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dRAMATURg DOKUMENTATION THEATERWERKSTATT ASTHETIK UND DRAMATURGIE DES THEATERS AN DER RUHR UBER DIE (UN-) MOGLICHKEIT, DIE MULHEIMER STRUKTUR AUF ANDERE THEATER ZU UBERTRAGEN VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZ- UBERLEGUNGEN NACH MEINER BEGEGNUNG MIT AUSTRALIEN NACHRICHTEN DER DRAMATURGISCHEN GESELLSCHAFT NR. 3 I 4 1992

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dRAMATURg

DOKUMENTATION THEATERWERKSTATT ASTHETIK UND DRAMATURGIE DES

THEATERS AN DER RUHR UBER DIE (UN-) MOGLICHKEIT, DIE

MULHEIMER STRUKTUR AUF ANDERE THEATER ZU UBERTRAGEN

VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZ­UBERLEGUNGEN NACH MEINER BEGEGNUNG MIT AUSTRALIEN

NACHRICHTEN DER DRAMATURGISCHEN GESELLSCHAFT NR. 3 I 4 1992

lnhaltsverzeichnis

Einladung zum Theater-Gesprach

Ulrike HaB

Dokumentation Theaterwerkstatt

Asthetik und Dramaturgie

des Theaters a.d. Ruhr

Ober die (Un-)Moglichkeit, die Mulheimer

Struktur auf andere Theater zu Obertragen

Veranstaltung FiT

Barbara Mundel

Vom Wahrnehmen der Differenz­

Oberlegungen nach meiner Begegnung

mit Australien 1991/92

Die Theaterwerkstatt Mulheim fand mit Unterstiitzung des

Bundesministeriums des lnnern Bonn statt.

RedaktionsschluB des Nachrichtenbriefes 3/4 1992: 30.12.1992

Redaktion: Birgid Gysi, Karin Uecker

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Dramaturgische Gesellschaft Tempelhofer Ufer 22 · D- 1000 Berlin 61 · Telefon 030- 216 30 43

clg EINLADUNG

zum

WERKSTATT-GESPRACH

mit dem

THEATER AN DER RUHR MULHEIM

Freitag, 16. Oktober 1992

19.30Uhr Stadthal/e Miilheim: Auffuhrungsbesuch NACHTASYL I DIE AUSNAHME UNO DIE REGEL Maxim Gorki I Bertolt Brecht

anschlieBend TREFFEN mit den MULHEIMER THEATERMACHERN

Samstag, 17. Oktober 1992

11.00- 13.00 Uhr

15.00-17.00 Uhr

19.30 Uhr

ASTHETIK UNO DRAMATURGIE DES THEATERS AN DER RUHR

mit Roberto Ciulli und Helmut Schater

Einleitung und Moderation: U/rike HaB

0BER DIE (UN-) MOGLICHKEIT, DIE MULHEIMER STRUKTUR AUF ANDERE THEATER ZU 0BERTRAGEN mit Roberto Ciulli, He/mut Schafer, Hans Herdlein, (Biihnengenossenschaft, angefragt), Sabine Schbneburg (IG Medien), Hans Trankle (Staats­theater Stuttgart)

Einleitung und Moderation: K/aus PierwoB

Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: DIE DREIGROSCHENOPER - Bertolt Brecht

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ZUR ASTHETIK UNO DRAMATURGIE DES THEATERS AN DER RUHR

WERKSTATTGESPRACH MIT ROBERTO CIUlll UNO HELM UT SCHAFER

TAGU!\!G AM 17.10.92 !!\! MULHE!M A!\! DER RUHR

DOKUMENTATION VON UlRIKE HAB

Ulrike HaB: Die Veranstaltung nennt sich Werkstattgesprach und insofern will ich nichts anderes

tun, als dieses Gesprach atmospharisch zu erleichtern durch eine Einleitung, die nicht zu lange

dauern soli.

In seinem Buch >Siegfried's Vergessen<, das gerade neu erschienen ist, beginnt Adolf

Dresen seine Einleitung mit einigen Satzen uber die Krise des Theaters, die so alt ist wie das

Theater selbst und in der sich das Theater bewegt und verandert- sozusagen als sein Alltag.

Gegenwartig ginge es jedoch um eine Krise, die von anderer Art sei, eine Krise, die ubergreifend

ist, eine Zivilisationskrise, die sich, wie Adolf Dresen schreibt, nicht nur in Naturzerstorung auBert,

sondern ebenso in Kulturzerstorung, in einem Vergessen der Kultur.

Die gegenwartige Krise wird von zwei auffalligen Phanomenen begleitet: Zum einen von

einer breiten Akzeptanz des Asthetischen, die unter dem Stichwort "Asthetisierung der

Lebenswelt" firmiert und des weiteren durch einen Asthetizismus, der fast an erster Stelle in den

Theatern grassiert und selbst ein Symptom dieser Krise ist. Von dieser Krise gibt es erstaunlich

weit verbreitete Wahrnehmungen, die sich immer wieder in der Forme! vom Tod des

abendlandischen Subjekts oder vom Verschwinden des Menschen niederschlagen. Diesen

Wahrnehmungen ist eigentUmlich, daB sie ratios sind. Diese Ratlosigkeit hangt damit zusammen,

daB gegenwartig die Endlichkeit des Widerspruchs zwischen Natur und Kultur wahrnehmbar wird.

Diesem Widerspruch sind jedoch samtliche Raume und Materialien, mit denen wir denken und

Vorstellungen hervorbringen, abgetrotzt. lnsofern stehen wir im Sog dieser Krise mit nichts als

untauglichen, gestrigen, abendlandischen Materialien in den Handen. Nun kann man die

Ratlosigkeit, die sich daraus ergibt, besanftigen und eben das ist der Weg, den wir Asthetizismus

nennen und der die Tendenz zur Entgrenzung des Asthetischen einschlagt, oder man kann diese

Ratlosigkeit radikalisieren: Dann wird man sich mit der asthetischen Grenze abmuhen, mit der

Beschrankung des Asthetischen, mit seiner Selbstreferenz.

lch fange etwas allgemein an, weil ich in Bezug auf die Karriere des Asthetischen im

Zusammenhang mit dieser Krise aufmerksam machen und an einen Beitrag erinnern will , den

k'::tri-HP.in7 RnhrPr \Jnr 1n lr7Pm nPh~ltlln h::tt 11nrl rlor ::t11rh in rl.or 71=1T ::thnorlr•rrl.-t '"'::-.r 11nrl rlar cirh ··-·· ··-···- _...,., •• _. ·-· ··-·--··· ;:,-··-·"'-'' ··-~ ........................................... -~·· ........ :;:! ................... " .. '"'"""' ........................... .

nannte >Die Grenzen des Asthetischen<. Bohrers Einspruch richtet sich na!Urlich gegen die

BefUrworter einer Entgrenzung des Asthetischen.

Die Tendenz zur Entgrenzung des Asthetischen behauptet ungefahr folgendes: lm Moment

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verlassen wir eine Kultur, die narrativ, historisch und metaphysisch grundiert war. Erkenntnisse

wurden durch Widerspruch gewonnen, die die Vernichtung des Anderen mit einschloB bzw.

voraussetzte. Widerspruch basierte auf metaphysischen und normativen Vorgaben, von denen wir

heute weit entfernt sind. Darum regiert heute nicht mehr der Widerspruch, sondern die sprach­

liche Oberbietung. Die zukunftige Kultur wird spielerisch, liberal, ironisch und asthetisch sein.

Der Einspruch von Bohrer besteht in folgendem: Durch diese Dichotomie, sozusagen

gestern und heute, ist gar nichts gewonnen. Man tut damit nur das eine, namlich Fragen, fur die

traditionellerweise die Geschichtsphilosophie und Utopie zustandig waren, jetzt mit einer

Erweiterung des Asthetischen beantworten zu wollen. Das Asthetische ist aber von seinem Kern

her absolut ungeeignet fur Fragen, die im Zeitverlauf liegen, Geschichte oder Utopie also. Das

Asthetische ist von seinem Kern her zustandig fUr die ganz anderen Fragen der Prasenz des

Momentanen, des unzuruckfOhrbaren Augenblicks, fUr diese Grenze, die von der Formensprache

der Kunst umspielt wird. Somit stellt sich als heimlicher Antrieb der derzeitigen breiten Akzeptanz

des Asthetischen die Niederlage der Geschichte als dem absoluten Beg riff heraus, oder man

konnte auch sagen: die Niederlage des generellen Diskurses. An dieser Niederlage ist indes nichts

zu verbessern durch eine Entgrenzung des Asthetischen. lm Gegenteil: Man verspielt die

asthetische Erfahrung, wenn man sie als kulturkritische Korrektur in die Arena des generellen

Diskurses schicken will. Die asthetische Erfahrung entzieht sich der Intention im begrifflichen

Denken. Sie ist unversohnlich, denn sie widerfahrt mir. In ihrer Unversohnlichkeit liegt ihre

subversive Ausstrahlung.

lm folgenden geht es konkreter um die Arbeit des Theaters an der Ruhr, die, wie ich denke,

als kunstlerische Arbeit darauf abzielt, die Erfahrung der asthetischen Grenze zu ermoglichen,

indem sie sie umspielt.Die kunstlerische Arbeit dieses Theaters, jedenfalls ihr sichtbarer Teil,

beginnt mit einer Textfassung, die von allem Zufalligen, Provisorischen, Nicht- Wesentlichen

befreit wird. "Zusammenstreichen" nennen die Kritiker das, was in Wahrheit ein absolut strenger,

disziplinierter, gedanklicher ProzeB ist, der von ein oder zwei vitalen Fragen an das Stuck

getragen wird, z.B. von der Frage "Was bedeutet ein Leben aus der Erinnerung?" im Fall des

StGckes >Drei Schwestern<. Wie aber kann man in Hinblick auf ein dichterisches Werk von

Tschechow z.B. von Zufalligem, nicht Wesentlichem sprechen?

Es ist ein wenig zu einfach, wenn man sich das mit einerseits Literatur, andererseits

Theaterkunst und ihrer Autonomie erklart. Ein Text hat viele Schichten. Das Theater verfugt uber

die Moglichkeit, bis in die Dunkelkammer eines Textes hinabzusteigen. I m Gegensatz zum Film

etwa: Der Film ist auf das Schriftbild angewiesen, auf die Wort-fGr-Wort-Folge eines Textes. Ein

Film stellt eine Kutschenfahrt von Effi Briest z. B. als eine Kutschenfahrt m it einer Schauspielerin

durch eine Landschaft dar, die so ahnlich aussieht wie die Mark Brandenburg. Der Film verbraucht

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die Bilder des Textes. lndem er sie in bestimmte manifeste Bilder umwandelt, plundert er das

lmaginare der geschriebenen Worte. Der Film weiB nichts von der Dunkelkammer des Textes,

seine Bewegungsform ist die der Schrift.

Ganz anders das Theater. Es arbeitet mit den lucken zwischen den Worten, den

gesprochenen Worten: Auf der Buhne sieht man einen Menschen und neben ihm steht, wie ein

Phantom, die Unangemessenheit aller angebotenen Erklarungen, die seinen Schmerz erklaren

sollen. Wenn man sich diesem Phantom nahert, bemerkt man eine schreckliche Kluft zwischen

den gesprochenen Worten und dem, was sie bedeuten sollen. Diese Kluft, dieses Vakuum, ist der

Schmerz. Die Erfahrung dieser Kluft lauert auf dem Grund jeden groBen Textes. Die Dichter haben

uns oft genug Mitteilung von dem Vorgang gemacht, daB die Worte, je m.ehr sie sich dem

Zentrum der Bedeutung annahern sollen, sich gegen das Bedeutete sperren, daB sie sich wie

feindliche Armeen zwischen den Ausdruckswillen und die gesuchte Bedeutung schieben und sich

zuletzt allesamt als untauglich erweisen fOr den Schreibenden, der in diesen Schichten des Textes

!angst blind ist.

lch bin immer wieder erstaunt- und jetzt wieder bei der Auffuhrung von >Drei Schwestern<

- wie klar und rein die Grundfigur eines Textes sich abhebt, wenn sie von dem Phantom aller

angebotenen Erklarungen befreit wird. I m zweiten Teil dieser Auffuhrung durch das Theater an

der Ruhr sind alle Figuren gestrichen, wie es so schon lakonisch heiBt, nur die drei Schwestern

sitzen da, jede vor einem Tonbandgerat, auf dem die Stimmen, Satze der gestri-chenen Figuren

gespeichert sind. Sie tun das, was drei Schwestern immer tun: sie spielen. Sie spielen miteinander,

einander die Tonbandstimmen, die Erinnerungen vor. Albernd gleiten sie irnrner rnehr in das Reich

ihrer unerliisten kindischen Kindheit hinein, die Tonbandstimmen dabei, diese von ihren

jeweiligen leibern abgetrennten Stirnrnen, die die Stimrnen von Toten sind. Und allmahlich

begreift rnan, in welchern MaB >Drei Schwestern< eine Figur aus dem Totenreich sind, eine Figur

des lmmer-schon-Gestorbenseins.

Als vaterlich orientierte lntellektuelle, als mittlere, mittelmaBig Verheiratete, die es dem

Vorbild der Mutter gleichtut und als ewiges Kind, sind Drei Schwestern einander alles, was sie

kennen. Aus dem Gefangnis dieser Rollenkulisse fOhrt kein Weg nach drauBen. In unaufhiirlicher

Redundanz verweisen sie aufeinander, sind ohne Anfang und Ende. Verbannt in das Rosa von

Jungmadchentraumen sind sie einander zu nah. Aber was zu nahe ist, kann man nicht in den

Blick nehrnen. lhr Leben a us Erinnerung ist ungetrennt von der Erinnerung und deswegen ist es

kein Leben. Keine Lucke, keine Erfahrung bricht diese schwindelerregende Redundanz dieser Figur

des undramatischen Abgestorbenseins. Und keine Erklarung erklart ihre Not.

Diese Wahrheit der Figur >Drei Schwestern< ist unter dern lnterpretationsschutt eines

Jahrhunderts viillig unkenntlich und dam it begraben worden. Man hat das StOck Ober die

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Sehnsuchtsgebarde "nach Moskau!" zur Parabel der absterbenden Gesellschaft des ancien regime

erklart und damit war es ein StOck, das niemanden mehr etwas anging. Damit es wieder Finger

bekam und Augen, muBte die Figur der drei Schwestern neu aufgefunden werden. Nicht unter

dem lnterpretationsschutt, da ist namlich nichts, sondern auf dem blinden Grund des Textes. Erst

wenn >Drei Schwestern< von alien sozialen, kulturellen und historischen Bezugen gelost, allein

auf der Buhne sind, sieht man, daB ihre Figur die Vernichtung der Nahe inkarniert. Und daB ihrer

kein Schicksal und kein Tod harrt, sondern hochstens ein kleiner freundlicher, harlekinesker Tod

ihnen zuwinken wird, dem sie bereitwillig folgen werden, so als wuBten sie in diesem Moment,

wohin sie schon immer gehorten.

Eine ahnliche Befreiung vom Larm der Worte, die sich zwischen eine mogliche Beruhrung

und das schwerfallig sondierende Him drangen, gibt es in der Aufflihrung von >Nachtasyl<. Die

Grenze, die in diesem Stuck thematisiert wird, ist eine soziale Grenze. Die lnszenierung verwischt

sie nicht, sondern verscharft sie aufs AuBerste. Besitzende und Besitzlose erscheinen als Hof­

gesellschaft auf der einen Seite und Verwundete, AusgestoBene, Sterbende auf der anderen

Seite. lhre Welten sind geteilt durch Glas und Metall, geteilt durch Materialien, die ihrer Harte

und Glatte wegen pradestinierte Materialien der Macht sind, in denen sozusagen Macht

kristallisiert ist.

Mit der Thematisierung dieses Machtkristalls in >Nachtasyl< ist das Stuck zunachst einmal

von seiner moralischen Intention gereinigt. Die Auffuhrung verunmoglicht damit schlicht solche

Fragen, wie sie >Theater heute< an die lnszenierung desselben StUckes durch And rea Breth an

der Schaubuhne Berlin anknupft, Fragen, die wie eine naive Selbstkarikatur anmuten: "Vom Leben

da unten in der Gorki'schen wie unserer Gesellschaft erzahlt die Auffuhrung zu wenig." Sie mOBte

diese Erzahlung zuspitzen auf die Frage: "MuB das so, darf das so sein? Beschadigtes Leben da

unten ?" Fragen, deren Antworten schon bekannt sind, sind falsche Fragen. Man versteht das

Elend nicht, indem man es erklart, ihm eine Geschichte oder eine Biographie verleiht. Elend kann

man Oberhaupt nicht verstehen. Man kann es nur hinnehmen. Und zwar von beiden Seiten aus,

die urn das Machtkristall arrangiert sind. Jenseits dieses Arrangements offnet sich der Mund zum

Schrei. Sonst nichts.

Es ist ein schmaler Grat, den eine wahrhaftige Auffuhrung dieses StOcks gehen muB, und

zwar deswegen, weil wir von der sozialen Frage und dem Elend zuviel verstehen. Das Verstehen

vernichtet den Skandal, den Aufruhr des Elends, der in seiner Existenz besteht. Die Auffuhrung

des Theaters an der Ruhr versucht, uns das Verstehen des Elends zu entziehen. Keine Namen,

Personen, Geschichten. Auch keine Handlungen, die unser vorschnelles Interesse auf sich ziehen.

lnmitten einer auBersten Zuspitzung und Verlangsamung, in der das Nachdenken und Verstehen

erschopft aufgeben, eroffnet sich ein bildliches Geschehen, von dem wir unsere Augen nicht

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abwenden k6nnen: Vom Moment der Hingerissenheit sehreibt Roland Barthes in seinem Bueh

>Fragmente einer Spraehe der Liebe<, daB es zur Spraehe der Liebe gehore. An den Themen­

weehsel, der sieh in diesem Zitat andeutet, will ich eine letzte Bemerkung ansehlieBen, insbeson­

dere aueh deswegen, weil ieh der Meinung bin, daB kein Theater von derartig falsehen

Beobaehtungen der Kritik begleitet wird wie das Theater an der Ruhr, dessen Kritiker von einem

"Abgrund der Hoffnung" spreehen und einen "selbstzerfleisehenden Realismus dieses Theaters"

suggerieren.

Das Gegenteil ist der Fall. Malgotzata Dziewulska sehreibt: "Die Kritiker wurden allzugern in

MOiheim irgendetwas Trostversprechendes ausfindig maehen, noeh am selben Tag des

Vergehens. Es gibt keinen )rost, ebensowenig wie Pessimismus. Es gibt nur das, was ist: die

Besessenheit vom Bosen und Wasser, Himmel, Lieht."

Es gibt nur das, was ist. Dies sehlieBt eine Anerkenntnis der Existenz des Leidenden ein, und

zwar nicht nur als Objekt aus der gesellsehaftliehen Kategorie mit dem Etikett >UngiQeklieh<,

sondern als ein Menseh, der genauso ist wie wir und der eines Tages vom Elend gezeichnet

wurde. Und weil man ihn so angesehen hat, jenseits einer romantisehen Hoffnung und jenseits

jegliehen Verspreehens auf eine bessere Zukunft, deswegen baut sieh der Sehmerz Ober das Elend

in die LQeke, die man ihm laBt, selber ein. Der Sehmerz fOIIt diese LQeke wie der Wahnsinn, und

dann laBt sieh nieht mehr unterseheiden zwisehen BQhne und Welt, zwisehen Sehauspiel und Leid.

