doch mal an, was ich mir jetzt eingebrockt

hab, wo ich jetzt bin. Bei meinen Pflegeeltern ging es mir so

gut, ich hab alles bekommen, ich hab Essen bekommen, ich

hatte ein Dach über dem Kopf.“ Ich durfte halt alles machen

was ich wollte, in Anführungszeichen.

Für Lukas sind der Wechsel in eine betreute Wohnein-richtung und seine Situation dort vor allem dadurch belastet, dass er das Gefühl hat, die Bemühungen sei-ner Pflegemutter enttäuscht zu haben, obwohl er dies eigentlich gar nicht wollte:

Ja, meine Mutter, die ist total traurig und ent-

täuscht, die zweifelt ihre Arbeit selber an, weil ich

war ja fünfzehneinhalb Jahre bei meinen Eltern

und die haben so viel durchgemacht. Meine Mutter, die hat

wirklich alles für mich getan, die hat sich sozusagen den

Arsch für mich aufgerissen. In der Schule hat sie immer mei-

nen Arsch gerettet, die hat immer ganz viel mit mir gelernt.

Alles für mich getan. Und deswegen, wo ich jetzt so sehe, das

ist halt klar, so. Und ja, mir tut das selber weh, dass ich mei-

ne Mutter so sehe, dass ich die so enttäuscht habe und ich

würde das gerne rückgängig machen, ne? Ich kann nicht, ich

weiß auch nicht. Ich will, aber ich kann nicht.

Das Ende des Pfl egeverhältnisses wird plötzlich und unvorbereitet erlebt Eine deutliche Belastung kann es sein, wenn das mög-liche Ende des Pflegeverhältnisses in der Wahrneh-mung des Pflegekindes plötzlich und unvorbereitet er-folgt. Das Gefühl das eigene Zuhause zu verlieren und eigentlich noch gar nicht bereit für den Auszug zu sein, beschreibt Caro folgendermaßen:

Die haben mir ein halbes Jahr bevor ich achtzehn

geworden bin gesagt, ich muss einen Brief schrei-

ben mit einer Begründung, warum das Jugendamt

mich weiterhin finanzieren sollte. Über mein achtzehntes

Lebensjahr hinaus. Und ich hab denen den Wisch geschrie-

ben. Dann kam noch mal irgendwie ein Anruf zurück oder

noch mal ein Brief, dass das so in der Form nicht reicht.

Dann hab ich noch mal was Ausführlicheres geschrieben.

Wobei ich sagen muss, da haben mir meine Pflegeeltern

dann auch bei geholfen, weil ich gar nicht wusste, was zu

schreiben ist bei so was. Und dann haben die das halt trotz-

dem abgewiesen. Obwohl uns, also mir und meinen Pflege-

eltern, eigentlich gesagt wurde: „Das wird so angenommen.

Das ist eigentlich kein Problem.“ Und dann war ich erstmal ja

aufgewühlt deswegen. „Warum finanzieren die mich nicht

weiter?“ Und dann fanden dann da Gespräche statt. Ich weiß

gar nicht mehr, wie die ganzen Leute vom Jugendamt hei-

ßen. Zumindest wurde mir dann da gesagt, dass ich doch

Page 66: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

64

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

auch in ein Betreutes Wohnen ziehen könnte. Und dann wür-

de das mir dann finanziert werden. Und wenn ich eine Ausbil-

dung machen würde statt des Abiturs könnte ich dann ja

auch Geld verdienen selber. Aber das wäre überhaupt gar

nicht in Frage gekommen. Weder das Abi abbrechen noch in

ein Betreutes Wohnen zu gehen. Ich bin dann zu einem Ge-

spräch eingeladen worden. Und dann sollte ich noch mal

ausführlich erläutern, warum ich unbedingt hier wohnen

bleiben möchte und warum es Sinn macht, dass sie mich

weiterhin finanzieren. Und also da sind auch etliche Tränen

geflossen, weil ich echt gedacht hab, ich müsste hier jetzt

raus. Und das ist ja wie mein Zuhause. Und ich lasse mich

doch nicht einfach von fremden Leuten aus meinem Zuhause

werfen.

Am Beispiel von Caro wird deutlich, dass nicht klar ge-nug besprochen wurde, dass es sich bei der Unterbrin-gung in der Pflegefamilie um eine Maßnahme handelt, die zu irgendeinem Zeitpunkt beendet wird. Caro be-schreibt, dass das Vorgehen des Jugendamtes für sie nicht nachvollziehbar beziehungsweise erwartbar war und sie sich dadurch der Situation ausgeliefert fühlte. Eine tragfähige Beziehung in der die Themen Beendi-gung beziehungsweise Fortgewähr der Hilfe vertrau-ensvoll besprochen werden konnten, scheint für Caro nicht existiert zu haben, was sich für sie in einem Ge-fühl des Ausgeliefertseins niederschlägt.

Allein gelassen werden mit FragenFür viele Interviewpartner tauchen nach der Beendi-gung des Pflegeverhältnisses Fragen nach weiteren Unterstützungsangeboten und möglichen Förder-maßnahmen auf. Als Belastung wird hier beschrieben, wenn sich die ehemaligen Pflegekinder mit diesen Fragen allein gelassen fühlen. Dana, die auf eigenen Wunsch bei der Pflegefamilie ausgezogen war, beschreibt ihre Situation und wel-che Unterstützungsmöglichkeiten sie sich gewünscht hätte:

Das Jugendamt ist ja eigentlich relativ hilflos.

Wenn wir aus der Pflege raus sind, dann wissen

die nicht besonders viel, was die Gänge zu den

Ämtern anbelangt. Also was wir beantragen können oder wie

auch immer. Und das war dann ein bisschen traurig, aber

klar, man hat es jetzt letztendlich irgendwo geschafft, man

hat sich durchgefragt, aber ich finde, es wäre schon irgend-

wo auch schön oder auch ein bisschen leichter für die Pfle-

gefamilie auch selbst, wenn die sagen: „Ja, das Pflegekind

zieht aus. Was können wir machen?“ Weil irgendwo muss der

Jugendliche ja meist noch unterstützt werden. Weil wir sind

jetzt ausgezogen, wo wir noch in der Ausbildung sind und das

Ausbildungsgehalt ist nicht hoch genug, um den Lebensun-

terhalt davon zu bestreiten. Und da muss man nun mal eini-

ge Dinge noch beantragen vom Amt. Auch, wenn es irgendwo

unangenehm ist, aber da wäre es nicht schlecht gewesen,

wenn das Jugendamt gesagt hätte: „Ihr könnt das, das, das

und das beantragen.“ Ob das dann letztendlich beantragt

wird beziehungsweise auch der Antrag angenommen wird,

ist die Frage, weil jeder Fall ist ein neuer und da wird immer

wieder neu geprüft. Aber das fände ich nicht schlecht.

Das Ende des Pfl egeverhältnis ist nicht ritualisiertEs fällt auf, dass in vielen Fällen das Ende des Pfle-geverhältnisses als formeller Akt nicht wirklich erin-nert wird. Viele Gesprächspartner beschreiben Enttäu-schung oder auch Unverständnis darüber, dass nach einer möglicherweise längeren Zusammenarbeit mit dem Fachberater keine Beendigungsrituale oder ähn-liches auftauchen.So beschreibt Hannes, dass er sich lediglich an die Zu-sendung eines Briefes erinnern kann:

Also ich hab es jetzt nicht so irgendwie als Ereignis

vor Augen, weil für mich war das ja schon, war es

ja meine Familie. Und deswegen war das jetzt

nicht irgendwie so ein Ereignis, wo ich sage so: „Jawohl!“,

ne? Ich weiß, dass wir noch ein bisschen drum gekämpft ha-

ben, dass wir das Pflegegeld noch weiter bekommen, solan-

ge ich noch in der Schule bin. Aber ansonsten kam glaube

ich, es kam echt nur ein Brief, irgendwie endet jetzt die Pfle-

ge, weil ja nichts mehr irgendwie passiert ist. Also es war

jetzt nicht irgendwie, dass da ein Abschlussgespräch oder

irgendwas stattgefunden hätte.

Olivia erinnert sich zwar an ein abschließendes Ge-spräch, gleichzeitig beschreibt sie das Gespräch aber als wenig besonders, was sie vor dem Hintergrund ei-ner langen Zusammenarbeit eher bedauert:

Ja es gab, ich war achtzehn und dann gab es dann

das abschließende Gespräch. Das ging ein biss-

chen länger als die davor. Und da wurde dann noch

mal gesagt, also es war auch klar, es ist das Letzte. Und wur-

de noch mal besprochen, wie es weitergeht, was ich jetzt ma-

che und dass ich dann Abitur mache und dann nachher vor-

habe zu studieren. Und dann, ich weiß gar nicht, ob gefragt

wurde, wie ich das Ganze wahrgenommen hab. Ich glaube

nicht. Ich glaube, dann hat Frau Nielsen sich von mir verab-

schiedet und hat mir alles Gute gewünscht, meiner Oma al-

Page 67: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

65

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

les Gute. Ich glaube, das war es. Das war glaube ich das letz-

te Gespräch. Ziemlich unspektakulär, dafür, dass ich so

lange begleitet wurde.

Was hilfreich war – RessourcenAls hilfreich kristallisiert es sich heraus, wenn das Pflegekind um die klare Endlichkeit des offiziellen Pflegeverhältnisses weiß, gleichzeitig aber die Fra-ge nach der Zugehörigkeit zur Familie geklärt ist und hier, wenn es gewünscht ist, weiter eine feste Bindung besteht.5 Im Interview mit Pia zeigt sich, dass das Ende des Pflegeverhältnisses mit dem Abschluss der Aus-bildung verbunden war und dies auch klar besprochen war, ihre weiter Zugehörigkeit zur Pflegefamilie aber auch vorher thematisiert wurde und sie dadurch die Chance hatte sich sicher fühlen zu können.

Der Herr Wagner, der kam ja vorher und hat ge-

sagt: „Wenn du deine Lehre fertig hast, ist deine

Familie im Prinzip nicht mehr für dich zuständig,

weil du dann ja eine Ausbildung hast.“. Aber er glaubt nicht

daran, dass meine Eltern dann sagen: „So, Tschüss Frau

Schmitz, schönes Leben noch.“ Also es war auch nicht so.

Ich hab mit meiner Mutter gesprochen, die sagte auch: „Auch

wenn das Pflegeverhältnis beendet ist, sind wir trotzdem

noch deine Familie, du kannst trotzdem noch kommen, wenn

du irgendwelche Fragen, Probleme, irgendwas hast.“ Also

ich brauchte mir nie Gedanken darüber machen, war halt be-

endet und war aber auch nicht beendet, weil wir trotzdem

noch eine Familie waren und sind.

Viele der Gesprächspartner sehen es als positiv an, wenn sie auch nach Beendigung des Pflegeverhält-nisses noch Kontakt zu ihren Ansprechpartnern beim Pflegekinderdienst haben und diese um Unterstützung bitten können. Dies wird beispielsweise im Kontext von Kontakt(wieder)aufnahmen mit der leiblichen Familie häufiger erwähnt, wo der Fachberater meist als Infor-mationsquelle oder Ratgeber genutzt wird. Auch bei konkreten Fragen nach Unterstützungsmöglichkeiten wird es als Entlastung gesehen, wenn das ehemalige Pflegekind noch einen Ansprechpartner hat, den es kennt und auf den es zurückgreifen kann. So erinnert sich Thomas:

5 Es sei darauf hingewiesen, dass es für einige Interviewpartner auch eine Entlastung sein kann, dass das Pflegeverhältnis beendet ist.

Normal ist die ja nicht mehr zuständig für mich.

Ich war jetzt, seit ich allein lebe, bestimmt schon

wieder fünfmal da gewesen, weil ich irgendwelche

Fragen hatte. Also das mit der Frau Hachen ist mehr so,

wenn es darum geht: „Wie beantrage ich das und das?“ Ich

hab ziemlichen Brass. Ich wohne jetzt ein halbes Jahr lang

alleine, hab immer noch kein Kindergeld. Und jetzt muss ich

halt noch zur ARGE, da irgendwas beantragen. Wenn es dar-

um geht. Weil ich zu meiner Pflegemutter nicht mehr so viel

Kontakt habe. Und meine Oma da auch nicht so die Ahnung

von hat. Bin ich halt zu ihr hingegangen. Da hat sie mir halt

auch immer geholfen. Oder wenn es um Unterhalt ging von

meinem Vater. Nachdem wir weg waren, war ich der Mei-

nung, dass ich Anspruch auf Unterhalt habe von meinem Va-

ter, weil ich noch in der Ausbildung bin. Da hat sie mir halt

erklärt, dass meine Ausbildungsvergütung zu hoch wäre da-

für. Laut neuer Düsseldorfer-Tabelle und das hab ich ja alles

vorher nicht gewusst. Da hab ich ja meinen Vater schon wie-

der schlecht geflucht, weil er ja nicht zahlt.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass häufig nach Ende des Pflegeverhältnisses noch Unterstützungsbedarf besteht. Ist der Kontakt zur Pflegefamilie nicht mehr besonders intensiv, wie beispielsweise in der zitierten Situation, können die ehemaligen Zuständigen wichti-ge Unterstützungsfaktoren sein. Grundsätzlich zeigt sich, dass es für die ehemaligen Pflegekinder eine Ressource sein kann, sich weiter mit jemandem auszutauschen, der um die Besonderheiten der eigenen Lebensgeschichte weiß. Hier wird es vor allem positiv gesehen, wenn eigene Leistungen oder Dinge die erreicht werden, eine Wertschätzung erfah-ren. Marina beschreibt dies am Beispiel ihres unter-schriebenen Ausbildungsvertrages:

Habe ihr auch direkt den Ausbildungsvertrag ein-

gescannt, per E-Mail zugeschickt, auf Band ge-

sprochen so: „Ah, nicht wundern, aber Ausbil-

dungsvertrag!“ Direkt so die drei wichtigsten Seiten

zugeschickt, wo dann auch das Ausbildungsgehalt und so

beisteht, weil mich das halt richtig stolz gemacht hat, dass

ich es endlich geschafft hab. Und hatte sie mir auch geant-

wortet und „Juchhu“ und „Super“ und „Klasse, ich freue mich

so“ und „Wir machen da noch was aus, das machen wir auf

jeden Fall“ und haben halt, also regelmäßig kann man nicht

sagen, aber halt zwischendurch, wenn ich mal so das Be-

dürfnis habe, melde ich mich bei ihr und sage einfach mal so:

„Hallo, hier bin ich. So und so läuft es jetzt gerade“ und für

sie ist es recht interessant zu sehen: „Wie läuft es bei dem

Page 68: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

66

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Pflegekind weiter?“ Weil ich ja wirklich so am Anfang ein

Schwerstfall war und mich dann halt immer weiter durchge-

mauschelt habe irgendwie und es dann immer besser wurde.

Das sind ja doch schon ein paar Erfolge, die ich da zu ver-

zeichnen hab. Da ist sie dann auch wirklich stolz drauf und

kann sagen: „Guck mal, das haben“ ja, wir nicht, aber, „das

hast du im Endeffekt geschafft.“ Hätte ich die Unterstützung

nicht gehabt und hätte sie mich da nicht rausgeholt denke

ich mal nicht, dass ich es soweit jetzt gebracht hätte.

Im Kontext der Beendigung eines Pflegeverhältnisses finden wir also an positiven Merkmalen, die es durch professionelle Arbeit möglichst zu gewährleisten gilt:

Dass die Unterbringung in der Pflegefamilie auch • eine offizielle Jugendhilfemaßnahme ist, ist dem Pflegekind bekannt und wurde klar besprochen. Die weitere Zugehörigkeit zur Pflegefamilie, • sofern diese gewünscht ist, wird vor Beendigung besprochen und ist gesichert.Es gibt Unterstützungsmöglichkeiten bei • organisatorischen Fragen, die das weitere Leben betreffen, etwa in Fragen der finanziellen Unterstützungsangebote (BaföG, ALG II, Kindergeld etc.).Es gibt Unterstützungsmöglichkeiten bei mög-• lichen späteren Fragen zur eigenen Biografie oder zur Herkunftsfamilie. Hier wird vor allem der ehemals zuständige Fachberater als Ressource geschätzt.Es ist eine Ressource, einen Absprechpartner zu • haben, der um die Spezifik der eigenen Biografie weiß und so erreichte Ziele besonders wertschät-zen kann. Hier kann der ehemals zuständige Fachberater eine wichtige Ressource sein.

An Problemlagen, denen ein kompetenter Pflegekin-derdienst begegnen soll, zeigen sich:

Die Endlichkeit des Pflegeverhältnisses kann • grundsätzlich, unabhängig von aktuellem Zeit-punkt und Perspektive, Ängste auslösen.Abbrüche oder Wechsel in andere Hilfsmaßnah-• men können mit Gefühlen wie Verlust, Scham oder der Sorge, die Pflegeeltern enttäuscht zu haben, verbunden sein.

Als Belastungen erweisen sich daher: Das Ende des Pflegeverhältnisses wird unvorbe-• reitet und willkürlich erlebt.Das Vorgehen der beteiligten Professionellen ist • nicht erwartbar und nachvollziehbar.

Es besteht Bedarf nach weiterer Unterstützung • und es besteht Unklarheit darüber, wo diese zu bekommen ist.Das Ende des Pflegeverhältnisses wird nicht ge-• staltet und es gibt keine erkennbare oder rituali-sierte Form des Abschiedes.

