Dr. Christian Sitte und Mag. Alfons Koller Geld als Mittel ... · von Geld, also welche konkrete,...

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Geld als Mittel zum (Selbst)Zweck (Zum Gegensatz zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft/Spekulation) Stephan Schulmeister (WIFO Wien)* In diesem Essay werde ich zunächst einige Anmer- kungen zum Begriff des Geldes machen, insbesondere zu seinem Verhältnis zum Finanzvermögen. Dann skiz- ziere ich, wie Geld arbeitet, einerseits als Transaktions- und Finanzierungsmittel in der Realwirtschaft und an- dererseits „selbstreferentiell“ als kurz- oder langfristiger Tausch unterschiedlicher Finanzinstrumente („Geld ge- gen Geld“). Anschließend untersuche ich die unter- schiedlichen „Arbeitsformen“ von Geld im Kontext der längerfristigen Wirtschaftsentwicklung. Geld und Finanzvermögen Die Diskussionen über die Rolle des Geldes oder gar über sein Wesen leiden ebenso wie Losungen („Lassen Sie Ihr Geld arbeiten!“) oder Thesen („Geld regiert die Welt“) unter einem gravierenden Problem: Was jeweils mit „Geld“ konkret gemeint ist, bleibt vage ohne dass man sich dieser Unklarheit bewusst ist. In der Kommu- nikation wird also ein wechselseitiges Vorverständnis unterstellt, was „das“ Geld ist. Dies aber ist eine Illusion, denn „das“ Geld gibt es nicht. Gehen wir von der wichtigsten Funktion des Geldes aus, nämlich seinem Charakter als allgemeines Zah- lungs- und daher Tauschmittel, und stellen uns folgen- de Frage: Welche Ausprägung bzw. Erscheinungsform von Geld, also welche konkrete, quantifizierbare Geld- menge, erfüllt die Funktion eines allgemeinen Zah- lungsmittels? Ökonomen, insbesondere Notenbanker, haben ver- gebliche Versuche unternommen, die für Transaktions- zwecke relevante Geldmenge zu definieren, sie reichen von engen Begriffen wie der „Geldbasis“ (Banknoten und Münzen) oder der Geldmenge M1 (Geldbasis plus Girokonten) bis zum weiten Geldbegriff M3 (dieser um- fasst auch Sparbücher). Doch auch dieses Geldkonzept ist nicht weit genug, und zwar aus folgendem Grund. Wenn heute jemand ein Girokonto, ein Sparbuch, Aktien und Anteile an einem Anleihenfonds besitzt, so kann er via Netbanking in Sekunden jedes dieser Fi- nanzaktiva liquid machen und für Zahlungen verwen- den. Möchte er sich etwa ein Auto kaufen, so kann er dafür mit Aktien oder Anleihen bezahlen. Wo aber lässt sich dann die Grenzen zwischen Geld und Finanzver- mögen/Finanzkapital „verorten“? Gar nicht, weil es sie nicht (mehr) gibt. Jedes Finanzvermögen (von Bankguthaben bis zu Anleihen oder Aktien) stellt „Potentialgeld“ dar, es kann jederzeit und (zumeist bzw. nahezu) kostenlos für Transaktionszwecke verwendet werden. Die Geldmen- ge ist daher nicht bestimmbar, Geld wird vielmehr vom Besitzer eines „financial asset“ für jenen Moment ge- schaffen, in dem er dieses als Geld verwendet. Diese (meine) Sichtweise berücksichtigt die „Liqui- disierbarkeit“ von Finanzvermögen, für das ja zu jedem Moment in der Zeit ein Preis/Kurs besteht und damit ein eindeutiger (Veräußerungs)Wert. In diesem Konzept ist etwa eine Aktie ein Finanzvermögen (weil sie jederzeit „flüssig“ gemacht werden kann und daher Potentialgeld darstellt), nicht aber eine Beteiligung an einer Ges. m. b. H. Nur in seiner Eigenschaft als Vermögen ist Finanz- kapital quantitativ bestimmt, ob und in welchem Aus- maß es als Geld verwendet wird, lässt sich „ex ante“ nicht feststellen. Diese Sicht widerspricht den herrschenden (moneta- ristischen wie keynesianischen) Geldtheorien, die streng zwischen Geld (als Transaktionsmittel) und Fi- nanzvermögen unterscheiden. Ersteres schafft Liquidi- tät, aber keinen Ertrag, zweiteres bringt einen Ertrag, ist aber nicht liquid. Für die Geldpolitik ist das Verständnis von Finanzka- pital als „Potentialgeld“ höchst relevant: Wenn alles Fi- nanzvermögen potentielles Geld ist, dann gibt es kein Geld als (separiertes) Transaktionsmittel. Die Orientie- rung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) an der Geldmenge im Sinne von Milton Fried- man's Monetarismus ist illusionär. Die US-Notenbank hat sich hingegen schon Ende der 1980er Jahren implizit der Sicht von Finanzkapital als „Potentialgeld“ genähert. Sie stellte fest, dass es keinen Zusammenhang zwischen der für Transaktionen rele- vanten Geldmenge M1 (Münzen, Banknoten, Girokon- ten) und der Inflation gibt: Einerseits hatten sich immer mehr zinsbringende und gleichzeitig liquide Geldfor- men gebildet, andererseits wurde die Umlaufgeschwin- digkeit des Geldes immer instabiler. Deshalb hat die US-Notenbank den Monetarismus schon vor fast 20 Jah- ren verworfen und steuert direkt das Zinsniveau. Im Rahmen dieses Essay verwende ich den Begriff Geld im Sinne von Finanzkapital/Finanzvermögen als „Potentialgeld“. Auf Basis dieses Konzepts machen Sätze wie „Lassen Sie Ihr Geld arbeiten“ eine eindeutige (wenn auch Illusionären) Aussage. Wissenschaftliche Nachrichten Nr. 136 · März/April 2009 41 WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGEOGRAPHIE WIRTSCHAFTSINFORMATIONEN Dr. Christian Sitte und Mag. Alfons Koller * Wir danken dem Autor und Univ.-Prof. Dr. K. P. Liessmann für die Nachdruckerlaubnis dieses Ausatzes von Dr. St. Schulmeister aus dem Buch: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Geld. Was die Welt im Innersten zusammenhält? Philosophicum Lech Bd. 12, Wien: Zsol- nay Verlag 2009. – Weitere Artikel des Autors findet man übrigens unter „Publications“ virtuell bei: http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at

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Geld als Mittel zum (Selbst)Zweck(Zum Gegensatz zwischen Realwirtschaft und Finanzwirtschaft/Spekulation)

Stephan Schulmeister (WIFO Wien)*

In diesem Essay werde ich zunächst einige Anmer-kungen zum Begriff des Geldes machen, insbesonderezu seinem Verhältnis zum Finanzvermögen. Dann skiz-ziere ich, wie Geld arbeitet, einerseits als Transaktions-und Finanzierungsmittel in der Realwirtschaft und an-dererseits „selbstreferentiell“ als kurz- oder langfristigerTausch unterschiedlicher Finanzinstrumente („Geld ge-gen Geld“). Anschließend untersuche ich die unter-schiedlichen „Arbeitsformen“ von Geld im Kontext derlängerfristigen Wirtschaftsentwicklung.

Geld und Finanzvermögen

Die Diskussionen über die Rolle des Geldes oder garüber sein Wesen leiden ebenso wie Losungen („LassenSie Ihr Geld arbeiten!“) oder Thesen („Geld regiert dieWelt“) unter einem gravierenden Problem: Was jeweilsmit „Geld“ konkret gemeint ist, bleibt vage ohne dassman sich dieser Unklarheit bewusst ist. In der Kommu-nikation wird also ein wechselseitiges Vorverständnisunterstellt, was „das“ Geld ist. Dies aber ist eine Illusion,denn „das“ Geld gibt es nicht.

Gehen wir von der wichtigsten Funktion des Geldesaus, nämlich seinem Charakter als allgemeines Zah-lungs- und daher Tauschmittel, und stellen uns folgen-de Frage: Welche Ausprägung bzw. Erscheinungsformvon Geld, also welche konkrete, quantifizierbare Geld-menge, erfüllt die Funktion eines allgemeinen Zah-lungsmittels?

Ökonomen, insbesondere Notenbanker, haben ver-gebliche Versuche unternommen, die für Transaktions-zwecke relevante Geldmenge zu definieren, sie reichenvon engen Begriffen wie der „Geldbasis“ (Banknotenund Münzen) oder der Geldmenge M1 (Geldbasis plusGirokonten) bis zum weiten Geldbegriff M3 (dieser um-fasst auch Sparbücher). Doch auch dieses Geldkonzeptist nicht weit genug, und zwar aus folgendem Grund.

Wenn heute jemand ein Girokonto, ein Sparbuch,Aktien und Anteile an einem Anleihenfonds besitzt, sokann er via Netbanking in Sekunden jedes dieser Fi-nanzaktiva liquid machen und für Zahlungen verwen-den. Möchte er sich etwa ein Auto kaufen, so kann erdafür mit Aktien oder Anleihen bezahlen. Wo aber lässtsich dann die Grenzen zwischen Geld und Finanzver-mögen/Finanzkapital „verorten“? Gar nicht, weil es sienicht (mehr) gibt.

Jedes Finanzvermögen (von Bankguthaben bis zuAnleihen oder Aktien) stellt „Potentialgeld“ dar, es kannjederzeit und (zumeist bzw. nahezu) kostenlos fürTransaktionszwecke verwendet werden. Die Geldmen-

ge ist daher nicht bestimmbar, Geld wird vielmehr vomBesitzer eines „financial asset“ für jenen Moment ge-schaffen, in dem er dieses als Geld verwendet.

Diese (meine) Sichtweise berücksichtigt die „Liqui-disierbarkeit“ von Finanzvermögen, für das ja zu jedemMoment in der Zeit ein Preis/Kurs besteht und damit eineindeutiger (Veräußerungs)Wert. In diesem Konzept istetwa eine Aktie ein Finanzvermögen (weil sie jederzeit„flüssig“ gemacht werden kann und daher Potentialgelddarstellt), nicht aber eine Beteiligung an einer Ges. m.b. H. Nur in seiner Eigenschaft als Vermögen ist Finanz-kapital quantitativ bestimmt, ob und in welchem Aus-maß es als Geld verwendet wird, lässt sich „ex ante“nicht feststellen.

