Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein...

29
Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018 1 Dossier Ökonomie mit EnergieAusgabe 174, 2018 1. Artikel: Kampf um Nord Stream 2 (17.12.2018) 2. Artikel/Grafik: Wie eine Pipeline Europa spaltet (17.12.2018) 3. Meinung: Soll Nord Stream 2 gebaut werden? (18.12.2018) „[…] Das 9,5-Milliarden-Euro-Projekt [Nord Stream 2] soll die Kapazität der 2011 in Betrieb genommenen Nord-Stream-Pipeline verdoppeln und noch mehr russisches Erdgas quer durch die Ostsee über eine Strecke von 1 200 Kilometern bis nach Greifswald transportieren. Schon nächstes Jahr könnte der von Russland und Deutschland vorangetriebene Bau abgeschlossen sein. […] Doch je näher die Fertigstellung rückt, desto stärker wird der Widerstand. Gerade erst hat das europäische Parlament gefordert, den Bau abzubrechen. Auch die EU-Kommission zählt zu den Gegnern. Die Osteuropäer wettern ohnehin gegen das Projekt, seit Jahren schon. Und sie haben einen mächtigen Verbündeten gefunden: die USA. Die Nordstream-Kritiker eint die Sorge, dass die Pipeline Europas Energieabhängigkeit von Russland verstärkt. […] Die Befürworter von Nord Stream 2 haben gewichtige Argumente, angefangen mit dem Importbedarf. […] Bleibt die Frage: Wenn so viel für die Pipeline spricht, warum ist es Deutschland dann nicht gelungen, die Sorgen seiner Nachbarn rechtzeitig zu zerstreuen? Jetzt hat die Bundesregierung alle Mühe, ihr Versäumnis nachzuholen. Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Perspektiven der Weltenergieversorgung“ 1. Stellen Sie dar, zu welchem Zweck die Erdgas-Pipeline North Stream 2 gebaut werden soll und wer daran beteiligt ist. 2. Untersuchen Sie, wer direkt bzw. indirekt von dem Vorhaben betroffen ist. Ar- beiten Sie heraus, ob die jeweiligen Gruppen das Vorhaben befürworten oder ablehnen und analysieren Sie die vorgebrachten Argumente. 3. Nehmen Sie selber Stellung zu dem Projekt. 4. Erklären Sie am vorliegenden Beispiel, was unter der Interdependenz der Handlungen der Akteure im internationalen Politik- und Wirtschaftsgeschehen verstanden wird.

Transcript of Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein...

Page 1: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

1

Dossier „Ökonomie mit Energie“

Ausgabe 174, 2018

1. Artikel: Kampf um Nord Stream 2 (17.12.2018)

2. Artikel/Grafik: Wie eine Pipeline Europa spaltet (17.12.2018)

3. Meinung: Soll Nord Stream 2 gebaut werden? (18.12.2018)

„[…] Das 9,5-Milliarden-Euro-Projekt [Nord Stream 2] soll die Kapazität der 2011 in

Betrieb genommenen Nord-Stream-Pipeline verdoppeln und noch mehr russisches

Erdgas quer durch die Ostsee über eine Strecke von 1 200 Kilometern bis nach

Greifswald transportieren. Schon nächstes Jahr könnte der von Russland und

Deutschland vorangetriebene Bau abgeschlossen sein. […] Doch je näher die

Fertigstellung rückt, desto stärker wird der Widerstand. Gerade erst hat das

europäische Parlament gefordert, den Bau abzubrechen. Auch die EU-Kommission

zählt zu den Gegnern. Die Osteuropäer wettern ohnehin gegen das Projekt, seit Jahren

schon. Und sie haben einen mächtigen Verbündeten gefunden: die USA. Die

Nordstream-Kritiker eint die Sorge, dass die Pipeline Europas Energieabhängigkeit

von Russland verstärkt. […] Die Befürworter von Nord Stream 2 haben gewichtige

Argumente, angefangen mit dem Importbedarf. […] Bleibt die Frage: Wenn so viel

für die Pipeline spricht, warum ist es Deutschland dann nicht gelungen, die Sorgen

seiner Nachbarn rechtzeitig zu zerstreuen? Jetzt hat die Bundesregierung alle Mühe,

ihr Versäumnis nachzuholen.“

Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Perspektiven

der Weltenergieversorgung“

1. Stellen Sie dar, zu welchem Zweck die Erdgas-Pipeline North Stream 2 gebaut

werden soll und wer daran beteiligt ist.

2. Untersuchen Sie, wer direkt bzw. indirekt von dem Vorhaben betroffen ist. Ar-

beiten Sie heraus, ob die jeweiligen Gruppen das Vorhaben befürworten oder

ablehnen und analysieren Sie die vorgebrachten Argumente.

3. Nehmen Sie selber Stellung zu dem Projekt.

4. Erklären Sie am vorliegenden Beispiel, was unter der Interdependenz der

Handlungen der Akteure im internationalen Politik- und Wirtschaftsgeschehen

verstanden wird.

Page 2: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

2

4. Artikel/Grafik: Klimakonferenz: Kattowitz offenbart Staatsversagen

(17.12.2018)

5. Kommentar: Paris: Auf dem Höhepunkt (17.12.2018)

„[…] Nach drei Jahren Vorbereitung und zwei Verhandlungswochen einigten sich die

betroffenen 197 Staaten und die EU auf gemeinsame Regeln zur Umsetzung des

Pariser Klimaschutzabkommens. Verabschiedet wurde ein sogenanntes Regelbuch -

eine Art Gebrauchsanweisung dafür, nach welchen Vorgaben die Klimaschutz-

bemühungen der Länder gemessen und verglichen werden können. […] Die Einigung

in Kattowitz sei "ein Sieg des Multilateralismus unter extrem schwierigen

Bedingungen", sagte Ottmar Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für

Klimafolgenforschung (PIK), dem Handelsblatt. Doch zur Abwendung der Klimakrise

kommt es nun darauf an, dass alle Staaten einen deutlich größeren politischen Willen

zeigen. Darin sind sich viele Experten einig. Denn trotz einiger Erfolge: Die Gesamt-

bilanz des Gipfeltreffens ist überschaubar. […]“

Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Umweltschutz“

1. Stellen Sie Hintergründe und Ziele der Klimakonferenz im polnischen Kattowitz

dar. Ordnen Sie die Konferenz in die internationalen Bemühungen zum Klima-

schutz ein.

2. Geben Sie die Ergebnisse der Konferenz in eigenen Worten wieder.

3. Vergleichen Sie die Reaktionen und Einschätzungen zu den erzielten Ergebnis-

sen. Arbeiten Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede heraus.

4. Analysieren Sie die den Verhandlungen grundsätzlich zugrunde liegende Di-

lemmastruktur, indem Sie sich mit den Konflikten zwischen den gemeinschaftli-

chen und nationalstaatlichen Zielsetzungen auseinandersetzen.

5. Setzen Sie sich mit der Aussage des Klimaforschers Edenhofer auseinander,

dass „der Klimawandel nicht mehr nur als das größte Marktversagen aller Zei-

ten angesehen werden [kann]. Er sei angesichts der steigenden Emissionen

auch zu einem beispiellosen Staatsversagen geworden.“ Nehmen Sie dazu Stel-

lung.

6. Artikel/Grafik: Energiewende: Schub für den Netzausbau (17.12.2018)

„Die Realität ist noch immer ernüchternd: Das 2013 in Kraft getretene Bundesbedarfs-

plangesetz hat den Bau oder die Verstärkung von insgesamt 5 900 Kilometer

Höchstspannungsstromleitung für vordringlich erklärt. Bis heute sind davon erst 600

Kilometer genehmigt und gerade einmal 150 Kilometer realisiert. Etwas besser sieht

Page 3: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

3

es beim Vorgängergesetz aus, dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) von 2009:

Von den 1 800 Kilometer Leitung aus dem EnLAG sind rund 1 200 Kilometer

genehmigt und davon 800 Kilometer realisiert. Diese Zahlen der Bundesnetzagentur

verdeutlichen, dass der Ausbau der Netze trotz aller Beschleunigungsbemühungen nur

schleppend vorankommt. Doch das soll sich nun ändern. Mit der Novelle des Gesetzes

zur Beschleunigung des Energieleitungsausbaus (NABEG), der das Bundeskabinett

vergangene Woche zustimmte, glaubt Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier

(CDU) den Schlüssel für die Trendwende in der Hand zu halten. […]“

Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“,

„Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft“ und „Energiemix der Zukunft“

1. Nennen Sie Gründe für den Ausbau des Stromnetzes und beschreiben Sie diese

knapp. Stellen Sie mithilfe der Grafik dar, welche Regionen in Deutschland in

besonderem Maße davon betroffen sind.

2. Fassen Sie den Status des Netzausbaus zusammen. Analysieren Sie, inwiefern

dieser von den ursprünglichen Planungen abweicht und erläutern Sie ggf. Ur-

sachen.

3. Überprüfen Sie, inwiefern im Zusammenhang mit dem Netzausbau soziale Di-

lemmastrukturen zu beobachten sind. Begründen Sie, warum sich diese nur

schwer auflösen lassen.

4. Beurteilen Sie vor diesem Hintergrund, inwiefern die von der Bundesregierung

angestoßenen Maßnahmen dazu beitragen, bestehende Schwierigkeiten und

Konflikte zu lösen.

7. Artikel/Grafik: Saudi-Arabien: Krisensignale aus Riad (20.12.2018)

„[…] Das einst so reiche Land steckt in einer tiefen Krise. Ob Politik oder Wirtschaft,

da braut sich einiges zusammen in Riad: ein deutlich abgesackter Ölpreis, eine von

Jahresbeginn an vereinbarte erhebliche Absenkung der Ölförderung, hohe

Arbeitslosigkeit. Dazu ein gigantischer Verlust an Vertrauen bei ausländischen

Partnern seit der Ermordung des oppositionellen Journalisten Jamal Khashoggi im

saudischen Konsulat in Istanbul Anfang Oktober. Dazu die zunehmende Skepsis der

überwiegend jungen Bevölkerung, ob der von Kronprinz Mohamed versprochene

Aufbruch des erzkonservativen Königreichs in eine neue Zukunft funktioniert. […]“

Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“,

„Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft“ und „Energiemix der Zukunft“

Page 4: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

4

1. Beschreiben Sie die Stellung Saudi-Arabiens im internationalen Ölmarkt. Ana-

lysieren Sie, welche Bedeutung Ölexporte für die Wirtschaft des Landes haben.