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Grundsätzlich gilt es für die professionelle Arbeit zu berücksichtigen, dass der Übergang von jahrelanger Integration in eine Pflegefamilie in die Ablösung bei den betroffenen Pflegekindern existenzielle Ängs-te oder Krisen auslösen sowie grundlegende Fragen zur eigenen Biografie aufwerfen kann. Es muss al-len Beteiligten klar sein, dass die Finanzierung eines Pflegeverhältnisses über Leistungen der Hilfen zur Erziehung ab einem bestimmten Zeitpunkt an Verselb-ständigungsbemühungen geknüpft ist. Die gesamte Hilfeform ist ab diesem Punkt einem Wechsel des Mo-dus – von der Integration in die Familie zur Ablösung – unterworfen. Hinzu kommt ein Wechsel von der Wahr-nehmung als privates Lebensfeld zur Maßnahme. Dies kann rückwirkend die Beheimatung in Frage stellen, was zur Konsequenz hat, dass eine intensive Beglei-tung durch den Fachdienst in dieser Phase relevant ist. Hinzu kommt, dass in den meisten Fällen eine Bezie-hung zwischen Fachberater und Pflegekind eingegan-gen wird, deren Auflösung möglicherweise schwierig sein kann. Es ist dringend notwendig, dass hierfür ein Bewusstsein besteht. Zum Umgang mit diesen unter-schiedlichen Faktoren muss sich ein Verständnis dafür durchsetzen, dass nachgehende Kontakte zwischen Fachberater und Pflegekind zum professionellen Be-ratungskontext gehören und kein Privatvergnügen des Fachberater sind.

Page 69: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

67

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Der bevorstehende Eintritt in die Volljährigkeit im Rahmen eines Pflegeverhältnisses bezie-

hungsweise eine Beendigung des Pflegeverhältnisses braucht eine besondere Würdigung und muss frühzei-tig und umfassend angesprochen werden.

Es ist Aufgabe des Fachberaters das Thema in • die Pflegefamilie zu bringen und dort besprech-bar zu machen. Er muss hier sowohl die recht-lichen beziehungsweise finanziellen Aspekte ansprechen als auch die emotionalen Gesichts-punkte. Mögliche Belastungen können so abgefe-dert werden. Das Thema Beendigung kann auch für die • Pflege eltern schwierig sein, da für sie häufig eine Diskrepanz zwischen der rechtlichen Grundlage des Pflegeverhältnisses und dem Gefühl „Kind bleibt Kind“ besteht. Der Fachberater muss die-sen Konflikt in der Beratungsarbeit aufgreifen.

Zentraler Bestandteil der Beratung durch den Fachberater ist es, die unterschiedlichen The-

men und Aspekte des Themas Volljährigkeit und Been-digung des Pflegeverhältnisses aufzugreifen. Die Partizipation des Pflegekindes bei anstehenden Entscheidungen ist zu gewährleisten.

Der Fachberater muss eine umfangreiche Be-• ratung und Aufklärung über Alternativen (wie zum Beispiel Adoption), Lebensperspektiven, Finanzierungsmöglichkeiten (Informationen über Leistungen wie BaföG, ALG II, Wohngeld etc.) und berufliche Qualifizierungsmöglichkeiten anbieten.Diese muss die Beratung zu den Bereichen: • Eintritt in die Volljährigkeit im Rahmen eines laufenden Pflegeverhältnisses und einen Wechsel von Maßnahmen gemäß §33 zu §41 SGBVIII (Antragstellung durch das Pflegekind selber), die Überleitung eines Pflege-verhältnisses in eine andere Hilfeform (Verselbständigung §§27 ff SGBVIII) sowie die Beendigung des Pflegeverhältnisses (Umzug, Auszug etc.) umfassen. Es muss zum Ende eines Pflegeverhältnisses • im Rahmen der Hilfeplanung geklärt werden, ob nachfolgender Bedarf im Rahmen der Hilfen zur Erziehung (beispielsweise flexible Hilfen) besteht. Dies muss auch bei einer kurzfristigen Beendigung des Pflegeverhältnisses erfolgen.

Zum Ende des Pflegeverhältnisses ist zu klären, welche Rolle der bisher zuständige Fachberater

zukünftig übernehmen muss, soll oder kann. Nachgehende Kontakte müssen zum professi-• onellen Beratungskontext gehören und dürfen kein „Privatvergnügen“ des Fachberaters sein. Im Einzelfall ist es notwendig, dass der Fachberater zu bestimmten Themen (z. B. Aufklärung zur Bio-grafie, Herkunftsersuchen) ansprechbar bleibt. Da Pflegekinder unter Umständen Anfragen • zu ihrer Herkunft bzw. Informationen über emo-tional belastende Ereignisse erst zu einem späteren Zeitpunkt und mit Abstand initiieren können, sollte bei Bedarf der bisher zuständige Fachberater beratend tätig werden.Weil der Fachberater im besten Fall das Pflege-• kind im Kontext seiner gesamtbiografischen Entwicklung betrachten und ein Optimum an Beratung bieten kann, ist eine Beratung durch den bisher zuständigen Fachberater im Einzelfall für den weiteren Entwicklungsverlauf zusätzlich stabilisierend und stützend.Im Einzelfall kann die Beziehung zum Fach-• berater eine besondere Bindungsqualität erreichen. Fachlichkeit gebietet es, dies zu berücksichtigen und die Beziehung nicht plötzlich zu beenden. Hierzu gehören die Würdigung von Lebensleistungen und positiven Entwicklungs-schritten sowie das allmähliche Ausblenden der Beziehung.

Es ist Aufgabe des Fachberaters, das Ende des Pflegeverhältnisses zu gestalten.

Der Fachberater muss für die Beendigung des • Pflegeverhältnisses klare Abschiedsrituale initi-ieren (Besuch, gemeinsame Aktivität, Gespräch etc.) und so das Ende für das Pflegekind und die Pflegefamilie klar erkennbar machen.

Page 70: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

68

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

9 Normalitätserleben und Familienbilder von Pfl egekindern – Dirk Schäfer

Jeder Mensch hat eigene Vorstellungen von einem normalen Leben und den Idealbildern einer Fami-lie. Die Konstruktion von Normalität erfolgt dabei vor dem Hintergrund der allgemeinen gesellschaftlichen Bedingungen. In einer hochindustrialisierten Gesell-schaft der Postmoderne scheinen sich solche Ideale nur mäßig an die tatsächliche Lebenswirklichkeit der Menschen anzupassen.1 Die normativen Vorstellun-gen, Deutungsmuster und Überzeugungen bieten zum einen soziale Orientierung, Sicherheit und Halt. Zum anderen vergegenwärtigen sie jedem Einzelnen auch die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit bei der Umsetzung der eigenen Ansprüche.2 Die Entwicklung und der Erhalt von Normalitätsvorstellungen beziehen sich jedoch auch immer auf den Erfahrungshintergrund und den Erlebenskosmos einer Person. Deshalb kön-nen Normalitätsvorstellungen von unterschiedlichen Personen deutlich voneinander abweichen. Pflegekin-der befinden sich in einem besonderen Spannungs-feld, da ihre Entwicklung zwischen den Bräuchen und Lebensstilen von mindestens zwei häufig sehr unter-schiedlichen Familien stattfindet.3 Dieser Übergang von einer Familie in eine andere kann theoretisch als Kulturwechsel verstanden werden.4 Sich in einem neu-en und unbekannten Lebensfeld zurecht zu finden, ge-hört zu den zentralen Aufgaben eines Pflegekindes zu Beginn eines Pflegeverhältnisses. Normalitätsvorstel-lungen verlaufen prozesshaft: Was hält ein Pflegekind beim Übergang in eine neue Familie für „normal“? Wie ändert sich dieses Verständnis beispielsweise im Lauf von mehreren Jahren?

1 Vgl. Keupp (2008)2 Vgl. Schäfer (2011)3 Geringere Unterschiede konnten für den Bereich der Verwand-

tenpflege festgestellt werden. Vgl. dazu Kapitel 6. Verwandten-pflege

4 Vgl. Reimer (2008)

Pflegekinder bemerken, dass sie zum Teil sehr spezifi-sche Aufgaben bewältigen müssen, die andere Kinder und Jugendliche aus ihrem Umfeld nicht bewältigen müssen. Sie entwickeln vor dem Hintergrund dieser spezifischen Anforderungen Deutungsmuster und Be-wältigungsstrategien, die ihnen wirkungsvoll erschei-nen und die sie im besten Fall handlungsfähig werden lassen. Einige dieser Bewältigungsstrategien entspre-chen den gültigen gesellschaftlichen Deutungsmus-tern, andere widersprechen ihnen und können dann als sozial unerwünscht gelten.

Die Perspektive des Pfl egekindes – Aufgaben, Belastungen, Ressourcen und UmgangsstrategienDie ehemaligen Pflegekinder berichten an einigen Stellen über ihre Vorstellungen von einem „ganz nor-malen Leben“ oder einer „ganz normalen Familie“. Dabei bekommt man einen differenzierten Eindruck von solchen Situationen im Leben eines Pflegekindes, in denen es ihnen nicht leicht fällt, den eigenen Nor-malitätsvorstellungen und denen anderer Familien-mitglieder und sonstiger relevanter Personen gerecht zu werden. Außerdem gibt es Beschreibungen, die Hinweise geben, was den Pflegekindern die Etablie-rung und Absicherung von Normalitätsvorstellungen erleichtert hat und wie ihnen die persönliche Integrati-on solcher identitätsstiftenden Entwicklungsprozesse gelungen ist.

Abschied von der alten FamilieViele Pflegekinder beschreiben, dass es trotz der als schwierig erlebten Umstände innerhalb ihrer Her-kunftsfamilie eine belastende Erfahrung war, ihre Familie zu verlassen. Neben der emotionalen Verwur-zelung mit den Eltern, den Geschwistern und dem ge-samten Umfeld des Kindes erhält dabei die Notwen-digkeit eine besondere Bedeutung, sich von seinem bekannten System mit den dort gültigen Regeln und Gewohnheiten zu lösen. Insbesondere zu Beginn eines Pflegeverhältnisses wird dieser Abschied von einigen Pflegekindern als Verlust erlebt, der erhebliche Irritati-onen und Verunsicherungen hervorgerufen hat, als sie versucht haben, sich in einem neuen Familiensystem zurecht zu finden, in dem plötzlich viele neue Regeln und Verhaltensweisen von Kindern und Erwachsenen gültig gewesen sind. Susi beschreibt in diesem Zu-

Page 71: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

69

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

sammenhang die unterschiedlichen Essgewohnheiten in beiden Familien und dass sie in der Pflegefamilie neue Nahrungsmittel kennengelernt hat:

Also am Anfang, ich glaube da ist jedes Pflege-

kind erst mal total angepasst. Ich hab erst mal

alles über mich ergehen lassen. Meine Mutter

[Pflegemutter; Anm. D.S.] sagte, als sie mich vom Jugend-

amt abgeholt haben, saß ich erst mal hinten im Auto und hat-

te einen leeren Blick, als hätte ich keine Emotionen in mir so.

Und die ersten Monate war ich hier ziemlich angepasst und

ich sage mal so, wir haben auch nicht irgendwie was Gesun-

des zu essen bekommen in der leiblichen Familie und dann,

wenn zum Beispiel Erbsen auf dem Tisch standen, wollte ich

die nie essen. Ich hab gefragt: „Was ist das?“ und dann wurde

gesagt: „Das ist Gemüse!“ „Kenne ich nicht, esse ich nicht.“

Suppe – kannte ich nicht, habe ich auch nicht gegessen. Bei

uns gab es wahrscheinlich immer nur Chips oder irgendwas

Süßes und das musste mir zum Beispiel auch überhaupt erst

mal beigebracht werden: Was überhaupt Essen ist. Was ge-

sundes Essen ist. Und was ich auch lustig finde, ich hab zum

Beispiel nie Suppe gegessen, aber wenn meine Eltern gesagt

haben: „Es gibt Nudeln mit Boullion.“ hab ich das gegessen

und das ist ja Suppe. Und das hab ich dann gegessen, aber

sobald das Wort Suppe fiel, wollte ich nicht. Ist ganz lustig.

Ja, also so was musste mir dann zum Beispiel erst mal bei-

gebracht werden. Mein erstes Nutellabrot – davon gibt es

zum Beispiel auch noch Videos, dass ich mich nur abgeputzt

habe. Ich wollte immer alles sofort sauber haben, weil ich

wahrscheinlich Angst hatte, da kriege ich auch wieder Ärger

und wenn man natürlich ein Nutellabrot isst, ist es klar, dass

man irgendwo mal Nutella an den Fingern hat.

Überforderung durch neue UmgangsformenEinige Pflegekinder haben die neuen Umgangsformen in ihrer Pflegefamilie zu Beginn belastet, weil sie nicht verstehen konnten, warum Erwachsene und Kinder auf eine solche Weise miteinander umgehen. Teilweise wurde erst zu einem späteren Zeitpunkt für alle Be-teiligten klar, dass bestimmte Verhaltensweisen und Aufforderungen missverstanden und missinterpretiert wurden. Ein Grund für diese Problematik scheint darin zu liegen, dass auch die Pflegeeltern zunächst davon ausgehen, dass ihre familiären Gewohnheiten eine all-gemeine und für andere verständliche Gültigkeit besit-zen. Durch die Beschreibung von Marina erhält man einen Eindruck davon, wie unterschiedlich ihre eigene kindliche Rolle in den beiden Familien gewesen ist und dass ein solcher Übergang in eine Pflegefamilie mit

Veränderungsprozessen verbunden ist, die sowohl Zeit als auch neue Erklärungen benötigen:

Und als Kind war es dann halt wirklich so, dass

ich dann zu meiner Mutter gefahren bin, das gan-

ze Zimmer dunkel gemacht und gesagt hab:

„Mama komm, leg dich ins Bett, schlaf.“ Und ich bin dann

durch die Wohnung geturnt, hab aufgeräumt, hab die Fenster

geputzt und Gardinen gewaschen. Halt alles, was man von

einem Kind so eigentlich nicht verlangt. Wenn man sagt:

„Mein Gott, leb doch mal dein Leben, sei Kind, spiel oder

mach irgendwas.“ Und das war halt so dieser Zwiespalt. Bei

meinen Pflegeeltern war ich das Kind. Wo ich Kind sein durf-

te. Und bei meiner leiblichen Mutter war ich eher so das El-

ternteil.

Sorge, nicht normal zu seinDie meisten Pflegekinder wünschen sich, ein normales Leben führen zu können. Häufig sind sie dabei mit dem Gefühl konfrontiert, dass sie selbst und ihre familiäre Situation keiner allgemeinen Vorstellung von Normali-tät entsprechen. Das Ziel, das eigene Leben als normal empfinden zu können, wird durch Ereignisse und Situ-ationen destabilisiert, in denen den Pflegekindern be-wusst wird, dass sie besondere Aufgaben bewältigen müssen, denen sich andere Heranwachsende in ihrem Alter nicht stellen brauchen. Tina beschreibt das mit Blick auf ihre Geschwister in der Pflegefamilie folgen-dermaßen:

Meine anderen Geschwister, die halt in der Pfle-

gefamilie die leiblichen Kinder sind, die mussten

sich mit so was ja nie beschäftigen. Die wussten:

„Mama, Papa, die sind zusammen, die sind verheiratet, las-

sen sich nicht scheiden, streiten sich mal, aber dann ist gut.“

Aber nicht „und da sind noch andere und ich muss mich

rechtfertigen und ich muss Leute verhauen, damit die die

Klappe halten.“ Und sich einfach selbst so finden. Und die

hatten das halt komplett in Ruhe.

Durch solche für die Pflegekinder zum Teil unangeneh-men Situationen wird ihnen ihr Sonderstatus deutlich und es verfestigt sich das Gefühl, ein Leben jenseits von allgemeinen Normalitätsvorstellungen zu führen. Im alltäglichen Leben – beispielsweise in der Schule, beim Arztbesuch oder auch nur beim Entgegenneh-men eines Telefonats – werden Pflegekinder häufig damit konfrontiert, dass sie eine Sonderstellung ha-ben: der Vormund muss das Zeugnis unterschreiben,

Page 72: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

70

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

die Pflegeeltern dürfen über eine medizinische Be-handlung nicht alleine entscheiden oder ein Anrufer entschuldigt sich dafür, das er sich verwählt hat, wenn sich das Pflegekind mit seinem Nachnamen meldet. Komplikationen bei der Verwendung des Nachna-mens der leiblichen Familie scheint eines der beson-ders weit verbreiteten Erlebnisse der Pflegekinder zu sein. Für einige Pflegekinder bedeutet dies, dass sie sich in vermeintlich unbedeutsamen Situationen unter Rechtfertigungsdruck gesetzt fühlen, weil sie ihre Zu-gehörigkeit zur Pflegefamilie berührt und hinterfragt sehen. Bei Pflegekindern, die zu ihren Pflegefamilien und Herkunftsfamilien eine intensive Verbindung ha-ben und die sich beiden Familien zugehörig fühlen, können außerdem erhebliche Loyalitätskonflikte aus-gelöst werden.5 Jenny beschreibt die Reaktionen von Schulkameraden auf ihren Nachnamen, der sich von dem ihrer Pflegegeschwister unterschieden hat, so:

Du weißt nicht, wo du hingehörst. Das fing ja in

der Grundschule schon an, dass ich mit meinen

Pflegegeschwistern auf derselben Schule war.

Und die hießen natürlich anders. Mit dem Nachnamen. Ich

bin ja nicht adoptiert worden. Und dann sagten die – Kinder

sind ja grausam und ehrlich, ne? Und sagten dann: „Du hast

ja gar keine Familie! Du bist bestimmt so ein ...“ die benutz-

ten Ausdrücke, ich weiß gar nicht mehr, was die gesagt ha-

ben. Auf jeden Fall: „Du hast keine Eltern, du hast keine Ge-

schwister und du bist bestimmt irgendwo gefunden worden.“

So einen Kram haben die dann erzählt. Ich wusste es natür-

lich besser, aber war natürlich traurig, ne? So die erste Zeit

ist man dann traurig und sagt: „Boah, ich will nicht mehr.

Warum machen die das?“ Und ist ja ganz klar, ne? Normale

Reaktion.