Diese Sicht widerspricht den herrschenden (moneta-ristischen wie keynesianischen) Geldtheorien, diestreng zwischen Geld (als Transaktionsmittel) und Fi-nanzvermögen unterscheiden. Ersteres schafft Liquidi-tät, aber keinen Ertrag, zweiteres bringt einen Ertrag, istaber nicht liquid.

Für die Geldpolitik ist das Verständnis von Finanzka-pital als „Potentialgeld“ höchst relevant: Wenn alles Fi-nanzvermögen potentielles Geld ist, dann gibt es keinGeld als (separiertes) Transaktionsmittel. Die Orientie-rung der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank(EZB) an der Geldmenge im Sinne von Milton Fried-man's Monetarismus ist illusionär.

Die US-Notenbank hat sich hingegen schon Ende der1980er Jahren implizit der Sicht von Finanzkapital als„Potentialgeld“ genähert. Sie stellte fest, dass es keinenZusammenhang zwischen der für Transaktionen rele-vanten Geldmenge M1 (Münzen, Banknoten, Girokon-ten) und der Inflation gibt: Einerseits hatten sich immermehr zinsbringende und gleichzeitig liquide Geldfor-men gebildet, andererseits wurde die Umlaufgeschwin-digkeit des Geldes immer instabiler. Deshalb hat dieUS-Notenbank den Monetarismus schon vor fast 20 Jah-ren verworfen und steuert direkt das Zinsniveau.

Im Rahmen dieses Essay verwende ich den BegriffGeld im Sinne von Finanzkapital/Finanzvermögen als„Potentialgeld“. Auf Basis dieses Konzepts machenSätze wie „Lassen Sie Ihr Geld arbeiten“ eine eindeutige(wenn auch Illusionären) Aussage.

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WIRTSCHAFTS- UND SOZIALGEOGRAPHIEWIRTSCHAFTSINFORMATIONENDr. Christian Sitte und Mag. Alfons Koller

* Wir danken dem Autor und Univ.-Prof. Dr. K. P. Liessmann für dieNachdruckerlaubnis dieses Ausatzes von Dr. St. Schulmeister ausdem Buch: Konrad Paul Liessmann (Hg.): Geld. Was die Welt imInnersten zusammenhält? Philosophicum Lech Bd. 12, Wien: Zsol-nay Verlag 2009. – Weitere Artikel des Autors findet man übrigensunter „Publications“ virtuell bei:http://stephan.schulmeister.wifo.ac.at

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Wie Geld „arbeitet“

Finanzvermögen – von Wertpapieren bis zu Bargeld– kann auf zweierlei Weise verwendet und vermehrtwerden, als Transaktions- und Finanzierungsinstru-ment in der Realwirtschaft oder als Mittel zur Finanzver-anlagung und -spekulation, also (nur) in der Finanz-wirtschaft:

• Im ersten Fall dient Geld als „Schmiermittel“ real-wirtschaftlicher Aktivitäten im Raum (insbesondere fürder Handel) und in der Zeit (insbesondere für Investi-tionen), Geld dient gewissermaßen einem „Fremd-zweck“.

• Im zweiten Fall wird versucht, Geld durch kurzfris-tigen Tausch einer bestimmten Geldform (Finanzinstru-ment) gegen eine andere zu vermehren, also durchkurzfristiges „trading“ (mit einem Zeithorizont von zu-meist wenigen Stunden) oder durch langfristiges „hol-ding“ eines Finanzinstruments (während eines – oftmehrjährigen – „bubble“).

Wird Geld als Medium realwirtschaftlicher Transak-tionen verwendet, so ergibt sich die charakteristischeTauschsequenz: Geld – Ware – Geld – Ware ...

Die typische Form der Vermehrung von Geld in derRealwirtschaft ist die Finanzierung von Investitionen:Jemand legt etwa sein Geld auf einem Sparbuch an, dieBank verleiht es an einen Unternehmer, der den Kreditfür den Erwerb eines Investitionsgutes verwendet (Fi-nanzkapital wird gewissermaßen in Realkapital ver-wandelt – dieser Prozess könnte auch durch eine Emis-sion von Aktien ermöglicht/finanziert werden). Ausdem Mehrertrag durch die Investition bezahlt der Un-ternehmer den Zins, den sich Bank und Sparer teilen.

Dominiert diese „Arbeitsform“ von Geld, so entwi-ckelt sich ein Positiv-Summenspiel: Indem sich das Pro-fitstreben auf die Realkapitalbildung konzentriert,wächst die Gesamtproduktion (das BIP) stetig. In ei-nem solchen „Regime“ spielen der Finanzsektor und Fi-nanzmärkte eine wesentliche Rolle als Vermittler vonFinanz- und Realkapital, allerdings ist ihre Rolle im Ver-hältnis zur Realwirtschaft eine dienende. Ich nenne die„Spielanordnung“, in der die Rahmenbedingungen den„Vermehrungsdrang“ von Finanzkapital systematischauf die Realakkumulation lenken, „Realkapitalis-mus“.

Versucht man, Geld „selbstreferentiell“ zu vermeh-ren, also durch Tausch unterschiedlicher „Geldarten“(Bankguthaben, Devisen, Aktien, Anleihen, Rohstoff-derivate etc.), so ergibt sich die charakteristischeTauschsequenz: Geld – Geld – Geld – Geld ... – Geldwird Mittel zum Selbstzweck. Dabei sind zwei „Arbeits-formen“ zu unterschieden:

• Das „schnelle Geld“ vermehrt sich durch das sehrkurzfristige „trading“ von Finanzinstrumenten aller Artwie Aktien, Anleihen oder Devisen, insbesondere aberdie entsprechenden, auf Aktienkurse, Zinssätze, Wech-selkurse und Rohstoffpreise bezogenen Finanzderivate(Futures, Optionen, Swaps etc.).

• Das „langsame Geld“ vermehrt sich durch „hol-ding“ solcher Finanzinstrumente, deren Wert währendeines „bull market“ über einen längeren, oft mehrjähri-gen Zeitraum steigt. Beispiele sind der Aktienboom der1980er und insbesondere der 1990er Jahre, der bis 2007andauernde Anstieg der US-Immobilienpreise, sowieder Boom der Rohstoffpreise zwischen 2005 und Mitte

2008. In analoger Weise kann man durch „Leerverkäu-fe“ und noch leichter mit Hilfe von Finanzderivaten vonfallenden Kursen profitieren.

Das „schnelle trading“ eines bestimmten Finanzin-struments („Geldart“) stellt ein Null-Summenspieldar, das heißt, es werden keine (realen) Werte geschaf-fen, sondern (monetäre) Werte umverteilt: Die Summeder Gewinne ist immer gleich der Summe der Verluste.Für einen einzelnen, „tüchtigen Spieler“ kann das Geldauf diese Weise viel mehr Gewinn bringen („arbeiten“)als bei realwirtschaftlicher Veranlagung, aber nur des-halb, weil andere verlieren.

Wenn sich das Geld durch das „Ausreiten“ einesPreistrends nach oben („bull market“) vermehrt, so ent-stehen Bewertungsgewinne: Alle, die das entsprechen-de „asset“ besitzen, werden reicher und niemand wirdärmer (etwa wenn sich in einer Boomphase der Durch-schnittswert aller Aktien verdoppelt). Allerdings hatdiese wunderbare Geldvermehrung zwei Haken. Ers-tens, die Bewertungsgewinne sind sehr ungleich ver-teilt: Wer früh einsteigt (tendenziell die „Profis“) ge-winnt mehr als die „Späteinsteiger“ (tendenziell die„Amateure“). Zweitens, jeder Boom, der über den real-wirtschaftlich („fundamental“) gerechtfertigten (Gleich-gewichts)Preis „hinausschießt“, zieht früher oder spätereinen Abwärtstrend nach sich („bear market“), durchden die „überschießenden“ Bewertungsgewinne wie-der eliminiert werden.

Beide „Arbeitsweisen“ von Geld stellen daher im We-sentlichen kurz- bzw. längerfristige Null-Summenspieledar, wobei die Umverteilung in der Regel von den Ama-teuren zu den professionellen Akteuren stattfinden. Dasökonomische Gesamtsystem gewinnt nicht nur nicht,sondern es wird verlieren (also eine ungünstige Perfor-mance aufweisen), und zwar dann, wenn Spekulationdie wichtigsten Preise wie Wechselkurse, Rohstoffprei-se und Aktienkurse destabilisiert und dies wiederumdazu beiträgt, dass die Unternehmen ihr Profitstrebenvon Real- zu Finanzinvestitionen verlagern. Diese„Spielanordnung“ in ihrer Gesamtheit nenne ich „Fi-nanzkapitalismus“.

Im Folgenden möchte ich an konkreten Beispielenzeigen, wie Geld durch kurzfristige Spekulation „arbei-tet“.

Spekulationsgeschäfte mit Finanzderivaten

Der größte Anteil aller Finanztransaktionen entfälltauf den Handel mit Derivaten, insbesondere mit Futu-res und Optionen. Dies sind Wetten auf die künftigeEntwicklung eines Preises/Kurses, sei es von Anleihen(Zinssätze), Aktien, Rohstoffen, Agrarprodukten oderDevisen (Wechselkurse). Dabei macht der „Wettein-satz“ nur einen Bruchteil des (Basis-)Werts aus.

Dazu ein Beispiel: Jemand erwartet einen Anstieg derRohölpreise und kauft deshalb – über einen Broker – ei-nen an der „New York Mercantile Exchange“ (NYMEX)gehandelten „Crude Oil Future“. Der Wert des „Wett-scheines“ (Kontrakt) beträgt 1.000 Barrel Öl zum jewei-ligen Preis, bei einem Ölpreis von 100 $ also 100.000 $.Hinterlegen muss er beim Kauf nur eine Margin (Sicher-stellung) von etwa 7%, also 7.000 $. Steigt nun der Öl-preis um 10% und damit der Wert des Future auf110.000 $, so macht der „Spieler“ einen Gewinn von

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143% (10.000 $ bei einem Einsatz von 7.000 $ – da auchder Einsatz rückerstattet wird, ist die Profitrate eigent-lich unendlich). Sinkt der Ölpreis aber um 10%, so sinddie 7.000 $ futsch und der Spekulant muss noch 3.000 $nachzahlen. Die Hebelwirkung („leverage effect“)von 14,3 resultiert daraus, dass der Basis(Kontrakt)wert14,3 Mal so hoch ist wie der Wetteinsatz.