2. Arbeiten Sie heraus, inwiefern der momentan niedrige Ölpreis und geringe

Fördermengen die Wirtschaftslage belasten. Nennen und erläutern Sie weitere

Faktoren.

3. Erläutern Sie, wie die saudische Regierung auf die momentan angespannte

Wirtschaftslage reagiert und welche Rolle die Ölförderung dabei spielt.

4. Begründen Sie am vorliegenden Beispiel, warum es eine starke Interdependenz

der Handlungen der Akteure im Wirtschafts- und Politikgeschehen gibt. Beur-

teilen Sie, welche Herausforderungen damit verbunden sein können.

8. Artikel/Grafik: Kohlebergbau: Ein letztes „Glück auf!“ (20.12.2018)

„[…] Am Freitag schließt Prosper Haniel, die letzte noch aktive Steinkohlezeche

Deutschlands. Damit kommt der jahrzehntelange Abschied von einer der größten

Traditionsbranchen zum Abschluss. Die Arbeit unter Tage hat Generationen von

Familien geprägt. […] 2007 beschloss der Bundestag schließlich einen Fahrplan für

den Ausstieg aus der defizitären Steinkohle bis Ende 2018. […] Die Arbeit unter Tage

ist mit dem Ende des Bergbaus aber noch lange nicht vorbei. Tief unter dem

Ruhrgebiet und in oberflächennahen Senken, die durch den Abbau entstanden sind,

muss dauerhaft Wasser in riesigen Mengen abgepumpt werden, damit das

Grundwasser geschützt wird und die Region nicht versinkt. […] Eine neue Nutzung

für die Zechengelände zu finden bleibt eine Aufgabe für Jahrzehnte: Aktuell

entwickelt eine RAG-Tochter rund 10 000 Hektar freier Bergwerksflächen in 100

Einzelprojekten. […]“

Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiepolitik“ und „Energiemix der

Zukunft“

1. Stellen Sie kurz und bündig die Entwicklung der Steinkohleförderung in

Deutschland dar. Beschreiben Sie deren Bedeutung für die Förderregionen.

2. Analysieren Sie, warum die Steinkohleförderung in Deutschland subventioniert

wurde und man sich schließlich zu einem Ausstieg aus der Förderung entschie-

den hat.

3. Erläutern Sie, welche Aufgaben und Herausforderungen mit dem Ausstieg aus

der Steinkohleförderung verbunden sind. Arbeiten Sie dabei heraus, wer davon

betroffen ist bzw. in der Verantwortung steht.

Page 5: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

5

4. Begründen Sie, warum der Ausstieg aus der Steinkohleförderung einen struktu-

rellen Wandel in den betroffenen Regionen ausgelöst hat.

5. Nehmen Sie Stellung zu der Aussage des Historikers Brüggemeier: „Das Zeit-

alter der Kohle ist also noch lange nicht zu Ende.“

9. Artikel: Intelligente Stromzähler: Gütesiegel gegen den Blackout

(20.12.2018)

„Die anfällig unser Stromnetz für Cyberangriffe ist, hat der Autor Marc Elsberg in

seinem Thriller "Blackout" 2012 mit düsteren Details geschildert. […] Die Geschichte

verfängt, weil die Fiktion Anleihen bei der Realität nimmt. Tatsächlich gelten Smart

Meter Gateways - so der Fachbegriff - als Einfallstore für Angreifer. Aus diesem

Grund müssen Hersteller in Deutschland hohe Sicherheitsauflagen erfüllen. Damit tun

sie sich schwer. Obwohl die Einführung der Geräte bereits 2017 beginnen sollte, ist

bis heute kein einziges Modell für den Einsatz freigegeben. Jetzt tut sich aber etwas.

[…]“

Verortung v. a. in den Themenbereichen „Energiesparen“ und

„Rahmenbedingungen der Energiewirtschaft“

1. Beschreiben Sie Funktion und Einsatzmöglichkeiten von intelligenten Strom-

zählern.

2. Stellen Sie deren Bedeutung für eine erfolgreiche Umgestaltung der Energie-

versorgung in Richtung erneuerbare Energien und Energieeffizienz dar.

3. Arbeiten Sie mithilfe des Artikels heraus, welche Anforderungen an die Geräte

gestellt werden und aus welchen Gründen. Erläutern Sie, inwiefern sich daraus

für Hersteller aber auch den Staat Herausforderungen ergeben.

4. Begründen Sie, warum der Staat im Zusammenhang mit der Einführung dieser

Technologie besonders gefordert ist.

5. Entwickeln Sie ein Szenario, wie der Einsatz intelligenter Stromzähler im Jahr

2030 aussehen könnte und inwiefern Sie davon in Ihrem Alltag berührt sind.

Diskutieren Sie über Vorzüge und mögliche Nachteile aus unterschiedlichen

Perspektiven.

Page 6: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

6

Kampf um Nord Stream 2

Die Gaspipeline zwischen Russland und Deutschland spaltet Europa und erzürnt die

USA. Jetzt wächst auch in den Berliner Regierungsparteien der Widerstand.

5

Richard Grenell hatte sich zwei außenpolitische Ziele gesetzt, als er im Mai sein Amt

als US-Botschafter in Berlin antrat: europäische Konzerne aus dem Iran vertreiben

und die Pipeline Nord Stream 2 verhindern. Das erste Ziel hat er erreicht, und dem

zweiten kommt er näher. In der Berliner Regierungskoalition schwindet der Rückhalt

für das Projekt, das zusätzliches Gas aus Russland nach Europa leiten soll. Grenell 10

nimmt das zufrieden zur Kenntnis. "In Deutschland und ganz Europa gibt es einen

wachsenden Widerstand gegen Nord Stream 2", sagte er dem Handelsblatt. "Warum

sollten wir Putin mehr Macht über Europa geben?", fragt der Botschafter.

Die Bundesregierung hält offiziell dagegen: "Nord Stream 2 kann dazu beitragen, die 15

Versorgungssicherheit Europas zu verbessern", betont das Auswärtige Amt. Und das

Wirtschaftsministerium erklärt: Russische Gaslieferungen nach Europa

einzuschränken sei "keine sinnvolle Politik". Doch entgegen diesen wohlmeinenden

Äußerungen rumort es in der Koalition. SPD-Außenpolitiker Nils Schmid räumt

Fehler ein: "Wir haben politisch zu spät auf die Kritik reagiert." Diese kommt vor 20

allem auch aus Polen und dem Baltikum, wo die Vertiefung der deutsch-russischen

Energiepartnerschaft neue Ängste geweckt hat. Jürgen Hardt, außenpolitischer

Sprecher der Union, sagt: "Sorgen unserer Nachbarn ernst zu nehmen sollte immer ein

Wesensmerkmal deutscher Außenpolitik sein."

25

Die Bundesregierung bestreitet dabei nicht, dass die Energiewirtschaft ein Instrument

des russischen Machtstrebens ist. Doch sei die Abhängigkeit Moskaus von Devisen

weit größer als die europäische Abhängigkeit von russischem Gas. Daher verleihe die

Pipeline Russland kein Erpressungspotenzial.

30

Quelle: Koch, M./Stratmann, K., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 1

Page 7: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

7

Wie eine Pipeline Europa spaltet

Je näher die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 rückt, desto größer wird

der Widerstand. Aus einem wirtschaftlich sinnvollen Projekt ist ein außenpolitisches

Desaster für die Bundesregierung geworden. 5

Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege-

schiff, seit August 2016 auf den Weltmeeren im Einsatz, gehört mit einer Länge von

382 Metern und einer Breite von 123 Metern zu den größten Schiffen überhaupt. Vor

wenigen Tagen hat das Schiff über die Große-Belt-Querung in Dänemark die Ostsee 10

erreicht; in dieser Woche wird die "Pioneering Spirit" damit beginnen, vor der Küste

Finnlands Rohre für die Pipeline Nord Stream 2 zu verlegen. Der Einsatz des Schiffs-

giganten zeigt, dass es mit Nord Stream 2 vorangeht, technisch zumindest. Das 9,5-

Milliarden-Euro-Projekt soll die Kapazität der 2011 in Betrieb genommenen Nord-

Stream-Pipeline verdoppeln und noch mehr russisches Erdgas quer durch die Ostsee 15

über eine Strecke von 1 200 Kilometern bis nach Greifswald transportieren. Schon

nächstes Jahr könnte der von Russland und Deutschland vorangetriebene Bau abge-

schlossen sein.

Doch je näher die Fertigstellung rückt, desto stärker wird der Widerstand. Gerade erst 20

hat das europäische Parlament gefordert, den Bau abzubrechen. Auch die EU-

Kommission zählt zu den Gegnern. Die Osteuropäer wettern ohnehin gegen das Pro-

jekt, seit Jahren schon. Und sie haben einen mächtigen Verbündeten gefunden: die

USA. Die Nordstream-Kritiker eint die Sorge, dass die Pipeline Europas Energieab-

hängigkeit von Russland verstärkt. "Warum sollten wir Putin mehr Macht über Europa 25

geben?", fragt Richard Grenell, US-Botschafter in Berlin - und weiß nicht nur seine

Regierung hinter sich, sondern auch eine breite Mehrheit im Kongress.