Späte Information hinsichtlich der eigenen HerkunftDie meisten ehemaligen Pflegekinder wurden früh-zeitig darüber aufgeklärt, dass sie nicht die leiblichen Kinder ihrer Pflegeeltern sind. Dennoch kann es wei-tere Informationen über die leibliche Familie und die eigene Herkunft geben, die man ihnen zunächst vor-enthalten hat. Die Pflegekinder beschreiben es als irri-tierend, wenn sie erst zu einem späten Zeitpunkt über wesentliche Fakten in Kenntnis gesetzt werden, die ih-nen hinsichtlich ihrer eigenen Persönlichkeit und ihrer Identitätsentwicklung bedeutsam erscheinen. Achim beschreibt in diesem Zusammenhang seine Aufklä-

5 Vgl. dazu das Kapitel 3 Zwischen zwei Familien

rung über den Migrationshintergrund seines leiblichen Vaters:

Also es gab manchmal schon Situationen – zum

Beispiel mit zwölf Jahren habe ich zum ersten

Mal dann auch meinen Vater gesehen. Da muss-

ten wir irgendwie aufs Gericht – ich weiß ich nicht, worum es

da ging, das haben meine Eltern nicht gesagt, ich denke mal

um Geld irgendwie, keine Ahnung. Ja, und dann kurz vorher

habe ich dann auch mal erfahren – weil ich wurde ständig,

wenn ich mir irgendwo Döner holen gegangen bin oder so,

wurde ich öfter mal so von den türkischen Mitbewohnern auf

türkisch angeredet. Ja, und dann habe ich so mit elf dann

mal erfahren – da habe ich auch mal wieder Döner geholt so

und dann hat meine Mutter so erzählt, sagte sie dann so: „Ja,

dein Vater ist auch Türke und deine Mutter ist Deutsche.“ Da

hab ich das auch mal erfahren, so ganz nebenbei, dass ich

eigentlich gar kein richtiger Deutscher bin. Ja, am Anfang

war das schon ein bisschen komisch, aber was soll man da

machen?

Sorge vor genetischem oder sozialem ErbeEinige Pflegekinder sorgen sich darum, dass sie mög-licherweise nicht schaffen, sich vollständig in ihre Pfle-gefamilie zu integrieren und den Anforderungen ihres (neuen) sozialen Umfeldes gerecht zu werden. Sie sind teilweise verunsichert, ob es ihnen trotz ihrer biografi-schen Vorgeschichte gelingen kann, ein „erfolgreiches“ und „normales“ Leben zu führen. Für viele Gesprächs-partner gehört zu diesem Thema auch die Frage nach einer möglichen eigenen Elternschaft bzw. die Sorge, diese nicht „gut genug“ erfüllen zu können. In diesem Zusammenhang ist es einigen Pflegekindern beispiels-weise wichtig, sich von kriminellen Handlungen oder auch Krankheiten der leiblichen Eltern zu distanzieren. Einige Pflegekinder fragen sich, ob sich trotz ihrer An-strengungen destruktive Elemente der elterlichen Per-sönlichkeit auf genetischem oder sozialisatorischem Weg auf sie selbst übertragen können.

Anhand von Saschas Überlegungen wird deutlich, wie er sich mit diesem Thema auseinandersetzt:

Bei meinen Eltern, ich sage ehrlich, mein Vater

war ein Mörder. Der sitzt im Knast. Meine Mutter

hat irgendeine psychische Krankheit, dass die

auch Depressionen hat und so was. Anzeichen von Depressi-

onen hab ich gar nicht. Also ich hab zwar auch mal so

schlechte Gefühle. Aber ich kann die bei meiner Pflegemut-

ter äußern. Ich kann da mit ihr reden und damit ist fast die

Page 73: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

71

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

halbe Miete schon bezahlt. Dafür, dass man das gut verar-

beiten kann. Man sagt ja, das ist ja so in der Gesellschaft:

„Wie die Eltern, so auch das Kind.“ Also um ein Beispiel zu

geben: Zwei Leute bewerben sich. Der hört, die Eltern von

dem einen vielleicht waren Mörder und die anderen, die wa-

ren reich oder sonst irgendwas. Dass man dann wahrschein-

lich vielleicht den bevorzugt, der keine kriminellen Eltern

hat, weil man dann vielleicht darauf zurückschließen kann:

„Das Kind wird genauso.“ Oder hat vielleicht auch nur ir-

gendwelche Neigungen dazu. Weil soweit aus dem Schuli-

schen kann ich es halt auch entnehmen, dass es zum Teil

auch wirklich vererbt wird. Also zwar jetzt nicht zu fünfzig

Prozent, aber irgendwie, dass das in den Genen irgendwie

drin steckt.

Selbstzuschreibungen und Minderwertigkeitsempfi ndenAls belastend müssen auch Erklärungen und Deu-tungsmuster der Pflegekinder gelten, die ihnen selbst eine Mitschuld an der familiären Situation zuschreiben. Einige Pflegekinder beschreiben sich selbst auch noch rückblickend als kompliziertes und schwieriges Kind. In vielen Situationen erleben sie außerdem auch im Rahmen von professionellen Systemen – beispielswei-se im medizinischen Bereich, in der Schule oder beim Jugendamt – dass nicht andere, sondern sie selbst und ihre Verhaltensweisen als problematisch und defizitär beschrieben werden. So beschreibt Adem seine Erfah-rung mit dem Schulsystem folgendermaßen:

Das war auch damals so bei der Schulwahl so. Wo

die dann irgendwie meinten: „Ja, der kann auf die

Hauptschule gehen. Der muss ja kein Professor

werden.“ und so was. Da meinte meine Mama aber: „Genau

das will er halt werden.“ Also meine Pflegemama. Deswegen

ist das halt, dass den Pflegekindern, sage ich mal, nicht so

viel zugetraut wird. Dass das dann heißt: „Ja, das sind eh nur

Pflegekinder. Was soll aus denen denn schon groß werden?“

Solche Formen der Selbst- und Fremdbeschreibung bürden Pflegekindern eine Last auf, der sie kaum ge-recht werden können. Einige Pflegekinder beschreiben außerdem, dass sie gegenüber den leiblichen Kindern der Pflegefamilie oder den leiblichen Geschwistern, die im Gegensatz zu ihnen in ihrer leiblichen Familie leben können, ein Minderwertigkeitsgefühl entwickelt haben. Vanessa beschreibt, wie schwer ihr der Blick auf ihre drei leiblichen Brüder fällt, die in ihrer Her-kunftsfamilie bleiben konnten:

Ja, und manchmal sage ich mal so, hasse ich

mich selber. Dann denke ich mir auch so: „Ich bin

irgendwie im falschen Körper. Warum bin ich ein

Mädchen geworden? Warum kann man mich nicht so lieben,

wie ich bin?“ Solche Fragen, die kommen mir ab und zu dann.

Und das tut mir weh. Und wenn ich dann so sehe oder höre,

meine Mutter mit ihren drei Söhnen, dann frage ich: „Warum

ich nicht? Warum kann ich nicht im Arm mit dabei sein?“

Oder: „Warum bin ich das fünfte Rad am Wagen? Warum wird

mal nicht so mit den Gedanken so ein bisschen an mich da-

bei mitgedacht?“ Aber ich sage mal so: Ich finde mich damit

langsam ab.

Besonders schwierig scheint es zu werden, wenn die Pflegekinder bei ihren Pflegeeltern eine klare emotio-nale Unterscheidung zwischen leiblichen Kindern und Pflegekindern erleben oder wenn verschiedene Regeln und Verhaltensformen für sie gelten. So erinnert sich Rebecca:

Aber ich kann nicht verstehen, dass es dann vier

Jahre lang oder viereinhalb Jahre lang so ein Ter-

ror dann wegen mir war. Also ich wurde immer

beschimpft, immer, egal wann, jeden Tag beim Essen, beim

Fernsehen, wenn ich irgendwo lang gegangen bin, wenn ich

draußen im Garten war, immer. Das war dann auch so, dass

die Pflegemutter dann wahrscheinlich nicht mehr genau

wusste, wie sie sich helfen kann. Das heißt, sie hat gesagt,

ich soll eher essen und dann sollte ich mich immer schnell

beeilen, damit ihre Kinder auch noch was essen können oder

ab acht Uhr abends durfte ich nicht mehr nach unten ins

Wohnzimmer, weil dann die Jungen Fernsehen gucken soll-

ten.

Identitätsentwicklung und AblösungsphaseWährend der Phase der Adoleszenz können Themen der Identitätsentwicklung und der Ablösung von den Eltern eine zusätzliche Brisanz erhalten. Dabei han-delt es sich zunächst um allgemeine Entwicklungsauf-gaben, die auch Heranwachsende bewältigen müssen, die in ihren leiblichen Familien aufwachsen. Pflegekin-der müssen sich jedoch in einer besonderen Weise mit Themen der eigenen Herkunft und der eigenen Identi-tät auseinandersetzen.6 Sie haben bereits eine unge-wöhnlich frühe Ablösung von ihren leiblichen Eltern erlebt und sind daher in einem besonderen Maße für

6 Vgl. dazu Kapitel 4. Herkunft und Biografie

Page 74: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

72

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

dieses Thema sensibilisiert. Auch in Jennys Beschrei-bung wird dieser Aspekt deutlich:

Es fing im Grunde damit an, dass ich wusste: „Das

sind nicht meine leiblichen Eltern.“ Und meine

Mutter hatte sich ja abgewandt von mir. Dazu ka-

men dann noch diese Rechtfertigungen ständig. Egal, wo

man hingegangen ist. „Das ist unsere Tochter.“ „Ja wie? Aber

Sie heißen doch so und sie heißt so. Das geht doch gar nicht.“

Und das waren einfach so Momente, wo du wütend warst, wo

du gesagt hast: „Boah, ich weiß gar nix mehr.“ Leer. Weg.

Und ja, da beschäftigt man sich halt mit, lässt alles andere

dann links liegen und das ist halt wichtiger. Das war für mich

in dem Moment das Wichtigste, rauszufinden, wo ich jetzt hin

soll. Weil ich war so hin- und hergerissen. Ich wusste, da sind

irgendwo eine Mutter und ein Vater und hier habe ich aber

meine Mama und meinen Papa. Und das waren so Momente,

wo ich dachte: „Das geht doch gar nicht.“ Weil da habe ich so

darüber nachgedacht, was Eltern ausmacht. Darüber habe

ich sehr viel nachgedacht. Und halt auch, dass das ja meine

Eltern sind und dass die mich großgezogen haben. Aber da

sind halt noch andere Leute. Wie gesagt, man geht so auf

Spurensuche. Und das ärgert einen, dass man einfach nicht

vorwärts kommt. Und dass einem da auch keiner bei hilft.

Das Jugendamt sagt: „Ja, wir haben deine Eltern gefragt und

die sagen „Nein“.“ Aber als Jugendlicher, als junger Mensch

hat man einfach dann keine andere Anlaufstelle. Man kann

nicht sagen: „Ich gehe jetzt dahin und da weiß ich, dass mir

sofort geholfen wird.“ Das gibt es irgendwie nicht. Ist einfach

so. Und das war schon verdammt übel, weil ich meinen El-

tern dann auch sehr viele Vorwürfe gemacht habe. Ich habe

denen dann irgendwann gesagt: „Ihr seid doch alles schuld.“

Habe gesagt: „Ihr seid das schuld, dass die nicht mehr

kommt, weil ihr euch gestritten habt mit der.“ Und: „Ihr könnt

mich ja gar nicht so lieben, wie richtige Eltern.“

Was hilfreich war – Ressourcen:Einige Pflegekinder beschreiben, dass sie durch die verlässlichen Strukturen und einen „normalen Fami-lienalltag“ in ihrer Pflegefamilie einen erheblichen Zugewinn an Sicherheit erlebt haben. Dazu gehören insbesondere die familiären Rahmenbedingungen – eine gleichbleibende Tagesstruktur sowie Regeln, an die sich alle Familienmitglieder verbindlich halten. Das Alltagsleben und von den Pflegeeltern und ande-ren als Selbstverständlichkeiten betrachtete Elemente des Familienlebens – wie beispielsweise das Wecken und Zubettbringen der Kinder oder regelmäßige, ge-meinsame Mahlzeiten – können für die Pflegekinder eine wichtige Entlastung bereithalten. Hilfreich war es

für die Pflegekinder, wenn sie Zeit und ein geduldiges Umfeld hatten, um die neuen Rahmenbedingungen kennenzulernen, zu hinterfragen und zu verstehen. Sascha beschreibt seine Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in der Pflegefamilie folgendermaßen:

Also ich denke mal, wenn man klein ist, man

spielt viel, man bekommt auch viel Aufmerksam-

keit. Dann kommt man in die Schule, man trifft

seine ersten Freunde oder auch schon im Kindergarten oder

man hat dann so seine richtig festen, stabilen Freunde, sage

ich jetzt mal, und man hat einen Ablauf, man hat eine Struk-

tur im Tag. Man geht zur Schule, Mittagessen gab es regel-

mäßig Familienessen, also alle waren am Tisch. Mittags

konnte man dann Hausaufgaben machen und danach wurde

gespielt und danach gab es Abendessen, dann haben wir

noch mal irgendwie gespielt und danach kann man schlafen

gehen. So dass Struktur in dem Tag drin war, was ich als

wichtig empfinde, damit das Kind nicht ziellos irgendwo, sage

ich jetzt mal, verblödet irgendwo im Zimmer rumsitzt. Also

wenn man dann weiter geht, also dann in die nächste Schule,

dass das dann eigentlich so weiter geht. Man hat den Alltag.

Schule ist Pflicht, weil es gibt ja die Kinder, die dann sagen:

„Ich habe keinen Bock auf Schule.“, natürlich hatte ich die

Phase wahrscheinlich auch, aber man kriegt den Ehrgeiz.

Der kommt von selbst. Auch wenn man es beim Kind nicht

glaubt, der kommt aber von selber von irgendwann.

Mehrere Pflegekinder beschreiben, dass es ihnen möglich gewesen ist, sich in ihrem neuen, kindgerech-ten Familiensystem sicher und zugehörig zu fühlen. Sie konnten es genießen, ausschließlich Kind zu sein, ohne dass sich die Rollen zwischen Erwachsenen und Kindern vermischt oder umgekehrt haben. Viele Pfle-gekinder schildern, dass sie es genossen haben, in ein Familiengefüge zu kommen, in dem die Strukturen so eindeutig waren, dass es möglich war, sich als Kind daran anzupassen, während die Pflegeeltern gleichzei-tig dazu imstande waren, flexibel auf die Bedürfnisse des Pflegekindes zu reagieren und einzugehen, ohne die familiären Rahmenbedingungen dafür aufgeben zu müssen. Der Erhalt der Authentizität des Familienle-bens – also nicht alles anders zu machen, nur weil ein neues Kind Mitglied der Familie wird – wird von den Pflegekindern geschätzt.

Für die Pflegekinder war es hilfreich, wenn sie die Be-sonderheiten in ihren beiden Familien nicht tabuisiert haben, sondern selbstbewusst und offen damit umge-gangen sind. Pflegekindern kann insbesondere dann

Page 75: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

73

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

eine konstruktive, optimistische und selbstbewusste Auseinandersetzung mit dem Thema „Pflegekind-Sein“ gelingen, wenn ihnen Worte und Erklärungsstra-tegien zur Verfügung stehen, mit denen sie sich selbst und anderen ihre eigene Situation beschreiben können, ohne damit rechnen zu müssen, dass sie selbst des-wegen stigmatisiert werden. Wie man aus der Schilde-rung von Vanessa lernen kann, ist dies kein einfacher Prozess:

Das hab ich dann von meiner Pflegemutter halt

erfahren. Also ich sage mal, wo wir früher ge-

wohnt haben, kamen schon immer so andere Kin-

der und meinten so: „Du bist nicht die leibliche Tochter, du

bist nicht die leibliche Tochter!“ Das hat mich schon immer

so hart getroffen. Dann hab ich gesagt so: „Seid doch leise,

ihr wisst das doch gar nicht! Natürlich bin ich die leibliche

Tochter.“ Dann stand ich immer kurz davor, mich zu prügeln,

weil ich das nie wahrhaben wollte. Und dann kam ich natür-

lich irgendwann auch mit acht Jahren wieder rein und hab

gesagt: „Mama, Mama, die sagen schon wieder, ich bin nicht

deine leibliche Tochter.“ Ja, und dann kam das dazu, dass

meine Mutter gesagt hat: „Ja, dann komm mal her und setz

dich mal da hin. Ich muss dir was erklären.“ Und dann hat sie

mir das alles erzählt. Und dann hat sie gesagt so: „Ja, ich bin

nicht deine richtige Mutter. Es stimmt. Ich bin deine Pflege-

mutter.“ Ja, und dann hatte ich natürlich wieder große Angst

gehabt, sage ich mal. Und bin direkt von der Couch zu meiner

Mutter hin rübergesprungen. Und hab mich direkt wieder an

ihr festgeklammert und hab geheult und gesagt: „Ich muss

ausziehen. Ich kann nie wieder „Mama“ zu dir sagen.“ Und:

„Ich muss weg, ich kann nicht mehr hier bleiben.“ Ja, und da

hat sie mich in den Arm genommen, hat mich natürlich be-

ruhigt und hat gesagt: „Du gehst nie wieder weg.“ Und: „Du

bleibst hier und du kannst immer weiterhin zu mir „Mama“

sagen.“

Auch Jenny beschreibt, wie sie begonnen hat, sich ge-gen die Sticheleien ihrer Mitschüler zur Wehr zu set-zen:

Und ja, das fing dann irgendwann halt so an, dass

ich mich dagegen gewehrt hab und gesagt hab:

„Du bist ja blöd. Du weißt ja gar nicht, was Sache

ist. Weißt ja gar nicht, was los ist und wie das wirklich ist.“

Und irgendwann hab ich das immer so schön ausgelegt und

hab gesagt: „Dafür hab ich aber zwei Mamas. Und du hast

nur eine.“ Und da waren aber auch sehr viele Gespräche

dann mit meiner Pflegemama, ne? Damit ich das alles so ir-

gendwie verpacken konnte, weil ich bin dann natürlich nach

Hause gekommen und sie hat gemerkt, ich bin wütend oder

traurig und verziehe mich einfach nur in mein Zimmer. Und

da hat sie dann halt mit mir immer das Gespräch gesucht,

ne? Und das hat wirklich, haben die echt gut gemacht, also

war schon schön.