Mit einer Option erwirbt jemand das Recht, das zu-grunde liegende Asset innerhalb einer Frist zu einembestimmten (Ausübungs-)Preis zu kaufen (Call) oder zuverkaufen (Put). Erwartet ein Trader einen Anstieg desEurokurses, so wird er eine Call Option kaufen. Trifftseine Prognose zu, so wird der Preis der Option vielstärker steigen als jener des Basiswerts (der Eurokurs).Die Bandbreite des Hebels ist bei Optionen größer alsbei Futures, da sie von verschiedenen Faktoren abhängt(Differenz zwischen aktuellem Kurs und Ausübungs-preis, Stärke des Kurstrends, Volatilität des Kurses, Rest-laufzeit der Option).

Amateurspekulanten lassen sich davon faszinieren,dass Optionspreise manchmal an einem Tag um 30%oder sogar 50% steigen. Allerdings sind Amateure nichtin der Lage, das Risiko von Optionsgeschäften abzu-schätzen. Erstens ist die auf der Wahrscheinlichkeits-theorie basierende Bestimmung des „fairen“ Options-preises mathematisch anspruchsvoll. Zweitens hält sichdie Realität häufig nicht an die Wahrscheinlichkeits-theorie.

Während die börsennotierten Derivate auch vonAmateuren gehandelt werden, sind die bilateralen Fi-nanzgeschäfte („over-the-counter-transactions“ – OTC)den professionellen Tradern vorbehalten. Dies betrifftinsbesondere Spot- und Terminkontrakte sowieSwaps bezogen auf Wechselkurse, Rohstoffpreise, Ak-tienkurse und Zinssätze. Dabei gilt: Bei einem Spotge-schäft kaufe (oder verkaufe) ich ein („echtes“) Finanz-instrument (etwa Devisen) heute zum heutigen Kurs,bei einem Termingeschäft verpflichte ich mich, zumheute fixierten (Termin)Kurs, aber zu einem späterenTermin zu kaufen (oder verkaufen). Ist der (Spot)Kursbis dahin gestiegen, so mache ich im Falle eines Ter-minkaufs einen Gewinn, und zwar im Ausmaß der Dif-ferenz zwischen dem aktuellen (Spot)Kurs und demTerminkurs.

Ein Swap kombiniert ein Spot- und ein Terminge-schäft; dadurch wird die Abwicklung eines Spekula-tionsgeschäfts extrem vereinfacht: Sobald jene Entwick-lung auf oder gegen die gewettet wurde, überweist derVerlierer seinen „Wettverlust“ direkt an den Gewinner(Swapverluste trugen wesentlich zu „Betriebsunfällen“wie jenen der Barings Bank, LTCM oder der BAWAGbei).

All diesen Spot- und Derivattransaktionen sind zweiMerkmale gemeinsam: Erstens, sie sind Wetten auf diekünftige Entwicklung von Wechselkursen, Rohstoff-preisen, Aktienkursen und Zinssätzen. Zweitens, siestellen Umverteilungsspiele dar, die Summe der Gewin-ne ist immer gleich der Summe der Verluste. Insofernähnelt das Trading auf Finanzmärkten Casino-Spielenwie Roulette, die auch Null-Summenspiele sind. Aller-dings bestimmt der Lauf der Kugel die wichtigsten Prei-se in der Weltwirtschaft. Überdies folgt er keinem Zu-fallsprozess, sondern hängt vom Spielverhalten derTeilnehmer ab. Wird mehr Kapital auf Rot (Kurssteige-

rung) gesetzt als auf Schwarz (Kursrückgang), so wirddie Kugel mit größerer Wahrscheinlichkeit bei Rot lan-den.

Ursprünglich sind Terminkontrakte zur Absicherunggegen das Risiko von Preisschwankungen landwirt-schaftlicher Produkte entstanden (Hedging). Mit derAufgabe fester Wechselkurse (1971/73), den nachfol-genden Schwankungen von Dollarkurs und Erdölpreis(Abbildungen 6 und 7) sowie mit dem Zinsanstieg Endeder 1970er Jahre (Abbildung 8) stieg die Bedeutung vonFinanzderivaten, sowohl für Zwecke der Absicherungwie als auch der Spekulation. Die Einführung von im-mer mehr Instrumenten, welche auf Futures und Optio-nen beruhen (z. B. Zertifikate), gab dem Derivathandelin den 1980er einen enormen Auftrieb (Abbildung 5).Treibende Kraft ist die Spekulation geworden, Hedginghat im Vergleich dazu nur geringe Bedeutung.

Die wichtigsten Spekulationsstrategien

Professionelle Trader basieren ihre Entscheidungenauf die Interpretation neuer Informationen („news“),auf das „Ausreiten“ von Trends („trend-followers“) oder

Abbildung 1: Technisches Spekulationsmodell: WechselkursAbbildung 1: Dollar/Euro

Qu: Federal Reserve System (Fed), WIFO

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Abbildung 2: Technisches Spekulationssystem: Öl-Futures-Preis

Qu: New York Mercantile Exchange (NYMEX)

auf den Wechsel in der Trendrichtung („contrarian tra-ding“). Im ersten Fall geht es darum, in Sekunden abzu-schätzen, wie die anderen Marktteilnehmer auf eineNachricht reagieren werden, die auf den Bildschirmenerscheint. Ist sie überraschend oder war sie schon „ein-gepreist“?

Beginnt der Kurs auf Grund „echter“ News zu stei-gen, so generieren zuerst die verschiedenen „trend-fol-lowing systems“ auf der Basis von Hochfrequenzdaten(z. B. 10-Sekunden-Kurse) eine Sequenz von Kaufsig-nalen. Ihre Exekution treibt den Kurs weiter nach oben,es folgen die Kaufsignale der „langsameren“ techni-schen Modelle auf Basis von Stunden- oder Tagesdaten,u. s .f.

Abbildung 1 zeigt am Beispiel des Dollar-/Euro-Wechselkurses, wie selbst ein simples technisches Mo-dell Kurstrends ausnützen kann, und zwar auf ganz un-terschiedlichen Zeitskalen (Tages bzw. 5-Minuten-Kur-se): Wenn der aktuelle Kurs den gleitenden 35-Peri-oden-Durchschnitt von unten (oben) durchbricht, wirdgekauft (verkauft).

Auch der bis Mitte 2008 anhaltende Boom derRohstoffpreise konnte von einfachen Spekulationssys-temen profitabel „ausgebeutet“ werden. Abbildungen 2und 3 verdeutlichen, dass nach einem Kaufsignal(wenn der aktuelle Preis eines Rohöl-Futures oder ei-nes Reis-Futures den gleitenden Durchschnitt über dievergangenen 50 Tagespreise von unten schneidet) derTrend steigender Preise weitergeht. Dementsprechendwird zu einem merklich höheren Preis verkauft (wennder Futures-Preis den Durchschnitt von oben schnei-det): Die „long position“ hat also einen erheblichenSpekulationsgewinn „erwirtschaftet“.

Gleichzeitig verstärkt die Verwendung technischerSpekulationssysteme das „trending“ spekulativer Prei-se: Auch wenn diese „trend-following models“ mit un-terschiedlichen Parametern operieren (jeder Trader hat„sein“ Geheimmodell), so folgen sie alle der gleichenLogik, in der ersten Phase eines Aufwärts-(Abwärts-)trends produzieren sie eine Sequenz von Kauf-(Ver-kauf-)signalen, deren Exekution die Preisbewegungverstärkt.

Diese „Rückkoppelungen“ bewirken, dass ein star-

Abbildung 3: TechnischesSpekulationssystem:Abbildung 3: Reis-Futures-Preis

Qu: Chicago Board of Trade (CBOT)

Abbildung 4: Futures-Preise von Rohstoffen und Rohstoffderivat-Abbildung 1: handel auf Börsen

Qu: New York Mercantile Exchange (NYMEX),Chicago Board of Trade (CBOT), BIZ

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ker und nachhaltiger Anstieg des Trading Preisschübenach oben (oder unten) verlängert, welche sich in ei-nem stufenweisen Prozess zu „bull markets“ („bearmarkets“) akkumulieren. Ein markantes Beispiel dafürist der enge Zusammenhang zwischen der massivenZunahme von Handelsaktivitäten auf den Märkten fürRohstoffderivate und dem Anstieg der Rohstoffpreiseseit zwischen Anfang 2005 und Mitte 2008 (Abbil-dung 4).

Expansion der Finanztransaktionen

Fasst man die Transaktionen auf allen Arten von Fi-nanzmärkten und in allen Regionen der Welt zusam-men, so ergibt sich folgendes Bild (Abbildung 5): ImJahr 2007 war das Volumen der Finanztransaktionen73,5 Mal höher als das nominelle Welt-BIP. Im Jahr 1990betrug diese Relation „lediglich“ 15,3 – seither sind so-mit die Finanztransaktionen fast 5 Mal rascher expan-diert als die globale Wirtschaft (Abbildung 2). DieseWachstumsdifferenz hat sich seit 2000 erheblich be-schleunigt (sowohl das BIP als auch die Finanztransak-tionen werden zu laufenden Preisen in US-Dollar zuden jeweiligen Wechselkursen gemessen, die Relationzwischen beiden Größen ist daher nicht durch dieWechselkursschwankungen verzerrt).