Deutschland steht mit seiner unverbrüchlichen Treue zu der neuen Pipeline ziemlich

einsam da. Erst recht, seit die russische Kanonenbootpolitik im Asowschen Meer der 30

Welt erneut vor Augen geführt hat, wie ruchlos der Kreml das Recht des Stärkeren in

seiner Nachbarschaft durchsetzt. Doch bei aller Empörung über Moskau betont die

Bundesregierung, dass die Energiebeziehungen ein stabilisierendes Element im Ver-

hältnis zu Russland seien. Und dass Deutschland schon aus wirtschaftlichen Gründen

ein starkes Eigeninteresse am Gelingen des Nord-Stream-2-Projekts habe. 35

"Russland hat einen großen Fehler begangen, als es die beiden Schiffe im Asowschen

Meer aufgebracht und die Besatzungen festgesetzt hat", sagte Bundeswirtschaftsmi-

nister Peter Altmaier (CDU) der Nachrichtenagentur Reuters. Trotzdem will er Forde-

rungen der USA, der Ukraine und aus seiner Partei, Nord Stream 2 zu stoppen, nicht 40

einfach folgen. Die Frage ist, wie lange diese Linie noch zu halten ist. Nord Stream 2

ist zum Gegenstand des geopolitischen Spiels um Rohstoffeinnahmen und Machtsphä-

ren geworden. "Wir sind besorgt, dass Russland für seine Aktionen auf der Krim und

im Asowschen Meer, für die widerrechtliche Inhaftierung ukrainischer Militärangehö-

rige und Cyberattacken in aller Welt mit weiteren Gas-Verträgen belohnt werden 45

würde", mahnt Grenell. Schon im kommenden Jahr könnten die Amerikaner ihren

Worten Sanktionen folgen lassen, fürchten deutsche Diplomaten. Die Interessen der

USA mögen leicht zu durchschauen sein: Amerika will sein eigenes Gas nach Europa

Page 8: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

8

verschiffen und Russland Marktanteile abnehmen. Doch es wäre falsch, den Streit nur

durch das Prisma der "America first"-Politik zu betrachten. In der Pipelinefrage iso-50

liert sich nicht Amerika, sondern Deutschland.

Eine wachsende Zahl von deutschen Politikern erkennt das: "Wir dürfen neue Sankti-

onen nicht vom Tisch nehmen und müssen dabei auch die Frage nach Gaslieferungen

thematisieren", mahnt Jürgen Hardt, außenpolitischer Sprecher von CDU und CSU. 55

"Angesichts der politischen Lage müssen sich die Nord-Stream-2-Investoren fragen,

ob ihr Geld gut angelegt ist - oder ob sie nicht besser aussteigen sollten." Die neue

CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer geht ebenfalls auf Distanz. Es sei

zwar "zu radikal", das Projekt abzublasen, sagt sie. Allerdings könne man durchaus

noch beeinflussen, "wie viel Gas durch die Pipeline geleitet wird". Sogar den Sozial-60

demokraten, die sich als Erben der Ostpolitik sehen, kommen Zweifel. "Wir haben

politisch zu spät auf die Kritik reagiert", räumt SPD-Außenpolitiker Nils Schmid ein.

Die Bundesrepublik, so lautet der Vorwurf der Pipelinegegner, fordere gern Solidarität

ein, doch in außenpolitischen Kernfragen verfolge sie ihre Interessen ohne Rücksicht 65

auf Nachbarn und Partner. Nord Stream 2 gleich Germany first.

Eigentlich wollte die EU den nationalen Ressourcen-Egoismus überwinden: Als Reak-

tion auf die russischen Aggressionen gegen die Ukraine hatten sich die Europäer

schon 2015 auf eine gemeinsame Energiepolitik verständigt. Ihr Leitgedanke war, die 70

Abhängigkeit von russischem Gas zu verringern. Damit ist Nord Stream 2 schwer zu

vereinbaren. Der Streit ist festgefahren. Auch beim Treffen der EU-Energieminister

am Mittwoch dürfte es laut EU-Diplomaten kaum Fortschritte geben. Die Mitglied-

staaten diskutieren bereits seit einem Jahr darüber, ob Pipelines von außerhalb der EU

wie Nord Stream 2 den europäischen Regeln unterworfen werden sollen. Die osteuro-75

päischen Staaten sind dafür, sie sehen darin eine Möglichkeit, Nord Stream 2 noch zu

verhindern. Die Bundesregierung lehnt das ab. Viele Länder haben sich wie Frank-

reich noch nicht positioniert.

Jahrelang hatte die Bundesregierung behauptet, die Pipeline sei ein unternehmerisches 80

Vorhaben - und sich damit jeder politischen Debatte verweigert. Auch heute noch

betont das Auswärtige Amt: "Nord Stream 2 ist ein kommerzielles Vorhaben der be-

teiligten Unternehmen." Ein schwerer Fehler, kritisiert CDU-Politiker Hardt: "Sorgen

unserer Nachbarn ernst zu nehmen sollte immer ein Wesensmerkmal deutscher Au-

ßenpolitik sein." In Polen und im Baltikum hat die Vertiefung der deutsch-russischen 85

Energiepartnerschaft Einkreisungsängste geweckt. Noch konkreter sind die Ängste in

der Ukraine. Die Staatsfinanzen hängen entscheidend von den Transitgebühren ab, die

das Land für die Durchleitung russischen Gases nach Europa kassiert. Transitgebüh-

ren, die durch Nord Stream 2 gefährdet sind.

90

Die Sanktionsdrohungen der Amerikaner wird Deutschland nicht ignorieren können.

Im vergangenen Jahr hat der US-Kongress das "Gesetz zur Eindämmung der Gegner

Amerikas" beschlossen. Alle Unternehmen, die sich am Bau russischer Exportpipe-

lines beteiligen, müssen seither Strafen fürchten. Das ruft in Berlin wütende Reaktio-

nen hervor. "Ich möchte nicht, dass europäische Energiepolitik in Washington defi-95

niert wird", wettert Außenstaatsminister Andreas Michaelis. Bei den Energieversor-

Page 9: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

9

gern seien "Kerninteressen" berührt. Die Entscheidung über Nord Stream 2 sei eine

Frage der Souveränität.

Noch gibt sich die Nord-Stream-2-Projektgesellschaft gelassen - und schafft Fakten 100

auf dem Meeresgrund. Man sei somit "voll im Plan", heißt es. Getragen wird Nord

Stream 2 von den europäischen Energieunternehmen Uniper, Wintershall, OMV, En-

gie und Shell sowie dem russischen Staatskonzern Gazprom.

Zumindest in einem Punkt ist die Bundesregierung ihren Kritikern entgegengekom-105

men. "Wir setzen uns nachdrücklich dafür ein, dass der Erdgastransit durch die Ukrai-

ne über 2019 hinaus eine Zukunft hat", versichert das Auswärtige Amt inzwischen.

Altmaier hatte im Frühjahr vorgeschlagen, dass Russland, die Ukraine und die EU-

Kommission über die Zukunft des Gastransits verhandeln. Im Juli fanden auf Einla-

dung Altmaiers Verhandlungen zwischen den drei Parteien darüber statt, welche 110

Gasmengen auch nach der Inbetriebnahme von Nord Stream 2 noch durch die Ukraine

geleitet werden sollen. Konkrete Ergebnisse gibt es bislang nicht. Dennoch lobt Bernd

Westphal, wirtschaftspolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, die Bemü-

hungen. Für ihn steht fest: Nord Stream 2 "ist ein sinnvolles Projekt zur Erhöhung der

Versorgungssicherheit Europas". Die Pipeline, so zeigt sich, spaltet nicht nur Europa, 115

sondern auch die Koalition. Außenpolitiker sind tendenziell dagegen, Wirtschaftspoli-

tiker tendenziell dafür.

Die Befürworter von Nord Stream 2 haben gewichtige Argumente, angefangen mit

dem Importbedarf. Die Erdgasversorgung in Deutschland speist sich im Wesentlichen 120

aus drei Quellen: Wichtigster Lieferant ist Russland, es folgen Norwegen und die

Niederlande. Allerdings haben die Niederlande beschlossen, die Förderung ab 2022

um zwei Drittel zu reduzieren und bis 2030 zu beenden. Auch die norwegischen Lie-

fermengen werden zurückgehen. Daher ist Deutschlands Interesse groß, langfristig

Zugriff auf russische Quellen zu haben. Zumal sich das Ziel des Kohleausstiegs nur 125

erreichen lässt, wenn mehr Gaskraftwerke zum Einsatz kommen. Die jährliche Durch-

leitungskapazität von Nord Stream 2 beträgt 55 Milliarden Kubikmeter. Das entspricht

ziemlich exakt dem Volumen der jährlichen niederländischen Gasförderung.

Kritiker der Pipeline übersehen: Im Notfall kann die Versorgung auch ohne Russland 130

sichergestellt werden. In der EU gibt es rund zwei Dutzend Terminals für verflüssigtes

Erdgas ("liquefied natural gas", LNG). "Energiesicherheit ist nicht dadurch definiert,

wo man kauft, sondern von der Möglichkeit, die Bezugsquelle zu wechseln. LNG

spielt dabei eine Schlüsselrolle", sagt BP-Chefökonom Spencer Dale. LNG sei als

"Versicherungspolice" zu betrachten. Europas LNG-Terminals haben eine Jahreska-135

pazität von 220 Milliarden Kubikmetern, sind aber zu weniger als 30 Prozent ausge-

lastet. Denn LNG, gerade amerikanisches, kann preislich mit Pipelinegas nicht kon-

kurrieren.

Bleibt die Frage: Wenn so viel für die Pipeline spricht, warum ist es Deutschland dann 140

nicht gelungen, die Sorgen seiner Nachbarn rechtzeitig zu zerstreuen? Jetzt hat die

Bundesregierung alle Mühe, ihr Versäumnis nachzuholen.

Quelle: Koch, M./Stratmann, K./Fischer, E., Handelsblatt, Nr. 243, 4/5

Page 10: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

10

Page 11: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

11

Page 12: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

12

Meinung: Soll Nord Stream 2 gebaut werden?

Pro: Gewinn für Europa

Wer Nord Stream 2 ablehnt, muss sagen, wo der Ersatz herkommen soll. Verflüssigtes

Erdgas dient nur der Absicherung im Notfall, sagt Klaus Stratmann. 5

Die Gaspipeline Nord Stream 2 steht im Fokus einer geopolitischen Debatte. Doch

dort hat sie nichts zu suchen. Wer sich mit den energiewirtschaftlichen Realitäten be-

fasst, kommt schnell zu dem Ergebnis, dass die EU und insbesondere Deutschland

allen Grund haben, sich für das Projekt einzusetzen. Günstiges russisches Pipelinegas 10

ist ein Garant für die internationale Wettbewerbsfähigkeit ganzer Branchen. Die deut-

sche Chemieindustrie etwa, durch kostenträchtige Sonderwege in der deutschen Ener-

giepolitik gebeutelt genug, profitiert enorm davon, durch Pipelines an die russischen

Gasvorkommen angebunden zu sein.