Der Geist einer besonderen Art von Zuwendung wohnt jenem Spiel inne, von dem wir unsere

Augen nicht abwenden konnen. Eine Art von Zuwendung, die die GleiehgOitigkeit widerlegt und

jeder allzu billigen Hoffnung unvers6hnlieh gegenQbersteht. Das MitgefOhl wird bekraftigt dureh

seine Maehtlosigkeit. Es ermoglieht eine Beruhrung, die uns bestimmt, fur einen Augenbliek

weniger starr zu sein.

Soweit meine Einleitung, die aufgrund ihrer KQrze zur Formspraehe im Detail Oberhaupt

nichts gesagt hat. !eh will an dieser Stelle noeh einen Literaturhinweis anfQgen: In dem Bueh >Die

Theatervisionen des Roberto Ciulli<, das 1991 im felidae Verlag Essen ersehienen ist, gibt es von

Frank Raddatz einen Aufsatz, der die Formenspraehe des Theaters a.d. Ruhr unter dem Titel

>V on Nasen, Tod und Teehnik< detaillierter besehreibt.

Jetzt gibt es die M6gliehkeit zum Gespraeh mit Roberto Ciulli und Helmut Sehafer. !eh bitte

Sie um Beitrage und Fragen.

Helmut Schater: Sofern es noeh keine Fragen gibt, will ieh zu einem Aspekt, der gerade ange­

sproehen wurde, einige Anmerkungen maehen. Es gab zwei Hinweise, der eine, so sehon

umsehrieben mit dem Idiom 'Phantom der Bedeutung', der andere bezog sieh auf das, was

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Fassung heiBt, Striche, bei denen die Kritik dann sehr haufig van Raubbau spricht etc. I eh denke,

daB es ein sehr groBes MiBverstandnis gibt bei der Rezeption, aber auch innerhalb unserer auf­

klarerischen Tradition des Theaters, das sich vielleicht darauf stUtzt zu glauben, daB ein

literarischer Text, ein Theatertext, einen Grad der Objektivitat besaBe.

Man kann erklaren, woraus dieses Verstandnis einem Text gegenuber entspringt, indem

man historisch zuruckgeht auf das eben schon genannte Stichwort Aufklarung. lnnerhalb der

Aufklarung war es das Ziel eines Theaters und sein Interesse, die Intention so zu vermitteln, daB

man moralisch gestarkt dieses Theater wieder verlaBt. lch denke aber, und jede Erkenntnistheorie

belehrt uns auch daruber, daB das MiBverstandnis einfach darin steckt, der Rezeption, und zwar

der eigenen Rezeption, weniger zuzutrauen und weniger zu glauben als einer vermeintlichen

Objektivitat, die dann als schwacher MaBstab herhalten muB. Fassungen nun sollten die

Eigenschaft haben, eine subjektive Lesart, zu der man sich bekennt, durch einen Text hindurch zu

suchen und zu gestalten, damit einerseits das Interesse am Material erscheint. Es gibt

z. B. sehr viele gute Texte, die zu machen niemanden interessiert, weil es in der Lebensrealitat des

gesellschaftlichen Augenblicks, innerhalb dessen man sich befindet, keinen Grund dafur gibt.

Fassungen konnen nur sinnvoll entstehen, wenn sie einer eigenen Lesart folgen und - da das

Theater nun nicht eine einsame Kunst, sondern eine gemeinsame Kunst ist - innerhalb dieses

Diskurses sich bewahren.

Der Grund, an dieser oder an jener Stelle etwas zu streichen, umzustellen oder neuzu­

formulieren, wenn es sich um Obersetzungen handelt. dieser Grund, an bestimmten Stellen so

auf einen Text zu reagieren, heiBt eigentlich, den ersten Versuch der Belebung eines Textes zu

beginnen und das Leben, das man selber den Text lesend nachempfunden hat, diesem Text

zuruckzuerstatten. Das sind andere Kategorien, glaube ich, als literaturwissenschaftliche oder

philosophische Kategorien. Und wenn ich eben auf Erkenntnistheorie ruckverwies, dann ist es

natGrlich eine Selbstverstandlichkeit einzusehen, daB der Grad des Erkennens van der subjektiven

Reflexion unendlich abhebt und daB es demgegenuber nur eine Objektivitat gibt, die man

wiederum selber variiert. Aber eine Objektivitat auBerhalb des Erkennens existiert nicht, sowie es

auch ein Lesen auBerhalb eines Textes nicht gibt, denn ich binder, der den Text liest.

Da gibt es, durch Rezeption unserer Tradition bedingt, ein tiefes MiBverstandnis. Das reicht weit

in die Bereiche der Philosophie hinein und ist nicht nur etwas, was ausschlieBiich das Theater als

Last zu tragen hat.

Klaus PierwoB: lch habe eine Frage, zum Verhaltnis van Assoziationsreichtum einerseits und

andererseits der groBen Stringenz, die sich bei mir beim Ansehen immer wieder vermittelt. Die

Frage ist, wie ihr damit umgeht, wieweit man sich dem subjektiven Moment uberlaBt, und

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wieweit man versucht, das in der Arbeit wieder zu objektivieren - auch unter dem Aspekt, wie sich

das in der Konstellation zwischen einem Regieteam abspielt und einer Gruppe von Schauspielern,

mit der das realisiert wird. Welchen Stellenwert hat in eurer Arbeit die Vorbereitung, wieweit

lauft sie arbeitsteilig? Oblicherweise macht man im Theater als Buhnenbildner, Regisseur,

Dramaturg, Assistent oder Mitarbeiter die Vorarbeit in einer kleinen Gruppe, und dann wird

irgendwann das Ensemble mit den Ergebnissen dieser Vorarbeit, an denen es meistens

weitgehend nicht beteiligt ist, konfrontiert. Wie verhalt es sich bei euch in der praktischen Arbeit

dam it? Und inwieweit spielt in der Auseinandersetzung, wenn ihr euch z.B. mit einem StUck wie

>Nachtasyl< befaBt, so etwas wie Buhnengeschichte oder lnterpretationsgeschichte noch eine

Rolle?

Helmut Schlifer: lch will eine Sache als erste.aufgreifen: das Verhaltnis von Assoziation und

Stringenz. Was sind Assoziationen auf dem Theater? lch glaube, sie konnen ganz verschiedener

Herkunft sein. Sie konnen a us bildlichen Phantasien entspringen, a us thematischen Phantasien,

oder aus textlichen Phantasien, weil Worte auch Klang sind und diese Klange Korper bilden und

insoweit assoziiert man also auch musikalisch zu einem Text. Es gibt verschiedene Herkunfte von

Assoziationen, die, und das macht der Beg riff schon klar, noch keine Logik aufweisen. Vielleicht

sind Assoziationen eher das Gegengift zu einer Logik, deren Schicksal es ja viel haufiger ist,

formal zu werden. Die Frage kommt dennoch auf, wie man dieses Assoziative wiederum zu Einem

macht, weil eine lnszenierung doch eine Totalitat, wenn auch eine zerstorte Totalitat, ist. Was ist

Stringenz an dieser Stelle? Sicherlich auch der Versuch, dieses assoziative Material auf der Basis

des Thematischen fortzuphantasieren. D. h. daB ab einem bestimmten Moment innerhalb der

Arbeit sich die Oberlegungen verdichten. Man konnte an dieser Stelle "verengen" sagen, aber ich

wurde das als falsch beschrieben ansehen, weil Verdichtung doch ein anderer Vorgang ist, als

etwas nur eng zu machen. Dennoch aber entspricht die Stringenz im Wesentlichen zunachst dem

Thematischen: d. h. daB das Thema nicht in 36 Variationen verspielt wird, sondern daB man am

thematischen Kern die Assoziationen entlang gruppiert, so daB sie sich nicht mehr im Bereich des

Beliebigen befinden.

Andererseits glaube ich, wenn man dieses Verhaltnis von Assoziation und Stringenz

betrachtet, daB darin auch etwas ist, was wesentlich mit der erhofften Phantasie des Zuschauers

zu tun hat. Eine nicht assoziative Sprache des Theaters ist eine belehrende oder trocken-formale.

Sie wird nicht das in Gang setzen. was eigent!ich beim Zl•schauer in Gang kommen muB: daB er

vor Muhe des Erlebens selber in den Zustand des Assoziierens gerat. I eh glaube, daB diese

Benjaminsche Unterscheidung zwischen Erlebnis einerseits und Erfahrung andererseits im

Angesicht von Werken der Kunst etwas ist, das bis heute wesentlich gultig ist. lnsbesondere im

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Theater ist es der Moment des Erlebens, der einen initiiert, und dann erst das "Ritual des

Assoziierens" miiglich macht. Die Idee der Rezeption von Kunst ist auf der anderen Seite von der

Idee des Machens nicht so weit entfernt.

Roberto Ciulli: lch will versuchen, es so einfach wie miiglich zu sagen. lch wurde Theaterarbeit

unter ein einziges einfaches Stichwort stellen und behaupten, daB Theaterarbeit in all ihren

Phasen mit Kreativitat zu tun hat. Das fangt schon bei der Rezeption an: Was ist das historische

Moment, was ist die Welt, in der ich lebe. Schon in diesem ersten Punkt muB die Kreativitat

einsetzen. Es gibt Menschen, die nehmen die Welt so, wie sie ist und wissen, daB sie nicht aus

einem kreativen Zustand entstanden ist, und verstehen dadurch die Realitat in ihrer miiglichen

Veranderung . Das ist zum Beispiel etwas, das wir vermissen: daB bei der Politik, so wie sie ist,

keine Kreativitat herrscht. Ware Kreativitiit bei der Politik, ware der Zustand der Welt

hiichstwahrscheinlich ein anderer. Fur einen Theatermenschen, der anfangt, sich uber Themen

der Welt Gedanken zu machen - denn erst einmal ha ben wir uberhaupt kein StUck, uberhaupt

nichts - muB schon diese kreative Gier da sein.

Urn die Arbeit von 12, 15 Jahren zu beschreiben, seitdem Helmut Schafer und ich

zusammenarbeiten, kann man sagen, sie ist ein StUck Dialog zwischen Helmut Schiifer und mir.

Dann geht es nicht urn Streichungen von Texten und Fassungen. Erst einmal geht es urn den

Versuch, die Welt zu verstehen, und da setzt das kreative Moment ein. Es ist ein standiger Dialog.

Es ist nicht ein StUck, sondern ein Dialog.

In diesem Dialog tauchen Themen auf, die uns alle betreffen. In diesen Themen tauchen

Themen aus der Geschichte auf, aus dieser toten Materie der Literatur, aus diesen seit 2000

Jahren toten Dingen, tauchen StOcke auf. Material, Steine, Schriften, Hieroglyphen, etwas ...

Dann hat man ein konkretes Stuck. Man fangt an zu prufen, ob diese Hieroglyphen, diese tote

Materie doch noch eine Miiglichkeit bergen, in der Zeit und in dem Raum, in dem wir spielen,

eine lebendige Beruhrung, vielleicht auch einen kreativen ProzeB beim Zuschauer auszuliisen.

Denn die Kreativitat fangt an dem Punkt an, wie man die Welt versteht, und endet dann wieder

bei solchen Prozessen der Zuschauer. Ein Theater, das keine kreativen Prozesse in den Zuschauern

auslost, ist fur mich totes Theater.

NatOrlich ist der kreative Anspruch oder die kreative Phase wichtig fUr alle Bereiche der

Theaterarbeit. Aber innerhalb dieser Arbeit gibt es wieder spezifische kreative Begabungen. Das

ist ganz klar, daB der kreative Prozess des Schauspielers spezifisch ist, er gehiirt mit zu ihm. Und

die Kreativitat eines Regisseurs oder Dramaturgen oder eines Buhnenbildners ist eine andere. Das

Wesentliche fUr mich in der Arbeit ist, daB a lies dem moralischen Prinzip unterstellt wird, alles

machen zu konnen, damit jeder in seiner kreativen Miiglichkeit arbeiten kann und seine

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Kreativitat zur Entfaltung kommt. D.h man muB aufpassen, daB bestimmte lnstrumente, die man

sich in verschiedenen Konstellationen, mit verschiedenen Personen angeeignet hat, nicht

unkritisch Obernommen werden und man glaubt, damit weiterkommen zu konnen.

z. B. Improvisation: NatOrlich ist Improvisation der Weg, wo ein Schauspieler Kreativitat

entwickeln kann. Wenn die Improvisation eines Schauspielers jedoch da anfangt, wo eigentlich

nichts mehr zu improvisieren ist, dann hat sie keinen Sinn. Was heiBt Improvisation? Wir konnen

alles improvisieren. Aber zu meinen, das ware schon Kreativitat, ist eine Tauschung. Wir

produzieren zuerst einmal all das, was wir in uns drin haben. In dem Moment aber, in dem das

streng bewertet und dann gestrichen wird, fallt uns nichts mehr dazu ein, zum Thema Liebe z.B.,

zum Thema M ut. Man erreicht genau dann diesen Punk~. den viele KOnstler aus anderen

Bereichen, Schriftsteller oder Maler, kennen: am Punkt der totalen Einsamkeit steht man vor einer

weiBen Wand. Das ist fOr einen Schauspieler sicherlich ein besonders wunder Punkt, der fOr ihn

schwieriger zu ertragen ist als fOr einen Maler. Darum begreife ich Schauspieler, wenn sie ihre

Kunst so verstehen, als Opfer dieser Gesellschaft. Es ist ein schwieriger Punkt: Wenn man dann

doch eine Improvisation ansetzt, kann es sein, daB einige stundenlang, ja tagelang nichts zu

sag en haben und merken, daB man nichts zu sagen hat. Wenn man dann aber versucht, durch

Zusammenarbeit und Stichworte zu unterstOtzen, setzt ein bestimmter kreativer ProzeB ein.

Vielleicht nicht a lie gleich, und einige bleiben dann auf der Strecke. Das ist im Kollektiv des

Theaters manchmal so. Aber nur so, glaube ich, kommt man zu etwas Neuem. Nur so hat man

vielleicht die Chance, im Publikum den kreativen ProzeB zu vermitteln.

Teilnehmerin: lch habe zur lnszenierung von >Nachtasyl< eine Frage: lch habe den Eindruck, daB

die lnszenierung genau das Gegenteil dessen anstrebt, was der Text macht. Gorkis Text

beschreibt diese Nichtse, diese Taugenichtse, diese Niemande als lndividuen. Sie kommen a lie

dahin, weil es einen bestimmten Grund gibt. Der Text unternimmt eine lndividualisierung der

Figuren. Die lnszenierung macht fOr mich genau das Gegenteil. Sie nimmt das lndividuelle raus,

und es bleiben nur noch Typen Qbrig, soziale Grenzen, sehr krass, stilisiert und was an

lndividuellem drin ist, wird rausgenommen. Hat sich das im Lauf der Arbeit so entwickelt? War

das von Anfang an Konzept? Oder sehen Sie das ganz anders?

Helmut Schafer: An diesem StOck klebt natOrlich nicht nur eine Theatergeschichte, sondern auch

das Historische. Und oftmals ist es so, je naher diese Stucke uns historisch sind, desto

uninteressanter werden sie merkwurdigerweise im Unterschied zu solchen, die durch den

historischen Abstand vom Material befreit sind und zu denen wir einen ganz anderen Zugang

find en konnen, namlich wirklich den Zugang durch die subjektive Reflexion. Was den Gorki

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betrifft, so ist lhre Beobachtung uberhaupt nicht falsch. Gorki beschreibt diese Figuren mit ihren

Biographien, mit ihren Macken, mit ihrem ganzen Umfeld, und folgt damit einer bestimmten Idee

des Theaters seiner Zeit, der er sogar vorausgehen wollte. Dieses fast noch Naturalistische bei

Gorki, wurde man das in unsere Realitat versuchen zu ubersetzen, bleibt heute sprachlos. Es ist

uninteressant, ob der eine ein Saufer oder der andere kein Saufer ist, welche Hintergrunde der

eine oder der andere hat, das spricht heute nicht mehr.

Wir sind in einem gesellschaftlichen Zustand, in dem die Bedeutung des Biographischen,

die ubrigens nicht immer in der Geschichte existiert hat, mehr und mehr am Rande abnimmt.

Jetzt konnen wir einerseits daruber jammern und uns fragen, wo das Individuum bleibt, aber

andererseits kann man sich auch fragen, ob dies nicht ein bestimmtes, historisches Konzept des

lndividuellen gewesen ist, das im 19. Jahrhundert entspringt. D.h. wenn man sich mit einem

Material wie >Nachtasyl< beschaftigt, geht man in die falsche Richtung, wenn man den Puis des

lnteresses auf diese individuellen Eigenarten setzt und dabei unterschlagt, daB diese Eigenarten

von unserer heutigen Realitat weggewaschen werden. DaB sich Realitat uns heute so verandert

darstellt, sehen wir in jedem Fernsehfilm, uberall. Deutlich ist, daB der Untergang des Biogra­

phischen natQrlich auch damit zu tun hat, daB das Obergewicht des Gesellschaftlichen immer

gr6Ber wird. Wenn man, wie wir, >Nachtasyl< sozusagen nach vorne wirft, dann muB der Entwurf

schon einer sein, der diesen kauzig-biographischen Raum so nimmt, wie die Welt es heute tut.

Teilnehmerin: Darf ich nochmal nachfragen. Was Sie gesagt ha ben, habe ich auch so gesehen

und verstanden. Aber natQrlich gibt es Punkte, wo Sie sich auch ein Bein stellen. Wenn die

>Nachtasyi<-Truppe im 2. Teil auf Mallorca sitzt, ist einer dringeblieben. Das ist nun nicht zufallig

einer, sondern das ist der Auslander, wenn man das Stuck genau kennt. Kennt man das Stuck

nicht genau, weiB man nicht, wer das ist. Also werden doch Assoziationen unmoglich gemacht

fur Leute, die das StUck nicht genau kennen.

Roberto Ciulli: Jetzt stellen Sie sich vor, wir wurden behaupten, daB es nicht urn einen Auslander

geht, sondern nur urn Arm und Reich. Damit lose ich den Widerspruch auf zwischen einem

Kurden, einem Zigeuner und einem Deutschen. Das lasse ich offen. Wenn man sagt: "Schafft

Abhilfe, schafft Abhilfe!" dann meint man dam it immer nur die Dritte Welt. Aber die Dritte Welt

ist hier. Der Konflikt ist nicht zwischen den Auslandern und den Einheimischen, sondern zwischen

solchen, die immer weniger haben und ausgeraubt werden, nicht nur an Ressourcen, sondern

auch in ihren GefQhlen. Mehr Fortschritt, mehr Wachstum produzieren eine schlechtere

Lebensqualitat, bedeuten z. B. die Krankheit zu besiegen, vielleicht sogar den Tod. Eine sehr

phantastische Zukunft: Vielleicht wird das Le ben verlangert urn 100, 200 Jahre, man will fertig

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werden m it diesem Prinzip Tod. Dann wird eine Mutation vorstellbar von Menschen, die uber­

haupt nicht mehr die Miiglichkeit des Fuhlens ha ben, eine Mutation von Menschen, die eben aus

dem Grund, daB sie arm sind, noch den Schatz des GefUhls ha ben. Das ist das, was wir uns

gedacht haben. Das ist das, was wir miichten, daB man es spurt: diese Zukunftsperspektive, die

graBiich ist.