Abbildung 5: Handelsvolumen auf den globalen Finanzmärkten

Qu: Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ),World Federation of Exchanges (WFE)

Spot-Transaktionen auf den Devisen-, Aktien- undAnleihenmärkten haben seit 1990 annähernd gleich-schrittig mit dem Welt-BIP zugenommen, der enormeAnstieg der gesamten Finanztransaktionen ist aus-schließlich eine Folge der (noch stärkeren) Expansionder Aktivitäten auf den Derivatmärkten (Abbildung 5).Von diesen sind die Transaktionen im Börsehandel (Fu-tures und Optionen) seit 2000 bei weitem am stärkstengewachsen, also jener Teil des Derivatgeschäfts, andem auch Amateure teilnehmen können (der OTC-Handel ist professionellen Akteuren vorbehalten): 2007war das Volumen des Börsehandels mit Futures undOptionen bereits 43,4 Mal so hoch wie das Welt-BIP, imJahr 2000 hatte dieser Faktor lediglich 14,2 betragen.Mittlerweile ist das Volumen des Derivathandels aufBörsen annähernd doppelt so hoch wie jenes der OTC-Transaktionen (Abbildung 5).1

Das Volumen des Handels mit Finanzderivaten undsein exorbitanter Anstieg lässt zwei Schlussfolgerun-gen zu: Erstens, der größte Teil der Handels entfällt aufTransaktionen zwischen Spekulanten mit unterschied-lichen Preiserwartungen. Stammten nämlich die Trans-aktionen primär aus der Absicherung realwirtschaftli-cher Aktivitäten – etwa künftiger Exporterlöse oderRohstoffausgaben – und damit aus dem Risikotransfervon Hedgern zu Spekulanten, dann dürfte das Transak-tionsvolumen die nominelle Welt-Produktion nichtnennenswert übersteigen. Zweitens, die Preiserwartun-gen der Marktteilnehmer müssen in hohem Maß von-einander abweichen. Denn bei ähnlichen und imGrenzfall homogenen Erwartungen ergäben sich nichtso viele „trading opportunities“ und damit kein so ho-hes Handelsvolumen wie empirisch beobachtet (LeRoy,1989).

Die Gewinner und die Verliererim „schnellen“ Finanzhandel

Wer sind die Gewinner und Verlierer im kurzfristigorientierten „trading“, insbesondere von Finanzderiva-ten? Die Banken und Hedge Fonds machen Gewinne,zwar nicht jede(r) einzelne, wohl aber in ihrer Gesamt-heit. Daher müssen die Amateurspekulanten in ihrerGesamtheit die Verlierer sein. Dafür sprechen vier Un-zulänglichkeiten auf Seiten der Amateure: Sie kön-nen nicht permanent auf das Marktgeschehen reagie-ren, sie haben nicht genügend Kapital, um Verlustpha-sen durchzustehen, sie sind zu einem Risikomanage-ment weder finanziell noch intellektuell in der Lage,und schließlich haben sie viel schlechteren Zugang zuInsiderinformation als etwa Investmentbanken.

Ins Bild gesetzt: Relativ wenige „Hirten“ (professio-nelle Trader) führen viele „Schafe“ auf die Weide, dortwerden sie geschoren, sei es von Banken oder HedgeFunds. Einzelne Schafe mögen tüchtig sein und andere

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1 Das (monetäre) Handelsvolumen mit Finanzderivaten ergibtsich aus der Summe aller Transaktionen, bewertet mit dem (Ba-sis-)Wert des jeweiligen Kontrakts; man spricht daher vomTransaktionsvolumen in „notional values“. Die Basiswerte vonDerivaten sind relativ hoch: Ein DAX-Future hat den Wert von25 � je Indexpunkt, steht der DAX bei 6.000, so hat der Futureeinen Wert von 150.000 �. Eine Übersicht über die Kontrakt-werte wichtiger Futures bezogen auf Aktienindizes, Zinsinstru-mente (Anleihen, Schatzscheine), Devisen und Rohstoffe fin-det sich in Schulmeister – Schratzenstaller – Picek, 2008.

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scheren, als Herde aber müssen sie Federn lassen. Soentsprechen den Gewinnen von vielleicht 50.000 „Pro-fis“ (Banken, Hedge Funds, Versicherungen, Industrie-konzerne) die Verluste von Millionen Schafen, proSchaf sind sie klein und können so verkraftet werden.Riesenschafe mit „Spieleinsätzen“ von Profis, aber ei-nem Spielverhalten von Amateuren, kommen seltenvor (wie Barings oder BAWAG).

Wenn die Amateure in ihrer Gesamtheit die Verlierersind, warum expandiert das Spiel weiter? Warum zie-hen sich die geschorenen Schafe nicht zurück unddämpfen so das Geschäftsvolumen?

Erstens: Für viele vermittelt das Spiel an sich Span-nung. Schließlich verlieren auch die meisten Lottospie-ler oder Casinobesucher ihren Einsatz und machendoch weiter.

Zweitens: Wenn auch ein Spekulationsverlust Leidenschafft, so fordert er gleichzeitig heraus, das nächsteMal den Markt zu besiegen.

Drittens: Die meisten Amateurspieler verfügen übergenügend (Normal-)Einkommen, um das verloreneSpielkapital zu ersetzen.

Viertens: Den größten Effekt hat die asymmetrischeInformation über Gewinne und Verluste. Die Spekula-tionsmagazine sind voll von Artikeln „How I made amillion“ mit diesem oder jenem System, auch die Tra-ding-Seminare der Banken legen diese Möglichkeitnahe. Artikel über „How I lost a million“ fehlen, undwer verspielt hat, behält es für sich.

Fünftens: Die Kunde von den Gewinnen und dasSchweigen der Lämmer über ihre Verluste führen denMärkten stetig „frisches Blut“ zu. Einzelne Verlierer ler-nen zwar das Richtige und ziehen sich zurück, der Zu-strom an Eleven ist aber die längste Zeit viel größer ge-wesen.

Dies hat sich mit Ausbruch und Vertiefung der Fi-nanzkrise seit Mitte 2007 grundlegend verändert: Welt-weit ziehen sich derzeit die Amateure von den „Finanz-spielen“ zurück, auch an eine Ausweitung der kapital„gedeckten“ Altersvorsorge ist nicht (mehr) zu denken.Der Mangel an „frischem Blut“ führt zum Kollaps desSystems des „arbeitenden Gelds“:

• Der Umverteilungs-(und Überlebens-)kampf findetverstärkt zwischen den großen „Profis“ statt, also Ban-ken, Versicherungen und (demnächst) Hedge Funds.

• „Frisches Blut“ kann nur mehr aus dem nichts ge-schaffen werden, also durch die Notenbanken.

• Es wird für lange Zeit keine Bubbles mehr geben,eher weiter sinkende Vermögens- und Rohstoffpreise(wie in den 1930er Jahren).

Destabilisierung der wichtigsten Preisein der Weltwirtschaft

Die Umverteilung durch den Derivathandel von dergehobenen Mittelklasse zu den Spitzenverdienern stelltkein gravierendes Problem dar (dies gilt auch für die in-terkontinentale Umverteilung zugunsten der USA, wodie besten Trader arbeiten). Zwei andere Effekte sindallerdings die wichtigsten langfristig wirksamen Ursa-chen für Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung in Eu-ropa:

• Die Spekulation auf den Derivatmärkten sowie imDevisenhandel destabilisiert die wichtigsten Preise in

der Weltwirtschaft wie Wechselkurse, Rohstoffpreise(insbesondere den Ölpreis), Aktienkurse und Zinssät-ze.

• Die Unsicherheit über die Entwicklung dieser Prei-se und die hohen Finanzrenditen, dämpfen die realwirt-schaftlichen Aktivitäten von Unternehmen, insbeson-dere Investitionen und (damit) die Schaffung neuer Ar-beitsplätze.

Auf welche Weise destabilisiert der Handel mit Deri-vaten ihre Preise und jene der zugrunde liegenden As-sets? Unterschiedliche Spieler benützen unterschiedli-che Spekulationssysteme, angewendet auf unterschied-lichen Zeitskalen (von 10-Sekunden-Kursen bis zu Ta-geskursen). Die Konzentration von Kaufsignalen von„news-based traders“ am Beginn eines Aufwärtstrends,gefolgt von Kauforders der „trend-followers“ verstärktund verlängert den Trend. Hat er an Dynamik verloren,so lassen ihn die Verkaufssignale der „contrarians“ kip-pen (Schulmeister, 2006).

Das Phänomen solcher Kursschübe lässt sich auf je-der Zeitskala beobachten. Aus ihrem Zusammenwirkenergeben sich mehrjährige Trends: Minutentrends in diegleiche Richtung, unterbrochen von kürzeren Gegen-bewegungen, addieren sich zu einem Stundentrend,mehrere Stundentrends zu Tagestrends, u. s. f. Insge-samt ergibt sich daraus die für alle „asset prices“ typi-sche Abfolge von Kursschüben, welche für einige Zeitin eine Richtung länger sind als die Gegenbewegungen,also ein stufenweiser Auf- oder Abwärtsprozess (Abbil-dungen 1 bis 4). Auf Basis von Daten niedrigerer Fre-quenz (Monats-, Quartals- oder Jahresdaten) nimmtdieser Prozess die Gestalt mehrjähriger „bull markets“und „bear markets“ an (Abbildung 6 zeigt dies am Bei-spiel des Dollarkurses und des Rohölpreises). Die Ab-folge der „bull markets“ und „bear markets“ ergibt dastypische Muster der langfristigen Dynamik spekulativerPreise: Sie schwanken in irregulären („manisch-depres-siven“) Zyklen um den Bereich des realwirtschaftlichenGleichgewichts ohne eine Tendenz, zu diesem Gleich-gewicht zu konvergieren.

Abbildung 6: Dollarkurs und Ölpreisschwankungen

Qu: OECD, IMF. – 1) gegenüber DM, Franc, Pound, Yen

Die bisherig beschriebenen Haupttendenzen in derfinanzkapitalistischen Entwicklung wie die Zunahmekurzfristiger Spekulation, die „manisch-depressiven“Schwankungen der Wechselkurse, Rohstoffpreise undAktienkurse, die Verlagerung des unternehmerischen

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Gewinnstrebens zu Finanzveranlagung und -spekulati-on und die generelle Ausbreitung der Mentalität „Las-sen wir unser Geld arbeiten“ sollen im Folgenden inden Kontext gesellschaftlichen Entwicklung im Allge-meinen gesetzt werden. Dabei wird versucht, die Zu-sammenhänge zwischen ökonomischen Fundamental-interessen, (wirtschaftswissenschaftlicher) Wahrneh-mung, Erkenntnis(interesse), wirtschaftspolitischenSymptomkuren und einer dadurch (mit)verursachtenVerschärfung der Probleme, herauszuarbeiten.

Um sich darüber ein konkretes Bild machen zu kön-nen, ist es nötig, die wichtigsten ökonomischen undpolitischen Interessen der drei Beteiligungsformen amProduktions- und Verteilungsprozess herauszuarbeiten(Arbeit, Realkapital, Finanzkapital) und die diesen In-teressen entsprechende Wirtschaftstheorie und -politikzu identifizieren. Dabei lassen sich zwei „Regimes“ ma-kroökonomischer Rahmenbedingungen unterschei-den: Realkapitalismus und Finanzkapitalismus. Diese inder Zeit wechselnden Regimes sind kombiniert mitzwei im Raum unterschiedlichen Gesellschaftsmodel-len, dem US-amerikanischen Modell und dem Europäi-schen Sozialmodell.