Folgende positive Merkmale ließen sich hinsichtlich der Familienbilder und der Normalitätsvorstellungen zusammenfassend aus den Interviews mit den Pflege-kindern herausarbeiten:

Die Pflegekinder gewinnen Sicherheit aufgrund • verlässlicher und dadurch vorhersehbarer Alltagsstrukturen innerhalb der Pflegefamilie.Ein geregelter Familienalltag bietet dem Pflege-• kind die Möglichkeit, Kind sein zu können.Besonderheiten des Familienlebens werden • erklärt, so dass sich auch für das Pflegekind die Möglichkeit ergibt, diese als Stärke und Chance des eigenen Lebens zu interpretieren.

Außerdem wurden folgende Problemlagen deutlich, denen ein professioneller Pflegekinderdienst begeg-nen sollte:

Sich von der leiblichen Familie (vorübergehend) • in eine Pflegefamilie zu verabschieden, ist ein emotional aufwühlendes Ereignis und eine aus kindlicher Perspektive schwierig zu lösende Aufgabe.Klare Strukturen und Umgangsformen, die • innerhalb der Pflegefamilie Gültigkeit besitzen, können zu Beginn eines Pflegeverhältnisses Verwirrungen auslösen und überfordern.Als Pflegekind aufzuwachsen bedeutet, sich in • unterschiedlichen Alltagssituationen als „anders als andere Kinder“ zu erleben.Erst zu einem späten Zeitpunkt über wesentliche • Aspekte der eigenen Herkunft und Biographie informiert zu werden, kann eine zusätzliche Belastungsquelle sein.Es besteht die Befürchtung, dass die eigene • Zukunft grundsätzlich von den leiblichen Eltern vorgeprägt wird.Die Überzeugung, im Vergleich zu anderen • Gleichaltrigen (Geschwister, Freunde) nicht gleichwertig zu sein und zurückgesetzt zu werden.Während der Adoleszenz können Fragen hinsicht-• lich der Identitätsentwicklung und der Ablösung von den Pflegeeltern an Brisanz gewinnen.

Page 76: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

74

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Dem Bedürfnis von Pflegekindern nach einem mög-lichst normalen Leben in einer möglichst normalen Familie kann durch den Fachberater konstruktiv be-gegnet werden. Dazu gehört, dass das Umfeld eines Pflegekindes dafür sensibilisiert wird, was es bedeutet, ein Pflegekind zu sein. Mit Blick auf die am Pflegever-hältnis beteiligten Personen (hier insbesondere Pfle-geeltern und leibliche Eltern) kann der Fachberater ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es unterschiedliche Familienkulturen gibt und ein Pflegekind diese Unter-schiede in sein Alltagserleben und Normalitätsemp-finden integrieren muss. Der Fachberater sollte bei den Pflegeeltern dafür werben, deren eigene Norma-litätsvorstellungen bei einem Pflegekind nicht als all-gemein gültig und bekannt vorauszusetzen, sondern den Übergang in die Gepflogenheiten der Pflegefamilie möglichst geduldig und sanft zu initiieren.

Konkrete Ziele und Umsetzung in Qualitätsstandards

Während der Vorbereitung eines Pflegeverhältnisses und des Übergangs eines Pflegekindes von seiner Her-kunftsfamilie in die Pflegefamilie sollte der Fachbera-ter auf das Thema „Normalität“ aufmerksam machen und als Gesprächspartner zur Verfügung stehen.

Die Pflegeeltern sollten bereits während ihrer • Vorbereitung auf das Pflegeverhältnis dafür sensibilisiert werden, dass die Phase des Übergangs für ein Pflegekind eine erhebliche Herausforderung darstellt. Sie können mit Unterstützung des Fachberaters ihrem Pflege-kind den Übergang und die Gewöhnung an eine neue Familienkultur sowie möglicherweise neue Umgangsformen erleichtern. Für die Pflegekinder kann es hilfreich sein, wenn Alltagsstrukturen in der neuen Familie erklärt und beschrieben werden, um dadurch Transpa-renz für das Kind herzustellen (Wir machen das so...). Ebenfalls während der Vorbereitung sollten • Pflegeeltern von ihrem Fachberater darauf auf-merksam gemacht werden, dass Pflegekinder zu Beginn eines Pflegeverhältnisses und darüber hinaus eine zum Teil sehr ambivalente Haltung gegenüber ihren beiden Familien haben können,

die von den Pflegeeltern Geduld und Offenheit verlangt.7

Das Thema Normalität muss in Vorbereitungs-• kursen für Pflegeeltern bearbeitet werden. Bei den angehenden Pflegeeltern soll Sensibilität für die besondere Situation und Verständnis für das Verhalten der Kinder geschaffen werden.Der Übergang eines Pflegekindes von der Her-• kunftsfamilie in die Pflegefamilie muss durch den Fachberater begleitet und gestaltet werden. Die erfordert im Vergleich zu anderen Phasen des Pflegeverhältnisses eine erhöhte Intensität der Betreuung in Form einer erhöhten Frequenz von Hausbesuchen und Telefonkontakten. Dadurch lassen sich zu hohe Erwartungen und gegensei-tige Überforderungen zwischen Pflegekind und Pflegefamilie vermeiden. Informationen zum Lebensalltag aus der Her-• kunftsfamilie oder einer anderen abgebenden Stelle müssen an die Pflegefamilie weiterge-geben werden. Die Informationen laufen beim Fachberater zusammen. Übergänge müssen behutsam gestaltet werden. • Bisherige Verhaltensweisen und Muster soll-ten der Pflegefamilie bekannt sein und können aufgegriffen werden. Beispiel: Hat das Kind bisher nur mit den Fingern gegessen, muss dies den Pflegeeltern bekannt sein und es muss ein Übergang gefunden werden, der das Kind nicht überfordert.

Für die Pflegekinder ist es eine enorme Er-leichterung, wenn Fragen nach der Normalität

oder Unnormalität ihres Lebens enttabuisiert werden, um ihnen einen konstruktiven Umgang mit ihrer Bio-grafie zu ermöglichen.

Pflegekinder brauchen Worte für das, was sie • erlebt haben und was sie erleben. Sie müssen positiv besetzte Erklärungsstrategien für ihre eigene Situation als Pflegekind entwickeln. Dabei ist es wichtig, dass das Pflegekind durch seine Pflegeeltern und einen vertrauten Fachbera-ter des Pflegekinderdienstes unterstützt wird (Biografiearbeit; Integrationsarbeit; Entwicklung einer Idee von Herkunft).

7 vgl. dazu Kapitel 3. Zwischen zwei Familien

Page 77: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

75

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Pflegekinder benötigen Unterstützung für den Umgang mit und die Integration der unter-

schiedlichen Familienkulturen, die während ihres Auf-wachsens eine entscheidende Rolle für sie haben.

Die Pflegeeltern müssen durch den Fachberater • über unterschiedliche Familienkulturen infor-miert werden. Es muss den Pflegeeltern vermit-telt werden, was es für das Pflegekind bedeutet, in verschiedenen Familien zu leben und welche Irritationen möglicherweise auftreten können.Der Fachberater sollte den Pflegeeltern verdeut-• lichen, welche enorme Integrationsleistung ihr Pflegekind hinsichtlich der familiär unterschied-lichen Vorstellungen und Überzeugungen zu bewältigen hat und dass es dabei Unterstützung benötigt.Aufgabe des Fachberaters ist es, das Pflegekind • dabei zu unterstützen, die unterschiedlichen Familienbilder der Herkunftsfamilie und der Pfle-gefamilie in die eigene Biografie zu integrieren. Einige Pflegekinderdienste berichten in diesem Zusammenhang von guten Erfahrungen durch die Erstellung eines Lebensbuches.

Das Erleben von Pflegekindern hinsichtlich ih-rer Pflegefamilie ist kein gleichbleibender Zu-

stand. Einstellungen und Überzeugungen zur Familie verändern sich im Laufe der Zeit.

Das Erleben und die Einstellung der Pflegekinder • zur Pflegefamilie sind von ambivalenten Gefühlen geprägt, die prozesshaft verlaufen. Der Fach-berater sollte diese Entwicklung wahrnehmen, begleiten und regelmäßig mit den Pflegeeltern und dem Pflegekind deren Haltung zur Pflegefa-milie thematisieren. So kann er als Unterstützer bei der Entwicklung individuell gültiger Familien-bilder zur Verfügung stehen.

Für die Pflegekinder und ihre Pflegeeltern ist es hilfreich, wenn sie beim Umgang mit Dritten

verlässliche Unterstützung erfahren.Jenseits der Pflegefamilie (Schule, Behörden etc.) • sollen Fachberater Verständnis und Sensibilität für die besondere Situation des Pflegekindes und der Pflegefamilie schaffen. Um Missverständnis-se und Stigmatisierungsprozesse zu vermeiden, können gemeinsame Gespräche mit Pflegeeltern, Pflegekind, Fachberater und einer vierten Person (Lehrer etc.) hilfreich sein, in denen die Fachbe-rater auch eine Pufferfunktion für das Pflegekind übernehmen können.8 Der Fachberater sollte hier die Rolle eines Vermittlers oder Mediators in Konfliktsituationen ausfüllen.

Um auch die Pflegeeltern systematisch dabei zu unterstützen, den vielfältigen Anforderun-

gen beim Umgang mit Normalitätsvorstellungen und unterschiedlichen Familienbildern gerecht zu werden, kann der Austausch mit anderen Pflegeeltern hilfreich sein.

Für Pflegeeltern sollten durch den Pflege-• kinderdienst Kontakte zu Pflegefamilienkreisen etabliert werden (z.B. Pflegeeltern-Stammtische, gemeinsames Frühstück, Nachmittagskaffee, Ausflüge). Um die Selbsthilfepotentiale weiter zu stärken, kann außerdem auf Internetforen für Pflegeeltern hingewiesen werden.9

8 Vgl. dazu Kapitel „Pflegekinder und Schule“ in Reimer (2011)9 Vgl. dazu Kapitel 3. Zwischen zwei Familien

Page 78: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

76

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

10 Wie nehmen Pfl egekinder professionelle Dienste wahr?

Ich hatte vier, fünf Sozialarbeiter. Und das war

ganz übel. Also du hattest dich gerade an den ei-

nen gewöhnt und hattest Vertrauen zu dem und

konntest dem auch mal was erzählen und hattest das Gefühl,

dass er auch ein bisschen Interesse hat und nicht nur an sei-

nem Job hängt. Und an dem Geld. Und ja, dann kam halt der

Nächste. Und dann hast du natürlich da gesessen, musstest

im Grunde wieder bei Null anfangen. Weil der sich ja nicht

vorher alles komplett durchgelesen hat. Musstest wieder bei

Null anfangen und dem Sachen erzählen, die du schon zehn-

mal anderen Leuten erzählt hast und hattest einfach keinen

Bock mehr.

Im Interview mit Vanessa wird der Zuständigkeitswech-sel ebenfalls als Belastung beschrieben, sie stellt die Problematik heraus, sich wieder einer neuen, frem-den Person öffnen zu müssen. Vanessa schildert ihren Umgang mit der Situation als eine Art Rückzug, da ihr das Gespräch mit einer fremden Person schwer fiel:

Ja, und dann hatte ich ja erst die Frau Schöler vom

Pflegeamt gehabt. Ja, dann ist die ja zu einer an-

deren Abteilung rübergegangen für Kinder, die ad-

optiert werden. Und dann hatte ich den, dann hatte ich je-

mand anderes bekommen. Jetzt weiß ich auch nicht. Den

Herrn Galanis, so war das. Dann war der auch knapp ein

Jahr bei mir. Ja, und dann hatte ich wieder einen anderen,

dann hab ich wieder einen anderen gekriegt und dann war

immer diese Wechselei. Und dann hatte ich mich da auch

wieder ein bisschen zurückgezogen, weil ich rede nicht ger-

ne mit anderen Leuten über meine Probleme. Oder was eben

halt früher gewesen ist. Sag ich mal, rede ich nicht gerne

drüber. Durch diese Wechselei habe ich mich dann auch wie-

der ein bisschen zurückgezogen.

Unklarheit über Zuständigkeit und Funktion der Fachkräfte Neben dem Zuständigkeitswechsel kann es auch eine Belastungsquelle sein, nicht über die Zuständig-keit und Aufgabe der jeweiligen Fachkraft Bescheid zu wissen. Hier ist vor allem der Unterschied in der Funktion von Fachberater und Vormund häufig unklar. Viele Interview partner beschreiben den Wechsel der Zuständigkeit und die Unklarheit über die Funktion in einem engen Zusammenhang. So heißt es in einem In-terview:

In vielen Biografien von Pflegekindern ist das Ju-gendamt – mit all seinen unterschiedlichen Akteuren – immer wieder präsent. Dabei bleibt es häufig eine „imaginäre Institution, da es durch ganz unterschied-liche Personen, Entscheidungssituationen und Räum-lichkeiten repräsentiert wird.“1 Hintergrund für dieses Erleben ist beispielsweise die Rollenteilung in Fragen der Zuständigkeit, – etwa zwischen Allgemeinem So-zialen Dienst und Pflegekinderdienst – oder aber auch der Wechsel zwischen mehreren Jugendämtern inner-halb eines Pflegeverhältnisses. Nicht selten entsteht daher bei „Kindern der Eindruck, dass das Jugendamt mit mehreren ‚Stimmen‘ spricht.“2

In vielen der Interviews mit ehemaligen Pflegekin-dern wird an unterschiedlichen Stellen über die Zu-sammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst bzw. dem Jugendamt berichtet und dieser Eindruck bestätigt. Vor allem das Setting des Hilfeplanes wird hierbei von den Interviewpartnern häufig beschrieben. An einigen wenigen Stellen äußern sich die Gesprächspartner zu anderen am Pflegeverhältnis beteiligten Professionen. Auf konkrete Nachfragen im Schlussteil des Interviews formulieren einige Interviewpartner, wie sie sich die Zusammenarbeit eher gewünscht hätten bzw. welches Vorgehen ihres zuständigen Fachberaters für sie be-sonders hilfreich war. Im folgenden Kapitel sollen die-se Punkte vorgestellt werden.

Die Perspektive des Pfl egekindes – Belastungen, Aufgaben, Ressourcen und Umgangsstrategien

ZuständigkeitswechselAls belastend beschreiben mehrere Interviewpartner die wiederholten Wechsel der zuständigen Fachbera-ter der Pflegekinderdienste. Besonders hervorgehoben wird hierbei der Verlust einer Person, die vertraut und über die Lebensgeschichte des Pflegekindes infor-miert war. Eine Interviewpartnerin betont neben die-sen Aspekten, dass es eine Belastung war, die eigene Geschichte immer wieder erzählen zu müssen:

1 Wölfel (2010), S.242 Ebd.

Page 79: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

77

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Das Problem war, es war auch immer jemand an-

deres da. Zuerst war ich irgendwie in D-Stadt. Dann

war ich in E-Stadt und hatte immer wieder neue

Menschen, die dann irgendwie für mich zuständig waren so.

Ich habe selber keine Ahnung. Ich weiß bis heute nicht so rich-

tig, was der Herr Marks [Mitarbeiter des PKD, J.P.] ist. Aber er

war halt auf einmal da. Also ich glaube er kam so, er wurde

mir im Zusammenhang mit meinem Vormund damals vorge-

stellt, mit dem Herrn Becker. Da meinte halt meine Mama:

„Ja, jetzt glaube ich kommt ein gewisser Herr Marks und Herr

Becker“ so. Die hab ich halt beide so in die Sparte Jugendamt

eingeordnet so. Und inwiefern er jetzt da eingeschaltet wurde

und aus welchem Anlass genau, weiß ich auch nicht.

Hilfeplanung und Beratungssituationen als BelastungsquelleDie Situation des Hilfeplangesprächs kann verschie-dene Belastungsquellen für die Pflegekinder bergen. In den Interviews fällt auf, dass es eine deutliche Un-terscheidung in der Wahrnehmung als Kind und als Jugendlicher gibt. Rückblickend auf die Zeit als Kind wird vor allem beschrieben, dass der Hintergrund des Treffens eher unklar war. Hinzu kommt auch hier eine Unsicherheit darüber, wer für was zuständig ist. Es zeigt sich ebenfalls, dass in den wenigsten Inter-views eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Terminen und damit auch verschiedenen Set-tings der Zusammenkunft mit dem Pflegekinderdienst bzw. weiteren Vertretern des Hilfesystems gemacht wird. Die Interviewpartner sprechen in aller Regel von Hilfeplan, auch wenn es sich um andere Besuche des Pflegekinderdienstes gehandelt hat. Jenny erinnert sich, dass sie als Kind mit den Personen vom Jugendamt nichts anfangen konnte. Gleichzeitig beschreibt sie allerdings das Setting des eigenen Zu-hauses als Möglichkeit, mit der Situation umzugehen:

Also ich als Kind konnte gar nichts mit denen an-

fangen. Ich wusste, ich musste mich schick anzie-

hen und entweder sind wir halt anfangs dahin ge-

fahren zum Jugendamt. Zu diesen Gesprächen. Hilfspläne

nennen die sich ja, ne? Pflegehilfsplan. Und irgendwann

dann kamen die halt zu uns nach Hause. Und da habe ich

mich natürlich schon zu Hause viel wohler gefühlt, weil ich

wusste: „Hier bin ich zu Hause“, ne? Und: „Ach ja, da kommt

jetzt jemand zu Besuch. Der geht aber auch wieder.“

Auch die Gestaltung der Gespräche wird für die Zeit der Kindheit rückblickend häufig als schwierig erin-nert. So heißt es in dem Interview weiter:

Ich fand war immer wie so ein kleines Verhör. Ich

fand es nie schön, nie angenehm. Zumindest nicht

als Kind.