Teilnehmerin: 1st das Gorki-Stlick fur Sie Material gewesen, aus dem dann etwas ganz anderes

wird, oder soli das noch wirklich am Gorki entlanggearbeitet sein?

Roberto Ciulli: lch weiB nicht, was Gorki ist. Abgesehen davon, daB wir uns vorher informiert

haben, glaube ich, daB man mit der Geschichte des Theaters sehr vorsichtig sein muB. Die wahre

Geschichte des Theaters ist die, die nicht geschrieben wurde. Die geschriebene Geschichte ist

immer der Konsens zwischen der Gesellschaft und dem Theater der Zeit. Die wahre Geschichte ·

des Theaters ist die ungeschriebene, die der Schauspieler in den 30er, 40er Jahren oder im 9.

Jahrhundert ... Wieviel wurde uber sie geschrieben vielleicht im Verhaltnis zu Stanislawski und

Antonin Artaud.

Zu Gorki z.B. gab es politische lnterpretationen in den ersten flinf Jahren nach dem Bau der

Mauer. Das hat sich nach dem Zusammenbruch des Sozialismus viillig umgedreht. Nach dem

Zusammenbruch des Sozialismus ist Gorki heute negativ besetzt und wenn ich an 68 denke, an

die 70er Jahre, war Gorki ein positiv besetzter Autor. Man muB, glaube ich, doch sehr vorsichtig

an die Geschichte herangehen.

Teilnehmerin: Die Frage ist fur mich, ob das, was ich beim Lesen des Textes gedacht habe, was

der Text sich denkt, ob das noch eine Rolle spielt oder letztendlich keine mehr. Z. B. die Natascha.

Fur mich gehen die Grenzen zwischen Erster und Dritter Welt vie! starker querdurch. Mir war die

lnszenierung zu platt. Mir wares zu sehr schwarz-weiB. Fur mich geht es in dem Stuck differen­

zierter zu, auch durch die Personen wie Natascha. Das wurde verflacht. Es gibt ja auch noch die

Geschichte der sexuellen Ausbeutung im Stuck, die eine weitere Dimension ist und die das Ganze

auch nochmal in eine andere Richtung weitergetrieben hatte. Also ist meine Frage: 1st das

Material ein Material, mit dem ich machen kann, was ich will, oder ist das, was Gorki da gemacht

hat, noch wichtig?

Helm ut Schafer: Die Frage ist, ob das Material ein so starkes Wesen ist, daB es sich gegen

Zurichtungen wehrt. Und was macht man in dem Moment, wo der ProzeB dieses Sich-Wehrens

beginnt. Man wird ganz sicher darauf reagieren. Dennoch bleibt es Material, das sein eigenes

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Wesen hat. In unserem Fall, da stimme ich vollig zu, denn das war auch unser Interesse, sollte es

platt sein. I eh sage lhnen auch warum: weil die Wirklichkeit viel platter ist, als wir glauben. Und

wenn ich diese Wirklichkeit utopisch negativ verlangere, dann wird sie noch platter. D. h. daB die

Zurichtung der Wirklichkeit an Grausamkeit gewinnt, wenn wir sie fortassoziieren oder­

phantasieren. Es gibt heute z.B. einen Oberhang an lnformationen, der nicht mehr auswertbar

wird und sich innerhalb dieser medialen Realitat beschleunigt bewegt. Nicht die Geschichte ist zu

schnell, sondern die media le Realitat ist zu schnell. Noch bevor das Ereig nis stattgefunden hat, ist

die media le Realitat schon weiter. Dieser Komplexheit auf der einen Seite steht eine groBe

Plattheit der Wirklichkeit gegenuber. Daher riihrt unser Interesse.

Arnold Petersen: Sie haben gesagt, daB sich beim Lesen eines Textes herausstellt, was man

daraus beim Theater machen will. Mich interessiert jetzt - das Thema heiBt ja auch Asthetik und

Dramaturgie am Theater an der Ruhr und nicht die Asthetik von Herrn Schater und Herrn Ciulli­

welche Erfahrungen haben Sie in den vielen Jahren mit lhrem Ensemble gemacht?. Wenn Sie die

Objektivitat weitgehend ausschalten wollen bei der Betrachtung von Theatertexten und das

Subjektive so hoch werten, dann muB das doch in der Ensemblearbeit auBerordentlich schwierig

sein, die ganz verschiedenen subjektiven Einstellungen zum Text zu einer szenischen Einheit zu

bring en. Wir wissen von anderen Theatern, daB das meistens nur kurze Zeit gehalten hat. Wie

ha ben Sie das gemacht?

Klaus PierwoB: Vielleicht darf ich noch eine Frage anhangen. lch glaube, daB es fur viele von

uns, die irn Theater arbeiten, interessant ware, wie Eure jetzt seit zehn Jahren praktizierte

Arbeitsweise von der Vorbereitung, von der ersten Annaherung an ein StOck aussieht. lhr habt

von der groBen Wichtigkeit von Thernen gesprochen, und trotzdern ist es doch anders beim

Stadttheater, wo man sagt, fur Auslanderthema machen wir >Skins< von Griffith, fur das Therna

Antisemitismus rnachen wir Bernardi usw .. Konnt lhr das, weil es viele von uns auch gesehen

ha ben, am Beispiel von >Nachtasyl< exemplarisch fUr Eure Arbeit darstellen.

Roberto Ciulli: Wir sprechen jetzt wirklich von etwas Vergangenern. lch ha be imrner greBe

Schwierigkeiten zuruckzublicken. lch glaube, daB es fur Theater ganz wichtig ist, daB es sich

irnmer bewegt und nicht auf die Sicherheit in alien Bereichen aufgebaut wird. Man muB den Mut

ha ben, bestirnmte Arbeitsweisen immer wieder in Frage zu stellen und nicht denken, wir haben

jetzt den Schlussel, und dann geht es auch so weiter.

Wahr ist, daB wir in den ersten funf Jahren auf uberhaupt kein Interesse gestoBen sind. Wir

wurden kaum besprochen. Unser Publikum betrug in dem Raum, den Sie gestern gesehen haben,

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20 Zuschauer im Durchschnitt. Und das funf Jahre lang. Wir ha ben in der BRD den absoluten

Rekord darin, Abonnenten rauszukatapultieren. Ludwigshafen, wo innerhalb von 10 Minuten 600

ivienschen rausgegangen sind, steht an der Spitze. Wir ha ben bestimmt zwischen 100 und 500

Vorstellungen, die vom Publikum unterbrochen wurden und ich muBte raus, um das Publikum zu

bitten, aufzuhoren. Wir sind einen langen, schwierigen Weg gegangen. Und wenn wir nicht so

eine starke Methodik entwickelt hatten, hatten wir das vielleicht nicht gemacht. Das ist diese

Strenge.

Und wie sieht es nun aus? Die personelle Konstellation hat zum Dialog zwischen Helmut

Schafer und mir gefGhrt. Es hat sich ergeben, auBer in der Zeit mit Gordana Kosanovic, daB dieser

Dialog eine Sache von uns beiden ist. Dadurch ist dann entstanden, daB wir den Vorschlag lion

Themen und StGcken machten. Es gibt eine erste Phase, die ziemlich intim ist, an der das

Ensemble nicht oder nur peripher beteiligt ist. Heute ist die Konstellation jedoch schon wieder

anders. Z. B. ist da jetzt ein Schauspieler, der einen Einstieg in diese thematische Diskussion hat.

Dann kommt der nachste Schritt. D.h. wo wir mit den Schauspielern, m it den KostGm- und

Buhnenbildnern und alien anfangen, uns mit dem StOck zu beschaftigen. Es steht schon eigentlich

eine Idee, in welche Richtung. Aber da fangen wir an und nehmen uns die Zeit, die wir brauchen.

Es ist unterschiedlich. Manchmal sollte man im Interesse des StGckes nicht zu lange machen, weil

das StOck sonst zusammenbricht, aber es gibt Stucke, die halten durch. Und dann fangt am

runden Tisch ein !anger ProzeB an, in dem wir versuchen, in einem diskursiven ProzeB doch eine

sinnliche Vorstellung des Materials gemeinsam zu erarbeiten. Da ist der Punkt, woman streng

wird, wo man sagt: Dies gehort nicht dazu, das gehort dazu.

Dann gibt es einen Besetzungsvorschlag von uns, aber die Besetzung wird standig

geandert. Wir losen gemeinsam, was wir machen wollen. Wir machen z.B. >Hamlet< und ein

Schauspieler sagt, er will den spielen. Dann kommt ein groBes Gelachter, weil alle sag en, er wird

ihn sowieso nie spielen. So fangt es an, und dann landen wir werweiBwo. Die Schauspieler sind

an diesem ProzeB nicht mit ihrer spezifischen Kreativitat beteiligt, mit Kreativitat, aber nicht mit

ihrer spezifischen Kreativitat. Wir versuchen in diesem langen ProzeB, alles so zu versinnlichen,

und wenn wir den Eindruck ha ben, wir konnen anfangen zu improvisieren, dann gehen wir runter

und fangen an mit den Proben. Fruher hatte ich ganz tolle Bucher und wuBte ganz genau, wie

der Schauspieler die Hande bewegen muB, wieviele Zentimeter etc. Heute sind die Bucher ein

leeres Blatt. Es gibt kein Probieren auf Verabredung, es gibt nicht den Versuch, eine Entwicklung

vorwegzunehrnen. VVir versuchen, das Proben und das Sple: auf Null zu biingen, d.h. dei eiste

Tag der Probe ist auch der erste Tag fUr das Spiel. lch glaube, das ist eine sehr wichtige

Geschichte, daB Schauspieler nicht denken, es gibt eine Phase von Entwieklung, und danach

fang en sie an zu spielen. Man kann nicht probieren, daB man Gefuhle hat. Entweder man hat ein

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Gefuhl oder nicht. Deswegen lassen wir die Schauspieler vom ersten Tag an spielen. Dann haben

wir durch die Improvisation die zwei Funktionen: Man steigt eine Leiter entweder runter in die

Holle oder hoch in den Himmel durch das, was die Schauspieler in einem Moment, durch das

Thema prazisiert, miteinander tun. lrgendwann macht man die Tu re auf, das Publikum kommt,

und es gibt eine Premiere. lch finde, man muBte die Premiere abschaffen. Was heiBt eine

Premiere? Man hat eine gesellschaftliche Verabredung und die Turen gehen irgendwann auf. Und

dann geht es weiter. Denn jetzt ist es ein Spiel mit dem Publikum. Jetzt muB es von den

· Strukturen die Moglichkeit geben, daB die Schauspieler mit dem Stuck alter werden konnen, sich

entwickeln und andern, weil die Zeit sich andert. Das ist interessant und das Gegenteil jener

· Wegwerf-Konsumhaltung der meisten Stadttheater, in denen sich ein Schauspieler daflir

interessiert, wieviel Premieren er in einem Jahr gemacht hat und nicht wieviele oder wielange er

eine Rolle spielen kann.

Johannes Richter: Ein Kollege sagte mal zu mir: Der Dramaturg ist doch der Sachwalter oder der

Anwalt des Autors. lch habe ihm gesagt: Was weiB ich denn, was Lessing, Schiller, in diesem Fa lie

Gorki, wirklich gemeint haben. Da helfen mir Eintragungen von Autoren, da helfen mir wissen­

schaftliche Untersuchungen letztendlich nichts. lch bringe das deshalb an, weil wir diese

Diskussionen im Gebiet der ehemaligen Reichsbahn auch Qber Jahre hinweg gef(ihrt haben. Es

gab bei uns Haltungen zum Theater, die versucht haben, der Objektivitat des Textes gerecht zu

werden. lch weiB !eider nicht, was das ist: Objektivitat des Textes. Wir hatten jedoch genauso

Phasen, wo wir den Text als Staff genommen haben und damit gearbeitet haben. So einen

Umgang mit einer Textvorlage wie gestern a bend ha be ich in meinen Theaterjahren etwa nur bei

Castorf erlebt.

Meine Frage ist: Wenn wir mit den Texten so rigoros umgehen, und wenn Sie sagen,

das Kreative liegt vor allem in der Themensuche, in der Umsetzung, dann finden wir doch, daB

wir uns dann nicht mehr auf Autoren des Mittelalters und der Romantik und des Naturalismus

zu verlassen brauchen? Auf diesen Sprung der Theaterleute oder Theatermacher warte ich

eigentlich.

Ein zweites Problem: Naturlich kam mir >Nachtasyl< gestern abend auch uberdeutlich vor.

lch denke, der unbelastete Zuschauer ist da wirklich unbelasteter. Er fragt nicht nach den

Auslandern, er fragt nach den Differenzen mehrerer lnszenierungen desselben Autors. Wer das

StOck schon mehrere Male gesehen hat, konzentriert sich wirklich nur auf die Aufflihrung? Das ist

ein Problem, mit dem ich immer wieder zu kampfen habe. lch habe gestern abend naturlich auch

wieder versucht, die Figuren herauszusuchen: Die kennst du doch eigentlich ganz anders, das ist

doch eher ein boser Mensch und das ist doch eher ein guter .... Und das ist falsch. Wir tragen

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naturlich, ob wir wollen oder nicht, die Theatergeschichte im Gepack mit rum, und die start uns

wahrscheinlich jetzt immer mehr, neue Wege im Theater zu gehen.

Helmut Schafer: lch will ganz kurz antworten. Wir brauchen diese Texte, und es ist immer

anders, immer neu. I eh gebe lhnen ein Beispiel. In >K6nig Odipus< ha ben wir fast nichts

gestrichen. Das liegt am Material. D. h. ich kann nicht vorentscheiden und zu meinem Prinzip

erheben, immer Zweidrittel zu streichen. Das wurde keinen Sinn machen. lch fur mich behaupte,

daB ich diese Texte brauche. Die antiken Materialien, Shakespeare ... lch brauche diese Texte, weil

in ihnen schon etwas aufbewahrt ist, das man wiederentdecken muB. Wir sollten nicht glauben,

daB Autoren unserer Zeit oder kurzlich verstorbene, uns also noch sehr nahe Autoren, sehr viel

hellsichtiger uber unsere Gegenwart schrieben als Autoren, die schon seit 2000 Jahren tot sind.

Da gibt es hellsichtigere Texte als die, die heute ges<Ohrieben werden uber unsere Zeit. Aus

verschiedenen Grunden, die man objektivieren k6nnte, hat eine bestimmte Zeit, z. B. die Zeit der

antiken Polis, Reflexionen und Empfindungen m6glich gemacht hat, die heute eigentlich sehr

schwer zu kreieren sind. lch brauche diese Texte unbedingt. Naturlich, es hat in den spaten 70er

und fruhen 80er Jahren Theaterleute gegeben, die versucht haben, ohne diese Texte Theater zu

machen. Das ist ja keine Novitat. Aber das ist nicht das Theater, das wir machen.

Teilnehmerin: lch m6chte folgendes fragen: Das theoretische Material ist ein Text, und man hat

W6rter, man hat das Material von Menschen, Schauspieler, Buhnenbildner, Lichttechniker. Aber

Sie haben diese eigentlichen Themen, die Idee uber das Leben, wie die Menschen sind, und uber

diese Dinge. Was ich gerne wissen m6chte: Sie ha ben eine Gruppe, eine Gruppe Menschen, die

Theater machen. Und ein Theater, wie wir es gestern abend mit >Nachtasyl< gesehen ha ben,

kann doch nur gemacht werden von einer Gruppe, die voneinander weiB, was die einzelnen uber

das Leben den ken. Das geh6rt zusammen. Bei uns in Holland ist es in den letzten Jahren sehr

individualistisch geworden. Anstelle von Gruppen .. s~eht jetzt jeder fur si eh als ein Individuum.

Was mich fasziniert ist, daB Sie imstande sind, so eine Gruppe zusammenzuhalten. Wie geht das

vor sich?

Roberto Ciulli: lch muB lhnen sag en, wir sind keine Gruppe und sind es nie gewesen. Es ist

lediglich der Eindruck, den wir durch die lnszenierung geben. Das hangt damit zusammen, daB

das, was der- Schauspieler tut, von innen kornrnt. Es gibt nichts, was er rnacht, daB lhm jemand

gesagt hatte. Man hat ihm etwas uber das Was gesagt, aber uber das Wie hat er die M6glichkeit

gehabt, es selber herauszufinden. I eh halte die Meinungen von Gruppen an Theatern fUr falsch,

weil damit eigentlich eine Verlangerung der Sehnsucht, in einer Gruppe zu leben, gemeint ist. I eh

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sehe sehr viele Miiglichkeiten scheitern, weil die Leute nur dieses Model! verlangern wollen. Wir

haben uns nie a is Gruppe verstanden. lch kann ihnen sag en, es gibt kaum einen Schauspieler, mit

dem ich es !anger als 24 Stunden in einem Raum aushalten wiirde. Eigentlich ist die Erfahrung der

ganzen zehn Jahre: Wenn man sich auBerhalb der Arbeit in bestimmten Situationen befindet, ist

es eine Katastrophe. Aber innerhalb der Arbeit gibt es Konstellationen von Personen, die mit '

dieser Utopie, Theater und Leben, enger zusammenzufiihren keine Schwierigkeiten haben. Aber

das funktioniert auf der strengen Ebene der Arbeit und innerhalb des Ganzen nur selten.

Helmut Schater: lch glaube, daB Theater, wenn es sich einer miiglichen Wahrheit nahert,

ohnedies hochpolitisch ist, ohne daB die unmittelbare Spiegelung der Gesellschaft, in der wir

leben, auf der Biihne stattfindet. Der Versuch dieser unmittelbaren Spiegelung ist ein TrugschluB.

Ahnlich wie ein sehr altes Material vie! beredter Gber unsere Zeit sein kann als ein gegenwartiges,

so glaube ich, daB haufig die Materialien aus unserer Gegenwart, die sich in ihrem Selbstver­

standnis als politisch begreifen, merkwiirdigerweise sehr unpolitisch sin d. lch glaube auch, daB

man soviele Themen in seinem Leben nicht hat, wenn man sie sich nicht standig von der

Gesellschaft aufschwatzen laBt. Das heiBt nicht, daB man sich nicht tagtaglich mit dem, was in

der Welt passiert, genau auseinanderzusetzen hat. lch glaube aber, daB das Theater keine

journalistische Veranstaltung sein kann, wo man auf derlei Dinge reagiert. Das Theater ist selbst

nicht der Ort einer unmittelbaren politisch-journalistischen Reaktion. Vielmehr meine ich, und

fasse damit mal zusammen, was "Thema" heiBt, daB das Theater eigentlich die Auseinander­

setzung mit der Zeit ist. Aber nicht nur mit der Zeit im aktuellen Sinn, sondern mit Zeit Gberhaupt.

lch sehe, daB das wesentliche Interesse am Theater doch darauf zugeht, die Zeit endlich einmal

von ihrem qualenden FluB befreit zu sehen als Augenblick. Das hat eine Unmittelbarkeit, ganz

unabhangig von einem Thema, oder der Situation, die einen wirklich bewegt, wo wirklich ein

ProzeB in einem beginnt, weil man, was diese Gesellschaft standig verhindert, erlebt. Diesen

Augenblick zu erleben, diese verdichtete Geschichte, Geschichte verdichtet auf den Augenblick,

befreit von den Qualen der Zeit, ist etwas, was im Theater Gberhaupt von Interesse ist, was mich

am Theater vielleicht am meisten interessiert. Denn ich kiinnte auf a lie gegenwartigen Probleme,

die uns im Nacken sitzen, sonst auch anders reagieren. tch kann schreibend darauf reagieren, ich

kann redend darauf reagieren. lch kann also innerhalb der existierenden oder noch zu erfinden­

den politischen Foren darauf reagieren. Das ist es nicht, was das Theater zwingend macht.