15

Wenn nun fünf Unternehmen aus der EU und der russische Gazprom-Konzern Milli-

arden in die Hand nehmen, um die Gasversorgungsinfrastruktur zu verbessern, kommt

das einer Selbstverpflichtung gleich. Nur wenn sie via Nord Stream 2 über Jahre kon-

tinuierlich Gas nach Europa schicken, rechnet sich die Leitung. Das sichert die Gas-

versorgung für private Verbraucher und die Wirtschaft in ganz Europa. Die Mär, das 20

Nord-Stream-2-Gas sei "für Deutschland" bestimmt, hält sich hartnäckig. Sie hat mit

der Realität eines zusammenwachsenden europäischen Binnenmarktes für Gas nichts

zu tun. Ein großer Teil des Gases dürfte in Zentraleuropa verbraucht werden. Ein an-

derer Teil könnte etwa nach Österreich geleitet werden, am Ende aber über die Grenze

nach Deutschland zurückfließen und dort verbrannt werden. Wo das Gas eingesetzt 25

wird, entscheidet der Markt.

Sollten die Russen eines Tages wider jede wirtschaftliche Vernunft am Gashahn dre-

hen, wäre das zwar misslich, aber keine Katastrophe. Die Terminals für verflüssigtes

Erdgas ("liquefied natural gas", kurz LNG) an Europas Küsten sind zu weniger als 30 30

Prozent ausgelastet. Es gibt also noch reichlich Spielraum. Allerdings ist LNG teuer

und eher eine Notfalllösung für den Übergang.

Wer auf Nord Stream 2 verzichten will, sollte darum sagen, woher er dauerhaft preis-

günstigen Ersatz beschaffen will. Dabei sollte man im Hinterkopf haben, dass die 35

Niederlande, Deutschlands zweitwichtigster Gaslieferant hinter Russland, beschlossen

haben, ihre Produktion ab 2022 um zwei Drittel zu drosseln und 2030 ganz einzustel-

len. Europa muss größtes Interesse haben, sich langfristigen Zugriff auf Erdgas zu

sichern.

40

Das Argument, wenn Nord Stream 2 fertiggestellt werde, könnten die Russen den Uk-

rainern den Gashahn zudrehen, läuft ins Leere. Schon in den Jahren 2016 und 2017

hat die Ukraine keinen einzigen Kubikmeter russisches Erdgas für den eigenen Bedarf

importiert. Und was den Transit betrifft: Nord Stream 2 kann die Durchleitung durch

die Ukraine nur etwa zur Hälfte ersetzen. Es wird also auch weiterhin den Transit rus-45

sischen Gases durch das Land geben.

Der Autor Klaus Stratmann ist stellvertretender Leiter des Hauptstadtbüros.

Page 13: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

13

Contra: Auf Kosten der EU

Deutschland hält gern den Multilateralismus hoch, setzt sich mit der Pipeline aber 50

über die Ängste seiner Nachbarn hinweg - und untergräbt die gemeinsame Außenpoli-

tik der EU, sagt Moritz Koch.

Heiko Maas hat am Wochenende an den Jahrestag des Marshallplans erinnert. "Wie

uns damals geholfen worden ist", schrieb der deutsche Außenminister auf Twitter, 55

"müssen wir uns auch heute noch ins Gedächtnis rufen." Maas sieht Berlin in beson-

derer Verantwortung. Der Sozialdemokrat will eine "Allianz für den Multilateralis-

mus" schmieden, das Ideal einer Weltgemeinschaft in Zeiten hochhalten, in denen in

Washington, Moskau und Peking unverhohlen die Rückkehr zum Recht des Stärkeren

propagiert wird. Ein nobles Ziel - aber mit der Praxis der bundesrepublikanischen Au-60

ßenpolitik leider nur bedingt vereinbar.

Es ist schwer, ein Bündnis für internationale Solidarität zu schmieden, wenn sich in

europäischen Hauptstädten der Eindruck festsetzt, dass Deutschland in entscheidenden

Fragen auf internationale Solidarität pfeift. Womit man am Greifswalder Bodden wä-65

re. Hier endet die Nord-Stream-2-Pipeline, die die Erdgasmengen verdoppeln soll, die

auf direktem Weg von Russland nach Deutschland gelangen. Das Investitionsvolumen

beträgt 9,5 Milliarden Euro. Doch die wahren Kosten der Pipeline sind nicht in Euro

aufzurechnen: Auf dem Spiel steht das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik.

70

Nord Stream 2 hat viele Gegner, nicht nur in Washington, wo Lobbyisten die Chance

wittern, teures Flüssiggas loszuschlagen. Die Osteuropäer wollen die Pipeline verhin-

dern, die Briten und Dänen auch, und in Brüssel opponieren Kommission und Parla-

ment in seltener Eintracht gegen das Projekt. Deutschland rechtfertigt sich: Eine ein-

seitige Abhängigkeit von Moskau ergebe sich nicht, und die gesteigerte Versorgungs-75

sicherheit komme letztlich auch Osteuropa zugute. Das mag stimmen, lenkt aber vom

Kern des Problems ab: Die neue Pipeline sichert dem Kreml zusätzliche Devisen - und

das in einer Zeit, in der Moskau Rohstoffgewinne für Militäraktionen, Desinformati-

onskampagnen und Rüstungsprojekte investiert, die Europas Sicherheit untergraben.

80

Dass Berlin jahrelang behauptet hat, Nord Stream 2 sei ein rein privatwirtschaftliches

Vorhaben, war Ausdruck einer Arroganz, die man für historisch überwunden hielt.

Die Pipeline wird nur in Betrieb gehen können, wenn Deutschland seine Interessen

gegen seine Nachbarn durchboxt. Dabei sucht die Bundesregierung gerade den Schul-

terschluss mit anderen EU-Staaten, um sich der Sanktionspolitik der USA zu wider-85

setzen. Schleierhaft, wie das gelingen soll, wenn die Berliner Antwort auf "America

first" in Energiefragen auf "Deutschland zuerst" hinausläuft. Ein Stopp der Pipeline

wäre nicht, wie Nord-Stream-2-Unterstützer gern behaupten, eine Kapitulation vor

dem polternden US-Präsidenten Donald Trump - im Gegenteil: Er wäre die Voraus-

setzung für eine Außenpolitik der EU, die der Trump-Regierung die Stirn bieten kann. 90

Der Autor ist Senior Correspondent Moritz Koch.

Quelle: Stratmann, K./Koch, M., Handelsblatt, Nr. 244, 18.12.2018, 14

Page 14: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

14

Kattowitz offenbart Staatsversagen

Die Klimakonferenz in Kattowitz ist beendet. Doch Umweltschützer und Ökonomen

fordern mehr politischen Willen, die Erderwärmung zu begrenzen.

5

Sein persönlicher Wunsch ging nicht in Erfüllung. Auf möglichst wenige schlaflose

Nächste hatte der polnische Präsident der Klimakonferenz, Micha Kurtyka, gehofft.

Am Ende musste er froh sein, dass er am Samstagabend, inklusive eines Tags Ver-

längerung und mehrerer schlafarmer Nächte, die Weltklimakonferenz in Kattowitz für

beendet erklären konnte. Nach drei Jahren Vorbereitung und zwei Verhandlungs-10

wochen einigten sich die betroffenen 197 Staaten und die EU auf gemeinsame Regeln

zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens. Verabschiedet wurde ein soge-

nanntes Regelbuch - eine Art Gebrauchsanweisung dafür, nach welchen Vorgaben die

Klimaschutzbemühungen der Länder gemessen und verglichen werden können.

15

In der französischen Hauptstadt war im Dezember 2015 vereinbart worden, die

Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad gegenüber der vorindustriellen Zeit

begrenzen zu wollen. Wie das erreicht werden soll, bleibt jedem Land selbst

überlassen, nur vergleichbar sollte es sein. "Wir haben erreicht, dass sich zum ersten

Mal nicht nur die halbe, sondern die ganze Welt beim Klimaschutz in die Karten 20

schauen lässt", sagte Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD). Das Pariser

Abkommen beruhe auf dem gegenseitigen Vertrauen, dass alle Staaten ihren Beitrag

zum Klimaschutz leisten. "Darum ist es entscheidend, dass jeder sehen kann, was der

andere tut." Bislang reicht das Engagement der meisten Staaten nicht aus, um das

Pariser Abkommen zu erfüllen. Es muss nachgesteuert werden - was aber nur passiert, 25

wenn die Bemühungen der Staaten gemessen und verglichen werden können und sich

nicht nur alle misstrauisch beäugen.

Deutschland hatte im Vorfeld von Kattowitz klare Transparenzpflichten auch für

große Schwellenländer wie China gefordert. Tatsächlich einigten sich Industrie- und 30

Entwicklungsländer in Polen darauf, dass sie ab 2024 einheitlich, also nach denselben

Kriterien, an die Vereinten Nationen berichten. China, weltgrößter Emittent des

Treibhausgases CO2, machte den Weg letztendlich dafür frei. Einfachere Regeln gibt

es künftig nur noch für die ärmsten Länder der Welt, denen Kapazitäten fehlen, um

Emissionen zuverlässig zu messen. 35

"Dieses Regelwerk ist eine solide technische Basis", kommentierte Christoph Bals,

politischer Kopf der Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch. Er sprach

von einem "beachtlichen Ergebnis, weil es einige Sabotageversuche aus dem Weißen

Haus, von Saudi-Arabien und Brasilien gab". Die Einigung in Kattowitz sei "ein Sieg 40

des Multilateralismus unter extrem schwierigen Bedingungen", sagte Ottmar

Edenhofer, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), dem

Handelsblatt.