Dass es im Rahmen des Hilfeplangesprächs nicht die Möglichkeit gab, sich frei äußern zu können oder offen über mögliche Probleme zu sprechen, wird als Belastungsquelle in mehreren Interviews benannt. Ein Grund ist die Sorge, die Pflegeeltern möglicherweise durch das Ansprechen von Problemen zu enttäuschen. Jenny erinnert sich, wie sie die Situation als Kind er-lebt hat:

Das waren auch erst Sachen, die ich sagen konnte

und mich getraut habe zu sagen, als ich älter war.

So als Kind sagst du nichts, da guckst du deine El-

tern an und sagst: „Nein, wenn du das jetzt sagst, dann

kriegst du Ärger und dann sind die traurig.“ Und das fand ich

halt immer nicht gut, dass die Eltern daneben saßen, die

Pflegeeltern. Das finde ich überhaupt nicht gut.

Die Geschwister Mark und Hanna berichten im gemein-samen Interview über große Konflikte, die sie mit den Pflegeeltern hatten, nachdem sie als größere Kinder zu ihnen gezogen waren. Sie beschreiben beispielsweise, wie sie sich längere Zeiträume nur in den Zimmern auf-halten durften und dort im Dunkeln sitzen mussten. Auf diese Situation bezieht Mark sich im Zitat:

Wenn diese Hilfeplangespräche waren, da hat halt

unsere, wie heißt die, Frau Fitzner vom Jugendamt

gefragt, wie es immer so geht bei uns, also im Zu-

sammenhalt, wie das so läuft. Und ob es denn noch Spaß

macht, also da zu sein. Und wir konnten, wie gesagt, wir

konnten ja wirklich nichts sagen, wenn irgendwas jetzt am

laufen war, wenn jetzt zum Beispiel sie [die Schwester, An-

merkung J.P.] oben im Zimmer sein musste, oder ich, wir

konnten ja das nicht sagen. Weil immer die Pflegeeltern ja

dabei saßen.

Eine weitere Belastungsquelle kann es sein, wenn sich die Hilfeplansituation nicht parallel mit der eigenen Entwicklung verändert und angepasst wird. Hier wird es zum Beispiel als Belastung empfunden, zu persön-liche Fragen beantworten zu müssen.

Page 80: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

78

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Pia erinnert sich, dass sich die Hilfeplansituation nicht verändert hat und für sie der Eindruck eines Abfragens des immer gleichen Bogens entstanden ist:

Der hat halt immer seinen Bogen abgefragt, von

wegen ob ich noch Sport mache, wo ich Sport ma-

che, ob ich weiter turnen gehe, ob ich einen Freund

habe, wie es in der Schule läuft. Der hat mich halt alles aus-

gefragt, was ich so mache. Und das kam mir nie irgendwie

komisch vor, aber irgendwann in der Pubertät fand ich das

nervig, weil ständig fragt der mich dasselbe. Da hab ich ir-

gendwann gesagt: „Schreiben Sie das auf, was ich schon da

auf dem Zettel stehen hab.“ Ich sag: „Es kommt nur noch

eine Berufsausbildung dazu.“ Ich fand das irgendwann ner-

vig. Weil das immer dasselbe war. Immer derselbe Ablauf.

Zwar immer nett, aber immer derselbe Ablauf. Und das fand

ich langweilig. Hab ich gesagt: „Muss ich dabei sein? Kann

ich nicht gehen?“ Ja, der hat halt das abgearbeitet, was er

machen muss. So. Und ist dann auch gegangen wieder.

Der Fachberater ist nicht für das Pfl egekind daIn einigen Interviews wird der Eindruck beschrieben, dass der zuständige Mitarbeiter des Pflegekinder-dienstes kein persönlicher Ansprechpartner ist. Hier wird nochmals offensichtlich, dass den Pflegekindern nicht bekannt war, welche Funktion der Pflegekinder-dienst innerhalb des Pflegeverhältnisses auch für sie innehatte. Die Interviewpartner schildern hier mit-unter das Gefühl, dass die Person nicht für sie da war. So erinnert sich Olivia:

Ich hab das aber auch nie so als Ansprechpartner

für mich wahrgenommen, glaube ich. Also erst viel

später. Und da war es dann schon, also ich dachte

immer: „Ja, ist so ein Amtsding halt.“ Die sind halt da und

kontrollieren, ob alles gut läuft. Und wenn es nicht gut läuft,

dann sagen wir was und sonst eben nicht. Aber ich glaube,

ich hab das nie so als Institution für mich wahrgenommen.

Ich hatte eh immer das Gefühl, dass die auf Oma und Opas

Seite waren. Das kann natürlich auch falsch sein. Aber das

war so die Wahrnehmung. Ja, dass die eher auf Oma und

Opas Seite waren. Also wenn es Streit gab. Ja. Ich glaube,

das war es warum ich auch nie mit Problemen glaube ich

dahin gegangen wäre. Also ich glaube, ich hätte die dann

nicht einfach angerufen.

Weiter heißt es in dem Interview:

Ich weiß nicht, ob es mir vielleicht geholfen hätte

mit jemandem zu reden. Also wenn ich jemanden

gehabt hätte, dem ich so vertraue und der mir viel-

leicht auch Ratschläge geben kann, dass ich mit dem gere-

det hätte. Ich weiß nicht, ob ich mit ihm geredet hätte. Das ist

das Problem. Aber vielleicht hätte mir das geholfen, mir dar-

über schon früher klar zu werden, was ich genau eigentlich

möchte.

Der Pfl egekinderdienst als Störung familiärer Normalität3

In mehreren Interviews finden wir Aussagen darüber, dass die Pflegekinder gerne als „normale Kinder“ in ihren Pflegefamilien gelebt hätten. Das Auftauchen des Pflegekinderdienstes wird in diesem Zusammen-hang dann immer wieder als Störung erlebt. Hannes beschreibt die Situation vor den Besuchen als Anspan-nung für die ganze Familie:

I: Hast du denn noch eine konkrete Erinnerung,

wie das so war, wenn die kamen? Ich kenne das ja

nicht?

H: Das ist natürlich wieder in gewisser Weise Aufruhr. Angst,

die einfach sich wieder spiegelt. Die Hoffnung, dass es auch

relativ schnell vorbeigeht. Dass nicht irgendwelche Hiobsbot-

schaften verkündet werden. Wie zum Beispiel mit dem: „Hier

ist ein Brief für dich.“ Oder: „Dein Vater möchte dich kennen

lernen.“ Wo ich mir dann auch gewünscht hätte, auch, wenn

ich damals erst sechzehn, siebzehn gewesen bin erst, hätte

man vielleicht von Jugendamtsseite mich persönlich anspre-

chen sollen. Das Ganze nicht in der großen Runde. Einfach

wirklich diese Überlegung fortführen: „Ist das gut? Tut das

den Eltern gut? Ist das gut, wenn wir das in der großen Run-

de ansprechen? Oder soll ich das vielleicht lieber persönlich

mit dem Pflegekind klären?“

Nora betont, dass sie die Zusammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst eigentlich als gut bewertet, den-noch habe ihr das Gespräch mit dem Pflegekinder-dienst immer die „Besonderheit der eigenen Lebens-situation“ ins Gedächtnis gerufen:

Ich weiß gar nicht, wann so das Erinnerungsver-

mögen so anfängt. Dass dann halt regelmäßig je-

mand vom Jugendamt kam. Ich kann mich eigent-

lich da nur noch an den Herrn Käuser erinnern vom

Jugendamt, mit dem wir also sehr gut zusammen gearbeitet

haben. Was heißt zusammen gearbeitet. Er kam uns halt be-

suchen und guckte halt und das war halt so, dass alltägliche

Gespräche dann aufkamen. Mir war es allerdings immer

3 Vgl. hierzu auch das Kapitel 9 Normalität erleben und Familienbilder

Page 81: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

79

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

sehr lästig muss ich sagen. Also mir war es immer unange-

nehm, wenn er kam, weil ich so Fragen darüber oder über-

haupt über meine Lebensgeschichte eigentlich gar nichts

wissen wollte. Oder vielleicht schon wissen wollte, aber mir

das einfach total unangenehm war. Und ich eigentlich dieses

Gefühl haben wollte, zu Hause zu sein, bei meinen leiblichen

Eltern zu sein, diesen Eltern dann halt.

Der Fachberater als Verbindung zur Herkunftsfamilie. Ist der Kontakt zur Herkunftsfamilie belastet und schwierig, so kann es sein, dass der zuständige Fach-berater immer auch als Bindeglied zur Herkunftsfa-milie und den damit verbundenen Belastungen erlebt wird. Im Fall von Adem war der Kontakt zur leiblichen Mutter von ihm nicht gewollt und daher für ihn sehr unangenehm. Er beschreibt, dass der Pflegekinder-dienst für ihn immer eine Verbindung zur Mutter war:

I Ich glaube, das war auch ein bisschen so in mei-

nem Kopf drin, weil die halt sozusagen auch der

Verbindungspunkt zwischen mir und meiner alten

Mama waren so. Halt so: „Okay, die haben was mit der zu

tun. Nachher wollen die mich wieder zu der zurückschicken“

und so was. Ich hatte auch eher Angst vor so was, wollte

auch mit denen nichts zu tun haben und es war ja auch wirk-

lich anfangs so, dass die dann hin und wieder meinten: „Jede

Familie ist besser als eine Pflegefamilie“ und so was. Das ist

echt ein bisschen hängen geblieben.

Was hilfreich war – Ressourcen

Der Fachberater ist als tatsächliche Person erlebbarEs zeigt sich in den Interviews, dass der zuständige Fachberater eine Ressource für das Pflegekind sein kann, wenn er als authentische Person und nicht nur als Vertreter des Amts auftritt. Häufig werden die-se Personen dann genauer beschrieben, im Interview beim Namen genannt sowie ihre Funktionen und wich-tige Aspekte ihres Handelns detaillierter geschildert. So stellt Melanie in einer längeren Sequenz verschie-dene Facetten heraus, die sie in der Zusammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst als besonders hilfreich er-lebt hat:

Ich denke, dass es immer wichtig ist, dass man

auch Menschen motivieren kann zu irgendetwas.

Dass man Begeisterung zeigen kann. Dass man

aber genauso gut sich auch traurige Sachen anhören kann

und auch, obwohl man es glaube ich nicht darf, ich weiß es

gar nicht, auch mal Gefühl da zeigen kann und auch mal eine

Träne dann im Auge hat und denkt: „Ja, scheint nicht einfach

zu sein.“ Und dass man wie so einen Begleiter hat. Dass man

nicht das Gefühlt hat, das irgendwie ist eine Institution, ein

Amt oder irgendwie so. Sondern für mich war das immer so

das Gefühl, dass da ist halt jemand und ja, der guckt so mit

da drauf wie so ein, ja was weiß ich, wie so ein Lehrer oder

irgendwie so was. Jemand, der mit dir geht und auf dich auf-

passt quasi. Das fand ich sehr wichtig und sehr schön eigent-

lich auch an der Sache. Und dass man auch so aktiv was ma-

chen kann. Dass man aktiv irgendwie mit dabei ist als Kind.

Weil ich finde immer so, dass Kinder ganz oft unterschätzt

werden. Und, dass man so ein Recht hat, auch mal zu sagen:

„Finde ich doof.“ Oder: „Ich würde gern das und das machen.

Kann man nicht irgendwie zusammen entscheiden?“ Oder:

„Wie geht es weiter? Ich möchte gern was machen, aber

kann man mir da helfen? Ich weiß nicht, wie ich das anpa-

cken soll.“ Dass da immer jemand war, der dann auch einem

geholfen hat.

Am Zitat von Melanie zeigt sich, dass ihr die Empathie und das Mitgefühl der Fachberaterin sehr geholfen haben. Sehr deutlich kristallisiert sich an diesem Bei-spiel deren Funktion als Begleiterin heraus. Melanie betont nachdrücklich, wie hilfreich und wichtig es für sie war, jemanden an ihrer Seite zu haben, der um ihre Situation weiß, beständig ihre Entwicklung, aber auch ihre Probleme begleitet und Unterstützung anbietet. Hinzu kommt in diesem Beispiel die Hervorhebung der aktiven Zusammenarbeit und des Gefühls, ernst ge-nommen zu werden.

Pia unterscheidet zwischen einem vorherigen Mitar-beiter des Pflegekinderdienstes und dem langjährig für die Familie zuständigen Fachberater. Sie betont, dass es vor allem die Ehrlichkeit im Umgang mit ihr und die Gesprächsangebote waren, die sie besonders geschätzt hat:

Der hat halt das abgearbeitet, was er machen

muss. So. Und ist dann auch gegangen wieder. Ja,

und das war bei dem Herrn Wagener nicht so. Der

hat sich auch unterhalten und hat auch gesagt: „Wenn du

alleine reden willst, kannst du das ruhig.“ Der hat mir auch

Fragen beantwortet, die ich gestellt habe. Nicht wie die an-

deren: „Darf ich nicht sagen.“ Oder: „Bist du noch zu jung

für.“ Oder irgendwie so was. Der hat mir die Fragen beant-

wortet, die ich wissen wollte über meine Familie. Und der

war auch immer ehrlich mit mir und hat auch immer dafür

gesorgt, dass ich das so alles hinkriege, wie ich das will. Und

Page 82: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

80

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

ich hab heute noch Kontakt mit ihm. Wenn irgendwas ist, ich

rufe den trotzdem an und sag: „Hör mal, so und so sieht das

aus. Was mache ich da am besten?“ Von daher ist das schon

ganz gut so.

Die Möglichkeit zu Einzelkontakten Die Geschwister Mark und Hanna, die beschrieben ha-ben, wie wenig Möglichkeiten sie hatten, Konflikte in der Pflegefamilie mit dem für sie zuständigen Fachbe-rater zu besprechen, erklären, was sie im Nachhinein als hilfreich angesehen hätten:

H.: Also dass man sagt, Hilfeplangespräche ist so

mit Familie okay. Aber dass man zwischenzeitlich,

also ich glaube, das war ja am Anfang irgendwie

jedes halbe Jahr oder so.

M.: Ja.

H.: Dass man zwischendurch aber mal sagt so:

M.: Mal ein Einzelgespräch.

H.: Ja, dass man die Kinder dann mal abholt oder die Kin-

der dann ins Büro bestellt oder irgendwie so was. Dass man

mit den Kindern dann auch mal alleine spricht. Oder mit den

Pflegeeltern alleine spricht. Dass die dann auch was dazu

sagen können, dass die sagen: „Also ich komm doch nicht so

mit denen klar, wie wir es gedacht hätten.“ Oder: „Uns fehlt

ein bisschen Hilfe.“ Oder

M.: So was.

Jenny betont ebenfalls die Bedeutung der Einzelkon-takte und beschreibt, wie wichtig die Möglichkeit der Einzelgespräche für sie wurde, als es in der Pubertät Konflikte in der Pflegefamilie gab. In Eigeninitiative hat sie das Gesprächssetting verändert:

Hinterher, als ich dann sechzehn, siebzehn war,

habe ich die Frau Karstens angesprochen, ob ich

nicht zu ihr kommen kann. Ich hab gesagt: „Ich

möchte, dass Sie zu meinen Eltern fahren. Mit denen dann

den Plan machen, wie Sie das alles sehen, die Situation. Und

danach komme ich persönlich dann zu Ihnen ins Büro. Und

dann sind wir da halt alleine und können reden.“ Weil irgend-

wann hast du einfach auch die Schnauze voll. Und du willst

nicht mehr irgendwem nach dem Maul quatschen. Das geht

einfach nicht. Und alles ist schön und alles ist heile, auch in

einer Pflegefamilie gibt es mal Stress, gibt es mal voll den

Ärger. Man haut sich fast die Köpfe ein. Das ist normal. Das

ist das Leben. Ist natürlich nicht schön, aber so sind Men-

schen halt. Und meine Eltern fanden das natürlich dann ge-

rade auch in den Situationen, wo ich nicht so umgänglich

war, sehr komisch und hatten natürlich auch Bedenken. Sie

wussten ja, dass ich dann alleine hingehe und dachten: „Oh

Gott. Was die dann da wohl erzählen mag?“ Ich habe es de-

nen natürlich nicht erzählt und die haben es hinterher gele-

sen in dem Hilfsplan. Den haben wir ja dann zugeschickt

bekommen. Und ja, da habe ich mich dann besser mit ge-

fühlt. Aber das waren auch erst Sachen, die ich sagen konnte

und mich getraut habe zu sagen, als ich älter war.

Kontinuität in der Zuständigkeit Einige der Gesprächspartner betonen die Wichtigkeit, die es für sie hatte, dass ein Mitarbeiter kontinuierlich für sie da war und so die gesamte Entwicklung mit be-gleiten konnte. Steffen stellt im Interview heraus, dass der für ihn zu-ständige Fachberater von Beginn an dabei war und so alle relevanten Punkte miterlebt hat:

Der Herr Merten war von Anfang an dabei. Ja. Der

hat mich so gesagt durch das Leben gejagt. Im po-

sitiven Sinn. Ja. Der hat mir doch sehr geholfen bei

vielen Dingen. Von Anfang war der dabei. Er war auch, wie

gesagt, derjenige, der dann halt die Familie Wilhelm [Pflege-

familie Anmerkung J.P.] gefunden hat.