Die Interessen von Arbeit, Realkapital undFinanzkapital

Alle gesellschaftlichen Weltanschauungen, welcheInteressengegensätze und ihre Interaktion berücksich-tigen (vom Marxismus bis zur Katholischen Sozialleh-re), unterscheiden zwei Arten der Beteiligung am Pro-duktionsprozess, Kapital und Arbeit, und damit zweiKlassen und Interessen. Dieser Sichtweise soll eine Al-ternative gegenübergestellt werden, welche davon aus-geht, dass die ökonomischen Interessen der „Kapitalis-ten“ fundamental unterschiedlich sind, je nachdem, obsie ihr Vermögen in Real- oder Finanzkapital anlegen:

• Realkapital ist das in Produktionsmitteln angeleg-te Vermögen, das teilweise durch Fremdkapital finan-ziert wird. Die Rendite auf das Realkapital ist umso hö-her, je niedriger der reale Zinssatz und der reale Wech-selkurs sind sowie die Rohstoffpreise. Da (traditionelle)Unternehmer („Realkapitalisten“) ihren Gewinn aufGütermärkten machen, profitieren sie generell von sta-bilen monetären Rahmenbedingungen (stabile Wech-selkurse, Zinssätze und Rohstoffpreise).

• Finanzkapital ist das auf Finanzmärkten angeleg-te Vermögen, sei es zum Zweck der Finanzierung vonUnternehmen, Haushalten oder des Staates, sei es zumZweck der Spekulation auf den Aktien-, Devisen-, An-leihen- und Rohstoffmärkten.

Die gesellschaftliche Dynamik wird durch die Inter-aktion von folgenden drei Interessen geprägt (siehedazu auch Übersicht 1):

• Das Erwerbs- und Vermehrungsinteresse des Real-kapitals entfaltet sich auf den Gütermärkten und wirddeshalb durch ein hohes Wirtschaftswachstum geför-dert, indirekt insbesondere durch einen niedrigen Zins-satz und Wechselkurs.

• Das Erwerbs- und Vermehrungsinteresse des Fi-nanzkapitals entfaltet sich auf den Finanzmärkten, undzwar entweder durch Halten von Finanzvermögen(dies verlangt einen hohen Zinssatz und Wechselkurs)oder durch Handeln mit Finanzinstrumenten (dies ver-

langt eine hohe Instabilität ihrer Preise); beide „Entfal-tungsbedingungen“ dämpfen die Expansion der Real-wirtschaft.

• Das Erwerbs- und Beschäftigungsinteresse der Ar-beit erfordert ein (hinreichend) hohes Wirtschafts-wachstum, einen der Arbeitsproduktivität entsprechen-den Anstieg der Reallöhne und damit eine dynamischeEntwicklung der Gütermärkte. Diesen drei Interessenentsprechen keine homogenen sozialen Gruppen(„Klassen“):

• Arbeitnehmer sparen und akkumulieren dadurchFinanzvermögen; sie haben daher gleichzeitig Arbeit-nehmerinteressen und Rentierinteressen.

• Unternehmer des „non-financial business“ sindzwar in ihrer Gesamtheit (als Sektor) Nettoschuldner, indem Ausmaß jedoch, in dem sie Finanzaktiva haltenund ein entsprechendes Portfoliomanagement betrei-ben, haben sie auch Rentierinteressen.

Übersicht 1: Arbeit, Realkapital und Finanzkapital InteressenÜbersicht 1: und Partnerschaften

Arbeit Realkapital Finanzkapital

ÖkonomischeInteressen

Vollbeschäftigungund Reallohn-steigerungen

Hohe Rendite aufRealveranlagung:– niedrige Real-

zinsen– niedrige reale

Wechselkurse,Stabile/regulierteFinanz- undRohstoffmärkte

Hohe Rendite aufFinanzveranlagungund -spekulation:– hohe Realzinsen– hohe realeWechselkurse,DeregulierteFinanz- undRohstoffmärkte

Beispiele fürInteressen-konflikte

Lohnsteigerung ZinssteigerungReale Aufwertung

PotentiellePartner für Inter-essenbündnis

Realkapital Arbeit oderFinanzkapital

Realkapital

ÖkonomischesInteresseam Staat

Vollbeschäfti-gungspolitik,soziale Sicherheit,Bildung, Öffentli-ches (Mit-)Eigen-tum an Unterneh-men, insbesonde-re der Daseinsvor-sorge

Wachstumspolitik:Öffentliche Inves-titionen, Bildung,Wirtschaftsförde-rung Totalprivati-sierung der öff.Unternehmen

Mächtige Noten-bank RestriktiveGeldpolitik „Bail-out“ bei Finanz-krisen Privatisie-rung der Sozial-versicherung

Allerdings lassen sich soziale Gruppen nach der Do-minanz ihrer ökonomischen Interessen unterscheiden:Die meisten Arbeitnehmer sind „hauptberuflich“ Arbeit-nehmer und die meisten Unternehmer im „non-financi-al business“ sind „hauptberuflich“ Unternehmer (ihreFinanzkapitalerträge sind im Vergleich zu ihren Lohn-bzw. Gewinneinkommen gering). Allerdings können –insbesondere global agierende – Konzerne ihre Aktivi-täten in erheblichem Ausmaß von der Realwirtschaftauf die Finanzwirtschaft verlagern, was in den letzten25 Jahren auch geschehen ist (für Klein- und Mittelbe-triebe sind die Risiken von Finanzveranlagung und -spekulation größer und die Gewinnchancen kleiner, sienützen diese Möglichkeiten daher weniger als Groß-konzerne). Wegen der enormen Konzentration der Ver-teilung des Finanzvermögens ist die Zahl der „hauptbe-ruflichen“ Rentiers viel kleiner als jene der „hauptberuf-lichen“ Unternehmer bzw. Arbeitnehmer.2

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2 Die Unterscheidung zwischen den Interessen von Arbeit, Real-kapital sowie Finanzkapital und damit den Bedingungen fürihre optimale Entfaltung einerseits und den sozialen Gruppender (jeweils „hauptberuflichen“) Arbeitnehmer, Unternehmer

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Die gesellschaftliche Entwicklung wird wesentlichdurch (stillschweigende) „Interessengemeinschaften“der Unternehmerschaft entweder mit den („hauptberuf-lichen“) Rentiers (wie in den 1930er Jahren) oder denArbeitnehmern (wie in den 1950er und 1960er Jahren)geprägt. Um das Entstehen und Vergehen solcher„Bündnisse“ zu begreifen, muss zwischen ökonomi-schen und politischen Gegensätzen in der „Interessen-triade“ unterschieden werden:

• Ökonomisch ist der Interessengegensatz zwischenRealkapital und Finanzkapital schärfer als zwischenRealkapital und Arbeit (dies wird durch die durchge-henden bzw. unterbrochenen „Doppelpfeile“ in Über-sicht 1 symbolisiert). Dies wird nicht nur am Vertei-lungskonflikt deutlich (Lohnzahlungen fließen als Kon-sumausgaben wieder an die Unternehmen zurück, Zins-zahlungen werden hingegen in höherem Ausmaß ge-spart), sondern auch daran, wie sehr hohe und instabileZinssätze und Wechselkurse die Aktivitäten auf Güter-märkten behindern. Da sowohl Arbeitnehmer als auchUnternehmer von einem starken Wachstum der Real-wirtschaft profitieren (durch Steigerung ihrer Einkom-men), haben sie indirekt auch ein Interesse an der Entfal-tung der wirtschaftlichen Interessen der „Gegenseite“.

• Politisch stehen jedoch die Unternehmer den(„hauptberuflichen“) Rentiers und ihren Managern beiBanken, Versicherungen und Investmentfonds näherals den Arbeitnehmern; hierfür dürfte einerseits ein Ge-fühl der sozialen Zusammengehörigkeit bestimmendsein und andererseits das Denken in der traditionellenDichotomie Arbeit versus Kapital (egal ob Real- oder Fi-nanzkapital).

Das Verhältnis der „Real- und Finanzkapitalisten“zum Staat ist gespalten: Als Vermögensbesitzer sind siepolitisch an einem wirtschaftlich passiven Staat interes-siert; je wichtiger nämlich das Steuerungssystem„Markt“ ist, desto größer ist der Einfluss der Besitzer der„Geldstimmen“. Ökonomisch sind die Unternehmer,nicht aber die Rentiers, an einem aktiven Staat im Be-reich der Verbesserung der Produktionsbedingungen,insbesondere durch Investitionen in die Infrastruktursowie in das Bildungswesen, interessiert. Die Rentiersund ihre „Geldvermehrer“ (Finanzsektor) sind dagegenan einer möglichst starken Stellung der Notenbank in-teressiert (sie ist die wichtigste „Schutzmacht“ des Fi-nanzkapitals) sowie an einer Erweiterung ihrer Ge-schäftfelder durch Privatisierung der Sozialversiche-rung, insbesondere der Pensionsversicherung. In Fi-nanzkrisen sind die Rentiers zusätzlich auch an staatli-chen „Rettungsaktionen“ für ihr Kapital höchst interes-siert („bail-outs“).

Realkapitalismus und Finanzkapitalismus

Realkapitalismus und Finanzkapitalismus stellenzwei Ausprägungen oder Regimes einer kapitalisti-schen Marktwirtschaft dar, die durch eine Vielzahl ein-ander ergänzender Rahmenbedingungen charakteri-siert sind. Die Aufschwungsphase im langfristigen Ent-wicklungszyklus wird von realkapitalistischen Rah-menbedingungen geprägt, die Abschwungsphase vomFinanzkapitalismus.3 Die wichtigsten Komponentenbzw. Merkmale des Realkapitalismus sind (siehe dazuauch Übersicht 2):

• Dominanz eines „Interessenbündnisses“ zwischenArbeit und Realkapital, die Interessen des Finanzkapi-tals sind (durch regulierte Finanzmärkte und eine Nied-rigzinspolitik der Notenbanken) „ruhig gestellt“.

• Das Verhältnis zwischen Unternehmerschaft undGewerkschaften ist durch eine enge Zusammenarbeit(Korporatismus) charakterisiert.