Teilnehmerin: Wares eine Grundidee, die von lhnen vorgegeben war, daB zum "Nachtasyl" noch

Brechts >Ausnahme und die Regel< hinzukam?

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Roberto Ciulli: Die Zusammenstellung ist zufallig entstanden. Es gab eine Zeitlang eine Konzen­

tration auf diese beiden Stucke. Wir hatten beide StOcke im Blick bezuglich dieser Themen. Und

dann kam der Vorschlag, warum man nicht diese beiden zusammen machen konnte.

Teilnehmerin: BezOglich dieser Mischung ha be ich ein sehr gespaltenes Verhaltnis, gerade was

die Kategorien Erlebnis und Erfahrung angeht. !eh habe ein Stuck erlebt, in dem Sein und Schein

durch eine sehr scharfe Grenze getrennt waren. Es gab diese eine Ebene des Scheins, die weiBen

Figuren, und auf der anderen Ebene war dieses Sein der Elenden. I m zweiten Teil wurde diese

Grenze, diese starre Grenze, aufgebrochen. Und zwar auf eine durchaus negative Art. !eh hatte

das GefUhl, daB diese Grenze jetzt eigentlich zwischen dem ZuschauerrauiT] und der BOhne sich

etabliert hat und genauso durchlassig ist: Dort spielen die Schauspieler einen Schein und das Sein

besteht·aus meiner Wirklichkeit. Nur das ist kein reines Erlebnis. Was ich gestern gesehen habe,

beschaftigt meine Erfahrung. I eh bin eigentlich mit sehr vielen Fragen rausgegangen. 1st es das,

was Sie meinen oder ist das Erlebnis theaterasthetisch-dramaturgisch nur noch negativ

darstellbar?

Roberto Ciulli: Einen Dramaturgen zum Erleben zu bringen ist wirklich sehr schwierig. Wir sind

das schrecklichste Publikum, Dramaturgen, Regisseure, das ist klar. Wenn wir von Erlebnissen und

Kreativitat reden, meine ich etwas ganz Einfaches. Es gibt kein Publikum, erstmal sprechen wir

von Menschen. Die sitzen da und sehen was. Welches ist jetzt die Moglichkeit, die Kreativitat

einzuschalten. Wir sprechen von Kreativitat, um dazu zu kommen, etwas zu erleben. Es gibt die

Moglichkeit, daB das Theater in diesen Personen etwas auslost, vielleicht etwas Ahnliches wie

Schockwirkung. Wir konnen Ober eine Schockwirkung sprechen. Die lost in bestimmten

Augenblicken - zwei Stunden lang kann man das nicht durchhalten - eine Erinnerung an die

Kindheit aus oder etwas, was vergessen war oder in einer Kammer war. Und dann fangt seine

Interpretation an. Dieser ProzeB der Nichtobjektivierung reduziert sich nicht auf den Text. Auch

eine AuffOhrung ist nicht objektiv. D. h. ich ha be keinen Anspruch, daB die Zuschauer die Signa le,

die wir geben, unbedingt verstehen sollen oder konnen. Zunachst einmal als Regisseur, dann gibt

es noch die ldentitat des Schauspielers ... Dieser ProzeB der Nichtobjektivierung, das freie Aus­

gehen von verschiedenen Situationen, das ist das lnteressante im Theater. NatOrlich, wenn wir

mit all diesen Kenntnissen ins Theater gehen, ist das schwierig. Die leute, die vie! wissen, sind

immer in Gefahr, Analphabeten zu sein, w~s Theaterrezeption angeht, eher als echte

Analphabeten.

Teilnehmer: lch fand an diesem faszinierenden Abend eine Geschichte erzahlt, die mir sehr

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eingeleuchtet hat. Sicher ist es nicht mehr das StUck von Gorki, so wie es aufgeschrieben war,

aber ein Destillat aus diesem Gorki-Stuck, uber die Dialektik von Herr und Knecht, von Oben und

Unten. An einem bestimmten Punkt schlagt dann die Sache urn. Die Erniedrigten und Beleidigten,

die ihren Kerker verlassen, verhalten sich in dem Moment, wo sie etabliert sind, ahnlich den

Privilegierten. Und nun erzahlen sie sich als PartyspaB eine thematisch dazugehorende Geschichte,

namlich die >Ausnahme und die Regel<. Nur hat dieser PartyspaB zum SchluB ein sehr ernstes

Gesicht gewonnen. Diese Atmosphare, daB Leute sich einen Jux machen aus einem Stuck, war

plotzlich verschwunden, und das Stuck horte mit einer Art Hilfeschrei jener Figur auf, die mal die

Nastja war, also so einer Art Schrei. Das Stuck hatte also zum SchluB einen groBen Ernst. Das

ha be ich also" zunachst nicht mehr zusammengekriegt mit meinem Dramaturgenverstand, aber

vielleicht konnte es so sein, daB tatsachlich dann in dieser Gesellschaft ein ErkenntnisprozeB

stattgefunden hat. lch weiB nicht, ob das bewuBt so ist, ob sich da tatsachlich der Brecht so

durchgesetzt hat, das ursprungliche Konzept plotzlich starker geworden ist, als das mal ange­

fangen war.

Roberto Ciulli: lch kann mir vorstellen, daB viele Menschen erstmal in diese Falle gehen. D. h.

daB es lustig und nicht lustig ist. lch kann mir schon vorstellen, daB das eine Schwierigkeit ist. Die

Schwierigkeit ist dann, diesen Sprung zu machen. tch kann mir nicht vorstellen, daB jemand, der

weiB, daB es sich urn Brecht handelt, uns unterstellen kiinnte, daB wir so etwas tun, urn Brecht

durch den Kakao zu ziehen.

Eigentlich ist es von vornherein eine ungeheuer bittere Geschichte. Es gibt nicht viel Grund

zu lachen. Aber die bittere Geschichte ist fUr die, die schreiben, die einzige Moglichkeit,

politisches Theater zu machen. Wie die Spiele Rauber und Gendarm, wie die Spiele der Morder,

der Freizeit. lch kann mir vorstellen, das Thema ist Waldzerstorung, Drogen. Das spielt man im

Club Mediterranee, das wird alles in Unterhaltung aufgelost. Und wir merken uberhaupt nichts

mehr, weil es genau wie RTL ist oder die ganze Masse von Diskussionen im Fernsehen, die uns

die Moglichkeit des Erlebens in einem Staat, in einer Gesellschaft, in der man wirklich Gegensatze

diskutiert, rauben. Denn eigentlich diskutiert man im Fernsehen uberhaupt keine Gegensatze. Es

ist a lies in Butter. DaB es aber in dieser Welt Menschen gibt, an denen nur das GefUhl geblieben

ist, daB etwas passieren sollte: Es gibt die Sehnsucht von Leuten, die sagen, es muB etwas

passieren. Dies ist genau diese Figur von Tante Nastja, der emotionalen Figur, die eine Geschichte

aus einem Buch erzahlt und nicht Realitat und die am SchluB das wichtigste und wertvollste

GefUhl des ganzen Abends reinbringt.

Ulrike HaB: Es zwickt mich doch, jetzt zum SchluB etwas zu diesen Seh-Erfahrungen zu sag en, die

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mitgeteilt wurden. lch denke, es gibt im Sehen von Theater einen Punkt, der kann in einem StOck

auftauchen, oder kann nach dem Sehen mehrerer StOcke auftauchen, es gibt einen Punkt des

bereitwilligen Sehens oder des bereitwilligen Folgens, der ganz sicher damit zusammenhangt, daB

das Nachdenken, die gedankliche Konstruktion, die man da macht, wahrend man sieht, aufhort,

daB die Geschichten aufhoren. Die Geschichten, mit denen das StOck von vornherein belastet ist,

aber auch die Geschichten, die dazu gedacht werden mOssen, indem es einen Geschichtenzwang

auch im Zusehen gibt.

Als ich gehort ha be, daB >Nachtasyl< gemacht werden soli, dachte ich zunachst mal, das

geht auf jeden Fall schief. Dann gab es noch einen Film im Fernsehen, da gab es Probenaus­

schnitte zu se hen und auch aufgrund dieser Ausschnitte ha be· ich gedacht, das geht nicht: Man

kann das Elend, an dem man partizipiert, indem man dran vorbeigeht, an Sterbenden in der

Frankfurter U-Bahn z.B. tagtaglich, nicht darstellen. Das laBt sich nicht darstellen. Was ich dann

das Oberraschende fand an der AuffOhrung, daB mit Hilfe dieser Kristallisation urn etwas, das

Macht bedeutet, an der man partizipiert, egal, auf welcher Seite man sitzt, fOr mich deutlich

wurde, daB man Elend nicht erklaren kann. DaB es dafOr okonomische Theorien oder moralische

Utopien gibt, die dann oft mit den Geschichten von Personen zu tun ha ben, aber daB der Skandal

darin besteht, daB Elend existiert und nicht behoben werden kann. Elend kann nicht erklart

werden. Und diese Erfahrung stellte sich fOr mich eigentlich dadurch ein, daB den Figuren die

Erklarung fast systematisch entzogen wurde, und dadurch die AuffOhrung auch langsamer wurde

und irgendwann das Verstehen mOde wurde und aufgegeben hat. lch denke, daB das ein Punkt

ist, an dem man beginnt, bereitwillig zu folgen und daB es ein sehr wichtiger Punkt ist fOr das

Theater, dies zu ermoglichen fOr die, die sehen.

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0BER DIE (UN-)MOGLICHKEIT, DIE M0LHEIMER STRUKTUR

AUF AND ERE THEATER ZU 0BERTRAGEN.

EIN GESPRACH MIT ROBERTO CIULLI, HELMUT SCHAFER,

HANS HERDLEIN UNO SABINE SCHONEBURG

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Klaus PierwoB: Vorweg nur wenige Anmerkungen. Die Strukturdebatte, die eine alte ist, ist in

den letzten Monaten mit zunehmender Heftigkeit gefQhrt worden, vor allem aus dem Grund

heraus, daB in den neuen und alten Bundeslandern Geld fehlt. Den Politikern fallt natlirlich ins

Auge, daB das Theater an der Ruhr als kQnstlerisch sehr renommierte Institution mit relativ wenig

Subventionen auskommt und einen ungeheuer g roBen Anteil selbst einspielt. Meistens sind es

diese beiden, von den Politikern vollig isoliert betrachteten Aspekte, die sie sagen lassen: Warum

machen wir so etwas wie in MQiheim nicht auch bei uns oder versuchen, das zu Qbertragen. Um

die Frage, wieweit das Qbertragbar und nicht Qbertragbar ist, soli es heute gehen. Als Einstieg

dafQr lese ich ein Zitat aus dem AusschuBprotokoll des Kulturausschusses von Nordrhein·West­

falen vom 20. Mai, wo der stellvertretende Prasident des Stadtetages in NRW und BQhnenvereins­

mitglied, wenn ich richtig informiert bin, folgendes gesagt hat: "Das Theater an der Ruhr gehort

aus gutem Grund nicht dem Deutschen BQhnenverein an. D. h. es unterliegt keinerlei Bindungen in

irgendwelche tarifvertraglichen Dinge und ist eine Institution zur Selbstausbeutung von KQnstlern,

wenn man es negativ, vom gewerkschaftlichen Standpunkt aus betrachten will: Jeder KQnstler hat

dort einen Solovertrag, der aber nicht einmal an dem festhalt, was normalerweise dem Vertrag

vom Deutschen Buhnenverein zugrundeliegt. I m Theater an der Ruhr ist jeder verpflichtet, zu

jeder Zeit a lies zu machen, was ohne Zweifel nicht dem entspricht, was bei einem normalen

Theater fallig ist." Soweit dieses Zitat.

Aus gewerkschaftlicher Sicht wird also kritisiert, ich formuliere es jetzt mal sehr provokant:

Herr Ciulli, Helmut Schafer, ihr betreibt Selbstverwirklichung auf Kosten der Selbstausbeutung.

Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, daB die Theaterbetriebe, die offentlichen

Theaterinstitutionen, in denen wir arbeiten, zunehmend gekennzeichnet sind durch Finanz­

knappheit, durch eine lnfragestellung der Subventionen. Das ist aus meiner Sicht insofern nicht

gerechtfertigt, als die Theaterhaushalte auch nicht starker gestiegen sind als die offentlichen

Haushalte insgesamt, Theater indes teurer wird, als die zunehmend geringe Zahl der Vorstel­

lungen, die man spielt, natQrlich eine latente Verteuerung in sich bergen. Zudem wird in diesen

Apparaten eine zunehmende Entfremdung beklagt von denen, die darin arbeiten. Und das ist

auch meine Erfahrung, daB sich in der taglichen Arbeit immer wieder die Frage stellt: Bestimmt

der Apparat uns oder bestimmen wir den Apparat? Die Theater werden immer unbeweglicher in

der Art, wie sie produzieren und wie sie die Produktio-nen prasentieren. Deshalb fUr mich eine

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. .

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zweite Frage, ob nicht gerade diese vertragliche Vereinbarung, die es hier auch am Theater an

der Ruhr gibt, und uber die wir gleich Details erfahren wollen, ob nicht diese vertragliche

Vereinbarung nichts anderes ist als der erfolgreich praktizierte Versuch, die Arbeitsverhaltnisse

innerhalb des Theaters wieder auf die kunstlerische Produktion zuruckzuorientieren. In einem

Interview mit >Theater heute< hat Roberto Ciulli formuliert, man musse den Betrieb wieder mit

Theater infizieren. lch finde dies eine sehr gute Formulierung, die jedoch gleichzeitig ganz klar

macht, daB in dieser Nichtinfektion mit Theater die Krankheit unserer Apparate liegt.

Roberto Ciulli: Zuerst dazu, daB sie berichtet ha ben, daB Politiker an unserem Model! interessiert

sirid aufgrund seiner Finanzierung. Es ist nie unser Interesse gewesen, irgendwie den Beweis zu

erbringen, daB man Theater mit weniger Geld machen kann. lch bin fUr eine hundertprozentig

subventionierte Theaterlandschaft. Andere Staaten, z. B. die Turkei, sind weiter vorn als Deutsch­

land, denn die Turken haben ein Theatersystem, das hundertprozentig subventioniert wird. In

Deutschland haben wir eine Subventionierung von 85 bis 95 Prozent. Hundert Prozent muBten

von der Gesellschaft gefordert werden. Die Frage ist, ob die Gesellschaft daran glaubt, daB die

Theaterarbeit eine notwendige Arbeit ist. Unser Interesse ist es zu zeigen, was man machen

konnte, wenn man das Geld hat, das die Theater zur Verfugung haben, was man machen konnte,

wenn eine radikale Reform im deutschen Theatersystem eingeleitet wurde. Wir ha ben nicht das

Interesse zu zeigen, daB man es auflosen sollte. Das deutsche Stadttheatersystem ist eine der

wichtigsten Strukturen in Eurqpa, was Theater betrifft. Aber eben nicht so, wie es ist. Nach zehn

Jahren mussen wir feststellen, daB sehr viele Argumente, die schon vor zehn Jahren gebraucht

wurden, heute mehr Resonanz bekommen. Wir haben vor fUnf Jahren sehr lange einen Dialog

mit der Gewerkschaft gefUhrt. Doch niemand in der Gewerkschaft will wirklich den Dialog mit

uns. Wir ha ben den Dialog mit dem Buhnenverein gesucht. I eh sage sehr polemisch, daB sich der

Buhnenverein auflosen sollte.

Man muBte eine andere Moglichkeit finden. Denn der Buhnenverein versteht sich als

Arbeitgeberverein, und da setzt fUr mich der erste kritische Punkt ein: I eh verstehe mich am

Theater nicht als Arbeitgeber, sondern vielmehr als Arbeitnehmer. Aus diesem Grund verfolge ich

schon seit langem den Plan, eine neue Gewerkschaft am Theater zu grunden, die klarmacht, daB

a lie Beschaftigten am Theater ein gemeinsames Interesse ha ben, vom Pfortner bis zum

lntendanten. Die Arbeitsplatze der Techniker sind natOrlich anders als die der Schauspieler auf der

Buhne. Aber wenn dann im Theater solche Situationen entstehen, daB es das Interesse eines

Schauspielers ist, die Premiere am Sonntag zu machen, weil er meint, dam it eine bestimmte

Qualitat zu erreichen, dann muB das eben moglich gemacht werden. Was den Vorwurf gegen

unsere Vertrage betrifft, so sind sie offentlich. Jeder kann unsere Vertrage einsehen oder ha ben.

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Die Vertrage sind a us einer bestimmten Situation heraus entstanden. I eh war Mitglied des

Schauspieldirektoriums in Koln. In Koln habe ich sieben Jahre lang Erfahrungen mit einem

Stadttheaterapparat gemacht und habe dabei natlirlich bestimmte Dinge bemerkt. Aus dieser

Erfahrung heraus, als wir das Theater an der Ruhr grundeten, haben wir gesagt: Wir mochten

uns die Tarifvertrage mit Schauspielern, Technikern und kunstlerischer Leitung an einem Tisch

zusammen ansehen. Wir haben dann Paragraph fUr Paragraph danach beurteilt, was uns sinnvoll

und was uns nicht sinnvoll erschien. Das war ein ProzeB, an dem alle Abteilungen des Theaters

beteiligt waren. So sind unsere Vertrage entstanden. Erstaunlicherweise sind diese Vertrage bis

heute da. lnzwischen haben wir eine groBe Fluktuation in der Technik, bei den Schauspielern.

Diese Vertrage wurden jedoch nie in Frage gestellt. Hin und wieder wurden winzige Korrekturen

gemacht. Was das Okonomische betrifft, so nehmen wir per Vertrag an alien Erhohungen teil, die

die Gewerkschaft kennt. Die Vertrage unterscheiden sich vielleicht • ich rede immer von den

Schauspielern - von normalen Tarifvertragen in dem Punkt, daB wir nicht in den Vertragen stehen

haben, daB z. B. ein Schauspieler das Recht hat, zwei Rollen in einer Spielzeit zu spielen. Sollte ein

Schauspieler die Rolle wechseln, kann er nicht beanspruchen, daB die andere Rolle die gleiche

Bedeutung oder GroBe hat V.'ie die vorhergehende. Diese Dinge wurden von Schauspielern

vorgeschlagen. Wir sehen einfach eine Gefahr darin, wenn der soziale, der gewerkschaftliche

Aspekt in den kunstlerischen hineinlangt. Wir waren uns ganz einig, daB einige Krankheiten des

Stadttheaters in der Vermischung von sozialem und kunstlerischem Interesse bestehen. Es ist viel

besser, einen Weg zu gehen, der das soziale Interesse klar definiert und Schauspielern die

Moglichkeit gibt, sozial geschutzt zu sein wie jeder in der Gesellschaft, der aber andererseits nicht

das kunstlerische Interesse beeintrachtigt.