Aktive BeteiligungIn mehreren Interviews wird betont, wie wichtig es für die Kinder war, aktiv an Entscheidungsprozessen und Verfahren wie der Hilfeplanung beteiligt zu sein. Für viele ist diese Entwicklung allerdings erst mit dem Ju-gendalter eingetreten. Jenny beschreibt, wie sie sich Partizipationsmöglichkeiten als Kind gewünscht hätte:

Ich finde auch im Alter, wenn die Kinder jung sind,

sollte man die fragen: „Wie ist das? Möchtest du da

jetzt alleine mal mit mir sprechen? Oder sollen wir

mal ins Spielzimmer?“ Weil gerade mit so kleinen Kindern –

was sollen die am Tisch sitzen und dir einen erzählen? Kannst

du besser mit Bauklötzen spielen und dann erzählen die eh.

Was sie blöd finden, was denen weh tut oder was auch alles.

Also das hätte ich schöner gefunden.

Marina beschreibt die Veränderung von der Zeit als Kind zur Jugendlichen und die dann klar erkennbare aktive Beteiligung:

Ich weiß, die Frau Müller-Kringe ist zu den Hilfe-

plangesprächen immer zu meinen Pflegeeltern

gekommen, haben uns da gemütlich hingesetzt,

Kaffee getrunken. Hat sich halt angeguckt, wie die Lebenssi-

tuation jetzt bei mir ist. Und da wurden halt immer Pläne ge-

Page 83: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

81

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

macht so: „Was sind die Ziele jetzt für die nächste Zeit?“ Das

haben die auch meistens unter sich ausgemacht, da hatte

ich nichts mit zu tun. Und bei Stefanie hatte ich immer mehr

Mitspracherecht bekommen. Als es dann zum Beispiel mit

der Schule angefangen hat, dass ich die Schule abgebrochen

hab, bin ich ja auch regelmäßig unter der Woche dann zur ihr

gegangen und hatte Gespräche mit ihr. Und das Gleiche halt

auch mit den Hilfeplangesprächen. Dass ich halt meine Ziele

geäußert habe und gesagt hab, was ich vorhabe. Das wurde

halt alles aufgeschrieben, mit reingetragen. Und nach einem

halben Jahr wurde ja wieder ein neuer gemacht. Dann haben

wir dann die alten Sachen noch mal durchgesprochen, was

sich da verändert hat, was für neue Ziele da sind und das hat

sich dann immer wieder neu aufgebaut. Und so hab ich halt

wie gesagt von ihr sehr viel Unterstützung bekommen.

Im Kontext Hilfeplan betont Marina noch mal die Wich-tigkeit ihrer eigenen Person in dem Verfahren. Zudem wird in dem Zitat deutlich, dass das Hilfeplanverfahren für Marina transparent zu sein scheint:

Die Erziehungsberechtigten waren halt dabei,

sprich meine leibliche Mutter, meine Pflegemutter

und ich. Weil ich bin ja die Hauptperson, ne? Ich

darf nicht fehlen. Und dann haben wir uns halt hingesetzt, uns

drüber unterhalten, wie das letzte halbe Jahr gelaufen ist,

was alles so vorgefallen ist, wie die Ziele von mir vorangegan-

gen sind. Dann hat Stefanie sich an den Rechner gesetzt, die

neuen Ziele und das Alte halt aufgeschrieben, sprich alles

halt festgehalten: „Was ist passiert in dem letzten halben

Jahr? Was hat sich verbessert, was hat sich verschlechtert?

Was sind die neuen Ziele?“ Und das wurd dann halt ausge-

druckt und von allen unterschrieben. Ich glaube, ab dem vier-

zehnten Lebensjahr durfte ich dann auch mit unterschreiben.

Im Kontakt mit dem Pfl egekinderdienst können Probleme besprochen werden.Robert beschreibt in seinem Interview eine weitere wichtige Ressource, die der Pflegekinderdienst eröff-nen kann: die Möglichkeit, Konflikte oder Probleme in einem geschützten Raum mit der Unterstützung einer „neutralen Person“ ansprechen zu können. So berich-tet Robert, wie er die Möglichkeit hatte, im Kontext der Beratung durch den Pflegekinderdienst, seiner Pflege-mutter sein delinquentes Verhalten zu eröffnen:

Das war so, da waren wir auch oft bei Frau Zim-

mermann, Jugendamt. Das war auch immer so,

mal waren wir da, war alles schön und gut und mal

waren wir da, dann wurd alles ausgepackt und erzählt. Es

war bei mir immer so, dass ich da so die Wahrheit auspacken

konnte. Weil da einfach noch so eine neutrale Person viel-

leicht dabei war. Und klar, wenn man nach Hause gekommen

ist, dass das dann natürlich Ärger gab. Aber da konnte man

das sagen und ohne dass meine Pflegemutter direkt dann

ausflippt oder so Reaktionen halt kommen. Und wo man viel-

leicht auch noch so ein bisschen den Schutz hatte. Wo dann

Frau Zimmermann natürlich gesagt hat „Vorgeschichte“ so

halt, ein bisschen diplomatischer das angegangen ist. Und

das war dann immer so auch für mich so eine Befreiung,

konnte ich alles erzählen.

Weiter heißt es in dem Interview:

Und dann natürlich auch: „Okay, wie können wir

das ändern?“ Und dann hab ich immer auch das

Gefühl gehabt: „Okay, ich werde jetzt ernst ge-

nommen. Die Leute wollen meine Meinung hören.“

Interesse am Pfl egekind als PersonIm Interview mit Marina zeigt sich, dass es für sie eine wichtige Ressource war, dass sie als Person von Inte-resse war. Hinzu kommt, dass sie es als sehr positiv bewertet, dass die Fachberaterin sich auf eine für sie passende Art und Weise für ihr Zuhause und ihren All-tag interessiert hat. Klar erkennbar ist in dem Zitat die Wertschätzung, die Marina erfahren hat und die für sie sehr bedeutsam ist4:

Ja, und dann haben wir es dann halt jedes halbe

Jahr wiederholt. Dann haben wir uns entweder im

Jugendamt getroffen oder bei meinen Pflegeel-

tern, bei meiner leiblichen Mutter, das hat halt immer vari-

iert. Kam halt immer so auf die Laune an, wie wir das ma-

chen wollten. Weil Stefanie halt auch öfters mal bei uns

gewesen ist, sich mal die Situation angeguckt hat, meinem

Zimmer und so. Weil sie halt auch wissen wollte, wie ich

denn genau lebe. Also ich fand das schön. Halt nicht immer

nur im Jugendamt rum sitzen, sondern dass sie halt auch

mal privat zu einem kommen und sie war auch bei mir auf

Geburtstagen mit dabei, weil ich sie eingeladen habe. Und

habe auch jedes Jahr eine Karte oder ein Buch oder irgend-

was von ihr bekommen, wo ich mich dann auch wirklich drü-

ber gefreut hab, weil sie sich halt wirklich für mich eingesetzt

hat und immer gesagt hat: „Es ist egal, was ist. Auch, wenn

das gar nichts mit der Pflegefamilie zu tun hat, komm vorbei,

rede mit mir, wir machen das schon.“ Weil, Sie wissen sel-

ber, man kann nicht über alles mit den Eltern reden.

4 Vgl. hierzu auch Kapitel 8 Beendigung und Nachbetreuung

Page 84: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

82

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Wenn wir also die Interviewsequenzen zur Zusammen-arbeit zwischen Pflegekind und Pflegekinderdienst be-trachten, zeigen sich an positiven Merkmalen, die es durch professionelle Arbeit möglichst zu gewährleis-ten gilt:

Es besteht Kontinuität in der Zuständigkeit. • Der Fachberater ist als authentischer Mensch für • das Pflegekind erkennbar, zeigt Empathie und Mitgefühl. Der Fachberater ist durchgängig ein vertrauens-• voller Begleiter des Pflegekindes. Der Fachberater weiß um die Biografie des • Pflegekindes und kann ihm so in besonderer Weise Verständnis und Wertschätzung entgegen bringen.Der Fachberater beantwortet dem Pflegekind • Fragen über die eigene Herkunft.Der Fachberater kann Unterstützung anbieten • um Probleme mit den Pflegeeltern besprechen zu können, er fungiert als neutraler Unter stützer und Mediator. Das Pflegekind erlebt ein Interesse an der • eigenen Person und dem eigenen Alltag seitens des Fachberaters, auch durch gemeinsame Aktivitäten. Es gibt die Möglichkeit zu Einzelkontakten – • sowohl für das Pflegekind als auch für die Pflegeeltern. Das Pflegekind ist altersentsprechend am • Hilfeplanprozess beteiligt und partizipiert an Entscheidungen. Es erlebt sich als zentrale Person in diesem Kontext.Das Hilfeplanverfahren ist transparent und für • das Pflegekind verständlich gestaltet.

An Belastungen, denen ein kompetenter Pflegekinder-dienst begegnen muss zeigen sich:

Ein häufiger Wechsel der zuständigen Fachkraft • und damit verbundener Verlust einer vertrau-ten Person sowie die Notwendigkeit, die eigene Geschichte immer wieder zu erzählen und sich einer neuen Person zu öffnen. Die Zuständigkeit und Funktion des Fachberaters, • aber auch der weiteren professionellen Fach-kräfte bleiben unklar.Der Pflegekinderdienst wird als „Verbündeter“ • der Herkunftsfamilie wahrgenommen. Die Hilfeplansituation wird als Kind nicht ver-• ständlich erlebt, die Gespräche werden nicht kindgerecht gestaltet.

Die Gestaltung des Hilfeplangesprächs wird • nicht altersgemäß angepasst und verläuft über Jahre gleich.Es besteht keine Möglichkeit der Partizipation • am Hilfeplan und an der Hilfeplangestaltung. In der konkreten Begegnung mit dem Fachbe-• rater besteht keine Möglichkeit Konflikte in der Pflegefamilie anzusprechen, weil immer auch eine Pflegeperson anwesend ist.Der Fachberater wird vom Pflegekind nicht • als möglicher Ansprechpartner gesehen. Er wird nur als Ansprechpartner der Pflegeeltern wahrgenommen.Der Kontakt zum Pflegekinderdienst unterbricht • den vom Pflegekind gewohnten familiären Alltag und stört die vom Pflegekind gewünschte familiäre Normalität.Die gesamte Pflegefamilie ist vor Hilfeplan-• gesprächen in Aufregung.

Die Umsetzung in der professionellen Arbeit – Haltungen und Qualitätsstandards

Die Zusammenarbeit mit dem Pflegekinderdienst wird sowohl in den verschiedenen Phasen des Pflegever-hältnisses als auch in den verschiedenen Lebenspha-sen des Pflegekindes unterschiedlich wahrgenommen. Der Fachberater muss diesbezüglich eine angemesse-ne Sensibilität entwickeln und die sich stetig verän-dernden Situationen und Bedürfnisse entsprechend berücksichtigen. Die Präsenz der öffentlichen Jugendhilfe muss im Um-gang mit der jeweiligen Pflegefamilie und dem jeweili-gen Pflegekind den Bedarf des Kindes und gleichzeitig die Privatheit der Pflegefamilie berücksichtigen. Situa-tionen, die das Pflegekind aktuell verunsichern, beun-ruhigen und irritieren könnten, sollten an einem neu-tralen Ort stattfinden. Solche Situationen können zum Beispiel schwierige Besuchskontakte, ein Wechsel verantwortlicher Professioneller, Perspektivunklarheit oder ein Dissens zwischen Professionen sein. Beruhigendes und Stabilisierendes kann durchaus im familiären Umfeld des Pflegekindes (Schutzraum des Kindes) erfolgen. Hierbei muss die Unterschiedlichkeit der verschiedenen Settings (Hilfeplangespräch, Bera-tungssituation) für das Pflegekind verstehbar sein. Der Fachberater muss mit den unterschiedlichen Aufga-ben – sowohl Ansprechpartner der Herkunftsfamilie,

Page 85: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

83

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

der Pflegeeltern, als auch für das Pflegekind zu sein – umgehen können. Diese Aufgaben sind für die Betei-ligten eindeutig und klar zu gestalten.Verschiedene Interessen und Erwartungen, aber auch mögliche Befürchtungen der verschiedenen Beteilig-ten können immer wieder zu Spannungen führen. Der Fachberater muss in diesem Zusammenhang den be-teiligten Personen von Beginn an seine unterschiedli-chen Rollen, die sowohl Beratung und Begleitung als auch Kontrolle umfassen, erklären und so Transpa-renz herstellen.

Konkrete Ziele und die Umsetzung in Qualitätsstandards

Wie ausführlich dargestellt, ist es für die Pflege-kinder eine überaus wichtige Ressource, wenn

es Beständigkeit in der Zuständigkeit gibt. Kontinuität in der Person des Fachberaters und anderer beteilig-ter Fachkräfte muss gewährleistet sein. Das bedeutet in der Konsequenz:

Formale, strukturelle und personelle Rahmen-• bedingungen müssen das Ziel der Kontinuität gewährleisten. Im Zusammenwirken der Fach-kräfte ist durch Perspektivklärung Planungs-sicherheit im Hilfeprozess herzustellen.Erforderliche Betreuungswechsel sind ange-• messen zu gestalten. Dazu bedarf es einer Begründung für den Wechsel sowie der Ver-abschiedung des alten Fachberaters und der Vorstellung des neuen Fachberaters. In Einzel-fällen sind Kontakte allmählich auszublenden. Die neue Fachkraft muss sich mit der Familien-konstellation vertraut machen und einschätzen, wie ein guter Einstieg gelingen kann. Eine sorg-fältige Auswahl des Zeitpunkts ist erforderlich. Zentrale Punkte zur Gestaltung des Übergangs sind:

- Ankündigung des Wechsels in der Pflege-familie gemeinsames Gespräch der beiden Fachberater ohne Familie

- Termin zu zweit in der Pflegefamilie - Abschiedsbesuch des alten Fachberaters

in der Familie, optional zusätzliches Einzel-gespräch mit dem Pflegekind.

Die Aufgaben der unterschiedlichen beteiligten Fachkräfte (hier vor allem Vormund und Fach-

berater) müssen klar benannt und erkennbar sein. Der Fachberater muss transparent machen, was • und wie er arbeitet. „Was mache ich hier?“ und „Warum mache ich das?“ Dieses Vorgehen muss im Verlauf des Pflegeverhältnisses immer wieder erfolgen.Im Rahmen der Kooperation verschiedener Fach-• dienste müssen die unterschiedlichen Aufgaben klar definiert werden. Die Kontaktperson für das Pflegekind und die Pflegefamilie sollte der Fach-berater sein. Hoch arbeitsteilig organisierte Sys-teme mit vielen Bezugspersonen sind ungünstig.

Die Situation der Hilfeplanung sollte altersent-sprechend gestaltet werden und kein Erwach-

senenkonstrukt sein. Die Pflegekinder sind zu beteili-gen. Hierfür gilt es zu berücksichtigen:

Die Partizipation des Pflegekindes am Hilfe-• planverfahren muss an dessen emotionaler und kognitiver Entwicklung orientiert sein und im Verlauf modifiziert werden. Die Einschätzung zur Art und Weise der Beteiligung des Kindes nimmt der Fachberater vor. Die Ausgestaltung des Hilfeplangesprächs sollte • am Kind orientiert sein. Eine hohe Transparenz, wie der Hilfeplan entsteht und was das Ziel ist, macht das Instrument für das Pflegekind besser verstehbar. Das Arrangement des Hilfeplangespräches kann • dennoch eine mögliche Krisensituation sowohl für die Pflegekinder als auch für die Pflege- und Herkunftseltern sein. Der Fachberater sollte dies in einer Nachbesprechung berücksichtigen.

Page 86: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

84

Leuchtturmprojekt Pfl egekinderdienst

Der Fachberater sollte zwischen Pflegeeltern und Pflegekind vermitteln um mögliche Proble-

me und kritische Themen besprechen zu können. Hier-zu ist erforderlich:

Der Fachberater muss Pflegeeltern umfassend • beraten und über alle Themen informieren, die für das Pflegekind relevant sein können. Er muss besondere Verhaltensweisen des Kindes erklären und „übersetzen“ und Handlungsstrategien mit den Pflegeeltern entwickeln. Er ist Experte für „die innere Welt des Pflegekindes“. Er kann Be-schreibungen und Bilder anbieten, die die Pflege-eltern in die Lage versetzen, den Pflegekindern relevante Inhalte und Aspekte altersgerecht zu vermitteln.Es sollte Beratungssettings für Pflegekind und • Pflegeeltern (jeweils allein) geben und so ein geschützter Rahmen für einen Austausch mit dem Fachberater geschaffen werden. Auf diese Weise kann dem Pflegekind die Möglichkeit gegeben werden, Probleme in der Pflegefamilie anzusprechen.In seiner Präsenz in der Pflegefamilie muss • der Fachberater ein Gespür dafür entwickeln, welches Betreuungs- und Beratungssetting angezeigt ist. Ziel ist, dass Bedürfnisse und Wünsche / Erwartungen der Beteiligten thematisiert werden können.

Der Fachberater sollte eine persönliche Bezie-hung zum Kind aufbauen, die nach allen Seiten

transparent ist und so die Chance nutzen, zur Vertrau-ensperson des Pflegekindes zu werden.