• Staat und Markt, Konkurrenz und Kooperationwerden als einander ergänzende Steuerungssystemebegriffen.

• Die Wirtschafts- und Sozialpolitik hat mehrere Zie-le im Visier, insbesondere Vollbeschäftigung, ein hohesWirtschaftswachstum, soziale Sicherheit, Förderung derChancengleichheit.

• Die wissenschaftliche Basis der Wirtschaftspolitikbilden Theorien, welche davon ausgehen, dass eine ka-pitalistische Marktwirtschaft immer wieder (schwere)Krisen produziert, die zumeist von den Finanzmärktenausgehen (wie die keynesianische Theorie in der Nach-kriegszeit).

• Der Hauptansatz zur Diagnose und Therapie öko-nomischer Probleme ist systemisch, d. h., man versucht,das Entstehen von Problemen aus der Interaktion ver-schiedener Variablen zu begreifen, insbesondere auchsolcher, die nicht unmittelbar mit der „Erscheinung“ desProblems verknüpft sind.

• Die Finanzierungsbedingungen fördern die Real-wirtschaft: Der Zinssatz wird von den Notenbanken sta-bil und auf einem niedrigen – zumeist unter der Wachs-tumsrate liegenden – Niveau gehalten, die Wechselkur-se sind fest, die Rohstoffpreise stabil.

• Die Rahmenbedingungen werden durch die Politikalso so gesetzt, dass sich Vermögen am besten durchrealwirtschaftliche Aktivitäten vermehren lassen (Finanz-veranlagung und -spekulation „lohnen“ sich nicht).

• Der Realkapitalismus kann deshalb auch als ein„Spiel“ angesehen werden, bei dem der „Gesamtku-chen“ notwendigerweise wächst (ein solches Positiv-Summenspiel mildert Verteilungskonflikte erheblich).

Der Versuch einer Kombination von Markt und Staat,von Konkurrenz und Kooperation, von individuellerEntfaltung und sozialer Verantwortung, und damit auch

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und Rentiers andererseits ist aus mehreren Gründen essentiell.Erstens, weil Arbeitnehmer und Unternehmer auch (sekundä-re) Rentierinteressen haben insofern sie Finanzkapital besit-zen. Zweitens, weil insbesondere Arbeitnehmer den Gegen-satz zwischen ihren primären Interessen als Arbeitnehmer undihren sekundären Interessen als Besitzer von Finanzvermögenzumeist nicht wahrnehmen. So mögen sie höhere Zinsen für ihrSparguthaben oder höhere Dividenden bzw. Kurse ihrer Ak-tien attraktiv finden ohne zu bedenken, dass beides ihre primä-ren Interessen beeinträchtigt, etwa indem ein höheres Zinsni-veau das Wirtschaftswachstum dämpft oder indem das „share-holder-value-Denken“ den Druck auf die Löhne verstärkt undzusätzliche Kündigungen verursacht. Drittens werden Unter-nehmer die Interessen ihrer Arbeitnehmer umso weniger mit-berücksichtigen, je stärker sie als „Finanzkapitalisten“ agieren.Konzentrieren sie hingegen ihr Profitinteresse auf die realwirt-schaftliche Produktion, so werden sie eher die Motivation ihrerMitarbeiter und ihre „corporate identity“ fördern, da beideszum wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens beiträgt.

3 Eine erste Skizze des langfristigen polit-ökonomischen Ent-wicklungszyklus als Abfolge von real- und finanzkapitalisti-schen Rahmenbedingungen findet sich in Schulmeister (1998).In diesem Essay wird versucht, die „stylized facts“ der „langenWellen“ bzw. „Kondratieff-Zyklen“ (Kondratieff, 1926; Schum-peter, 1939; Mensch, 1975; Van Duijn, 1983) um die Dynamiksozialer (Dis-)Innovationen zu ergänzen (dies betrifft insbe-

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der Versuch einer Integration gesellschaftlicher Gegen-sätze prägte die Prosperitätsphase der Nachkriegszeit(die Blütezeit der „Sozialen Marktwirtschaft“). DieseTransformation des „hässlichen Kapitalismus“ der drei-ßiger Jahre war nicht nur das Resultat der „Aufarbei-tung“ der Weltwirtschaftskrise, sondern wurde auchdurch den „Kalten Krieg“ und damit durch die System-konkurrenz zwischen Kapitalismus und real existieren-dem Sozialismus gefördert.

Im Hinblick auf die unterschiedlichen Spannungsfel-der zwischen ökonomischen und politischen Interes-sen lässt sich feststellen: Der Realkapitalismus stellt einRegime dar, in dem das gemeinsame ökonomische In-teresse von Realkapital und Arbeit (an hohem Wirt-schaftswachstum und Vollbeschäftigung) den Gegen-satz ihrer politischen Interessen überwiegt (letztererwurde durch korporatistische Formen der Entschei-dungsfindung wie die Sozialpartnerschaft integriert).Anders gesagt: Das gemeinsame politische Interessevon Real- und Finanzkapital (der Vermögenden, egal inwelcher Form sie ihr Kapital anlegen) an einem schwa-chen Sozialstaat und an schwachen Gewerkschaftenhatte weniger Gewicht als der Gegensatz ihrer ökono-mischen Interessen.

Übersicht 2: Realkapitalismus und Finanzkapitalismus

Realkapitalismus Finanzkapitalismus

Implizites Bündnis Arbeit & Realkapital Realkapital & Finanzkapital

Unternehmer/Gewerkschaften

Korporatismus Konflikt

Staat/Markt Komplementär Antagonistisch

Wirtschafts-politische Ziele

Vollbeschäftigung,Wirtschaftswachstum,soziale Sicherheit,Geldwertstabilität

Geldwertstabilität, „solide“Staatsfinanzen, sinkendeStaatsquote, Regelbindungder Politik, Wettbewerbs-fähigkeit der nationalenVolkswirtschaft

Wirtschafts-politisches„Machtzentrum“

Regierungen Notenbanken

Wirtschafts-wissenschaftlichesModell

Keynesianismus Monetarismus/Neoliberalis-mus

Diagnose/Therapie Systemisch Symptomorientiert

FinanzielleRahmen-bedingungen

Zinssatz < Wachstumsrate,„ruhige“ Aktienmärkte,stabile Wechselkurse undRohstoffpreise

Zinssatz > Wachstumsrate,„boom“ und „bust“ aufAktienmärkten, instabileWechselkurse und Rohstoff-preise

Gewinnstrebenfokussiert auf

Realwirtschaft(Positiv-Summenspiel)

Finanzwirtschaft(Null-Summenspiel)

Relativ begünstigtsind

Schuldner(-sektoren) Gläubiger(-sektoren)

Dominanz derInstitutionen derKapitalvermehrung

Industrie/nationale undinternationale Gütermärkte

Finanzsektor/nationale undinternationale Finanzmärkte

Wirtschaftsmodell Soziale und regulierteMarktwirtschaft

(„Reine“) Marktwirtschaft

Gesellschafts-politische Ziele

Chancengleichheit,individuelle Entfaltung,sozialer Zusammenhalt

Rahmenbedingungenschaffen für: „Jeder istseines Glückes Schmied“

Fokus derGlobalisierung

Monetäre Rahmenbedingen(Weltwährungssystem),Regulierung der Finanz-märkte, Liberalisierung derGütermärkte, (GATT),koperative Wachstums-strategien (Marshall-Plan,Entwicklungshilfe)

De-Globalisierung des„Systems Politik“,Deregulierung undGlobalisierung der Finanz-märkte

Die meisten Merkmale des Finanzkapitalismus sindjenen des Realkapitalismus direkt entgegengesetzt undbedürfen daher keiner Kommentierung (siehe auchÜbersicht 2). Einzelne Elemente des Finanzkapitalis-mus sollen ergänzend erläutert werden:

• Das „Interessenbündnis“ zwischen Real- und Fi-nanzkapital (die Unterordnung ihrer ökonomischen In-teressengegensätze unter ihr gemeinsames politischesInteresse) manifestiert sich nicht nur in der Deregulie-rung der Finanzmärkte, welche die wichtigsten Preisein der Weltwirtschaft destabilisiert, sondern auch in denwirtschaftspolitischen Hauptzielen der Geldwertstabili-tät, „solider“ Staatsfinanzen und einer sinkenden Staats-quote (alles genuine Finanzkapitalinteressen).

• Das politische Hauptziel von Real- und Finanzkapi-tal, den Sozialstaat und die Gewerkschaften zu schwä-chen, kommt auch darin zum Ausdruck, dass in der imFinanzkapitalismus dominanten Ideologie des Neolibe-ralismus sowohl der Sozialstaat als auch die Gewerk-schaften als die größten Hindernisse für eine optimaleWirtschaftsentwicklung begriffen werden.4

• Diese auch von der Unternehmerschaft übernom-mene „Weltanschauung“ des Neoliberalismus und diedarauf basierende Politik von Sozialabbau und Deregu-lierung verursacht eine zunehmende Entfremdung zwi-schen den ehemaligen Sozialpartnern.

• Die Verlagerung der wirtschaftspolitischen Machtvon den Regierungen im Realkapitalismus zu den No-tenbanken im Finanzkapitalismus kommt in Europainsbesondere in der historisch einmaligen Machtaus-stattung der Europäischen Zentralbank zum Ausdruck.

• Die von den Notenbanken praktizierte monetaristi-sche Geldpolitik führt dazu, dass das Zinsniveau per-manent die gesamtwirtschaftliche Wachstumsrate über-steigt, was wiederum die Finanzierungsbedingungenfür die Unternehmen und den Staat nachhaltig ver-schlechtert.

• Schwankende Wechselkurse und Rohstoffpreise,über der Wachstumsrate liegende Zinssätze und zuneh-mende Gewinnchancen kurzfristiger Finanzspekulati-on dämpfen das Wachstum der Realinvestitionen unddamit der Gesamtwirtschaft; als Folge steigen Arbeitslo-sigkeit und Staatsverschuldung, was wiederum einenAbbau des Sozialstaats als „Sachzwang“ erscheinenlässt.

• Die neoliberale Ideologie wird somit nicht durcheine (temporäre) Popularität ihrer Forderungen ge-

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sondere die Bildung ökonomischer Theorien) und mit der zyk-lischen Umverteilung gesellschaftlicher Macht im Sinne vonKalecki (1990) zu verknüpfen.