Klaus PierwoB: Herr Herdlein, was spricht eigentlich dagegen, daB das Beispiel MGiheim nicht

isoliert bleibt, wenn es bei dieser hausinternen organisatorischen Regelung doch etwas gibt, das

von den Beteiligten im Grundsatz und auch in der breiteren Zustimmung gewollt wird? Es gibt

jetzt in Berlin das aktuelle Beispiel des Berliner Ensembles unter dem neuen Funfer-Direktorium,

das sich mit 1. Januar 1993 umwandelt in ein Privattheater mit offentlicher Subventionierung, das

aus dem Buhnenverein austritt und damit auch aus der Verpflichtung der tarifvertraglich

festgelegten Struktur. Besteht nicht doch die Gefahr einer gewissen Signalwirkung? "MGiheim",

"Berliner Ensemble", das sind ja vielbeachtete Modelle: Wenn sie funktionieren sollten, wird sich

das fortsetzen. Die Frage ist, was spricht dagegen, daB ein derartiger ProzeB in Gang kommt?

Hans Herdlein: Mein Problem ist, daB ich hier so gut wie keinen gemeinsamen Bezugsrahmen

herstellen kann, um die Position der Gewerkschaften aufzufachern. Was hier gemacht wird,

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scheint idealtypisch, groBartig zu sein. Meine Gegenthese ist die, daB das ganz ausschlieBiich

etwas m it der kOnstlerischen Potenz des Herrn Ciulli zu tun ha ben muB, daB derartiges

funktioniert. Was mich zu dem Artikel Ober das "Ciulli-Syndrom" veranlaBt hat, ist folgendes:

Man muB sehen, in welchem Umfeld sich welche Diskussionen bewegen. Diese Damonisierung

der Tarifvertrage geht geraume Zeit zurOck. Wir wissen urn den Legitimationszwang, unter den

die gesamte Theaterlandschaft 1974 durch den Aufbruch der 68er gestellt wurde: Wozu gibt es

euch Oberhaupt? BegrOndet diese vor sich hin stehenden Apparate! Was sich heute als Position

Ciullis darstellt, ist eine radikale Gegenposition zu dem, was ist. Das ist sein gutes Recht, dem

KOnstler sei das unbenommen.

Aber inwieweit kann man die Verhaltnisse MOiheims auf andere BOhnen Obertragen?

Und damit kommen wir zum springenden Punkt: Wenn man die Diskussionen urn diese Themen

verfolgt, muB man immer wieder feststellen, daB Theaterleute, die es wirklich besser wissen

mOssen, in der Offentlichkeit auch noch dazu beitragen, den Eindruck zu erwecken, als seien

diese "damlichen KOnstlervertrage" von dummen Gewerkschaften gemacht, die die Realitaten

des Theaters nicht sehen. lch meine, daB hier unter Fachleuten eine praszisere Diskussion gefOhrt

werden muB. lch bin nicht so apodiktisch zu sagen, daB nur meine Postition herauskommen kann.

lch meine nur, daB man dem primitivsten Rechtsgrundsatz entsprechend der anderen Seite Gehor

geben mu B. Herr Ciulli ist nie an uns herangetreten. Wir hatten eine einzige Begegnung auf

einem Berliner Theatertreffen, wo wir anlaBiich der Fragen von Mietverlangerungen am Theater

aneinander geraten sind. Mehr haben wir zwei uns eigentlich nicht auseinandergesetzt. I eh habe

mich neuerlich eingeschaltet, weil ich mich von dem zutiefst getroffen fOhlte, was Sie, Herr Ciulli

in >Theater heute< ausgesagt ha ben. Es gibt nichts, warum ich gegen Ciulli sein sollte, der bis

dato immer gesagt hat, MOiheimer Verhaltnisse seien nicht ohne weiteres Oberallhin Obertragbar.

Darum meine ich, daB sich unsere Untersuchung darauf konzentrieren sollte, was an Elementen

dieses MOiheimer Vorgehens fOr andere relevant sein konnte- und darin besteht die Kluft, die

sich zwischen uns auftut. Die einen sehen es aus der Perspektive dieses Theaters MOiheim; ich

muB es a us Perspektiven sehen, die in der Region MOiheim anfangen und an der Bayerischen

Staatsgrenze oder in Hamburg und Berlin end en. Und wenn ich zudem einen Drei-Sparten-Betrieb

betrachte, urn das nochmehr zu verallgemeinern, dann kann ich diese Vielzahl von Beschaftigten

nicht ohne ein Regulierungsinstrument, d.h. einen Tarifvertrag handhaben. Wir wissen, das sollte

man doch einmal leidenschaftslos ausarbeiten, daB es diese duale Anlage der offentlich-

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Wenn ich einen Betrieb ha be, dessen Finanzgrundlage haushaltsrechtlich auf freiwilliger

Grundlage beruht, dann weiB ich, daB er, solange die Zeiten gut sind, einigermaBen lauft. Wenn

die Zeiten knapp werden, gerat er jedoch ins Wanken. Und ich kann lhnen nur eines sagen:

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Meine ganze Laufbahn ist eine einzige Hangepartie, um dieses Wan ken von Buhne zu Buhne

abzufangen. An die Substanz geht es doch immer, daruber redet man jedoch nicht la ut. Es geht

immer zuerst bei dem Kunstlervertrag Ios. Dadurch, daB der iiffentliche Subventionsgeber das

Theater haushaltsrechtlich z.T. als freiwillige Leistung behandelt, den anderen Teil seiner

Beschaftigten aber nach dem iiffentlichen Dienstrecht verpflichtet, entsteht die Kollision. Die lieBe

sich nur dadurch heilen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daB die 40-Stunden-Woche diese ganze

Theaterlandschaft ins Beben gebracht hat. Das wirkt heute noch nach, und die Zielrichtung der

38.5 Stunden-Woche im technischen Bereich und dem Verwaltungsbereich nimmt die Theater

noch mehr unter Druck. I m Solo-Etatbereich sind keine Variationsmiiglichkeiten mehr drin und

seitens der Politik, die hier zu handeln beauftragt ware, wird einfach nicht gehandelt.

Eben das ist es, was wir verurteilen: Es wird generiis gesagt, naturlich mussen alle bedient

werden, das ist Tarifzwang, aber der lntendant soli schauen, wo er die Mittel herbringt, indem er

umverteilt. Das ist der Zustand, den wir mittlerweile erreicht ha ben. Die Solo-Vertrage sind es

mitnichten. Von der lntendantenseite aus hat man immer damit spekuliert, daB wir uns

gewissermaBen genieren wurden, ein Eigentor zu schieBen, indem wir auf einem Vertrag

beharren, dessen Grundzuge auf das Jahr 1924 zuruckgehen. Warum das so ist, das weiB

natlirlich jeder auf der Arbeitgeberseite beim Buhnenverein ganz genau: weil sich die soziale

Entwicklung, die hier strapaziert wird, im kunstlerischen Bereich nur ganz ziigerlich und in endlos

langen Schuben vollzogen hat. Das, was heute erreicht ist, ist bei der jetzigen Belastungssituation

aufs AuBerste gefahrdet, und ich meine, daB ein Normalvertrag so, wie er heute an den Buhnen

praktiziert wird, mit Sicherheit die Kunst nicht zu Tode trampeln wird. Die Probleme liegen auf

einer viillig anderen Ebene.

Wie sieht es z. B. mit veranderten Regie-Stilen a us? Wer hat denn aufwendige Technik in

die Ha user geholt? Wer hat denn Apparaturen installieren lassen, mit den en die hauseigene

Technik nicht zurechtkommt? Munchen, Augsburg, als Beispiel: Die lassen sich Apparate

einbauen, die nur noch von lngenieuren befahren werden kiinnen! Wer hat denn so einen

Unsinn zu vertreten, doch nicht wir, die Gewerkschaften! Und die Laser-Kanone, die am

Schnurboden vergammelt, ha ben wir auch nicht angeschafft! Wenn ich eine Landesbuhne ha be,

die ziemlich gut vergleichbar ist mit dem, was MUiheim macht, wenn ich ein Stadttheater habe,

das nicht viel auswarts reist, wenn ich einen 3-Sparten-Betrieb ha be, dann meine ich, komme ich

ohne den Tarifvertrag uberhaupt nicht a us! Der Mensch ist nun einmal in ein NormengefUge des

Rechts eingebunden, wenn er in seinen Alltag tritt, und das Arbeitsrecht als solches gehiirt dazu.

Wenn das wahr ist, kann Ciulli - der schlieBiich auch Philosoph ist und die Gesetze der Logik und

den Satz vom Widerspruch kennt, daB etwas sein kann und gleichzeitig etwas nicht sein kann -

hier nicht postulieren: Soziales und Kunstlerisches soli nicht gemischt werden. Aber der Kunstler

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soli gleichzeitig sozial geschutzt und als Kunstler frei sein. Wie will er denn dieses Quad rat

auflosen? Da bin ich gespannt.

Klaus PierwoB: In Mulheim treffen ganz bestimmte Sachen auf spezifische personelle Konstel­

lationen, das wird bei der BE-Umwandlung wahrscheinlich genauso sein. Dies enthebt uns jedoch

trotzdem nicht der Debatte, welche Strukturelemente jenseits der personlichen, lokalen oder

regionalen Konstellationen bedenkenswert sind und warum die Theatergesetzgebung nicht in

dieser Richtung verandert werden sollte. Gesetze und Regelungen ha ben immer ihre Geschichte,

und es ist unsere Verpflichtung, sie den sich wandelnden Lebensbedurfnissen und Lebens­

verhaltnissen anzupassen.

Sabine Schoneburg, wie sehen Sie diese Problematik? Stimmen Sie mit ihrem Kollegen

Oberein, oder gibt es da bei lhnen andere Akzentsetzungen?

Sabine Schoneburg: Unsere Gewerkschaft ist ja bekanntlich noch eine sehr junge Gewerkschaft.

In unserer "lndustriegewerkschaft", wie wir haufig von den Feuilletonisten polemisch genannt

werden, gibt es eine Gruppe von ea. 6.000 organisierten Theaterleuten, die seit ungefahr 1,5

Jahren tariffahig sind und an den Tarifverhandlungen m it dem Deutschen Buhnenverein

teilnehmen. Wir haben uns etwas zum Ziel gesetzt, das dem Model! des Herrn Ciulli ahnelt. Wir

wollen alle am Theater Arbeitenden unter einen Tarifvertrag stellen, der Theaterbedingungen

gerecht wird und die Situation der sieben einzelnen Tarifvertrage beendet, die sich z.T. behindern

und vom Arbeitgeber gegeneinander ausgespielt werden konnen. Wir sind mit so einem, sicher

noch unvollkommenen Modell dem Deutschen Buhnenverein gegenubergetreten und mit den

Erfahrungen, die in der DDR mit so einem derartigen Rahmen-Kollektiwertrag gemacht worden

sind. Unser Vorschlag ist vom Arbeitgeberverband oh ne jede Debatte abgeschmettert warden.

Wir sind nun schon seit geraumer Zeit mit den funf neuen GeschaftsfOhrern des Berliner

Ensembles im Gesprach und in der Debatte um einen Haustarifvertrag. lndem es nun ein Privat­

theater ist, ist alles in der IG Medien organisiert, betrifft also eine interne Absprache innerhalb

des DGB. Wir ha ben es jedoch nicht geschafft, die OTV a us diesen Vertriigen herauszuhalten.

Wenn ich bei Herrn Ciulli im Interview lese, er will Vertrage machen nach kunstlerischen,

menschlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen, aber keine Tarifvertrage- anderes wollen wir

auch nicht. Wir wolf en Arbeitsvertrage genau nach diesen Kriterien. Aber vielleicht ist im Moment

ein so groBer Verbandstarifvertrag gar nicht fQr a!!e Theater des Landes machbar. Vie!!eicht ist das

nur punktuell zu verwirklichen.

Helmut Schiifer: lch glaube, wir kommen an einen Punkt, Ober den man wirklich nachdenken

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muB: Ob man Regelungen vertraglicher Art finden muB, die sozusagen global wie Bundesrecht

wirksam sind, oder aber, ob man Regelungen finden sollte, die sich jeweils den einzelnen

lnstituten und ihren lnteressen anpassen. Die Frage aber, die auch im AnschluB an Herrn Herdlein

zu stellen ist und die man nicht unter den Tisch fallen lassen darf, ist doch die, was wir eigentlich

fur Theater wollen. Nicht welche Vertrage wollen wir, sondern welches Theater wollen wir! Das

ist doch der Grund fur den falschen Reflex auf den Tarifvertrag: daB die Theater immer lang­

weiliger, immer uninteressanter geworden sind, so daB auf einmal auch ein Feuilletonist sich mit

den Hintergrunden zu beschaftigen beginnt und glaubt, der Tarifvertrag sei verantwortlich fUr die

Langeweile im Theater.

Die Frage aber, die man stellen muB, ist: Wo gibt es Zusammenhange zwischen einer

Vertragskonstruktion fur die Theater und dem, was dann in den Theatern vor allem nicht passiert.

Die Frage nach dem Defizit, das eingeklagt wird.

Also: Wenn wir andere Theater wollen als diese versteiften und sich kaum noch bewegen­

den - weil das Fett auch im Hirn der Kunstler sitzt und nicht nur auf Seiten von irgendwelchen

Vertragspartnern - dann mussen wir natUrlich daruber nachdenken, wie das geht. 1st die

Konstruktion eines groBen Stadt- und Staatstheaters, eines Dreisparten-Betriebes mit den

heutigen Moglichkeiten finanzieller Art und ihren vertragsrechtlichen Bindungen uberhaupt

noch durchzuhalten? Oder gibt es Oberlegungen hinsichtlich der Veranderung dieser Struktur.

Den Vertrag wird man dann finden. Er ist eine Folge. Wie verandert man die Grundstruktur

eines solchen Hauses? Oder sind wir mit diesem unbeweglichen, kunstlerisch immer lang­

weiliger werdenden Theater zufrieden. 1st man damit zufrieden, dann streitet man sich noch ein

paar Jahre uber den Tarifvertrag oder auch nicht. Was ich sinnvoller finde ist, der Idee zu folgen,

daB das Theater dem Wesen nach Kunst ist, diesem Wesen nachzuspuren und zu versuchen, sie

in das Theater wieder hereinzutragen. Wie ginge das? Kann man sich vorstellen, daB ein groBes

Haus der Stuttgarter GroBenordnung ganz anders organisiert ist? 1st das eine gottgegebene oder

nur eine historische Erfindung, ein solches Theater? lch glaube, daB die Oberlegungen da

ansetzen mussen. Wir mussen uns erst einmal daruber klarwerden, was wir wollen.

Arnold Petersen: Die letzte Frage, wie laBt sich die beantworten? I eh mochte zunachst einmal

etwas zur Rolle der lntendanten und zum Streit uber die Tarifvertrage sagen, weil das so nicht

stehenbleiben kann, was Herr Herdlein gesagt hat. Erstens ist es nicht so, daB die lntendanten

grundsatzlich Tarifvertrage ablehnen, sondern sie kritisieren deren Pervertierung, an der sie zwar

beteiligt waren, aber an der sie nicht schuld sind. Die Rolle der lntendanten im TarifausschuB ist ja

nicht die der entscheidenden, sondern der beratenden Funktion. Solange ich im TarifausschuB

war, und das ist jetzt siebzehn Jahre der Fall gewesen, ha ben die lntendanten immer den lnhalt

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der Tarifvertrage kritisiert. Nicht den Vertrag an sich und am wenigsten den Normalvertrag Solo,

der in kunstlerischer Hinsicht etwa im Vergleich zu dem TVK, dem Vertrag der Orchestermusiker,

oder den Vertragen der Chorsanger oder den Vertragen der Technik, noch ziemlich viel Spielraum

hat. Solange ich lntendant war, waren die lntendanten die legitimierten Sprecher der Theater,

die an der immer immer kunstfeindlicheren Entwicklung der Tarifvertrage mit immer komplizier­

teren Ruhezeitregelungen und jetzt mit der Neueinfuhrung freier Tage unter falschen Argumen­

ten Kritik geubt haben. Das klingt so, als ob ein Schauspieler 365 Tage im Jahr arbeiten wurde

und man dafur sorgen muBte, daB er tariflich freie Tage hat und nicht dabei bedenkt, daB ein

Schauspieler- einfach durch die Struktur eines Hauses bedingt- relativ viel Freizeit, auch neben

seiner Arbeitszeit, hat.

Die lntendanten leiden, genau wie Herr Ciulli in Koln, unter diesen Zwangen der Tarif­

vertrage. Wenn man in den Tarifvertragen dann den schi:inen Satz liest: "Eine Arbeitszeitregelung

ergibt sich a us den Erfordernissen unter Besonderheit des Betriebes", dann ist es genau dies, was

wir an den groBen Hausern auch anstreben. Die Arbeitszeitregelung mQBte den Erfordernissen

des Betriebes angepaBt werden ki:innen. Man ki:innte boshaft sagen: An den Theatern auBerhalb

von MUiheim richten sich die Theater nach den Erfordernissen der Arbeitszeit der Leute, die in

ihm arbeiten. So kann man nicht Kunst produzieren. Die Techniker am Theater, die Handwerker

und Buhnenarbeiter mussen eine andere Regelung haben als die Arbeiter auf dem Leihamt oder

auf dem Schlachthof oder bei der StraBenbahn. Am Theater wird nicht jeden Tag dasselbe

Produkt hergestellt wie in der lndustrie, wo man die Arbeit normen kann. Man kann

Theaterarbeit nicht normieren. Es ist ein Unterschied, ob die >Zweierbeziehung< von Dario Fo

oder ob der >Wallenstein< inszeniert wird.

Die Apparate werden immer schwerfalliger, weil sie vom lntendanten gar nicht mehr

manipulierbar sin d. Sie sind nicht mehr steuerungsfahig. Jetzt wo das Geld knapp wird, da

merken die Gewerkschaften, daB es so nicht mehr weitergeht. Wir wuBten ja auch, daB man

mit Geld sehr vie! reparieren kann. Jetzt ist das Geld a lie, und da merkt man, daB das so nicht

weitergehen kann. Jetzt melden sich alle zu Wart.