Doch zur Abwendung der Klimakrise kommt es nun darauf an, dass alle Staaten einen 45

deutlich größeren politischen Willen zeigen. Darin sind sich viele Experten einig.

Denn trotz einiger Erfolge: Die Gesamtbilanz des Gipfeltreffens ist überschaubar.

Page 15: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

15

"Die dringend notwendige Steigerung des Ambitionsniveaus ist im Wesentlichen

ausgeblieben, und beim Regelbuch haben wir nur ein Minimum erreicht", kritisierte 50

Edenhofer. Johan Rockström, der zusammen mit Edenhofer als designierter Direktor

das PIK leitet, sagte, es sei in Kattowitz versäumt worden, "klarzumachen, dass die

globalen Emissionen aus fossilen Brennstoffen bis 2030 halbiert werden müssen,

wenn man dem 1,5-Grad-Report des Weltklimarats folgen will". Der Bericht mahnt

ein entschlosseneres Handeln gegen den Klimawandel an. Die Erderwärmung solle 55

auf 1,5 Grad gegenüber vorindustrieller Zeit begrenzt werden, um die schlimmsten

Folgen für den Planeten abzuwenden.

Der Klimagipfel in Kattowitz sei nur ein Schritt auf dem langen und kurvenreichen

Weg hin zu einer Zukunft ohne fossile Brennstoffe, mahnte der Schwede Rockström. 60

"Wir alle müssen jetzt aufhören, herumzutrippeln. Wir müssen unsere Schritte be-

schleunigen." Und Europa könne und müsse sich dabei an die Spitze stellen. Der

Gipfel habe gezeigt, "dass weiterhin auf der nationalen Ebene insbesondere in den

Industrieländern wenig Ambition herrscht", sagte Lukas Hermwille vom Wuppertal

Institut für Klima, Umwelt, Energie, dem Handelsblatt. Das gelte auch und im be-65

sonderen Maße für die EU und Deutschland. Deutschland habe es durch die Ver-

zögerungen bei der Kohlekommission verpasst, ein internationales Zeichen zu setzen.

Wissenschaftler hören nicht auf, die Gefahren zu beschreiben, sollte es beim Status

Quo bleiben. Extreme Wetterereignisse treffen bereits heute Menschen auf der ganzen 70

Welt, mit einer globalen Erwärmung von nur einem Grad. Auch Hitze- und Dürre-

sommer in Deutschland könnten sich in Zukunft weiter häufen. Die Welt brauche

konkrete Maßnahmen zur Verringerung der Treibhausgase; und sie brauche diese

Maßnahmen nicht irgendwann, sondern jetzt, forderte Edenhofer. In dieser Hinsicht

könne der Klimawandel nicht mehr nur als das größte Marktversagen aller Zeiten 75

angesehen werden. Er sei angesichts der steigenden Emissionen auch zu einem bei-

spiellosen Staatsversagen geworden. Der Veränderungsbedarf ist gewaltig - auch in

der Wirtschaft. "Der Druck auf die Unternehmen steigt, sich fossilfrei oder zumindest

fossilarm aufzustellen", sagte Edenhofer.

80

Verbände reagierten gelassen: Für die deutschen Unternehmen sei es wichtig, dass die

Umsetzung des Pariser Abkommens auch tatsächlich zu mehr Klimaschutz in anderen

Weltregionen führe, erklärte Eric Schweitzer, Präsident des Deutschen Industrie- und

Handelskammertages (DIHK). […] Auch der Verband der Chemischen Industrie

(VCI) sieht in den Gipfelbeschlüssen eine Grundlage, um den Klimaschutz globaler 85

aufzustellen. Von vergleichbaren Wettbewerbssystemen für die Industrie sei man aber

noch weit entfernt, sagte VCI-Hauptgeschäftsführer Utz Tillmann. Das zeigen seiner

Ansicht nach auch die schwierigen Diskussionen, Kohlendioxid (CO2) weltweit einen

Preis zu geben. Dieses Thema musste in Kattowitz vertagt werden. "Globale Regeln

für CO2-Preise und passende Marktinstrumente haben es leider nicht in das 90

Regelbuch geschafft", sagte Tillmann. Das mache es für Unternehmen in Europa sehr

viel schwieriger, die Investitionen in treibhausgasärmere Technologien zu stemmen.

Er hoffe jetzt auf Fortschritte auf der Ebene der 20 größten Volkswirtschaften.

Quelle: Kersting, S., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 6/7 95

Page 16: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

16

Page 17: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

17

Internationale Klimadiplomatie: Paris: Auf dem Höhepunkt

Das Bewusstsein und der Kampf für eine saubere Umwelt und ein besseres Klima ist

gekennzeichnet von einem ständigen Auf und Ab, von Fortschritten und

Rückschlägen. Den Startpunkt für die globale Umweltdebatte setzte 1972 der Think 5

Tank Club of Rome mit seiner Studie "Die Grenzen des Wachstums" zur Lage der

Menschheit.

Als Auftakt für die nunmehr 36-jährige internationale Klimadiplomatie gilt jedoch die

Versammlung der Vereinten Nationen 1992 in Rio de Janeiro. Davor war das Thema 10

Klimawandel in erster Linie etwas für Spezialisten. Es folgte, 1995, Klimagipfel

Nummer eins in Berlin. Konferenzpräsidentin war Angela Merkel, damals im Kabinett

von Helmut Kohl Umweltministerin. Seitdem fanden die internationalen Klima-

konferenzen in einem jährlichen Rhythmus statt, üblicherweise zwei Wochen lang

gegen Ende eines jeden Jahres. 15

Das international bekannte Kyoto-Protokoll wurde im Dezember 1997 verabschiedet

und legte erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treib-

hausgasen fest. Einer der Hauptverursacher von CO2-Emissionen, die Vereinigten

Staaten, trat dem Abkommen jedoch nie bei, Kanada stieg wieder aus. Eine große 20

Zahl von Klimagipfeln war dadurch geprägt, dass Entwicklungs- und Schwellen-

länder, darunter vor allem China, sich jedweder Verhandlung über eigene Ver-

pflichtungen oder Ziele strikt verweigerten. Kein Wunder, wurde ein Bekenntnis zur

Reduktion von Treibhausgasemissionen doch vielfach als Verzicht auf Wachstums-

und Entwicklungschancen wahrgenommen. Dazu war niemand bereit. 25

Im Jahr 2009 kam dann der Tiefpunkt in Kopenhagen bei den 15. internationalen

Klimaverhandlungen: Anders als erwartet gab es keine global verbindlichen Ziele.

Gute Absichten waren zweifellos auf vielen Seiten vorhanden, aber am Ende über-

wogen Eigeninteressen. Arme und reiche Länder waren zu keinen echten Kompro-30

missen bereit. Für viele Umweltschützer steht Kopenhagen symbolisch für ein ver-

schenktes Jahrzehnt in Sachen Klimaschutz. Doch das vermurkste Gipfeltreffen stieß

auch konstruktive Verhandlungen an. Nahezu alle Staaten erkannten zunehmend die

Notwendigkeit eigener Bemühungen um den Klimaschutz. Die oft destruktive Haltung

wich einem Bewusstsein dafür, die Erderwärmung nur gemeinsam bremsen zu 35

können.

Bisheriger Höhepunkt: das internationale Klimaabkommen von Paris. Ende 2015 war

in der französischen Hauptstadt beschlossen worden, die Erderwärmung auf deutlich

unter zwei Grad Celsius zu begrenzen, möglichst auf 1,5 Grad. Das Abkommen gilt, 40

rückblickend, sogar als Sternstunde des Multilateralismus. Das Kyoto-Protokoll hatte

allein die Industriestaaten in die Pflicht genommen, ihren Ausstoß an klimaschäd-

lichen Treibhausgasen zu senken. Doch einzuhalten ist das Pariser Abkommen nur,

wenn bis zur Mitte des Jahrhunderts die Gesellschaften weitgehend treibhaus-

gasneutral agieren, also keine fossilen Energien mehr verfeuert werden. 45

Quelle: Kersting, S., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 7

Page 18: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

18

Energiewende: Schub für den Netzausbau

Minister Altmaier erhofft sich von neuem Gesetz Beschleunigung. Branche ist

verhalten optimistisch.

5

Die Realität ist noch immer ernüchternd: Das 2013 in Kraft getretene Bundesbedarfs-

plangesetz hat den Bau oder die Verstärkung von insgesamt 5 900 Kilometer

Höchstspannungsstromleitung für vordringlich erklärt. Bis heute sind davon erst 600

Kilometer genehmigt und gerade einmal 150 Kilometer realisiert. Etwas besser sieht

es beim Vorgängergesetz aus, dem Energieleitungsausbaugesetz (EnLAG) von 2009: 10

Von den 1 800 Kilometer Leitung aus dem EnLAG sind rund 1 200 Kilometer

genehmigt und davon 800 Kilometer realisiert.

Diese Zahlen der Bundesnetzagentur verdeutlichen, dass der Ausbau der Netze trotz

aller Beschleunigungsbemühungen nur schleppend vorankommt. Doch das soll sich 15

nun ändern. Mit der Novelle des Gesetzes zur Beschleunigung des Energieleitungs-

ausbaus (NABEG), der das Bundeskabinett vergangene Woche zustimmte, glaubt

Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) den Schlüssel für die Trendwende in

der Hand zu halten.

20

Die NABEG-Novelle sei "wesentlicher Bestandteil" seiner Pläne zur Beschleunigung

des Netzausbaus, schreibt Altmaier in einem dem Handelsblatt vorliegenden Brief an

die Mitglieder der Unionsfraktion im Bundestag. "Wir vereinfachen die Verfahren",

schreibt Altmaier. Auch werde mit der Novelle dafür gesorgt, dass für die Leitungen

zügig neue Materialien zum Einsatz kommen könnten, die höhere Transportkapa-25

zitäten ermöglichten. Die materiellen Rechte der betroffenen Bürgerinnen und Bürger

blieben durch die Novelle "in vollem Umfang erhalten".