4 Die beiden wichtigsten nationalökonomischen Schulen, derenTheorien die politischen Ziele des Neoliberalismus wissen-schaftlich legitimieren, sind der Monetarismus und der „Hayek-Zweig“ der Österreichischen Schule (mit ihren jeweiligen „Ga-lionsfiguren“ Milton Friedman und Friedrich A. von Hayek).Beide Schulen erheben die gleichen politischen Forderungen,die sich insbesondere gegen den Sozialstaat und die Gewerk-schaften richten. Diese Forderungen werden allerdings aus un-terschiedlichen Annahmen über Erwartungsbildung undMarktprozesse abgeleitet (siehe dazu etwa Friedman, 1968und 1984, bzw. Hayek, 1945 und 1948). Eine umfassende undinstruktive Darstellung des Neoliberalismus, seiner Position inder ökonomischen Dogmengeschichte und seiner Interessege-bundenheit bietet Schui-Blankenburg (2002). In kompakter –und ironischer – Form deckt Rothschild (2003) die Interessen-gebundenheit des ideologíschen Hauptwerks von Friedman(1984) auf.

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schichtsmächtig, sondern durch die „Hintertür“ der Ent-Fesselung der Finanzmärkte: Diese senkt das Wirt-schaftswachstum, Arbeitslosigkeit und Staatsverschul-dung steigen und lassen Sozialabbau und Deregulie-rung als unvermeidlich erscheinen.

• Dass der Neoliberalismus eine Ideologie ist, wel-che die politischen Interessen der Vermögenden wis-senschaftlich legitimiert, wird an seiner Leitlinie deut-lich, den Einfluss des „Systems Politik“ und damit derDemokratie auf die Gestaltung gesellschaftlicher Pro-zesse möglichst weit zurückzudrängen zugunsten des„Systems Markt“.

Im Hinblick auf die unterschiedlichen Interessen derbeiden Veranlagungsformen von Vermögen gilt: Der Fi-nanzkapitalismus stellt ein Regime dar, in dem das ge-meinsame politische Interesse von Real- und Finanzka-pital an einer Schwächung von Gewerkschaften undSozialstaat einen größeren Stellenwert hat als der Ge-gensatz ihrer ökonomischen Interessen.

Im nächsten Abschnitt soll skizziert werden, wie dieInteraktion der Interessen von Arbeit, Realkapital undFinanzkapital die langfristige Entwicklungsdynamikprägt, insbesondere die Sequenz von real- und finanz-kapitalistischen Systembedingungen.

Die Abfolge von Realkapitalismus undFinanzkapitalismus im langfristigenEntwicklungszyklus

Sowohl Realkapital als auch Arbeit profitieren von ei-ner Expansion der Gütermärkte; sie sind deshalb öko-nomische Bündnispartner sofern es gleichzeitig gelingt,ihren traditionellen politischen Antagonismus zu inte-grieren. Genau dies war in den ersten 25 Jahren derNachkriegszeit der Fall:

• Aus den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise wur-de von Keynes eine Theorie entwickelt, welche densystemischen Charakter des Wirtschaftens betonte unddamit die Bedeutung einer Kooperation von Unterneh-mern, Arbeitnehmern und Staat mit dem Ziel, Realkapi-talbildung und Beschäftigung zu fördern.

• Niedrige Zinssätze (Abbildung 8) und feste Wech-selkurse (Abbildung 7), liberalisierte Gütermärkte, ver-besserte Produktionsbedingungen durch öffentliche In-vestitionen und eine stabile Konsumnachfrage durchSteigerung der Reallöhne und Ausbau des Sozialstaatslenkten das Gewinnstreben systematisch auf die Güter-märkte.

• Auf politischer Ebene wurde der „große Konsens“zwischen der Unternehmerschaft und den Gewerk-schaften durch den „Kalten Krieg“ und die Systemkon-kurrenz zwischen Ost und West gefördert.

Die Prosperitätsphase der Nachkriegszeit wurdesomit durch ein stillschweigendes Bündnis von Realka-pital und Arbeit auf der Grundlage des EuropäischenModells („Soziale Marktwirtschaft“) geprägt, welchezwei einander logisch widersprechende, aber in derPraxis ergänzende Steuerungsmechanismen kombi-nierte: Konkurrenz der Individuen auf der Ebene derMärkte und Kooperation von Verbänden, Regierungenund Staaten auf der Ebene der Politik. Die Interessendes quantitativ noch unbedeutenden Finanzkapitalswurden dagegen an ihrer Entfaltung gehindert.

Auch der Globalisierungsprozess wurde durch diese

Abbildung 7: Dollarkurs und globale Wachstumsdynamik

1) gegenüber DM, Franc, Pound, Yen Qu: IMF

Systembedingungen geprägt: Die internationalen Fi-nanzmärkte blieben reguliert, das Finanzkapital wurdealso auch auf globaler Ebene „ruhig gestellt“. Gleichzei-tig wurde aber die Expansion der Gütermärkte geför-dert, und zwar sowohl durch ihre schrittweise Liberali-sierung im Rahmen der GATTRunden als auch durchkooperative Strategien der Wirtschaftspolitik wie denMarshall-Plan oder die in den sechziger Jahren forcierteEntwicklungshilfe. Bei stabilen Wechselkursen expan-dierte die Weltwirtschaft stärker als je zuvor, mehr als20 Jahre lang gab es keine globalen Rezessionen (Abbil-dung 7).

Dieses Modell war so erfolgreich, dass in Europaschon Anfang der sechziger Jahre Vollbeschäftigungherrschte. In dieser Lage stellten die Gewerkschaften

Abbildung 8: Entwicklungstendenzen in den (west)euro-Abbildung 8: päischen Industrieländern

Qu: OECD

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neue Forderungen, die auf eine Umverteilung zuguns-ten der Löhne sowie betriebliche und überbetrieblicheMitbestimmung abzielten. Beides wurde teilweisedurchgesetzt, insbesondere durch die Verdreifachungder Häufigkeit bzw. Dauer von Streiks Mitte der sechzi-ger Jahre (Abbildung 8 zeigt den markanten Anstieg derLohnquote in den 1960er Jahren). Wenig später ver-schärften die Studentenbewegung und gleich daraufdie Ökologiebewegung die Kritik am (Vergeudungs-)Kapitalismus.

Der ökonomische Erfolg des Bündnisses zwischenRealkapital und Arbeit reaktivierte so ihren politischenAntagonismus: Unter den Bedingungen von Vollbe-schäftigung drohte der „Vormarsch“ von Gewerkschaf-ten und Sozialdemokratie die gesellschaftliche Machtzulasten der Unternehmerschaft zu verschieben; letzte-re orientierte sich daher wieder an jener Doktrin, wel-che den Wohlfahrtsstaat selbst als das „Grundübel“ an-sieht. Nicht zufällig brachte das Jahr 1968 den Durch-bruch für Milton Friedman und seine neoliberal-mone-taristische Theorie auf akademischem Boden (Fried-man, 1968). Ausgehend von dem „Beweis“, dass Voll-beschäftigungspolitik langfristig sinnlos sei, gelang esden Monetaristen, ihr gesellschaftspolitisches Pro-gramm wissenschaftlich zu legitimieren und zu popula-risieren (also die Interessen der Vermögenden als dieInteressen aller Bürger erscheinen zu lassen):

• Der Staat sei der „Feind“ der Wirtschaft: je mehr ersich zurückziehe, umso besser für alle.

• Insbesondere die in der Prosperitätsphase ausge-bauten Systeme der sozialen Sicherheit müssten besei-tigt werden.

• Die Gewerkschaften seien die Hauptschuldigen ander Arbeitslosigkeit: sie „verführten“ die Arbeitnehmerzu einem zu hohen Lohnniveau.

• Deshalb könne und solle der Staat die Arbeitslosig-keit nicht bekämpfen.

• Zinssätze und Wechselkurse dürften nicht stabil ge-halten, sondern müssten dem Spiel der Marktkräfteüberlassen werden.

• Das einzige Ziel der Wirtschaftspolitik sei die Stabi-lität des Geldwerts.

Mit diesen Thesen legitimierte der Neoliberalismusdie politischen Interessen des Konservativismus unddie ökonomischen Interessen des Finanzkapitals: Allewirtschaftlichen Entscheidungen sollen dem Marktme-chanismus unterworfen werden (wo „Geldstimmen“zählen und nicht der Grundsatz „one (wo)man, onevote“), die Bekämpfung von Inflation und Staatsver-schuldung hat absolute Priorität (der beiden „Todfein-de“ des Finanzkapitals, da dieses historisch in erster Li-nie durch Hyperinflation und Staatsbankrott vernichtetwurde) und die Finanzmärkte sind vollständig zu dere-gulieren (das „Aktivitätszentrum“ des Finanzkapitals).

Dieses Programm wurde in Etappen umgesetzt. An-fang der siebziger Jahre wurde das Währungssystemvon „Bretton Woods“ aufgegeben und die Wechsel-kursbildung den Marktkräften überlassen: Kurzfristigorientierte Spekulation verursacht seither enorme Kurs-schwankungen; da der Dollar den wichtigsten „Jeton“darstellt, schwankt der Wert der weltwirtschaftlichenLeitwährung bei weitem am stärksten (Abbildung 6).

Die zwei ausgeprägten Abwertungen des Dollar1971/73 und 1977/78 entwerteten die Dollarerlöse der

Erdölexporteure und wurden zur wichtigsten Ursachefür die beiden Ölpreisverteuerungen 1973 und 1979,die nachfolgenden Rezessionen und den dadurch ver-ursachten Anstieg der Arbeitslosigkeit (Abbildungen 6und 7).