I eh ha be a us moralischen Grunden nicht mehr weitergemacht. lch ha be gesagt: lch trete

a us dem Theater a us, wie and ere Leute a us der Kirche austreten. In einem Ha us wie in Mannheim

haben wir noch bis vor zwei Jahren 1.000 Veranstaltungen im Jahr auf die Beine gestellt. Die

Tatsache, daB ein Haus wie Frankfurt derzeit gerade noch 17 Vorstellungen im Monat zustande

bekommt, ist skanda!Os. Das ist mora!isch nicht mehr vertretbar. Man hat gar keine andere Wah!:

Entweder macht man armes Theater, oder man macht ein Theater in der Richtung, wie sich Kunst

entwickelt hat. Man kann Malern ja nicht vorschreiben, sie sollen wieder wie Rembrandt malen:

Sie malen so, wie sie heute Kunst machen wollen. Und Schauspieler und Regisseure wollen so

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Theater machen, wie sie heute Theater machen. Aber das ist mit diesen verkrusteten Apparaten

heute einfach nicht mehr moglich, und deshalb hat der Herr Schafer recht: Man muB nicht

uberlegen, was man an den Vertragen andern kann, sondern man muB die Struktur der Theater

andern. Die Mitarbeiter am Theater mussen erst einmal wieder mit Theater infiziert werden. Es ist

ein Unterschied, ob einer im Theater l'fortner ist, oder ob er im Gaswerk l'fortner ist. Es gibt so

viele Mitarbeiter in diesen groBen Theatern -in Stuttgart sind es uber 1.000 mit einem Jahresetat

von 150 Mio. DM. Die sind sich gar nicht mehr klar darGber, daB sie am Theater sind.

Roberto Ciulli hates geschafft, wir haben es nicht geschafft in diesen groBen Betrieben. Aber

man miiBte an der Struktur der Theater ansetzen. Dann glaube ich, daB man ein neues Vertrags­

system schaffen kann. Es war in der ehemaligen DDR moglich, einen Rahmenkollektiwertrag zu

entwerfen; ein Vertragssystem, das vom ideellen Gehalt her fur alle Mitarbeiter an Theatern

gleich ist. Also eins, das sowohl fUr den l'fortner wie fUr den lntendanten gilt. Auch die

lntendanten brauchen keine Sondervertrage, wenn sie einen Rahmenvertrag haben. Dann

muBten die Bedingungen natGrlich differenziert werden. Aber sie durfen nicht so geregelt sein,

daB sie dauernd gegeneinander arbeiten. Es ist doch am Theater so: Sie haben die BGhne

vielleicht funf oder sechs Stunden. Sie konnen dann jedoch nur eine BGhnenprobe machen, die

urn 10.00 Uhr anfangt und a us tariflichen GrGnden urn 13.00 Uhr zu En de sein mu B. Drei

Stunden steht die BGhne also leer. Und wenn Sie da was andern wollen, aufgrund von Vernunft

oder Einsicht, dann stoBen Sie auf diese Funktionare, die soviel Druck auf ihre Mitglieder ausuben

konnen, daB die sich gar nicht trauen, Sonderregelungen zu probieren aus Angst, daB ihnen dann

mangelnde Solidaritat vorgeworfen wird.

Teilnehmerin: lch hore lhnen sehr gerne zu, Herr Petersen, wenn Sie so amGsant erzahlen. Aber

Sie berichten immer, daB nichts zu andern war und nichts zu andern ist. Sie sitzen in diesem

BGhnenverein als beratender lntendant, aber von wem lassen wir uns denn hier beherrschen?

Wer entscheidet denn standig a lies und jedes? Die Finanzleute in den Kommunen, die in den

BGhnenvereinen sind? Kann man denn mit den Gewerkschaften oder mit ihren Funktionaren in

den Betrieben nicht gemeinsam etwas verandern?

Roberto Ciulli: Bestimmt sind wir schuldig. I m Jahre 1974/75, in dem der Wechsel stattgefunden

hat, ha ben sich Regisseure an die Machtzentren gewandt. Das war die Zeit, in der man versuchte,

den Generalintendanten abzuschaffen und in der das Modell Direktorium entstand und

Regisseure zum erstenmallntendanten wurden. Die Frage ist, warum alle Theaterleute das wissen

und trotzdem nicht reagiert ha ben. Das sind Phanomene, die nicht an Personen gebunden sind.

Es sind politische Phanomene. I eh finde es sehr interessant, das zu analysieren. lch mochte auf

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das Thema von der "Unmoglichkeit der Struktur" zu sprechen kommen, das wir im Theater an der

Ruhr orgariisiert haben: Scheinbar bis zur Selbstausbeutung. Alle, die am Theater an der Ruhr

waren, hatten lust sich auszubeuten. An einem Detail: Wir geben 150 Vorstellungen im Jahr,

davon sind 100 woanders. Wir sind also standig auf Reisen. Bevor ein monatlicher Plan gemacht

wird, werden die Techniker gefragt, ob sie sich vorstellen konnen, einen Tag vorher in diesem

oder jenem Ort zu schlafen. Die Technik entscheidet m it, ob dieser Spielplan, den wir aus wirt­

schaftlichen GrOnden erstellen, durchgefOhrt wird. Es wird nicht nur von oben entschieden.

Es g ibt in der Praxis eine Rei he von Dingen wie dieses Beispiel.

In der letzten Zeit war ich haufiger in der Position, daB mir lntendanzen angeboten wurden.

Jch habe dann jeweils gesagt: Ja, interessant, aber dann mochte ich folgende Punkte. Und jetzt

nenne ich die Punkte, mit denen es anfangt, schwierig zu werden.

Wir stellen die Forderung, daB im Theater kOnstlerische Bedingungen die Prioritat haben

sollen. Jch sage, die Produktion muB reduziert werden. Aber da hangen schon Vertrage drin. Jch

glaube, es ist Unsinn, wenn ein Theater soviel produziert. Nehmen wir ein Theater, z. B. Stuttgart,

da gabe es keine Probleme, wenn weniger StOcke im Jahr produziert wOrden.

Eine zweite Forderung: Das Abonnementsystem darf nicht mehr existieren. Eine radikale

Forderung. Jch wOrde kein Theater Obernehmen, wenn nicht zuvor die Frage des Abonnement­

systems gelost ist. Warum? Das hat einen einfachen Grund. Bei einem Theater wie Stuttgart, das

im Jahr ea. 120.000 Karten verkauft, werden 100.000 Karten an Abonnenten und nur 20.000

frei verkauft. Jch sage, das Theater der Zukunft muB auf dem Freiverkauf aufbauen. Es ist

unmoglich, daB ein Theater von einem Publikum lebt, das entscheidet, immer am Mittwoch ins

Theater zu gehen. Wenn Sie einen solchen Ring- DOsseldorf z.B. hat 19 Ringe- bedienen, hat

das Konsequenzen: DOsseldorf muB ein Jahr im Voraus planen, weil es weiB, daB am Mittwoch,

den 6. Mai diese oder jene AuffOhrung stattfinden muB. Das ist eine ungeheuer brenzlige

Situation fOr das Theater. Heute wOrden die Stadte bereit sein, diese bestimmte kritische

Forderung anzunehmen. I eh wOrde sag en, ihr mOBt mir fOnf Jahre Zeit geben. Es ist sicher

moglich, daB es in den ersten zwei Jahre durch die Zerstorung des Abonnementsystems

schwierig wird, weil die Publikumskurve nach unten geht. Wir mOssen fOnf Jahre durchhalten,

aber dann kommt das Publikum.

Dann kommt die Forderung, daB man etwas gegen dieses Karusselsystem unternehmen

mu B. Das Karusselsystem mag in NRW noch schlimmer sein als in anderen Bundeslandern, weil

hier aiie Theater im Umkreis von i 00 km eigeniiich dasseibe produzieren, nur in verschiedenen

Farben, und die Regisseure von Theater zu Theater wandern und innerhalb von drei, vier Jahren

ihre Jnszenierungen in jeder Stadt machen. Meine Forderung ware also, daB die Regisseure in

einer Stadt mit einem Ensemble mindestens drei Jahre arbeiten. Nur unter der Voraussetzung

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einer solchen Kontinuitat kann es eine kunstlerische Entwicklung geben und die Legitimation,

warum wir in NRW soviele Theater ha ben.

Dann kommt ein vierter Punkt, und das ist dann natUrlich das Rote Tuch: lch sage, daB wir

bitte sofort aus dem Buhnenverein austreten sollen und keine Tarifvertrage brauchen. Heute ist

es soweit, daB man bereit ist, auch uber diesen Punkt zu diskutieren. lch kann mich sehr gut in

die Rolle eines lntendanten im Buhnenverein hineinversetzen, aber ich glaube, damit wurde ich

meine Rolle falsch verstehen. Als lntendant bin ich kein Beamter in Kunst, der ein Haus auf eine

Zeit ubernimmt, mit einem Etat von z.B. 25 Mio. DM. Fur 23 oder 24 Mio. DM brauche ich nur

am Morgen meine Unterschrift drunterzusetzen, ich selbst habe nur eine Million zu bewegen.

Dann frage ich mich in diesem Fall, ob ich das wirklich vertreten kann. Meine Arbeitgeber sind

die Stadte, das sind die Leute. Zudem m6chte ich die lnteressen meiner Arbeitnehrner gerne nach

auBen vertreten. Und dazu mussen wir die Freiheit haben, das so zu gestalten, wir wir das jetzt

meinen.

Was die M6glichkeit angeht, das Theater an der Ruhr als Modell fUr Stadttheater zu

betrachten, so muBte man zunachst einmal sagen, es ware falsch zu glauben, daB das Theater an

der Ruhr, so wie es ist, als Modell ubertragbar ist. Aber es gibt 70 oder 80 Prozent von Dingen,

die wir hier in den zehn Jahren realisiert haben, die sehr wohl ubertragbar sind. Wir sind

immerhin ein Stadttheater. Das hat man ubersehen. Heute sind wir ein Stadttheater. Wir machen

150 Auffuhrungen im Jahr, davon also 50 in der Stadt MUiheim. Wir machen natUrlich nur zwei

Produktionen, aber wir ha ben schon eine zweite Gruppe, die ebenfalls zwei macht. Wir sind

dabei, ein turkisches Theater aufzubauen, und dann werden wir sechs Produktionen im Jahr, d.h.

ungefahr 550 Vorstellungen im Jahr haben. Das ist die Gr6Be des Dusseldorfer Theaters. Und

dann muB erklart werden, warum das Modell Theater an der Ruhr als eine solche Chimare, ein

solcher Ausnahmefall, betrachtet werden soli.

Hans Herdlein: Es ist vielfach das Wort "Arbeitgeberverband" angesprochen worden, und immer

rekurriert man damit auf die Tarifvertrage. Auch in Herrn Schafers AusfUhrungen klang an, ob

man denn solche allgemeinen Vertrage brauche oder ob es nicht sinnvoller sei, Vertrage als

Hausvertrage auf die spezielle Erfahrung eines Hauses zuzuspitzen. I eh m6chte nur einen Eindruck

korrigieren, als sei die ganze Kunstlerschaft mit unendlich reichen Gaben gesegnet. Es wird hohe

Zeit, daB wir endlich wieder auf den Boden der Tatsachen zuruckkehren. Wenn ich vorher Herrn

Petersen attackiert ha be, so eigentlich a us der Erbitterung jahrzehntelanger erfolgloser Verhand­

lungen heraus, wo man mir in diesen Tarifausschussen eine Phalanx von Vervvaltungsjuristen

gegenubersetzte, die nicht die leiseste Beziehung zum Theater hatten. Da waren uns die nachsten

natUrlich immer die lntendanten. Aber sie waren die letzten, die uns geholfen ha ben ...

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Herr Schafer, ich kann mir nicht helfen, aber ich gewinne den Eindruck, als ob Sie und Herr

Petersen einander ausschlieBende Standpunkte vertreten. lch hare hier heraus, daB wir spezielle

Regeln brauchen, die aufs Haus zugeschnitten sein sollen. Dann brauchen wir aber wieder das

Theater Oberhaupt, und ich wage zu bezweiflen, ob das wirklich so langweilig ist, wie das hier

postuliert wurde. Dann wieder wird der Eindruck vermittelt, wenn die Tarifvertrage nicht waren,

wurden die Musen gewissermaBen scharenweise in die Theater einfallen und sich ein unsterb­

liches Meisterwerk an das andere reihen. Das kann doch wohl nicht stimmen.

Die ganze Strukturdiskussion a us unserer Perspektive ist eine Diskussion aus der Frosch­

Perspektive. Strukturdiskussionen sind immer von der Politik initiiert worden, wenn sie den

Kulturetat .benutzten wollten, um die Loch er an anderen Stellen zu stopfen. Hinter den Tarif­

vertragen stehen die Rechte von Menschen. Das ist ganz unpathetisch gemeint, wie ich das sage.

Und wenn Sie zu 1729 wieder zuruckwollen, dann 16sen Sie diese Tarifvertrage auf. Dann haben

wir wieder die Urzustande wie vorher. Aber man kann nicht so tun, als man wolle das ja gar

nicht. Wenn Sie Hand an diese Dinge leg en, dann wollen Sie das. Dann mussen wir eine noch viel

prazisere Diskussion flihren.

Roberto Ciulli: lch will dazu nur zwei Dinge anmerken: Wenn sich die Frage stellt, daB Tarif­

vertrage in Deutschland vertreten werden, als seien sie Menschenrechte der franz6sischen

Revolution, dann hat naturlich jeder, der dagegen ist, einen schweren Stand. Das zweite ist: I eh

muB lhnen sagen, daB ich fur die Formulierung vom 'subventionierten MittelmaB' sehr viel

Zustimmung von lntendanten bekommen ha be. Das hat mir so viel Sympathie eingebracht, wie

ich es nie geglaubt hatte.

Helmut Schafer: lch treffe hin und wieder ein paar lntendanten: Feststeht, daB die Qualitat der

Produktion, auf die Spielzeit bezogen, viel zu mittelmaBig, viel zu schlecht ist. Aber da mache ich

nicht den Tarifvertrag dafur verantwortlich. lch ha be etwas ganz anderes gesagt. lch ha be gesagt:

Wenn man Strukturen neu bildet, werden die einen Reflex auf neu zu bildende Vertrage haben.

lch weiB doch, was mich mehr interessiert: Mich interessieren die Kunstler mehr als die Gewerk­

schaft. Das liegt in der Natur meiner Arbeit. D. h. ich argere mich mehr Ober mittelmaBige

Produktionen als Ober Tarifvertrage.

Die Frage lautet also: Haben wir ein gemeinsames Interesse oder nicht? Ha ben wir das

gemeinsame Interesse, diese Theater zu verandern? Und ha ben wir ein Interesse, sie so zu

andern, daB sie rnit der Zeit, in der wir leben, auch etwas zu tun ha ben?

Teilnehmer: lch spreche jetzt aus der Sicht eines Betroffenen, also als jemand aus den Neuen

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Bundeslandern, ich bin aus Saehsen. Es dreht sieh bei uns aussehlieBiieh urns Geld. Es spielt

uberhaupt keine Rolle, ob das Theater eine kunstlerisehe Qualitat bietet, wieviel Vorstellungen

usw. Es ist sehlieht und einfaeh ein Argument der verantwortlichen Leute, was kostet das? Neun

Millionen? Zuviel. Neun Millionen ist der Gesamtetat fur unser Theater fur das Jahr 1993. Geht

nicht. Konnen wir nieht. Ende der Debatte. Die Tarifvertrage geraten aus einer ganz anderen

Riehtung unter BeschuB: Wir konnen namlich die Lohnabsehlusse der Tarifvertrage nicht bezahlen.

!eh denke, es ist nicht so sehr der NV Solo, der zu besehlieBen ist, sondern es ist die Frage: Wie

kriege ieh den NV Solo mit dem VK und mit dem BAT bzw. mit dem BMT unter einen Hut, so daB

unterm Strieh eine vernunftige Regelung dabei herauskommt? !eh denke, es ist ein sehr

kpmpliziertes GefUge, und ich glaube, der Ansatz von Herrn Herdlein ist richtig: Man kann das

Problem von grundauf nur losen, wenn man die Kulturpflicht des Staates finanziell wirklich

dingfest maeht. Denn das erste Argument, was wir von jedem Kreisrat horen, ist: lhr seid

freiwillig; unsere pf!icht ist, daB wir Baugenehmigungen ausstellen und die Mullabfuhr machen.

Und wenn wir kein Geld haben, dann konnen wir den freiwilligen Luxus nieht mehr finanzieren.

Das ist die existentielle Situation, in der wir zur Zeit stehen. Und es erhebt sich fur viele Leute in

vergleichbarer Situation die Frage, in welcher Situation ist fUr Theaterleute ein einfaeheres

Oberleben: Unter der Diktatur der ldeologie oder unter der Diktatur des Geldes?

Teilnehmer: Herr Sehiifer hat vollig reeht, Herr Herdlein im Prinzip aueh. Mieh argert eine

Vermengung von zwei Strukturdebatten: der auBeren, die ich a is diejenige bezeiehnen wurde,

die vielleieht den Deutsehen Stadtetag und uns in der Diskussion anginge, und die Debatte einer

inneren Strukturkrise der Theater. Herr Ciulli hat noehmal explizit darauf hingewiesen: Man kann

das MU!heimer Model! nieht im Hinbliek auf groBe Hauser, auf Mehrspartenhauser, auf Stadte

diskutieren. !eh komme von einem kleinen, von seinem Auftrag relativ privilegierten Theater in

Moers her. Da arbeite ich mit Sehauspielern zwolf Woehen an einer Produktion und aufgrund von

streitenden Teehnikern soli ieh einen Sehauspieler da halten, wo er ist, und ihm verbieten, seine

kunstlerisehe Arbeit naeh auBen zu tragen? Da sehaden wir uns doeh selbst. Das lnteressante ist,

daB in MU!heim der Versueh gemaeht wurde, ein Gegenmodell zu entwerfen und es nicht nur im

Kopf zu entwerfen, sondern uber Jahre hinweg zu praktizieren: ein GroBiabor zu starten mit dem

Ziel, Theater fUr diese Gesellsehaft sinnvoll und aueh sozial verantwortlieh zu nutzen - denn

Subventionen gehen auf soziale Verantwortung, finde ieh - und trotzdem noeh zu beweisen, daB

niemand dabei auf einem modernen Sklavenmarkt endet. Und das ist etwas, wo wir uns

selbstkritiseh fragen mussen: Warum ist ein lntendant, ein Kunstler, denn bereit, sieh zu einem

Dinosaurier zu begeben, der ihn auffriBt, anstatt wie Herr Ciulli zu sag en, ich entziehe mich, ieh

maehe meine eigene Struktur oder ieh suehe mir ein Haus, das mir diese Struktur bietet.

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Roberto Ciulli: Es klingt vielleicht polemisch, aber ware ich hier der advocato diabolis, dann

wurde ich auf die andere Seite gehen und jetzt ein Politiker sein, der zu entscheiden hat, ob

9 Millionen zuviel oder nicht zuviel sind. In solchen Fallen solidarisieren wir Theaterleute uns

wieder a lie. Die Zeiten haben sich geandert. Leider sind wir nicht in einer Situation, in der wir

die Gesellschaft motivieren ki:innen, fOr das Theater zu protestieren. Wir haben viel gri:iBere

Schwierigkeiten als unsere Vater, uns zu solidarisieren. Warum? Weil ein Theater in der Sadt

naturlich erst einmal beweisen muB, daB es genauso notwendig ist wie Mullabfuhr und

Kindergarten. Dann ist es nicht mehr die Frage, ob 9 Millionen zuviel oder zuwenig sind. Nur

ich frage Sie, wie legitmieren Sie ein Theater und bringen es zu einer derartigen Position bei

Menschen, die eigentlich nicht zum Theater gehi:iren? Das ist ein ganz wichtiges Moment. In der

Diskussion in den Gewerkschaften wird dieser Aspekt unterschatzt.