Zum Beziehungsaufbau und für die Entwicklung • einer tragfähigen Beziehung sind eine Würdigung der Lebenssituation und eine wertschätzende Haltung grundlegend. Dies eröffnet dem Fach-berater auch die Möglichkeit der Einflussnahme auf das Pflegekind. Besondere Settings, wie beispielsweise ein Ortswechsel für das Treffen, gemeinsame Aktivitäten oder Aufmerksamkeiten, können hier verstärkend wirken.Der Fachberater sollte Kontakte zum Pflegekind • ohne weitere Beteiligte durchführen. So kann sich das Pflegekind ihm anvertrauen und Bedürf-nisse äußern. Er muss regelmäßig „Vier-Augen-Situationen“ auch ohne aktuelle Krisen planen. Er sollte nicht nur Wahrnehmungen und Informa-tionen der Pflegeeltern berücksichtigen.Das Gespräch mit dem Pflegekind unter vier • Augen ist zudem bei der Wahrnehmung des Wächteramtes ein Strukturmerkmal der Pflege-kinderhilfe und kann den Pflegeeltern auch so verdeutlicht werden.Die Betreuungsintensität ist dem Einzelfall • und dem Entwicklungsverlauf entsprechend zu gestalten. Sie sollte als flexible Ressource vom Fachberater gehandhabt werden können, d.h., dass im Einzelfall eine hohe Betreuungsintensität angezeigt sein kann. Durch die Nutzung dieser Ressource besteht die Chance, dass der Fach-berater zum Begleiter des Pflegekindes wird, der vor allem in schwierigen Zeiten bedeutsam ist.

Page 87: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

85

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

11 Zusammenfassung der Ergebnisse

Im vorliegenden Bericht wurde ausführlich dargestellt, dass das Erleben der Pflegekinder und die Themen, die sich aus den biografischen Interviews ableiten lassen, äußerst vielfältig sind. Gleichwohl lassen sich zentrale Belastungen und Ressourcen herausfiltern, die das Aufwachsen von Pflegekindern erschweren bzw. erleichtern können. Basierend darauf können wir Antworten auf die Fragen formulieren, was ein leis-tungsfähiger Pflegekinderdienst dazu beitragen kann, um Belastungen abzumildern und Ressourcen zu er-öffnen. Die Zusammenfassung der Ergebnisse soll nun kein Versuch sein, alle diese Punkte und somit die Ergeb-nisse noch einmal gekürzt vorzustellen, dies würde dem Bericht und dem Projekt nicht gerecht werden. Vielmehr sollen die Ergebnisse genutzt werden, um einen gesonderten Blick auf das breite Feld der Funk-tionen und Aufgaben des Fachberaters zu werfen. Wir betrachten dies anhand von drei Adressatengruppen eines Pflegekinderdienstes und tragen so die konkre-ten Qualitätsmerkmale zusammen, die sich herausge-stellt haben:

für die Zusammenarbeit zwischen Fachberater, 1. Pflegefamilie und Herkunftsfamilie, für die Zusammenarbeit des Fachberaters mit 2. dem Pflegekind und für die Kooperation des Pflegekinderdienstes 3. mit anderen Adressaten, also vor allem anderen Akteuren Sozialer Dienste.

Bei dieser Form der Zusammenfassung soll es ins-besondere darum gehen, die Chancen und Möglich-keiten aufzuzeigen, die sich dem Fachberater in der Kooperation mit dem Pflegekind und mit den weiteren Akteuren bieten. Dabei wird herausgestellt, wie weit-reichend eine positive Einflussnahme sowohl für das Pflegeverhältnis insgesamt, als auch für das jeweilige Pflegekind sein kann.

1. Die Kooperation mit der Pfl ege- und der Herkunftsfamilie

Der Fachberater kann in der Betreuung der gesam-ten Pflegefamilie, aber auch in der Betreuung der Herkunftsfamilie ein entscheidender Faktor sein, um Problemen zu begegnen und mögliche Belastungen abzuschwächen oder sogar gänzlich zu vermeiden. Hierzu kann er in der Kooperation mit den Beteiligten

verschiedene Funktionen übernehmen und Aufgaben erfüllen. Diese sollen im Folgenden kurz skizziert wer-den.

Der Fachberater als Person mit vorausschauendem Blick für relevante Themen. Wie in mehreren Kapiteln deutlich geworden ist, kommt dem Fachberater eine besondere Rolle in der Vermittlung wichtiger Themen zu. So ist es seine Aufgabe, Themen, die im Verlauf ei-nes Pflegeverhältnisses relevant werden können, im Blick zu haben und allen Beteiligten immer wieder die Möglichkeit zu geben, über diese zu sprechen. Zu diesen Themen gehören beispielsweise Fragen des Pflegekindes nach der eigenen Herkunft oder mögli-che Unsicherheiten über den weiteren Verlauf und die Verlässlichkeit des Pflegeverhältnisses. Pflegeeltern von Beginn an mit Themen vertraut zu machen, die be-deutsam werden können – etwa das Thema leibliche Geschwister – kann mögliche Belastungs- und Kon-fliktfelder bereits frühzeitig abmildern. Gelingt es dem Fachberater, Gesprächsarrangements zu installieren, in denen alle Beteiligten die Chance haben, auch über schwierige Themen zu sprechen, ist eine wichtige Auf-gabe erfüllt. Eng mit dieser Aufgabe hängen weitere Funktionen zusammen, die der Fachberater einneh-men kann, um der Pflegefamilie den Umgang mit Be-lastungen zu erleichtern. Hierzu gehören: Der Fachberater als Experte für die innere Welt des Pflegekindes. Der Fachberater sollte nicht nur „pfle-gekinderspezifische“ Themen im Blick behalten und zugänglich machen, sondern auch besondere Ver-haltensweisen des Kindes erklären und „übersetzen“ können. Basierend darauf kann er mit den Pflegeeltern Handlungsstrategien entwickeln, um sie in die Lage zu versetzen, den Pflegekindern die richtigen Entwick-lungsimpulse zu geben.Der Fachberater als Person mit offenem Ohr und als Unterstützer. Dass im Kontext eines Pflegeverhält-nisses Situationen entstehen, die für die Beteiligten äußerst schwierig und belastend sein können, ist un-ausweichlich. Schafft der Fachberater es hier, die Rol-le eines Unterstützers einzunehmen, kann er für die Pflegefamilie eine wichtige Ressource werden. Hierzu gehört beispielsweise der Aspekt, den wir als Tren-nung von Handlung und Person beschrieben haben. Der Fachberater sollte die Pflegeeltern dabei unter-stützen, eine wertschätzende Haltung gegenüber der

Page 88: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

86

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Herkunftsfamilie zu entwickeln und eine für das Kind unmissverständliche Ablehnung gegenüber Verfehlun-gen und groben Verstößen in der Herkunftsfamilie zu verbalisieren. Um mit dieser schwierigen Aufgabe zu-rechtzukommen, muss den Pflegeeltern die Möglich-keit gegeben werden, im Vier-Augen-Kontakt über ihre Sorgen bezüglich des Themas sprechen zu können. In der Konstellation zwischen Pflege- und Herkunftsfa-milie können vielfältige Belastungen auftauchen. Auch hier ist es der Fachberater, der zentrale Funktionen im Umgang mit diesen einnehmen kann. Der Fachberater als Vermittler und Koordinator. Dass das Thema der eigenen Herkunft im Leben ei-nes Pflegekindes an unterschiedlichen Stellen und in unterschiedlicher Ausprägung bedeutsam ist, wurde ausführlich dargestellt. Ist hier eine Zusammenarbeit zwischen der Herkunfts- und der Pflegefamilie mög-lich, wird der Umgang mit dem Themenkomplex deut-lich erleichtert. Es wurde herausgearbeitet, dass es gerade die Erlaubnis zum Kontakt mit der Herkunfts-familie, aber auch zum Leben in der Pflegefamilie ist, die sich hier als besonders hilfreich erweist. Die Pfle-geeltern sollten dem Pflegekind klar signalisieren, dass es seine leiblichen Eltern sprechen, treffen und gern haben darf. Aber auch die Erlaubnis der leiblichen Familie oder einer anderen abgebenden Stelle für ein Leben in der Pflegefamilie ist bedeutsam. Dem Fach-berater fällt hier die Aufgabe zu, zu vermitteln und für eben diese Einwilligungen zu werben. Damit die be-teiligten Personen diese schwierige Aufgabe erfüllen können, dürfen sie nicht alleine gelassen werden, son-dern müssen vom Fachberater unterstützt und bera-ten werden. Auch bei Besuchskontakten kann der Fachberater eine wichtige Rolle als Koordinator und Vermittler zwischen den Beteiligten übernehmen. Er bereitet die unterschiedlichen Teilnehmer nicht nur vor, sondern übernimmt auch in der konkreten Situation eine akti-ve Rolle, etwa durch Gestaltung des Treffens oder das Einführen klarer Rahmenbedingungen. So wird die Si-tuation für alle Personen weitestgehend planbar. Der Fachberater kann hier also erneut eine wichtige Quelle der Entlastung darstellen.

2. Die Kooperation mit dem Pfl egekind Die Perspektive des Interviewmaterials macht es mög-lich, zentrale Aussagen über die Zusammenarbeit des Fachberaters mit dem einzelnen Pflegekind zu treffen. Hier lassen sich zum einen Ergebnisse für die ganz konkrete „praktische“ Kooperation festhalten. Zum

anderen ist festzustellen, dass sich eine große Chance für eine gelungene Zusammenarbeit zwischen Pflege-kind und Fachberater bietet, wenn es dem Fachbera-ter gelingt, eine tragfähige Beziehung zum Pflegekind aufzubauen und so zu einer wichtigen Vertrauensper-son zu werden. Im Einzelnen lassen sich diese Aspekte anhand der unterschiedlichen Funktionen des Fachbe-raters wie folgt ausdifferenzieren: Der Fachberater als Informationsquelle. Im Kontext unterschiedlicher Themenfelder zeigt sich, dass es eine zentrale Ressource ist, wenn der Fachberater dem Pflegekind Informationen zugänglich machen kann. Hierzu gehören zum einen konkrete Informatio-nen über die eigene Herkunft. So ist es beispielsweise bedeutsam, Informationen über die andernorts un-tergebrachten leiblichen Geschwister zu bekommen. Die Option, über die aktuelle Situation der Herkunfts-familie informiert zu sein, auch ohne Kontakt haben zu müssen, ist eine Entlastung, die dem Pflegekind zugänglich gemacht werden kann. Ist der Fachbera-ter hier als Quelle von Informationen „nutzbar“, kann er eine wichtige Funktion für das Pflegekind einneh-men. Ebenfalls bedeutsam sind Informationen über angrenzende Themen wie beispielsweise psychische oder physische Erkrankungen in der Herkunftsfamilie. Fungiert der Fachberater hier als Zugang zu Informa-tionen und hilft, diese zu verstehen und einzuordnen, kann er für das Pflegekind eine wichtige Ressource sein. An diesem Punkt agiert der Fachberater als Er-klärer. Er kann dem Pflegekind unterschiedliche Be-reiche seiner aktuellen Lebenssituation altersgerecht verdeutlichen und ihm so helfen, diese einzuordnen. Eng verbunden mit der Vermittlung von Informationen ist auch die Funktion des Fachberaters als Bewahrer von Informationen. Gerade für Pflegekinder, die bei der Vermittlung in die Fremdunterbringung noch sehr jung waren, ist es bedeutsam, dass Informationen über die vorherigen Lebensorte und die zugehörigen Personen gesichert werden. Diese können ihnen zu einem späte-ren Zeitpunkt zugänglich gemacht werden. Der Fach-berater kann diese Funktion übernehmen oder einen anderen Bewahrer aktivieren. Zentral ist die Sicherung solcher Informationen, die durch den Fachberater ko-ordiniert werden sollte. Die konkrete Zusammenarbeit zwischen dem einzelnen Pflegekind und dem Fachbe-rater umfasst noch weitere Funktionen. So wird anhand vieler Interviews deutlich, wie bedeutsam es ist, dass der Fachberater auch als Ansprechpartner nur für das Pflegekind agieren kann und Situationen geschaffen werden, in denen beide die Möglichkeit zu einem Vier-

Page 89: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

87

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Augen-Gespräch haben. Durch dieses Arrangement haben die Pflegekinder die Möglichkeit, beispielswei-se Probleme innerhalb der Pflegefamilie in einem ge-schützten Rahmen zu thematisieren. Der Fachberater kann hier als „neutrale Person“ agieren, die nicht in die Problemsituation involviert ist und so den Rahmen schaffen, um konkrete Probleme oder schwierige The-men besprechen zu können. Nicht nur in der Koope-ration mit der gesamten Pflegefamilie, auch für das jeweilige Pflegekind ist es bedeutsam, den Fachbe-rater als konkreten Unterstützer zu wissen und ganz praktische Hilfe zu bekommen. Ist der Fachberater beispielsweise bei der konkreten Wiederaufnahme des Kontakts zur Herkunftsfamilie behilflich, bietet Unter-stützung bei der Anbahnung eines Treffens oder der Suche nach einem geeigneten Ort für ein Treffen, kann er die Situation des Pflegekindes dadurch entlasten. Nicht zuletzt ist die Funktion der Fachberater als Garant für Partizipation bedeutsam. Gelingt es, das Pflegekind altersentsprechend beispielsweise am Hil-feplanprozess zu beteiligen, an Entscheidungen teilha-ben zu lassen und dafür Sorge zu tragen, dass es sich als zentrale Person in diesem Kontext erlebt, ist ein weiterer Faktor für eine gelingende Zusammenarbeit gesichert. Neben den dargestellten Aspekten konnte anhand des Interviewmaterials auch die Bedeutung der Beziehung zwischen Fachberater und Pflegekind herausgearbei-tet werden. In diesem Kontext kommen dem Fachbe-rater weitere wichtige Funktionen zu. Unter dem Stich-wort der Fachberater als Begleiter lassen sich zentrale Erkenntnisse subsumieren. So ist es ein wesentliches Kriterium für die gelingende Zusammenarbeit, wenn der Fachberater als authentische Person – und nicht nur als Vertreter eines Amtes – wahrgenommen wird. Hier sind vor allem das Erleben von Mitgefühl und Wertschätzung sowie der Eindruck, ernst genommen zu werden, als entscheidende Punkte zu nennen. Das Gefühl des Pflegekindes, dass ein tatsächliches Inte-resse an der eigenen Person und dem eigenen Alltag besteht, wirkt sich zudem förderlich auf die Beziehung aus. Gelingt es dem Fachberater, einen vertrauensvol-len und altersentsprechenden Umgang mit dem Pfle-gekind zu haben, kann seine Funktion als Begleiter zusätzlich an Bedeutung gewinnen. Als wichtig für eine gelingende Zusammenarbeit hat sich nicht zuletzt die Funktion des Fachberaters als „Kenner der individuellen Lebensgeschichte“ heraus-gestellt. Dadurch, dass der Fachberater die Biografie des Pflegekindes detailliert kennt, kann er diese in an-

gemessener Art und Weise wertschätzen. Das Gefühl, eine Person – im Idealfall kontinuierlich die gleiche – an der Seite zu haben, die um die individuelle Situa-tion weiß und Lebensleistungen in besonderer Weise würdigen kann, hat sich als bedeutsame Ressource gezeigt.

3. Die Kooperation mit anderen AdressatenZum Aspekt der Kooperation mit anderen Diensten lässt sich systematisch nur wenig sagen, da diese Perspektive durch Interviews mit Pflegekindern allein kaum zu erfassen ist.1 Gleichwohl lassen sich einige Punkte aufgreifen, die diese Handlungsebene umfas-sen:So ist ein zentraler Aspekt, dass der Fachberater als Person, die den Überblick behält, agiert. An verschie-denen Stellen in den Interviews wurde deutlich, dass Unklarheiten in den Zuständigkeiten und Funktionen der beteiligten Professionellen eine Belastungsquelle für die Pflegekinder selbst, aber auch für alle weiteren am Pflegeverhältnis beteiligten Personen sein kann. Hier ist es eine wichtige Aufgabe des Fachberaters, den Überblick zu behalten, um erklären zu können, wer innerhalb des Pflegeverhältnisses welche Funk-tionen übernimmt. Dieser Punkt gewinnt vor allen an Bedeutung, wenn weitere Institutionen involviert sind. Eng verbunden hiermit ist, dass der Fachberater als Person, die für Klarheit sorgt, tätig wird. Diese Aufgabe bezieht sich darauf, dass im Rahmen der Kooperation verschiedener Fachdienste die unterschiedlichen Auf-gaben klar definiert werden müssen. Da sich ein hoch arbeitsteilig organisiertes System mit vielen Bezugs-personen als Belastung herauskristallisiert hat, sollte es als dringende Empfehlung gesehen werden, dass der Fachberater die Kontaktperson für das Pflegekind und die Pflegefamilie ist. Nicht zuletzt kommt dem Fachberater auch in der Kooperation mit Dritten – wie Schule oder Kindergarten – eine weitere wichtige Rolle zu. Hier sollte der Fachberater als Vermittler agieren. Hierzu gehört unter anderem eine Sensibilisierung Dritter für mögliche Konfliktfelder oder Schwierigkei-ten des Pflegekindes oder auch der Pflegefamilie. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass die Aufgaben und Funktionen des Fachberaters zwar sehr umfassend sind, sie aber gleichzeitig die große Chan-ce bieten, eine wichtige Einflussgröße für das jeweilige Pflegekind und auch die weiteren zugehörigen Perso-nen – Herkunfts- und Pflegefamilie – zu werden.

1 Vgl. hierzu auch den Exkurs von Klaus Wolf in der Einleitung.

Page 90: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

88

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Durch die in diesem Bericht formulierten Handlungs-empfehlungen kann es gelingen, dass auf Basis einer vertrauensvollen Beziehung durch den Fachberater Ressourcen zugänglich gemacht und Belastungen ge-mildert oder sogar vermieden werden.

Anmerkungen zum Abschluss – Klaus WolfDas Ergebnis und der Ertrag der gemeinsamen Arbeit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der vier ambiti-onierten Pflegekinderdienste mit Judith Pierlings und Dirk Schäfer werden in dem Bericht schön deutlich. Ich möchte zum Abschluss einige grundlegende Aspekte skizzieren, die mir beim Lesen des Berichtes deutlich geworden sind und die ich der Leserin und dem Leser als eine spezielle Lesart vorschlagen möchte.