Als Folge der monetaristischen Hochzinspolitik liegtder Zinssatz in Europa seit Ende der 1970er Jahre per-manent über der Wachstumsrate, während er davordarunter gelegen war (Abbildung 8 – in den USA liegtder Zins hingegen seit Anfang der 1990er Jahre mittel-fristig wieder unter der Wachstumsrate als Folge desKurswechsels zu einer wachstumsorientierten Geldpo-litik). Die Unternehmen passten sich diesem „Regime-wechsel“ durch eine Reduktion ihrer Realinvestitionenrelativ zu Finanzinvestitionen an. Dies dämpfte dasWirtschaftswachstum (und damit auch die Steuerein-nahmen) und ließ die Arbeitslosen(-unterstützungen)immer mehr zunehmen: Die Staatsschulden wuchsenseit Ende der siebziger Jahre rascher als das BIP, derWohlfahrtsstaat wurde unfinanzierbar (gemacht).5

Während das Wachstum von Investition, Produktionund Handel auf den Gütermärkten durch hohe Zinsenund instabile Finanzierungsbedingungen gedämpftwurde, boomten die Finanzmärkte umso mehr: ImZuge ihrer Deregulierung wurden Finanzinnovationengeschaffen (Futures, Optionen, Optionen auf Futuresetc.), welche eine Vielzahl neuer Formen von Spekula-tion ermöglichten. Diese erfassten alle für Investitionund Produktion zentralen Preise wie Zinssätze, Wech-selkurse, Rohstoffpreise und Aktienkurse (Abbildung 1bis 5). Gefördert durch den enormen Fortschritt im Be-reich der Informations- und Kommunikationstechnolo-gien manifestierte sich der Finanzkapitalismus auf derglobalen Ebene noch stärker als innerhalb der Indus-trieländer.

Die Krisenphase der zweiten Hälfte der Nachkriegs-zeit war und ist durch ein stillschweigendes Bündnisvon Realkapital und Finanzkapital geprägt, (popu-lär)wissenschaftlich durch den Neoliberalismus legiti-miert. Politisch haben sowohl Unternehmer als auchRentiers dadurch gewonnen: Steigende Arbeitslosig-keit, sinkende Sozialleistungen und ein geschwächter(Wohlfahrts-)Staat drängten die Arbeitnehmer in dieDefensive.

Ökonomisch haben freilich auch große Teile der Un-ternehmerschaft durch die Koalition mit dem Finanzka-pital verloren, insbesondere die Besitzer von Klein- undMittelbetrieben, die nach wie vor darauf angewiesensind, ihre Gewinne auf Gütermärkten zu machen.

Der – primär durch Spekulation verursachten – Be-schleunigung des Rohstoffpreisbooms nach Ausbruchder US-Hypothekarkreditkrise Mitte 2007, dienachfolgende Konjunkturverschlechterung, der Verfallder Aktienkurse und die Ausweitung der Finanzkrise zueiner globalen Wirtschaftskrise haben den Bodenbereitet für den – mühevollen – Wechsel von finanz- zurealkapitalistischen Rahmenbedingungen in den kom-menden Jahren. Dafür sind insbesondere zwei Gründemaßgeblich: Erstens kommt es zu einer nachhaltigen„Schubumkehr“ in der finanzkapitalistischen Bubble-Dynamik (statt Vermögen durch Preisbooms „aufzubla-

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5 Der Übergang von realkapitalistischen zu finanzkapitalisti-schen Rahmenbedingungen erfolgte auf globaler Ebene somitfrüher (um 1973) als innerhalb der Industrieländer (um 1980).

Page 12: Dr. Christian Sitte und Mag. Alfons Koller Geld als Mittel ... · von Geld, also welche konkrete, quantifizierbare Geld-menge, erfüllt die Funktion eines allgemeinen Zah- ... dann

sen“, implodieren sie). Zweitens fügen diese Entwick-lungen den Interessen des Realkapitals generell schwe-ren Schaden zu und unterminieren damit das politöko-nomische Fundament des Finanzkapitalismus.

Dürfen wir am Ende der finanzkapitalistischen Illu-sionen auf nüchterne Einsichten und eine rasche Ver-wirklichung besserer („realkapitalistischer“) Rahmen-bedingungen für eine Marktwirtschaft rechnen? Kaum.Denn für den Übergang von dem „Nicht-mehr-Funktio-nieren“ eines alten Systems und der Schaffung einesneuen gilt: Gewohnte Weltanschauungen müssen ab-gelegt, kognitive Dissonanzen ertragen und konkretesDenken muss wieder gelernt werden. Das wird Jahredauern. Tröstlich aber ist: So schwierig wie der letzteÜbergang von finanz- zu realkapitalistischen Rahmen-bedingungen – zwischen 1933 und 1948 – wird es dies-mal nicht werden.

LiteraturFriedman, M., „The Role of Monetary Policy“, American Econo-

mic Review, April 1968 (58).Friedman, M., Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt, 1984.Hayek, F. A., „The Use of Knowledge in Society,“ American Eco-

nomic Review, 35 (4), 1945.

Hayek, F. A., Der Weg zur Knechtschaft, Rentsch, Zürich, 1948.Kalecki, M., „Political Aspects of Full Employment“, Collected

Works of Michal Kalecki, Vol. I, Claredon Press, Oxford, 1990.Kondratieff, N. D., „Die langen Wellen der Konjunktur“, Archiv für

Sozialwissenschaften, 56, 1926.LeRoy, S. F., „Efficient Capital Markets and Martingales“, Journal of

Economic Literature, 1989, 27 (4), pp. 1583–1621.Mensch, G., Das technologische Patt, Frankfurt, 1975.Rothschild, K., „Reflections on an anniversary – Friedman’s Capita-

lism and Freedom“, Journal of Economic Studies, 30 (5), 2003.Schui, H., Blankenburg, S., Neoliberalismus: Theorie, Gegner,

Praxis, VSA-Verlag, Hamburg, 2002.Schulmeister, St. (1998), „Der polit-ökonomische Entwicklungs-

zyklus der Nachkriegszeit“, Internationale Politik und Gesell-schaft, Friedrich-Ebert-Stiftung, 1998 (1).

Schulmeister, St. (2006): The Interaction between Technical Cur-rency Trading and Exchange Rate Fluctuations, Finance Re-search Letters Vol. 3, No. 3, 2006, 212–233.

Schulmeister, St., Schratzenstaller, M., Picek, O. (2008), A GeneralFinancial Transaction Tax – Motives, Revenues, Feasibility andEffects, Study of the Austrian Institute of Economic Research(WIFO) Vienna, April 2008, (http://www.wifo.ac.at/wwa/jsp/index.jsp?fid=23923&id=31819&typeid=8&display_mode=2).

Schumpeter, J., Business Cycles, McGraw Hill, New York, 1939.Van Duijn, J. J., The Long Wave in Economic Life, London-Bos-

ton-Sydney, 1983.

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BuchbesprechungenPUETTER Uwe: Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der

EU. Reihe „Europa Kompakt“. UTB-2968 hg. bei facultas.at,wuv, Wien 2009. 269 Seiten.

Der in Wien ansässige Wiener Universitätsverlag Facultasgibt im Rahmen des Universitätstaschenbücherverbundseine interessante Reihe zu „Europa Kompakt“ heraus. In die-ser soll Studierenden ein fundierter Überblick zu Geschich-te/Institutionen/Politikprozesse der europäischen integrati-on geboten werden. Dieser Band schließt an zwei vorherge-hende, „Das politische System der EU“ und „Lobbying in derEU“ an und soll durch weitere über die GASP sowie Energie-politik in Zukunft ergänzt werden. Dieser – auch aufgrundseines günstigen Preises auch als ertragreiche Unterlage fürein Spezialgebiet bei der Matura nutzbare Band, gliedertsich in folgende Abschnitte: er skizziert zunächst die seit1990 zunehmende Bedeutung und zunehmende Verflech-tung der wirtschafts- und sozialpolitischen Komponente dereuropäischen Integration. In eigenen Kapiteln wird die Dis-kussion um eine gemeinsame Wirtschafts- und Währungs-politik, aber auch der Stand und die Forderungen nach einerstärkeren Ausprägung einer europäischen Sozialpolitik be-leuchtet. Die Lissabon-Strategie brachte ja eine stärkere Ver-flechtung dieser beiden Agenda. Der Bereich der dazu han-delnden Akteure wird in Abschnitten über zentrale Ent-scheidungsorgane bzw. die europäische Sozialpartner undZivilgesellschaft gezeigt. Wie regiert wird behandeln Ab-schnitte zu Regulierung – Koordinierung – Flexible Integra-tion. Ch. S.

GERM Alfred: Politische Bildung im Geographie- undWirtschaftskundeunterricht. Alltagsverständnis, Disziplin-selbstverständnis, Bildungsauftrag und Ökonomisierung –Unterrichten im Spannungsfeld zwischen Theorie und Pra-xis. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2009. 166 Seiten.

Wie schon der Untertitel andeutet, versucht der Autor ei-nen Bogen zu spannen der von einer allgemeinen Einord-nung und Genese der Politischen Bildung ausgeht, danachkurz den Bereich „Was ist Geographie“ anspricht, um ineinem theoretischen Teil dann PB und GW-didaktische Fra-gen anzusprechen. In einem empirischen Teil beschäftigt ersich mit Schulbüchern, der Aus- und Weiterbildung, um mitdem gesellschaftlichen Kontext (u. a. zu Raum und gesell-schaft im Wandel … politische Ökonomie: Wirtschaftskun-de im Kontext Politischer Bildung etc.) zu schließen. Auchwenn in dieser Übersichtsdarstellung in manchen Passagenvielleicht etwas tiefer geschürft hätte werden müssen, sostellt das Buch einen interessant zu lesenden ersten Über-blick (dazu hilft auch das Literaturverzeichnis weiter) darund sollte in Lehrerausbildungsbibliotheken vorhandensein ! Ch. S.

BUTTERWECK Hellmut: Die Rache des Geldes. VonWachstumsgrenzen und dem Ende des Neoliberalismus.Agatia-Verlag, Sankt Augustin 2009. 208 Seiten.

Dieses lesenswerte (und mit Euro 16,40 auch für dieHand eines Maturanten-Spezialgebiets erschwingliche)Buch stellt eine interessant geschriebene Analyse der dog-matischen Wachstumsfixierung und des Neoliberalismus(der zwar so heißt, aber wie der Autor nachweist, keines-wegs so liberal ist) dar. Wichtige Hauptpunkte sind dabeiseine Analyse der Arbeit als Ware unter anderen (mit Konse-quenzen für Millionen von Menschenschicksalen) oder dieFolgen, dass im Finanzsektor bewährte Regeln abgebautworden sind und Zockerpraktiken eingerissen sind, die imseriösen Bankgewerbe vorher tabu waren. Dass die Kredit-blase einmal platzen würde – so stellt der Autor dar, war da-bei allen klar. Ein Buchalso, das ein aktuelles Thema fakten-reich aufbereitet nachlesen lässt! Ch. S.

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