Besondere Fortschritte verspricht sich Altmaier von einer "vorausschauenden

Planung". So können die Netzbetreiber künftig bei der Erdverkabelung Leerrohre 30

gewissermaßen auf Vorrat verlegen und diese dann später für Kapazitätser-

weiterungen nutzen. "Das spart Zeit und Kosten und schont Umwelt und Anwohner",

wirbt Altmaier. Erhebliche Beschleunigungseffekte erhofft sich der Wirtschafts-

minister von einer neuen Entschädigungspraxis für Land- und Forstwirte. Die Ent-

schädigungen werden insgesamt angehoben, außerdem erhalten Land- und Forstwirte, 35

die sich innerhalb von acht Wochen gütlich mit dem Netzbetreiber einigen, einen

"Beschleunigungszuschlag".

Altmaier hat die Beschleunigung des Netzausbaus zu einem seiner vordringlichen

Ziele erklärt. Auf zwei jeweils mehrtägigen Reisen zu den Brennpunkten des Netzaus-40

baus im Nordwesten und im Südosten der Republik machte er sich in diesem Jahr ein

Bild von den praktischen Problemen. Die Kritik der Menschen entzündet sich meist

am Trassenverlauf. Oft fordern die Bürger vor Ort auch die Erdverkabelung, während

der jeweilige Netzbetreiber Freileitungen für ausreichend hält. Auf Unverständnis

stoßen auch ganz neue Trassenverläufe, wenn es möglicherweise ausreichen würde, 45

bestehende Trassen auszubauen. Der Widerstand mündet oft in Klagen vor den

Verwaltungsgerichten.

Page 19: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

19

Altmaier will beim Thema Netzausbau nicht lockerlassen. "Ich werde mich mit den

Landesministern und der Bundesnetzagentur über die Netzkarten beugen, um die für 50

die Menschen und die Natur schonendsten Verläufe der Stromtrassen zu diskutieren

und umzusetzen", sagte er dem Handelsblatt. Am 8. Februar werde er zu seiner dritten

Reise zu den Brennpunkten des Netzausbaus aufbrechen, sagte er. Diesmal gehe es

nach Hessen.

55

Der Netzausbau ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen der Energiewende.

Spätestens wenn 2022 das letzte Atomkraftwerk im Süden Deutschlands vom Netz

gegangen ist, sollten nach ursprünglicher Planung die neuen Nord-Süd-Leitungen, die

den Windstrom vom Norden Deutschlands bis nach Bayern und Baden-Württemberg

transportieren, fertiggestellt sein. Mittlerweile ist allen Beteiligten klar, dass sich das 60

Mammutprojekt Leitungsausbau verzögern wird. Das sorgt für kostentreibende

Ineffizienzen. Weil die Netze immer häufiger an die Grenzen ihrer Kapazität stoßen,

müssen Windräder im Norden abgeregelt und im Süden konventionelle Kraftwerke

eingeschaltet werden. Verschärft wird das Problem dadurch, dass die Bundesregierung

zuletzt ihre Ziele für den Ausbau der erneuerbaren Energien angehoben hat. Während 65

die Stromproduktion aus erneuerbaren Quellen wächst, kann der Ausbau der Netze

nicht Schritt halten.

Die Novellierung des NABEG, die Anfang kommenden Jahres den Bundestag

passieren soll, wird von der Branche begrüßt. "Vor allem der Punkt der voraus-70

schauenden Planung ist uns wichtig, weil er hilft, Eingriffe in Natur und Landschaft

zu reduzieren, und zudem Kosteneffizienz fördert", sagte Frank Golletz, technischer

Geschäftsführer beim Übertragungsnetzbetreiber 50Hertz, dem Handelsblatt. "Auch

das Thema Abschnittsbildung, durch das bei einem Leitungsprojekt in einem Teilab-

schnitt schon gebaut werden kann, auch wenn in einem anderen Teilabschnitt die 75

Genehmigung noch nicht vorliegt, kann die Verfahren wirklich beschleunigen. Und

das brauchen wir", sagte er.

In die Bewertung mischen sich aber auch kritische Töne. "Gesetze sind das eine, ihr

Vollzug ist das andere. Es kommt nun darauf an, dass die Genehmigungsbehörden die 80

neuen Werkzeuge auch effektiv nutzen", sagte Hans-Jürgen Brick, kaufmännischer

Geschäftsführer des Übertragungsnetzbetreibers Amprion, dem Handelsblatt. Brick

hält die Regulierung der Netze für grundsätzlich reformbedürftig. "So wie der Netz-

ausbau dem Ausbau der Erneuerbaren hinterherläuft, läuft die Regulierung der Ener-

giewende hinterher. Sie schaut in den Rückspiegel, ohne die Anforderungen eines be-85

schleunigten Netzausbaus abbilden zu können", kritisiert Brick. Die Regulierung

müsse zu einem zukunftstauglichen System werden, das die notwendigen Innova-

tionen für die Energiewende zulasse. "Das lässt sich insbesondere erreichen, indem

wir die Regulierung zwischen Übertragungs- und Verteilnetzen harmonisieren. Die

Herausforderungen der Energiewende betreffen schließlich beide", sagte Brick. Statt-90

dessen verliere sich die Regulierung heute in bürokratischen Winkelzügen, kritisierte

er. Das manifestiere sich derzeit in der Reform der Anreizregulierung für die

Übertragungsnetzbetreiber.

Quelle: Stratmann, K., Handelsblatt, Nr. 243, 17.12.2018, 895

Page 20: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

20

Page 21: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

21

Saudi-Arabien: Krisensignale aus Riad

Trotz niedrigen Ölpreises verteilt der König Geschenke an die Regierung - und schickt

sein Land weiter in die roten Zahlen. Ökonomen warnen bereits vor einem

Staatsbankrott. 5

Wie fast alles, fällt auch die Präsentation des Haushalts in Saudi-Arabien eine

Nummer größer aus. In einem Meer aus bunten Blumen verlas erst König Salman das

umfangreiche Zahlenwerk - und gab die politischen Ziele seiner Regierung bekannt,

die die Milliardenausgaben bringen sollen. Und nun wurde erstmals am Tag darauf in 10

einer gewaltigen Show in Riads Ritz-Carlton-Nobelhotel das Budget Analysten,

Unternehmern, Staatsbediensteten und Journalisten vorgestellt.

Imagefilme und gewaltige Grafiken, die auf riesige Bildschirme geworfen werden,

erhellen den Ballsaal mit den Zahlen des umfangreichsten Budgets des wichtigsten 15

Petrostaats. Vier Runden gespickt mit Ministern und CEOs von Großkonzernen

antworten auf viele Fragen. Und immer wieder leuchtet die Zahl von 1,1 Billionen

saudischen Rial - etwa 295 Milliarden Dollar und damit sieben Prozent mehr als 2018

- in den riesigen Raum. So viel will Riad 2019 ausgeben - und eigentlich kann Saudi-

Arabien sich das gar nicht leisten. 20

Das einst so reiche Land steckt in einer tiefen Krise. Ob Politik oder Wirtschaft, da

braut sich einiges zusammen in Riad: ein deutlich abgesackter Ölpreis, eine von

Jahresbeginn an vereinbarte erhebliche Absenkung der Ölförderung, hohe Arbeits-

losigkeit. Dazu ein gigantischer Verlust an Vertrauen bei ausländischen Partnern seit 25

der Ermordung des oppositionellen Journalisten Jamal Khashoggi im saudischen

Konsulat in Istanbul Anfang Oktober. Dazu die zunehmende Skepsis der überwiegend

jungen Bevölkerung, ob der von Kronprinz Mohamed versprochene Aufbruch des

erzkonservativen Königreichs in eine neue Zukunft funktioniert.

30

Um auf das im Haushalt angepeilte Haushaltsdefizit von 4,2 Prozent des Brutto-

inlandsprodukts (35 Milliarden Dollar) zu kommen, müsste laut Analysten der Ölpreis

im kommenden Jahr auf momentan kaum realistische 80 Dollar je Barrel im Durch-

schnitt steigen. Das benachbarte Katar plant in seinem gerade vorgestellten Budget für

2019 mit 55 Dollar je Ölfass. 35

Doch die Führung um den alternden König Salman stand ohnehin bereits seit

Längerem unter Druck. "Und der Khashoggi-Mord hat die Lage deutlich ver-

schlechtert", berichten Diplomaten. Um das Schlimmste zu verhindern, lässt der

Monarch nun großzügig Geschenke verteilen. Vor allem wird er trotz der gesunkenen 40

Ölpreise seinen Bürgern weiterhin die Lebenshaltungskosten zahlen: Das sind 1 000

Rial (fast 250 Euro) im Monat. Eigentlich sollte diese staatliche Unterstützung ge-

strichen werden - ebenso wie die Subventionen auf Strom und Wasser, die nun auch

erst einmal bleiben.

45

Ein Raunen geht durch den Ballsaal im Ritz, als ein Unternehmer dem Wirtschafts-

minister vorhält: "Es gibt erhebliche Differenzen zwischen den vorgestellten Zahlen

und der Realität." Seit der Verhaftung von 200 Unternehmern, Ministern, Ex-

Page 22: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

22

Politikern, Militärs und Prinzen im November 2017 und erst recht seit dem Mord von

Istanbul wagt sich eigentlich niemand mehr, die Führung öffentlich zu kritisieren. 50

Dass Privatunternehmer die politische Lage momentan "genau beobachten und ab-

warten", räumt aber auch Handels- und Investment-Minister Majid bin Abdullah al-

Qasabi ein. Und Finanzminister Mohammed al-Jadaan sagt dem Handelsblatt am

Rande seines Budget-Forums, dass er das verloren gegangene Vertrauen durch "eine 55

Investitionsoffensive zurückgewinnen will. Auch ausländische Unternehmen würden

profitieren, ergänzt er. Außerdem versprach er weitere Reformen, vor allem im

umstrittenen Justizwesen.