Die ganze Diskussion mit den Gewerkschaften ist nicht unbedingt meine gri:iBte Lust. Die

Gewerkschaft hat natOrlich ihre Berechtigung. lch verstehe es auch sehr gut, und unser Ziel ware

es auf jeden Fall, auf einen Einheitstarifvertrag fur alle interessierten Theater hinzuarbeiten. In

einer Gesellschaft mussen die Leute abgesichert arbeiten. Alle Theaterleute sollten das zusammen

machen. Nur mir scheint, die Gewerkschaften verteidigen die Leute, die einen Arbeitsplatz im

Theater ha ben. I eh mi:ichte die Leute verteidigen, die keinen Platz im Theater haben. Wer

verteidigt die vielen Leute auBerhalb des Theaters, die nicht reinkommen in das Theater, weil da

alles so statisch, so unflexibel ist. NatOrlich kummert es die Gewerkschaften z.B., daB wir die 35-

Stunden-Woche ha ben. Nur die Frage ist: Was ist mit den Arbeitern bei BMW oder Mercedes, die

erfahren, daB dasselbe Produkt, das sie in Deutschland in einer 35-Stunden-Woche herstellen, in

SOdamerika mit Giften, die nicht in Deutschland erlaubt sind, in einer 60-Stunden-Woche

hergestellt wird? FOr diese Frage hatten sie im Theater einen Ort der Auseinandersetzung. Man

mOBte auf alien Ebenen ein anderes BewuBtsein entwickeln und diese Trennung zwischen

Kunstlern und denen, die der Kunst nur zu dienen haben, aufheben. Das ist mein Wunsch.

Klaus PierwoB: lch mi:ichte mich zum AbschluB dieser Debatte im Namen der Dramaturgischen

Gesellschaft bei alien Diskutanten bedanken. Ganz besonders herzlich will ich mich bei Roberto

Ciulli und Helmut Schafer bedanken , die uns Gastgeber waren und sich den Gesprachen gestellt

ha ben. I eh denke, daB diese beiden Tage fur alle sehr anregend und informativ gewesen sind.

Vielen Dank.

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FiT im Literaturhaus Berlin

"VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZ

Versuch eines theatralischen Reisejournals, Australien 1991/92"

Vortrag von Barbara Mundel, Regisseurin und Dramaturgin,

zum Thema "Das Fremde im theatralen Proze6"

25. Oktober 1992 - 12.00- 18.00 Ubr

Literaturbaus Berlin, Fasanenstra6e 23, W - 1000 Berlin 15

"White Australia has a black history."

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Die Konsequenzen dieses Satzes kann ich nur ahnen. Deswegen: Kein Uberblick iiber Australi­

sches Theater, sondem personliche Bemerkungen zu denFragen: Was erfahre ich iibermich, was

iiber "den Anderen". Wie begebe ich mich aufReisen. Istes moglich mit dem "Fremden" einen

theatralischen Dialog zu fiihren, oder: IstTheaterimmernur Reprasentation des "Fremden", bzw.

Verdrlingung der Angste vor dem Fremden? Fliichten wir uns in die modische Diskussion iiber

das Fremde, wahrend urn uns der HaB immer ungeziigelter ausbricht. Ich babe von den Reisen

nach Australien Material mitgebracht (Videos, Musik etc.) und werde versuchen, mein Wissen

von schwarzen australischen Kiinstlerlnnen iiberdieFrageder "Aboriginality" mitlhnen zu teilen

(Barbara Mundel).

AnschlieBend an den Vortrag werden Gesprlichskreise zu Teilaspekten des Themas stattfmden.

Im AnschluB daran die Ergebnisse ausgetauscht werden.

Arbeitsgruppe "Frauen im Theater" (FiT) - Dramaturgische Gesellschaft

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VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZ­

UBERLEGUNGEN NACH MEINER BEGEGNUNG MIT AUSTRALIEN 1991/92

Zum Titel: Statt "Differenz" konnte da auch stehen "Das Fremde" oder "das Andere"

(!'autre, the other) oder Victor Segalens "das Diverse", das mir inzwischen besser gefallt als die

beiden Alternativen; es beschreibt weniger eine Dichotomie, weist eher auf die pjfferenz hin.

Der Bindestrich zwischen "er" und "lernen" ist eigentlich ein !anger Gedankenstrich. Eine Regie­

anweisung: Hier sollst Du, lieber Leser, innehalten. Der Bindestrich verlangert das Wort und

schafft an einer exakt bezeichneten Stelle Dauer, um Nach-Denken zu provozieren.

"Wahrnehmung" bedeutet: in Bewegung sein: "Samtliche Etappen sind zwar schon da,

aber den Weg werden wir gemeinsam verlangern i'nussen. Die Lektion kann nicht als bekannt

vorausgesetzt werden." (Victor Segalen, Asthetik des Diversen 1986). Was folgt, sind Vorschlage

und Fragen, ldeen und Assoziationen, die dieser Auseinandersetzung dienen konnten. lch bin

weder Expertin fOr australische Geschichte noch Expertin fur australisches Theater, ich bin

lediglich ea. 1/2 Jahr in Australien gewesen- auf der Suche nach australischen Theaterformen,

Themen, die sich eignen fOr eventuelle gemeinsame Projekte, auf der Suche danach, ob und wie

sich Theatermacherinnen mit der Frage nach dem "Fremden" auseinandersetzen konnen.

lch mochte beginnen m it der Frage, ob und wie in meiner eigenen Biographie das Fremde er-lernt

wird bzw. nicht er-lernt wird und einigen Problemstellungen nachgehen, die sich nach einer

LektOre der bekanntesten Ethnographien ergaben:

Warum gerade dieser Gegenstand? Die spontane Idee kann ich im Nachhinein als Ver­

knupfung biographischer Themen verorten. !eh habe etwas auf dem Herzen. Hinter der Spon­

taneitat, dem plotzlichen Bedurfnis, diese VerknOpfung herzustellen, verbergen sich schmerzhafte

Erinnerungen, Narben. Der Eke! vor der Schule wahrend der letzten Jahre der Schulzeit, das

Gefuhl der Entfremdung, die Unsicherheit wahrend der Begegnungen mit Aborigines.

Anstatt auf ein akademisches Erkenntnisinteresse verweisen zu konnen, muB ich Zom und

Trauer anfOhren, aber auch die Erregung beim Entdecken von Fragen und Zusammenhangen

durch die und in der Konfrontation m it dem Anderen. Referenzpunkte sind weniger wissen­

schaftliche Debatten, schon eher LektOren (~ je 1 Text+ 1 Zeitraum + 1 Ort und 1 Ensemble von

Stimmungslagen), z.B. die Lekture von "Phantom Afrika" wahrend der Vorbereitung einer

lnszenierung von Koltes "Kampf des Negers und der Hunde" und das GefOhl des Scheitems der

eigenen Arbeit.

Es ist mir bei den Oberlegungen und Schreiben dieses Vortrages passiert, daB meine

Gedanken sehr oft zu meinen "Anfangen" zuruckschweiften, und dazu gehoren die Erinnerungen

an Schule und die Art und Weise, wie uns das zu Lernende nahergebracht wurde. Mir scheint,

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dieses Graben in den eigenen Bedingungen des Denkens und Fuhlens ist wichtig, um vielleicht zu

"anderem" Denken gelangen zu kiinnen.

Meine ganze Schulerziehung beruht darauf, den Gegenstand als etwas dem Lehrer, der

Lehreriri Bekanntes und dem SchOier, der SchOierin bekannt zu machendes zu begreifen. Dem

Gegenstand wird seine Fremdheit grundlich ausgetrieben:

MuB das so sein? Kiinnte das auch anders sein? 1st das vielleicht manchmal auch anders?

Diese Fragen stellen sich im Laufe der Beschaftigung mit Autoren, die sich berufsmaBig der

Erfassung und Erlernung, dem Begreifen und Erkennen des Anderen, des Fremden oder, wie

Victor Segalen sagt, des Diversen widmen. Und zwar interessieren mich hier besonders

diejenigen, die das Andere nicht sogleich aufzuliisen versuchen und die ihre eigene Person in die

Auseinandersetzung mit dem Anderen einbringen. Victor Segalen, Arzt, Reisender, Ethnograph,

Poet, spricht in diesem Zusammenhang vom Exotismusgefuhl, "das letztlich nichts anderes ist als

der Beg riff des Anders-Seins, die Wahrnehmung des Diversen, das Wissen, das etwas nicht das

eigene lch ist" und von der Fahigkeit des Exotismus, der Fahigkeit, "anders aufzufassen". (Segalen

s.o.) Nicht zu verwechseln mit Exotik, der "Verzerrung des Fremden zum 'guten Wilden'oder

'braven Kerl aus dem Busch'oder allgemein die Degradierung zum Projektionsobjekt. Die exotisch

motivierte Begegnung grundet nicht darauf, etwas uber den Anderen in dessen Ordnungen und

uber sich selbst erfahren zu wollen. Exotik ist ethnozentristische Ausschmuckung und Veraben­

teuerung." (Hans Jurgen Leiris, Die eigene und die Fremde Kultur 1985) Die Fahigkeit des

Exotismus beobachtet Victor Segalen beim Kind: "Fur das Kind entsteht der Exotismus zur selben

Zeit wie die AuBenwelt. Abstufung: anfangs ist alles das exotisch, was seine Arme nicht erreichen

kiinnen. Das verbindet sich mit dem Geheimnisvollen. Sobald es a us der Wiege heraus ist,

erweitert sich der Exotismus und wird zum Exotismus seiner vier Wande. Wenn es nach drauBen

kommt, tritt eine entscheidende Wende, ein Ruckzug ein. Es bezieht sein Gefuhl von der

AuBenwelt auf sein zu Hause; es erlebt mit groBer Heftigkeit die konkrete Welt eines Ha uses. Fur

das Kind ist a lies das exotisch, was es als solches ansieht.

Eine weitere Veranderung: Beim Lesen einer Erzahlung wird es sich auf einmal bewuBt, daB

es eines Tages die Dinge, die es liest, erleben kann! Die Spiele gehen weiter wie zuvor. Es ist

dasselbe Spiel. nur die Auffassung hat sich geandert. Eine unbekannte Gefuhlsbewegung: das

Begehren, das erste Gefuhl des Erwachsenseins. Es weiB, daB es ein Spiel ist. Aber es setzt es mit

dem Wunsch fort, es zu erleben. Es ist eine Schule des Lebens. Das geht bis zu dem Tag, an dem

erneut a lies in Frage gestellt wird und es diese Dinge aus Buchern neu erlernen muB (Geschichte

und Geographie), deren steriler lnhalt den Exotismus verkummern lassen." (Segalen s.o.)

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Wie miiBte Erziehung, Theater aussehen, damit der kindliche Exotismus nicht

verkiimmert?

Zwar gibt es innerhalb der Disziplin Ethnologie nicht EIN Selbstverstandnis oder EINE

Methode, der sie sich verpflichtet fuhlte. Doch es gibt auch hier so etwas wie ein vorherrschendes

Bestreben, das Fremde im Bekannten, das partikulare Andere in einer allgerneingultigen Regel

oder die subjektive Erfahrung der Feldforschung in einer objektiven, analytischen Beschreibung

aufzul6sen. Die Autoren, die rnich interessieren, verfolgen entweder Ziele, die diesern Bestreben

zuwider laufen, oder sie versagen in seiner Verfolgung.

Wie konnen wir Theatermacherlnnen dieses Scheitern fiir unsere Arbeit fruchtbar

·machen?

In einer Kritik an Marcel Mauss und an der Kurnpanei zwischen Ethnologie und

Kolonialisrnus schreibt Hubert Fichte: "Ware nicht eine andere Welterfahrung denkbar? Nicht ...

die Magazinierung van Erlebnissen, das Priiparieren van Erfahrungstrophiien, sondern Warten, in

der Mitte einer Welt und ihres Geschehens, bis das Frernde auf einen zukornrnt und sich

erschlieBt?" (Hubert Fichte, Xango 1984) Starnrnelnd lernen wir eine neue Sprache.

Kleinster gemeinsamer Nenner der Ethnologie seit Malinowski ist die Feldforschung als

unurngiingliche Etappe auf dem Weg zur Erkenntnis (und zu akademischen Weihen). Die

Feldforschung ist das Unterfangen der Forscherin, des Forschers vor Ort, rnit und van vor Ort

lebenden Menschen zu lernen. Dabei begeben sich die Ethnologen aus der vertrauten Kultur in

eine frernde Kultur in der GewiBheit, das Andere nur in einer direkten Auseinandersetzung und

nur durch direkte Anschauung lernen und spiiter beschreiben zu k6nnen. Uns ist hingegen

norrnalerweise der direkte Zugang zurn "Gegenstand" durch das Buch z. B. versperrt. Es steht die

Frage irn Raurn, kann denn Reisen, Feldforschung Oberhaupt die Wahrnehrnung der Differenz, das

Aushalten der Differenz errn6glichen?

Feldforschung ist hautnahes Lernen. Nicht nur in dern offensichtlichen Sin ne, daB

Erkenntnis, die rnit Hilfe sinnlicher Wahrnehrnungen oder durch personliche Gesprache rnit

anderen Menschen erlangt wird, eher unter die Ha ut geht als die in der Abgeschiedenheit der

Studierstube erworbene (u. a. deswegen, weil die Ethnologen sich dem Schrecken oder der

Faszination des Erlebten nicht einfach entziehen konnen, etwa so, wie ein Leser ein aufwuhlen­

des Such zuklappt und zur Seite legt). Der unbeteiligte Beobachter wird rasch zurn Akteur. Es

geht irnrner auch darurn, wie der Ethnologe van denen, die er beobachtet, gesehen wird, d. h.

wie er sich irn Geflecht der Dinge, die er eigentlich beschreiben will, verhiilt. Ober ihre Rolle als

Ethnographin schreibt Jeanne Favret-Saada: " .. .wer Ober Hexerei spricht, tut es niernals, urn etwas

zu erfahren, sand ern urn Macht zu ha ben. Ebenso wer fragt. Noch bevor der Ethnograph ein

Wart gesagt hat, steht er in einern Kriifteverhiiltnis, so wie jeder, der zu sprechen beabsichtigt.

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Und sobald er sprieht, versueht sein Gespraehspartner in erster Linie, seine Strategie zu ermitteln,

seine Kraft zu messen, herauszufinden, ob er Freund ist oder Feind, ob man ihn kaufen oder

vernichten soli. Wie an jeden Redenden wendet man sieh an den Ethnographen als ein Subjekt,

von dem man annimmt, daB es Maeht hat ( ein Zauberer, ein Zauberbanner) oder keine Macht hat

(ein Opfer, ein Verhexter)." (Jeanne Favret-Saada, Die Worter, der Zauber, der Tod 1979) Umso

erstaunlicher ist es, daB nur wenige Ethnologen ihre personliehen Erlebnisse publiziert haben. Ja,

es war bis vor kurzem sogar unublich, Ethnographien, in der ersten Person Singular abzufassen.

Wenn man die Veroffentliehungen der allerletzten Jahre einmal unberueksichtigt laBt, dann blei­

ben nur sehr wenige autobiographische ethnologische Sehriften. "A Diary in the Strict Sense of

the Term" von Bronislaw Malinowski (1985), "Return to Laughter" von Laura Bohannan (1966)

und "Tristes Tropiques" von Claude Levi Strauss (1979) sind die bekanntesten. Jede von ihnen hat

eine aufsehluBreiehe Gesehichte, die zeigt, wie sehr die Ethnologen in der Vergangenheit bestrebt

waren, ihr !eh aus ihren Forsehungsergebnissen zu tilgen. Malinowski hatte zu Lebzeiten nie das

Tagebueh seiner Feldforschungen in Neuguinea veri:iffentlicht. Seine Witwe publizierte das zufallig

in seinem NachlaB gefundene Tagebueh uber zwanzig Jahre naeh seinem Tod und uber vierzig

Jahre naeh seinem Feldforsehungsaufenthalt auf den Trobriand-lnseln. Laura Bohannan

veri:iffentliehte ihre Feldforsehungserfahrungen unter einem Pseudonym, uber zehn Jahre naeh

ihrem Aufenthalt bei den Tiv in Nigeria und als vorgeblieh fiktiven Roman. Levi-Strauss lieB fast

zwanzig Jahre verstreiehen, bevor er ein Bueh uber seine Reisen zu versehiedenen lndianer­

gruppen in Brasilien publizierte. Zu diesem Zweek Oberarbeitete (entseharfte?) er seine Tage­

buehaufzeichnungen. Und immer noeh seheint er einen wesentlichen Teil seines Selbst auBen vor

zu lassen. Erst auf S. 296 erfahren wir, daB Levi-Strauss auf zumindestens einer seiner Reisen von

seiner Frau begleitet wurde.

Fremderfahrung ist Selbsterfahrung, ist Arbeit am Selbst. "Es wandelt niemand ungestraft

unter Palmen", sehreibt Goethe in den "Wahlverwandtsehaften". "!eh hatte mieh verandert", sagt

die Ethnologin in Laura Bohannans autobiographisehem Roman "Ruekkehr zum Laehen". "Was

immer die Verdienste der Ethnologie urn die Welt oder die meiner Arbeit urn die Ethnologie

waren, diese Erfahrung hatte in mir personlieh viele Veranderungen bewirkt- und ich war anfangs

der Meinung gewesen, daB alles, was nicht Material fOr meine Notizbueher war, Abenteuer sein

wurde. !eh hatte geglaubt, daB jegliehes Wissen die Muhen seiner Erwerbung lohnte. I eh hatte die

Annahme willig akzeptiert, daB man nur lernen kann, indem man seine eigenen Vorurteile unter­

drOekt oder zumindest wahrend des Lernvorgangs suspendiert. Die Sehwierigkeit lag in meiner

ungeprOften Annahme, daB davon nur meine 'Vorurteile' betroffen sein wurden und nie meine

'Prinzipien' - es war mir nieht in den Sinn gekommen, daB die Unterseheidung zwisehen 'Vorurteil'

und 'Prinzip' selbst eine Saehe des Vorurteils ist." (Bohannan s.o.) Was bedeutet das fOr einen

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theatralischen Dialog m it dem Fremden?

Das Fremde, das sich nicht zuklappen laBt, macht sich wom6glich breit im Selbst. Hubert

Fichte und Leonore Mau kehren nach der Beobachtung eines brasilianischen Totentanzes in der

Nacht in ihr Quartier in Bahia zuruck: "Psychosomatische Storungen nach dem Anhoren des

Schlagzeugs: Wir stehen nachts auf und ubergeben uns. Durchfalle. Allergische Reaktionen.

Unsere Denkfahigkeit verandert sich. Dumpfheit. Wir werden unaktiv, kritiklos, erinnerungslos."

(Fichte s.o.)

"Die Erkenntnis, die nicht durch die Sinne gegangen ist, kann keine andere Wahrheit

erzeugen als die schadliche.' Leonardo da Vinci. Wenn diese Erkenntnis' nach dem langen

gefiihrlichen Experiment mit der abstrakten Rationalitat, das im instrumentalen Denken endete­

wieder fruchtbar wurde: Dies ware wirklich eine neue Renaissance des BewuBtseins. Was spricht

dagegen? DaB die Sin ne vieler Menschen - nicht durch ihre 'Schuld' - verodet sind und daB sie,

mit Recht, Angst davor ha ben, sie zu reaktivieren. DaB sie es vielleicht nicht mehr konnen."