So wird das Gewebe von Bewältigungsprozessen der verschiedenen Menschen deutlich, die als Akteure in und um die Familien ihre jeweiligen Aufgaben lösen, Probleme bewältigen und auch Entwicklungsaufgaben meistern wollen. Im Mittelpunkt des hier gewählten Zugangs stehen – aus guten Gründen – die Pflege-kinder. Die Probleme der anderen, insbesondere der Pflegeeltern, Eltern und anderer Familienmitglieder werden an vielen Stellen indirekt sichtbar. Es wird da-bei auch deutlich, dass Belastungen der einen zu Pro-blemen und Aufgaben für die anderen werden können. Je entspannter zum Beispiel die Erwachsenen mit der Besuchssituation zurechtkommen, desto besser für das Kind. Aus dieser Perspektive betrachtet relativie-ren sich die ansonsten oft als grundsätzlich betonten Interessengegensätze von Herkunfts- und Pflegefami-lie: Auch die anderen haben ein Interesse daran, dass die einen ihre Probleme möglichst gut bewältigen kön-nen.

Hier wurden die Anforderungen an Fachberater eines professionellen Dienstes auf der Basis der Erfahrun-gen von Pflegekindern herausgearbeitet. Damit ist eine zentrale Perspektive zugänglich geworden. Ähnliche Untersuchungen sind auch für die Mitglieder der Her-kunftsfamilie und der Pflegefamilie notwendig – und zwar sowohl zum Erleben der Erwachsenen als auch dem der (anderen) Kinder. Daraus werden sich weitere fachliche Standards ergeben.

Was bedeutet das Ergebnis aber für die Aufgaben und Probleme der Mitarbeiter professioneller Dienste? Sind für sie die Standards Ressourcen, die ihnen die Arbeit in einem hochkomplexen Feld erleichtern? Oder

sind sie eine Quelle zusätzlicher Aufgaben? Ich meine, sie sind beides zugleich. Sie können einerseits Orien-tierung vermitteln, liefern allgemeine Begründungen und legitimieren das Handeln. Dafür sind sie nützlich. Aber sie definieren auch Anforderungen, oft heißt es im Text „der Fachberater soll ...“ an anderen Stellen sogar „der Fachberater muss ...“. Das klingt nicht nur nach Anforderungen, das sind auch welche und sie definie-ren Maßstäbe, die man verfehlen oder erreichen kann, und begründen Erwartungen. Aus dieser Perspektive betrachtet können sie zusätzliche Aufgaben schaffen und den Stress weiter erhöhen. Das war nicht das Ziel, ist aber eine unvermeidbare Nebenwirkung.

Die Anforderungen zu betonen erscheint mir gerecht-fertigt, weil gute Fachberater eine außerordentlich wichtige Ressource für die Pflegekinder sein können. Sowohl an den Zitaten, die gelungene als auch an de-nen, die misslungene Situationen schildern, wird das immer wieder sehr deutlich. Weil diese Ressourcen so wichtig sind, kommt es auf die Fachberater so sehr an und daher müssen die Anforderungen so hoch sein. Mit Makarenko könnte man die höchsten Anforderun-gen und den höchsten Respekt als die beiden Seiten der gleichen Medaille betrachten. Die von den Fach-kräften (und nicht aus dem Elfenbeinturm) entwickel-ten Standards belegen die vielfältigen Handlungsopti-onen – gerade auch in schwierigen Momenten – und die verschiedenen Chancen, ansonsten hoffnungslose Situationen zu vermeiden.

Hier wird auch ein weiteres Gewebe von Einflussfakto-ren deutlich. Fachliche Standards können in pädago-gischen Feldern nicht als lineare Handlungsvorschrif-ten beschrieben werden, sondern sie stehen immer in Wechselwirkungen zu grundlegenden Haltungen. Sie strukturieren die Wahrnehmungsprozesse und können den professionellen Suchbewegungen einen Kompass geben, aber sie benötigen reflexive und selbstreflexi-ve Elemente, müssen in der Lage bleiben, die beson-deren Momente im Einzelfall zu berücksichtigen und komplexe Eindrücke immer wieder neu zu interpretie-ren. Einfache Handlungsvorschriften sind dafür nicht sinnvoll. Deswegen wurden an vielen Stellen auch die Haltungen beschrieben, manchmal als grundsätzliche Philosophie, oft als ein spezifisches Selbstverständ-nis und als eine Perspektive, aus der das Thema be-trachtet werden soll. Solche Haltungen können nicht vorgeschrieben werden. Ich bin auch nicht sicher, ob sie durch ein Studium oder durch Fortbildungsveran-

Page 91: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

89

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

staltungen grundsätzlich verändert werden können. Aber vielleicht können sie verstärkt werden, finden die günstigen Haltungen hier Rückendeckung und Unter-stützung.

Diese Seite leistungsfähiger professioneller Dienste der Pflegekinderhilfe wird in dem Bericht ausgeführt: wünschenswerte Haltungen und Standards und ihre Begründungen. Damit ist eine notwendige, aber alleine auch nicht hinreichende Bedingung erfüllt. Denn die hier beschriebenen und begründeten Aufgaben setzen auch eine entsprechende personelle Ausstattung voraus. Zum Beispiel der Standard, dass die ersten Besuchs-kontakte begleitet sein müssen, erfordert unmittelbar, dass die zeitlichen Ressourcen dafür zur Verfügung stehen. Nur die richtigen Programme plus die perso-nellen und organisatorischen Voraussetzungen zu-sammen ermöglichen die Erfüllung der Standards. Der hier begonnene Prozess der Definition von Standards kann und sollte Berechnungen innerhalb der Ämter auslösen, welche Personalausstattung dafür erforder-lich ist. Wir haben uns an dem für eine leistungsfähige Pflegekinderhilfe Notwendigen orientiert. Daraus las-sen sich die unverzichtbaren Ausstattungsstandards ableiten, das Aufgaben- und Verantwortungsprofil der Mitarbeiter bestimmen und schließlich auch Fragen der Eingruppierung der Fachkräfte beantworten. Von Seiten der Kommunen aus muss auch dieser Prozess begonnen werden, wenn ein leistungsfähiges System der Pflegekinderhilfe etabliert werden soll.

Die allgemeine, empirisch belegte Aussage „Wer die Pflegekinderhilfe billig haben will, bekommt es teuer“ kann auch hier angewendet werden. Die Betreuung in Pflegefamilien ist viel kostengünstiger als die orga-nisierte Betreuung durch Fachkräfte in Institutionen. Damit sie auf Dauer gut gelingen kann, benötigen die Pflegekinder und ihre Familien gute Dienstleistungen durch eine leistungsfähige Organisation. Wenn die dafür notwendigen Mittel nicht zur Verfügung stehen, sinkt die Pflegeelternzufriedenheit, steigt die Abbruch-quote und verschlechtern sich die Entwicklungsbedin-gungen der Kinder. Es brechen Pflegefamilien weg, die Zahl der in Institutionen betreuten Kinder nimmt zu und die Kosten steigen an. Was eine leistungsfähi-ge Pflegekinderhilfe leisten kann und wie sie es leisten kann, ist herausgearbeitet worden. Die dafür notwen-digen Voraussetzungen müssen die in der Organisati-on verantwortlichen Leitungen schaffen. Das zu tun, ist auch unter finanziellen Gesichtspunkten sinnvoll.

Eine weitere, generelle Konsequenz möchte ich noch ziehen. Wie ein roter Faden zieht sich durch alle The-men und Interviewpassagen die Erkenntnis, dass für eine wirkungsvolle Hilfe eine Vertrauensbeziehung des Kindes zu der Fachkraft unverzichtbar ist. Ihre Entwick-lung erfordert – neben den Fähigkeiten der Fachkraft – auch Kontinuität in der Zuständigkeit und eine relativ hohe Intensität und Regelmäßigkeit im Kontakt. Das ist schon generell nicht einfach zu erreichen, arbeits-teilige Systeme verringern diese Chance aber zusätz-lich und erheblich. Für die Kinder sind die Zuständig-keiten von Fachberater, Vormund und ASD schon kaum zu überschauen. Vertrauensvolle Beziehungen zu allen Akteuren sind kaum möglich. Wenn jetzt die Tätigkeit des Fachberaters noch in seine Funktionen zerlegt und unterschiedliche Menschen mit der Erfüllung der Funktionen beauftragt werden, sinkt die Leistungs-fähigkeit rapide. Auch von Pflegeeltern haben wir die gleichen Befunde.2 Es ist also vor der Aufsplittung von Zuständigkeiten zu warnen, wir benötigen für Pflegeel-tern und Pflegekinder umfassend zuständige Dienste.

Die Diskussion um verbindliche Standards ist also er-öffnet. Ein konkreter Vorschlag für Standards, die auf der empirischen Basis von sorgfältig ausgewerteten Interviews beruhen, liegt hiermit vor. Sie können nun diskutiert und verbreitet werden. Der nächste Schritt wäre dann eine Ausweitung der Standardentwicklung durch ähnliche Untersuchungen zu den Perspektiven von Herkunftsfamilien und Pflegefamilien. Die sollten wir bald starten. Die Forschungsgruppe der Universi-tät Siegen ist dazu gerne bereit.

2 Vgl. Jespersen (2011); Schäfer (2011)

Page 92: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

90

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Arnstein, Sherry R. (1966): A ladder of citizen participation. In: Journal of the American Institute of Planner, Vol. 35, S. 216–224

Blandow, Jürgen (2004): Pflegekinder und ihre Familien. Geschichte, Situation und Perspektiven des Pflegekinderwesens. Weinheim und München

Blandow, Jürgen (2008): „Anders als die anderen …“. Die Großeltern- undVerwandtenpflege. Expertise für das Projekt „Pflegekinderhilfe in Deutschland“, durchgeführt vom Deutschen Jugendinstitut e.V., München (DJI) und vom Deutschen Institut für Jugend und Familie, Heidelberg (DIJuF). http://www.dji.de/pkh/blandow_verwandtenpflege.pdf

Gassmann, Yvonne (2009): Pflegeeltern und ihre Pflegekinder: Empirische Analysen von Entwicklungsverläufen und Ressourcen im Beziehungsgeflecht. Münster

Gehres, Walter; Hildenbrand, Bruno (2008): Identitätsbildung und Lebensverläufe bei Pflegekindern. Wiesbaden

Gerling – Nörenberg, Thomas (o.J.): Kinder und Jugendliche in Verwandtenpflege – konzeptioneller Arbeitsansatz der Verwandtenpflege. Münster

Glaser, Barney G.; Strauss, Anselm L. (2009): The discovery of grounded theory. Strategies for qualitative research. 4. New Brunswick

Glinka, Hans-Jürgen (2003): Das narrative Interview. Eine Einführung für Sozialpädagogen. Weinheim und München

Gudat, Ulrich (1987): Systemische Sicht von Pflegeverhältnissen – Ersatz- oder Ergänzungsfamilie. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim und München, S. 38-59

Hansbauer, Peter; Hensen, Gregor; Müller, Katja; von Spiegel, Hiltrud (2009): Familiengruppenkonferenz. Eine Einführung. Weinheim und München

Jespersen, Andy (2011): Belastungen und Ressourcen von Pflegeeltern. Analyse eines Pflegeeltern-Onlineforums. ZPE – Schriftenreihe Nr. 29. Siegen

Keupp, Heiner u.a. (2008): Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek

Landschaftsverband Rheinland (2007): Was Sie schon immer wissen wollten. Basisdaten zum Pflegekinderwesen im Rheinland 2007. http://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/arbeitshilfen/dokumente_94/hilfen_zur_erziehung_1/beratungsangebote_der_erziehungshilfe/pflegekinderdienst/basisdatenpflegekinderwesen2007.pdf

Landschaftsverband Rheinland (2008): Königswinterer Erklärung. http://www.lvr.de/media/wwwlvrde/jugend/service/dokumentationen/dokumente_95/hilfen_zur_erziehung/20080826/koenigswinterererklaerung.pdf

Landschaftsverband Rheinland (2009): Rahmenkonzeption „Pflegekinderdienst“. http://www.lvr.de/app/resources/rahmenkonzeptionpflegekinder230609.pdf

Marmann, Alfred (2006): Kleine Pädagogen. Eine Untersuchung über „leibliche Kinder“ in familiären Settings öffentlicher Ersatzerziehung. Frankfurt

Moore, Kristin Anderson; Vandivere, Sharon; Kinukawa; Akemi; Ling, Thomson (2003): Creating a Longitudinal Indicator: an Exploratory Analysis of Turbulence. In: Child Indicators Research, Vol. 2, Nr. 1, S. 5-32

12 Literatur

Page 93: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

91

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Neues Manifest zur Pflegekinderhilfe (2010) Eine Initiative der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) und des Kompetenz-Zentrums Pflegekinder e.V. zur qualitativen Weiterentwicklung der Pflegekinderhilfe (2010). www.kompetenzzentrum-pflegekinder.de/Neues Manifest_Gesamt_11 03 2010.pdf

Pierlings, Judith (2010): Wie erreichen wir verbindliche Standards für das Pflegekinderwesen? In: Unsere Jugend, 62Jg., H.6, S.257-264

Portengen, Riet; van der Neut, Bart (1999): Assessing Familiy Strength – A Familiy Systems Approach. In: Greeff, Roger (ed.): Fostering Kinship, Ashgate. [deutsche Übersetzung von Blandow, Jürgen (2002). In: ISA Münster (Hrsg.): Expertengespräch Sozialraum und Pflegekinderarbeit. Münster, S. 21-36]

Reimer, Daniela, (2008): Pflegekinder in verschiedenen Familienkulturen. Belastungen und Entwicklungschancen im Übergang. ZPE – Schriftenreihe Nr.19. Siegen

Reimer, Daniela; Wolf, Klaus (2009): Partizipation der Kinder als Qualitätskriterium der Pflegekinderhilfe. In: Jugendhilfe, H. 1, S. 60–70

Reimer, Daniela (2011): Pflegekinderstimme. Arbeitshilfe zur Qualifizierung von Pflegefamilien. Düsseldorf

Rothgang, Georg-Wilhelm (2009): Entwicklungspsychologie. Stuttgart

Sauer, Stefanie (2008): Die Zusammenarbeit von Pflegefamilien und Herkunftsfamilien in dauerhaften Pflegeverhältnissen. Widersprüche und Bewältigungsstrategien doppelter Elternschaft. Opladen und Farmington Hills

Schäfer, Dirk (2011): „Darum machen wir das …“Pflegeeltern von Kindern mit Behinderung. Deutungsmuster und Bewältigungsstrategien. ZPE – Schriftenreihe Nr.28. Siegen

Schilling, Matthias; Fendrich, Sandra; Pothmann, Jens; Wilk, Agathe (2010): HzE Bericht 2010 (Datenbasis 2008). Gewährung und Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung in Nordrhein-Westfalen. Münster und Köln. http://www.lwl.org/lja-download/datei-download2/LJA/erzhilf/jugendhilfeplanung/jhp_material/1270025368_1/HzE_Bericht_2010_Endfassung.pdf

Schumann, Marianne (1987): Herkunftseltern und Pflegeeltern: Konfliktfelder und Brücken zur Verständigung. In: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. Weinheim und München, S. 60-99

Siegener Erklärung zur Kontinuität in der Biografie von Pflegekindern (2008). http://www.uni-siegen.de/pflegekinder-forschung/siegener_erklaerung/?lang=de

Walper, Sabine; Thönnissen, Carolin; Wendt, Eva-Verena; Bergau, Bettina (2009): Geschwisterbeziehungen in riskanten Familienkonstellationen. Ergebnisse aus entwicklungs- und familienpsychologischen Studien. Materialien des Sozialpädagogischen Instituts (SPI) der SOS Kinderdörfer Band 7. Herausgegeben vom Sozialpädagogischen Institut des SOS-Kinderdorfes e.V München

Wolf, Klaus (2003): Sozialpädagogische Interventionen. In: Lauermann, Karin; Knapp, Gerald (Hrsg.): Sozialpädagogik in Österreich: Perspektiven in Theorie und Praxis. Klagenfurt, S.92-105

Wolf, Klaus (2007): Die Belastungs-Ressourcen-Balance. In: Kruse, Elke; Tegeler, Evelyn (Hrsg.): Weibliche und männliche Entwürfe des Sozialen. Wohlfahrtsgeschichte im Spiegel der Genderforschung. Opladen und Farmington Hills, S.281-292

Wolf, Klaus (2008): Forschung zum guten Aufwachsen von Pflegekindern und Praxis. Was hat die Praxis von der erziehungswissenschaftlichen Forschung? In: SIEGEN:SOZIAL -- Analysen -- Berichte -- Kontroversen, Jahrgang 13, H. 1, S. 27-33

Page 94: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

92

Leuchtturmprojekt Pfegekinderdienst

Wolf, Klaus (2010): Wird das Pflegekinderwesen zur Pflegekinderhilfe? In: Jugendhilfereport, H. 4, S. 14 -17

Wölfel, Ingrid (2010): Zur Omnipräsenz des Jugendamtes in der Lebenswelt von Pflegekindern. In: Braches-Chyrek, Rita; Macke, Kathrin; Wölfel, Ingrid (Hrsg.): Kindheit in Pflegefamilien. Opladen und Farmington Hills, S. 23-37

Page 95: Dokumentation Leuchtturm-projekt pfl egeKinder ienst · chung beigetragen haben. Das Besondere an diesem Projekt sind die biografischen Interviews mit ehema-ligen Pflegekindern.

LVR-Landesjugendamt Rheinland

LVr-Dezernat Jugend

Kennedy-Ufer 2, 50679 Köln

www.lvr.de

Dokumentation

Leuchtturm-projektpfl egeKinderDienst

Dok

umen

tati

on L

euch

ttur

m-p

roje

kt P

fl eg

ekin

derd

iens

t

Am modellprojekt beteiligte Jugendämter

Jugendamt der Stadt Bornheim•

Jugendamt der Stadt Duisburg•

Jugendamt der Stadt Düsseldorf•

Jugendamt der Stadt Kamp-Lintfort•