Das Misstrauen allerdings ist längst in der Wirtschaft angekommen: Laut Unter-60

nehmern, die ihre Namen nicht in der Zeitung sehen wollen, seien "eine schleppende

Vergabe und eine noch schleppendere Bezahlung von Staatsaufträgen" das große

Problem. Auf der anderen Seite aber sollen sie dafür sorgen, dass die Masse der

Arbeitslosen (die Quote liegt bei 12,8 Prozent) Jobs bekommt. "Saudisierung" nennt

sich der Plan, der junge Saudis anstatt von Gastarbeitern an Ladentheken, auf 65

Baustellen und an Bankschalter bringen soll. Für Gastarbeiter wurde bereits eine

Strafabgabe eingeführt, fast eine Million von ihnen hat seit Mitte vorigen Jahres das

Königreich verlassen.

Doch "kleine und mittlere Unternehmen, die dazu gezwungen sind, Saudis einzu-70

stellen, schließen reihenweise", verrät ein langjähriger Beobachter. Und auch ein

deutscher Firmenvertreter klagt: "Wir bekommen einfach nicht genug gut ausgebildete

saudische Fachkräfte, die tatsächlich arbeiten wollen." Erst müsse das Bildungswesen

gründlich reformiert und eine echte Berufsausbildung eingeführt werden, um eine

echte Saudisierung des Arbeitsmarkts durchführen zu können. "Sonst erhöht dies nur 75

die Arbeitskosten gewaltig und schreckt Investoren ab", so der Mahner.

Die schlechte Verfassung des Arbeitsmarkts belastet vor allem auch die Staats-

finanzen. "Saudi-Arabien droht der Staatsbankrott", warnt etwa der Autor des

Wirtschafts-Bestsellers "Black Swan", Nassim Taleb. Zwar verfügt das Land nach wie 80

vor über üppige Währungsreserven, sagen Ökonomen. Sollte allerdings der Ölpreis

kollabieren, könne sich die Lage schnell ändern.

Quelle: Brüggmann, M., Handelsblatt, Nr. 246, 20.12.2018, 10

85

Page 23: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

23

Page 24: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

24

Kohlebergbau: Ein letztes "Glück auf!"

Am Freitag schließt das Bergwerk Prosper Haniel, die einzige noch aktive

Steinkohlezeche in Deutschland. Nicht nur für das Ruhrgebiet ist das eine Zäsur.

5

Rasend schnell geht es hinab ins Dunkel. Die Luft wird dünner, die Temperatur steigt.

Dann wird es hell. Tausend Meter unter der Erde befindet sich eine ganz eigene Welt.

Kilometerlange Tunnel ziehen sich unter den Straßen Bottrops entlang. Neonröhren

erleuchten die Dunkelheit. Wie kleine Lichtreflexe glitzern schwarzgraue Punkte

durch die Luft. Männer mit weißen Baumwollanzügen, blau-weiß gestreiften Hemden, 10

weißen Halstüchern und schwarz verschmierten Gesichtern streifen durch die Pfade

unter Tage. "Glück auf!", rufen sie sich entgegen. Es sind Kumpel, Bergleute - die

letzten ihrer Art. Mehr als 150 Jahre lang wurde hier, im Werk Prosper Haniel im

Ruhrgebiet, Steinkohle abgebaut. Doch damit ist jetzt Schluss.

15

Am Freitag schließt Prosper Haniel, die letzte noch aktive Steinkohlezeche Deutsch-

lands. Damit kommt der jahrzehntelange Abschied von einer der größten Traditions-

branchen zum Abschluss. Die Arbeit unter Tage hat Generationen von Familien

geprägt. Familien wie die von Dirk Erba. Seit über 30 Jahren arbeitet der Deutsche mit

italienischen Wurzeln im Bergbau. "Für uns geht hier eine Tradition zu Ende", sagt er 20

wehmütig und wirkt dabei mit seiner großen Statur in dem kleinen Schacht unter der

Erde fast wie ein Riese. Das komplette Gesicht und der Bart sind von schwarzem

Staub überzogen. Schon sein Vater hat in der Zeche "malocht", wie es im Ruhrgebiet

heißt. Genauso wie sein Großvater. "Hand in Hand zum Erfolg", propagiert eine Tafel

zu Füßen des Schachts. Der Zusammenhalt der "Kumpel", wie die Bergarbeiter unter 25

Tage genannt wurden, war stets legendär. Aber Steinkohle hat nicht nur die Gesell-

schaft geprägt, sondern die wirtschaftliche und industrielle Entwicklung ganz Europas

verändert.

Obwohl schon vor 900 Jahren die erste Steinkohle im Aachener Revier abgebaut 30

wurde, erlebte der fossile Rohstoff seine Hochzeit erst im 19. Jahrhundert. Zur vor-

letzten Jahrhundertwende lieferte das "schwarze Gold", wie man die Steinkohle

nannte, dann 95 Prozent der global genutzten Energie und beschäftigte in Europa über

2,5 Millionen Menschen. "Es galt für Deutschland, Europa und den Rest der Welt: Für

die Industrialisierung brauchte man enorme Mengen an Energie. Und ohne die Stein-35

kohle hätte es diese Energie nicht gegeben", sagt Franz-Josef Brüggemeier, Professor

für Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte an der Universität in Freiburg. Auch

wenn der Energieträger heute als Klimaschädling Nummer eins in Verruf steht,

"Kohle schuf die Welt, in der wir leben, im Guten wie im Schlechten", betont der

Essener. Und die Region an Rhein und Ruhr habe dabei eine entscheidende Rolle 40

gespielt.

Das Ruhrgebiet war früher das größte Steinkohlerevier Europas. Zu seinen Hochzeiten

fand hier fast eine halbe Million Menschen Arbeit, die über 110 Millionen Tonnen

Steinkohle pro Jahr förderten. Sie feuerten die Hochöfen der Eisen- und Stahlindustrie 45

an, lieferten Grundstoffe für die chemische Industrie und wurden in den Häusern der

Deutschen verheizt. Steinkohle machte aus einstigen Agrarländern wie Frankreich,

Deutschland und Großbritannien Industrienationen.

Page 25: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

25

Schon in den späten 1950er-Jahren wurde aber immer mehr billige Kohle aus dem

Ausland importiert, und auch das preisgünstige Erdöl stürzte die deutsche Steinkohle 50

in eine tiefe Krise. "Bis dahin gab es eigentlich keine Alternative zur Steinkohle. Aber

mit der Verbreitung von Energie aus Atom und Erdöl begann der Abstieg des Gruben-

golds", erklärt Brüggemeier. Das mühsame Fördern aus mehr als 1 000 Meter Tiefe

unter hohen Sicherheitsstandards in den deutschen Bergwerken hatte sich schon seit

vielen Jahren nicht mehr gelohnt. In Australien kann die Konkurrenz etwa 30 Meter 55

dicke Flöze teils mit dem Schaufelradbagger im Tagebau gewinnen. In China drücken

billige Arbeitskräfte den Preis.

Mit der Kohlekrise begann auch das große Zechensterben: Von 1960 bis 1980 sank

die Zahl der Bergwerke in Deutschland von 146 auf 39, im Jahr 2000 waren noch 60

zwölf Zechen in Betrieb. Neben Prosper Haniel in Bottrop war zuletzt nur noch die

Zeche Ibbenbüren im Münsterland in Betrieb. Die Fördermenge sank von 150

Millionen Tonnen Steinkohle 1957 auf 20,7 Millionen Tonnen im Jahr 2006. 2017

waren es gerade noch 3,7 Millionen Tonnen.

65

2007 beschloss der Bundestag schließlich einen Fahrplan für den Ausstieg aus der

defizitären Steinkohle bis Ende 2018. Gut eine Milliarde Euro Subventionen pro Jahr

fielen zuletzt an, um die Preisdifferenz zum Weltmarkt auszugleichen. Für die

Kumpel zog die Kohlekrise dramatische Arbeitsplatzverluste nach sich. Während

1957 noch fast 610 000 Menschen bei den Kohlebetrieben in Lohn und Brot standen, 70

gab es 1970 nur noch etwas mehr als eine Viertelmillion Stellen. 1994 sank die Zahl

der Arbeitsplätze erstmals unter 100 000, im November vergangenen Jahres lag sie

gerade mal bei ein paar Tausend.

Unter Tage windet sich die Dieselkatze durchs Bergwerk. Aufgehängt an einer 75

Schiene, schaukelt sie die Kumpels an ihre Arbeitsplätze, oft tief im Berg. Durch die

Stollen weht ein steter Wind. Aber nicht dort, wo die Kohle abgebaut wird. In dem nur

1,50 Meter hohen Schacht, in dem ein Hobel den schwarzen Stein von der Wand

schabt, ist die Hitze schier unerträglich. Mit einem dumpfen Grollen rollt er heran und

im dichten Kohlestaub davon. Alle paar Minuten geht das so. Über ein Laufband 80

werden die glitzernden Brocken einmal quer unter Bottrop entlang zur Lagerstätte

gebracht. "Die Arbeit hier unten ist hart", sagt Dirk Erba. Erst nach sechs Stunden

geht es wieder ans Tageslicht. Jeden Tag. Bis jetzt. Wer älter als 49 Jahre ist, für den

beginnt nun der Ruhestand, das gilt auch für Erba. Die Arbeit unter Tage ist mit dem

Ende des Bergbaus aber noch lange nicht vorbei. 85

Tief unter dem Ruhrgebiet und in oberflächennahen Senken, die durch den Abbau

entstanden sind, muss dauerhaft Wasser in riesigen Mengen abgepumpt werden, damit

das Grundwasser geschützt wird und die Region nicht versinkt. Ohne regelmäßiges

Pumpen läge etwa der Essener Hauptbahnhof zwölf Meter tief unter Wasser. Die 90

Kosten dafür - nach derzeitiger Schätzung rund 220 Millionen Euro jährlich - trägt die

RAG-Stiftung, die 2007 gegründet wurde, aus Kapital- und Dividendenerträgen. Für

Bergschäden kommt die RAG aus den Rückstellungen auch in Zukunft auf.

Eine neue Nutzung für die Zechengelände zu finden bleibt eine Aufgabe für Jahr-95

zehnte: Aktuell entwickelt eine RAG-Tochter rund 10 000 Hektar freier Bergwerks-

Page 26: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

26

flächen in 100 Einzelprojekten. Der Bedarf an Gewerbegebieten ist groß im Ruhr-

gebiet. Teils gelang auch schon der Umbau zu Kulturzentren, Naherholungs-gebieten

oder stadtnahen Wohnvierteln. Hans-Peter Noll hat für die RAG Montan Immobilien

jahrelang die weitere Nutzung der stillgelegten Zechen verwaltet, seit diesem Jahr ist 100

er Vorsitzender des Industriekomplexes Zeche Zollverein. "Die Schließung der letzten

Zeche muss Symbol für einen Neustart sein", findet er. Auch Noll selbst kommt aus

einer Bergbau-Familie. "Ohne die Steinkohle würde es die Region so nicht geben",

weiß er. Aber jetzt müsse der Blick nach vorne gerichtet werden. "Genau das macht

die Leute im Ruhrgebiet doch aus: Ärmel hochkrempeln und anpacken", sagt Noll. 105

Das Weltkulturerbe Zeche Zollverein sei dafür ein gutes Beispiel.

Auf dem Gelände der Mitte der Achtzigerjahre stillgelegten Zeche in Essen befinden

sich 30 Jahre später nicht nur ein Museum, sondern auch zahlreiche Eventlocations,

Start-ups und sogar eine Universität. Die Ruhrregion sei schon immer ein Ort des 110

Wandels gewesen. "Die Zeit ist jetzt reif", sagt Noll.

Das wissen auch die Bergmänner. Abschied zu nehmen tut trotzdem weh, sagt Erba.

Für die meisten der verbliebenen 3 500 Kumpel geht es in den Vorruhestand. Andere

gehen in die Verwaltung, zur Feuerwehr, arbeiten an Flughäfen oder Bahnhöfen, 115

einige lassen sich zu Krankenpflegern umschulen. Was aus der Zeche Prosper Haniel

wird, ist noch offen. Es gab mal die Idee, das Bergwerk zum Stromspeicher umzu-

bauen, als Pumpspeicherkraftwerk. Aber daraus wird wahrscheinlich nichts mehr.

Die Förderung von Steinkohle mag in Deutschland zu Ende sein, verheizt wird sie 120

aber weiter, wie Experte Brüggemeier erklärt. "Rund 15 Prozent unseres Strombedarfs

werden durch Steinkohle gedeckt. Die wird jetzt aus dem Ausland importiert", erklärt

er. Und auch wenn das Ende der Braunkohleförderung in Deutschland bevorsteht,

brauche es den fossilen Energieträger noch eine Weile für den Übergang - Ausstieg

hin oder her. Kohle ist ein natürlicher Speicher, aus dem die Energie jederzeit abge-125

rufen werden kann. Das Problem der Speicherung erneuerbarer Energien ist hingegen

noch nicht gelöst, vor allem nicht mit Blick auf den steigenden Energiehunger der

Welt. "Das größte Erbe aus der Ära der Steinkohle ist die weltweit steigende Energie-

nachfrage", sagt Brüggemeier. Das Zeitalter der Kohle ist also noch lange nicht zu

Ende. 130

Quelle: Wisch, K., Handelsblatt, Nr. 246, 20.12.2018, 14

Page 27: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

27

Page 28: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

28

Intelligente Stromzähler: Gütesiegel gegen den Blackout

Das erste Smart Meter ist fertig - ein Zertifikat soll ein hohes Sicherheitsniveau

garantieren.

5

Die anfällig unser Stromnetz für Cyberangriffe ist, hat der Autor Marc Elsberg in

seinem Thriller "Blackout" 2012 mit düsteren Details geschildert. Der Plot: Hacker

nutzen eine Sicherheitslücke in intelligenten Stromzählern, um diese zum Absturz zu

bringen - in der Folge bricht die Energieversorgung zusammen. Bald steht das öffent-

liche Leben vor dem Kollaps. Die Geschichte verfängt, weil die Fiktion Anleihen bei 10

der Realität nimmt. Tatsäch-lich gelten Smart Meter Gateways - so der Fachbegriff -

als Einfallstore für Angreifer. Aus diesem Grund müssen Hersteller in Deutschland

hohe Sicherheitsauflagen erfüllen. Damit tun sie sich schwer. Obwohl die Einführung

der Geräte bereits 2017 beginnen sollte, ist bis heute kein einziges Modell für den

Einsatz freigegeben. 15

Jetzt tut sich aber etwas: Das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik

(BSI) erteilt am heutigen Donnerstag dem ersten intelligenten Stromzähler die Zu-

lassung, einem Gerät der Firma Power Plus Communications. Mit weiteren Zertifi-

zierungen ist im Januar zu rechnen. Damit steht einer breiten Einführung der intelli-20

genten Stromzähler, die für die Energiewende unverzichtbar sind, nichts mehr im

Wege. Informationssicherheit sei die Voraussetzung für die Digitalisierung, sagte

BSI-Präsident Arne Schönbohm dem Handelsblatt. "Deswegen halten wir die Sicher-

heitsanforderungen für Smart Meter sehr hoch: Wir wollen von Anfang an für Sicher-

heit sorgen." Dagegen fordert der Chaos Computer Club (CCC) noch schärfere Maß-25

nahmen, um Zugriffe von außen zu verhindern.

Intelligente Stromzähler spielen bei der Energieversorgung der Zukunft eine wichtige

Rolle. Sie sollen den Verbrauch der Haushalte praktisch in Echtzeit an die Netz-

betreiber oder Messstellenbetreiber melden, ebenso Daten zur Stromproduktion mit 30

Solaranlagen. Die Unternehmen können so Angebot und Nachfrage punktgenau

steuern - das ist wichtig, weil sich die Energieerzeugung mit Wind, Sonne und Bio-

masse schlecht planen lässt. Zudem können die Unternehmen mit den Daten neue

Geschäftsmodelle entwickeln. Ein Smart Meter ermögliche es künftig, Unregelmäßig-

keiten im Verbrauch festzustellen, erklärt der Energiekonzern Eon - so lässt sich 35

beispielsweise erkennen, ob Geräte defekt seien. Auch die Nutzung von tageszeit-

abhängigen Tarifen soll so möglich sein.

Wenn Stromproduzenten, Netzbetreiber und Verbraucher sich immer stärker ver-

netzen, entstehen allerdings zahlreiche Angriffspunkte. Das Nationale Cyber-Abwehr-40

zentrum warnt davor, dass Hacker derzeit die Energieversorger mit "Aufklärungs-

aktivitäten" auskundschaften. Dabei könne es sich um Vorbereitungen für einen An-

griff handeln - wie bei "Blackout". "Durch die Energiewende werden solche Szenarien

wahrscheinlicher, weil die Komplexität zugenommen hat", sagt Schönbohm.

Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, das weiß jeder. Schönbohm betont aber, 45

dass das Zertifikat ein hohes Niveau gewährleiste - dabei gehe es nicht nur um die

Einhaltung der Sicherheitsanforderungen, sondern auch um die Prozesse von der

Page 29: Dossier Ökonomie mit Energie - handelsblattmachtschule.de · Die "Pioneering Spirit" ist ein Seeungetüm, ein Monstrum aus Stahl. Das Verlege- Das Verlege- schiff, seit August 2016

Dossier „Ökonomie mit Energie“ vom 20.12.2018

29

Entwicklung über Herstellung bis zur Auslieferung der Geräte. "Das ist nicht trivial

und schon gar nicht punktuell."

50

Trotz aller Vorkehrungen sieht der Chaos Computer Club (CCC) die Zertifizierung

kritisch. "Ein Smart Meter Gateway ist ein hochkomplexes Produkt - man wird damit

rechnen müssen, dass es trotz Zertifizierung Schwachstellen gibt", sagt Mathias

Dalheimer, der in der Branche arbeitet und im Hackerverein engagiert ist. Das gelte

umso mehr, als die Geräte viele Jahre laufen. Daher stelle sich die Frage, wie lange es 55

Sicherheitsupdates gebe. Was Dalheimer noch mehr Sorgen bereitet: Die intelligenten

Stromzähler sollen in Zukunft auch Geräte ein- und ausschalten können, etwa Wärme-

pumpen oder Photovoltaikanlagen. "Wenn Angreifer sich Zugang verschaffen und

möglichst viele Geräte zum gleichen Zeitpunkt steuern, kann es zu Blackouts

kommen." 60

Dalheimer fordert daher eine zusätzliche Sicherheitsmaßnahme: Das Smart Meter

Gateway müsse die Befehle auf ihre Plausibilität prüfen. Sprich: Ob es beispielsweise

sinnvoll ist, die Last zurückzufahren. Das sei mit Messungen von Spannung und

Frequenz im Stromnetz durchaus möglich: "Die Physik lügt nicht." Allerdings war die 65

Zertifizierung schon so "für alle Beteiligten Neuland", wie Ingo Schönberg sagt,

Vorstandschef der Power Plus Communications AG. Komplexe Anwendungen, hohe

Sicherheitsstandards, ausführliche Tests - all das "war ursächlich für den deutlich

höheren zeitlichen Aufwand". Etliche Funktionen sind zunächst nicht enthalten, der

Hersteller will sie "zeitnah" mit Updates nachliefern. 70

Das BSI habe einige Anwendungsfälle wie die Nutzung von zeitvariablen Tarifen

oder die Steuerung von Photovoltaikanlagen zunächst außen vor gelassen, damit die

Zertifizierung schneller vonstattengehe, sagt Udo Sieverding, Bereichsleiter Energie

bei der Verbraucherzentrale NRW. "Die Smart Meter der ersten Generation können 75

nicht viel - damit geht der Mehrwert gegen null", kritisiert der Verbraucherschützer.

Daher hält er die jährliche Gebühr von bis zu 100 Euro, die Anbieter verlangen

dürfen, für überzogen. "Wenn alle diese Funktionen wegfallen, muss die Preisober-

grenze angepasst werden. Das ist den Verbrauchern sonst nicht zu erklären", sagt

Schick. Angesichts der späten Einführung regt die Organisation außerdem an, die 80

Fristen für die Einführung der Geräte zu verlängern.

Quelle: Krekmann, C., Handelsblatt, Nr. 246, 20.12.2018, 18