(Christa Wolf, Kassandra 1983)

Damit das Fremde umstandslos in etwas Bekanntes aufgelost werden kann, mQssen die

Sinne umschifft werden. Hier ist ein Mensch mit dem uberlegenen Blick des Siegers. Die sinnliche

Wahrnehmung des Fremden, so schwierig und gefahrlich sie auch sein mag, provoziert eine

andere Erkenntnis. Da ist ein Mensch, der angestrengt, gespannt, angstvoll vielleicht, staunend

womoglich, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, lauscht, sich fragt.

"Es gibt Bucher, in denen der Korper und die Sprache des Autors in so vielen Verastelungen

gegenwartig sind, daB sie den Raum zwischen dem eigenen Korper und der eigenen Sprache und

dem Korper und der Sprache des anderen erschlieBen. Der Autor ist darin leiblich gegenwartig,

aber se in Korpergeruch vernebelt nicht die von ihm erschlossene Welt.", schreibt Heinrichs (in:

Leiris s.o.) unter der Oberschrift "Ethnologische Poetologie". Oder Poetische Ethnographie,

welcher Beg riff mir lieber ist. Vielleicht ist das der Versuch, das Fremde auszuhalten durch seine

poetische Beschreibung. Gute Ethnographien sind oft sehr gelungene Beispiele "schoner"

Literatur. Der "Vater" der modernen Ethnologie, Bronislaw Malinowski, ist einer der

prominentesten Vertreter der "literarischen" Ethnographie. DaB die Resultate wissenschaftlicher

Forschung in literarisch ansprechender Form dargeboten werden, ist, denken wir an andere

Disziplinen, nun uberhaupt nicht selbstverstandlich, konnte andernorts leicht als Schmahung

verstanden werden. (Man beachte die adjektivische Einschriinkung!) DaB eine wissenschaftliche

Monographie etwas vollig anderes sei als ein Roman, soli hiermit nicht behauptet werden. Der

beschworende Tonfall, mit dem manche Wissenschaftler eine solche Unterscheidung behaupten

oder einfordern, macht sie nicht weniger unsinnig. "Der Unterschied zwischen Wissenschaft und

Literatur ist der zwischen Karteikarten und DIN-A-4-Papier" meint einer, dessen Bucher sich beim

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besten Willen nicht entweder ... oder klassifizieren lassen und der deswegen von den Verfechtern

einer klaren Unterscheidung als Literat abgetan wird (z.B. Hubert Fichte). Anders als den

Verfassern lesbarer Ethnographien, geht es den Autoren poetischer Ethnographien nicht bloB urn

den Stil; sondern urn sprachliche Formen als konstitutive Teile des In halts, den sie vermitteln

wollen. Der poetische Zugang ist zugleich defensiv (ein Eingestandnis des Scheiterns positivi·

stischer Beschreibbarkeit) und offensiv (dort, wo das Beschriebene nicht rekonstruiert, sondern

neu geschaffen, ja, neu entdeckt wird). Und die poetische Sprache kann dabei, wie die Bucher.

Hubert Fichtes zeigen, definitiv und ganz und gar nicht ausweichend dem Beschriebenen auf den

Leib rucken.

"Fur die Wissenschaftler sind Morgendammerung und Abenddammerung ein und dieselbe

Erscheinung, und schon die alten Griechen waren dieser Ansicht, denn auch sie bezeichneten sie

mit demselben Wort, das sie, je nachdem ob es sich urn den Abend oder den Morgen handelte,

durch ein anderes Attribut erganzten. Diese Vermengung veranschaulicht sehr deutlich das

vorherrschende Bemuhen um theoretische Spekulationen sowie eine eigentlimliche Vernach­

lassigung des konkreten Aspekts der Dinge. DaB sich irgendein Punkt der Erde in einer kontinuier­

lichen Bewegung von der Zone, wo die Sonnenstrahlen einfallen, zu derjenigen hinbewegt, wo

das Licht entschwindet, ist moglich. Aber in Wahrheit ist nichts so verschieden wie Abend und

Morgen." (Ciaude Levi·Strauss, Traurige Tropen 1979} Und, muBte man hinzufligen, nichts ist so

verschieden wie zwei Abenddammerungen. lch erinnere mich an schematische Darstellungen der

Bewegung der Sonne am Firmament im Heimatkundeunterricht der Volksschule. lch erinnere mich

nicht daran, im Rahmen von Schule, jemals einen Sonnenuntergang oder -aufgang betrachtet zu

ha ben. Noch erinnere ich mich an schematische Darstellungen, die fette Wolken, naBkalten

Morgennebel oder die Blickwinkel von Menschen in verglasten fensterlosen Burohochhausern

berucksichtigten. I m Jahre 1934 reiste Claude Levi-Strauss von Marseille nach Santos. Erst

wahrend des Aufenthalts in Brasilien wird Levi-Strauss Ethnologe. Wahrend der Oberfahrt

beobachtet er Sonnenuntergange. Zwanzig Jahre spater, Levi-Strauss hatte sich inzwischen einen

Namen als Ethnologe gemacht (und wahrlich nicht als einer, der allzu viel Gewicht auf die

Beschreibung des Partikularen legte), schrieb er iiber jene Oberfahrt: "m it der Naivitiit des

Anfangers beobachtete ich auf dem menschenleeren Deck voller Spannung jene ubernaturlichen

Umwalzungen, deren Beginn, Entwicklung und Ende taglich einige Augenblicke lang der

Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang an alien vier Enden eines Horizonts vor Augen flihren,

der groBer war, als ich mir je hatte traumen lassen. Kiinnte ich Worte finden, um diese fluchtigen

Erscheinungen festzuhalten, die jedem Versuch, sie zu beschreiben, spotten, und ware es mir

gegeben, anderen Menschen, die Phasen und Glieder eines Ereignisses mitzuteilen, das doch

einmalig ist und sich niemals in denselben Formen wiederholen wurde, dann, so schien es mir,

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ware ich mit einem Schlag in das tiefste Geheimnis meines Berufs gedrungen; dann gabe es kein

noch so bizarres oder absonderliches Erlebnis, dem die ethnographische Forschung mich

aussetzen wurde, dessen Sinn und Bedeutung ich nicht eines Tages alien Menschen begreiflich

machen konnte." (Levi-Strauss s.o.)) Der Naivitat des Anfangers sei Dank, folgt auf den nachsten

Seiten eine ausfuhrliche Beschreibung eines Sonnenuntergangs, die er bereits wahrend der

Oberfahrt verfaBt hatte (und die m it den eingangs zitierten Worten beginnt). Seine Sprache ist

leidenschaftlich und von ausschweifender Prazision. Die Sprache der Verliebten: Levi-Strauss ist

verliebt in das Sujet. Seine Wahrnehmungsgabe setzt eine Konzentration voraus, die fiebernden

Menschen eigen ist.

"Denn weil sie sich wunderten, ha ben jetzt und immer schon die Menschen begonnen,

nachzudenken, sie haben sich anfangs verwundert uber die Unbegreiflichkeiten des Alltags und

sahen sich dann Schritt fUr Schritt immer groBeren Fragen gegenuber, den Wandlungen des

Mondes, den Bewegungen der Sonne und der Sterne, der Entstehung des Ails. Wer aber ratios ist

und sich verwundert, hat das GefUhl der Unwissenheit." (Aristoteles, Metaphysik). Daran nicht zu

verzweifeln, das auszuhalten, das zu schatzen, will gelernt sein, doch das ist so ungefahr das

letzte, was in unseren Schulen auf dem Lehrplan stUnde. lm Gegenteil, in der Schule wird das

Bedurfnis der Schuler, die a us Verwunderung und Erstaunen resultierende Unsicherheit zu

beenden, instrumentalisiert. In der Motivationsphase, einem festen Bestandteil fast jeder

Stundenplanung, soli das Interesse der SchOier geweckt werden. Sie sollen sich wundern und

nach nicht mehr als fUnf Minuten sind sie gehalten, mit Hilfe von wieso-Fragen dem Sujet auf

den, in den Lernzielen festgelegten Grund zu gehen. "Zu erschopft, urn noch ein guter

Ethnograph zu sein, schlief ich bei Einbruch der Dunkelheit ein, immer wieder aufgeschreckt durch

die Obermudung und die Gesange, die bis zum Morgengrauen dauerten .... <Die Stimmen

wurden> von Kurbisrasseln begleitet. ... Sie zu horen, war staunendes Entzucken." (Levi-Strauss

s.o.)) Durfen der gute Ethnograph und der gute Schuler nicht entzuckt sein? Ein klein wenig

staunendes Entzucken sei ihnen zugestanden, aber dann sollen sie, bitteschon, die Kurbisrassel

beschreiben (notfalls, indem sie sie zersagen), klassifizieren, den Gesang deuten, und schlieBiich

der Kurbisrasselregel und der strukturellen Beziehung zwischen Rassel (R) und Rassler (R2) auf die

Schliche kommen. "Schlaf nicht mit offenen Augen", ruft der Lehrer dem kleinen Claude zu, der

noch lange nach der lerntheoretisch bewilligten dreiminutigen Abspielung des Kurbisrassel­

gesangs vertraumt, selbstvergessen, versunken, andachtig und mit staunendem Entzucken

lauscht, michhort.

"Doch die Verhaltnisse, sie sind nicht so", laBt Brecht Peachum in der "Dreigroschenoper"

singen. Weder sind sie so, wie sie sein sollten, noch so, wie sie sein konnten. DaB sie so sein

konnten, wie sie sein sollten, ist bloB eine schwache Hoffnung. Und wie sie sein sollten und

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konnten, ist bloB eine undeutliche Ahnung dessen, was Marx mit dem "Traum von einer Sache"

umschrieb. In diesem Sin ne ist das Begehren zu wissen, 'angetrieben von einer a us Traurigkeit

schopfenden Leidenschaft', wie Michael Taussig in seinem Buch "Devil and Commodity Fetishism"

sinngemaB sagt. Das Erkenntnisinteresse ruhrt her von einer nagenden Unzufriedenheit mit den

Verhaltnissen. Wenn es moglich ware, unzulangliche Verhaltnisse zu reformieren, konnte die

Unzufriedenheit ihr Heil in tatkraftiger Politik suchen. Wenn stattdessen der Aktionismus

zugunsten des Versuchs zurucktritt, Verhaltnisse im Akt des Schreibens ·zu transzendieren ( oder zu

hintergehen}, dann ist Unzufriedenheit in Melancholie umgeschlagen. In den "Traurigen Tropen"

trauert Levi-Strauss urn die Zerstorung der Gesellschaften, die er besucht, und urn seine eigene

Gesellschaft, da er durch die Konfrontation mit dem Anderen schmerzhaft des Verlustes (nicht

verdinglichter Beziehungen beispielsweise) gewahr wird, dessen Wahrnehmung er ansonsten

verdrangen kann. In manchen guten Ethnographien schwingt Trauer mit, ist die Melancholie das

Objektiv des poetischen Auges, durch das fremde Gesellschaften beschrieben werden. Bei vielen

nicht so guten Ethnographien tritt an die Stelle der Melancholie ein billiger Romantizismus.

Urn fUr uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fuhlbar, den Stein steinig

zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden fUr das

Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die

Kunst zwei Kunstbegriffe: die Verfremdung der Dinge und die Kornplizierung der Form, urn die

Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlangern. Denn in der Kunst ist der

WahrnehmungsprozeB ein Ziel in sich und muB verlangert werden. Die Kunst ist ein Mittel, das

Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene ist fur die Kunst unwichtig." (Victor

Sklovskij, Theorie der Prosa 1966} Die Verfremdung ist ein Mittel, mit dessen Hilfe nicht nur das

Fremde vor seiner umstandslosen Auflosung ins Bekannte geschutzt, sondern auch das Bekannte

fremd gemacht werden kann. Auch Perzeptionen konnen zum Tanzen gebracht werden. Oft stellt

sich der verfremdende Blick auf das Bekannte nach oder wahrend einer Konfrontation mit dem

gemeinhin Fremden ein. Oder er kommt zustande wie bei Peter Schneider, der nach der Ruckkehr

von einer Sudamerikareise schreibt: "Zuruckgekehrt aus einer Fremde, die mir unheimlich bekannt

vorkam, ist mir das Bekannte mehr und mehr unheimlich geworden." (Peter Schneider, Botschaft

des pferdekopfs 1981) Die Fahigkeit, anders zu sehen, muB gelernt werden (ich muB lernen, es

auszuhalten). In der Schule allerdings wird die aus der Kindheit bewahrte Fahigkeit womoglich

noch ausgetrieben. Wohl nicht ganz ohne Grund. DaB die heimatliche Erde rnit Macht zum

Diversen wird (Segalen s.o.), ist nicht ganz ungefahrlich fUr das I eh, das sich da einem Ansturm

von auBen aussetzt. Und: Gefahrlich kann die Verfremdung auch den verfremdeten Verhaltnissen

werden. Verfremdung ist das GegenstGck zur Entfremdung, schreibt Ernst Bloch (Prinzip Hoffnung

1972}, mehr noch, sie kann letztere dingfest machen.

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In den letzten Jahren scheint es in zunehmendem MaBe wieder ein Anliegen der

Ethnologen zu sein, Qber eine Beschreibung fremder Kulturen, eine Kritik der eigenen Kultur zu

formulieren. (siehe Marcus und Fischer, Anthropology as Cultural Critique 1986) Dieses Anliegen

ist nichts Neues. Es liegt ja nahe, auch und gerade Qber eine Auseinandersetzung mit dem

Fremden sich dem Vertrauten zu entfremden, um es so hin.tl!rfragen zu kiinnen. "Wenn es uns

aber gelingt, diese fremden Gesellschaften besser kennenzulernen, verschaffen wir uns eine

Miiglichkeit, uns von der unsrigen zu liisen, nicht weil sie absolut schlecht oder als einzige

schlecht ware, sondern weil sie die einzige ist, von der wir uns emanzipieren mQssen." (Levi·

Strauss s.o.) Doch ist die Haltung des professionellen Beobachters des Fremden nicht ohne

Ambivalenz. Die Verfremdung macht den betroffenen Blick auf das Nahe leicht zum distanzierten

Blick a us der Ferne.

Sperrt sich das Fremde gegen seine Aufliisung im Bekannten? Der deutsche Naturforscher und

Aufkliirer Georg Forster begleitete James Cook auf seiner zweiten Reise in die SQdsee. AnliiBiich

eines Aufenthaltes auf Tahiti berichtete Forster folgende Begebenheit: "Um diese Zeit erfuhren

wir, daB Maheine <der tahitianische Dolmetscher der Expedition, kn> die Tochter eines im Thai

Matavai wohnhaften Befehlshabers namens Toperri, geheyrathet ha be. Einer unsrer jungen See·

Offiziere, von dem sich diese Nachricht herschrieb, rQhmte uns, daB er bey der Verheyrathung

zugegen gewesen, und die dabey vorgefallnen Ceremonien mit angesehen ha be; als wir ihn aber

um die Beschreibung derselben ersuchten, gestand er, daB sie zwar sehr sonderbar gewesen

wiiren, doch kiinne er sich keiner insbesondere erinnern, wisse auch nicht wie er sie erziihlen

solle. Auf solche Art entging uns eine merkwurdige Entdeckung, die wir bey dieser Gelegenheit

Qber die Gebriiuche dieses Volkes hiitten machen kiinnen; und es war zu bedauern, daB kein

verstiindigerer Beobachter zugegen gewesen, der wenigsten das, was er gesehen, auch hiitte

erziihlen kiinnen." (Georg Forster, Rei se um die Welt o. J.) Oder ist es oft sogar so, daB der

Beobachter das And ere nicht an sich heranlassen kann a us Angst, sein eigener Kiirperpanzer

werde dabei beschiidigt? Ein Zeitgenosse des jungen See-Offiziers, unverdiichtig sich nicht

artikulieren zu kiinnen, schrieb Qber den Riimischen Karneval: "Das Karneval in Rom muB man

gesehen haben, um den Wunsch viillig loszuwerden, es je wieder zu sehen. Zu schreiben ist

davon gar nichts, bei einer mundlichen Darstellung miichte es allenfalls unterhaltend sein." (J.W.

Goethe, ltalienische Reise) Bei einem spiiteren Besuch besann sich der Autor eines anderen und

verfaBte eine ethnographische Beschreibung des Karnevals: "lndem wir eine Beschreibung des

Riimischen Karnevals unternehmen, mussen wir den Einwurf befQrchten, daB eine solche

Feierlichkeit eigentlich nicht beschrieben werden kiinne. Eine so groBe lebendige Masse sinnlicher

Gegenstiinde sollte sich unmittelbar vor dem Auge bewegen und von jedem nach seiner Art

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angeschaut und angefaBt werden. Noch bedenklicher wird diese Einwendung, wenn wir selbst

gestehen mussen, daB das Romische Karneval einem frernden Zuschauer, der es zum erstenmal

sieht und nur sehen will und kann, weder einen ganzen noch einen erfreulichen Eindruck gebe,

weder das Auge sonderlich ergotze, noch das Gemut befriedige. Die lange und schmale StraBe, in

welcher sich unzahlige Menschen hin und wider walzen, ist nicht zu Obersehen; kaum unter­

scheidet rnan etwas in dem Bezirk des Getlimmels, den das Auge fassen kann. Die Bewegung ist

einformig, der Larm betaubend, das Ende der Tage unbefriedigend." (Goethe s.o.)

Unbeschreibbar ist die Wildheit des Anderen, das "GetOmrnel", der "betaubende Larm", durch

das sich der Beobachter bedroht fuhlt, bedeutet die teilnehrnende Beobachtung solcher

Ausgelassenheit doch moglicherweise, die eigenen Affekte nicht·mehr beherrschen zu konnen.

Die Angst vor dem Fremden paralysiert die Fahigkeit, das Gesehene in eigenen Worten

wiederzugeben. Unbeschreibbar ist die Wildheit aber auch, da der sinnliche Eindruck sich nicht

leicht aufs Papier bannen la Bt. Wie kann ich dem anderen, daB ich flihle, rieche, schmecke, hore

und sehe, bei seiner Beschreibung gerecht werden? Was auf Goethe beim Romischen Karneval

eindrang, war eine Flut von Sinneseindrucken, neue und fremde Geruche, neue und fremde

Gerausche, usw .. Es ist oft waghalsig, sich dieser Flut auszusetzen, und dann oft unrnoglich, sich

anderen, die diese Erfahrung nicht gernacht haben, mitzuteilen. Knapp zweihundert Jahre nach

Goethe ha·t der wissenschaftlich vorgebildete Ethnograph alierdings genaue Vorsteliungen, wie er

rnit der Totalitat des Sinneseindrucks urnzugehen habe: "In welcher Reihenfolge soli ich die wirren

und tiefen Eindrucke beschreiben, die den Neuankornmling in einem Eingeborenendorf

Qberfalien, dessen Kultur relativ intakt geblieben ist? ... Angesichts einer Geselischaft, deren

Traditionen noch lebendig sind, ist der Schock so stark, daB er den Forscher aus der Fassung

bringt: Welchem Faden soli er zuerst folgen, dieses tausendfarbige Knauel gilt es zu entwirren,

ein tausendfarbiges Ganzes ist in seine Farbkomponenten zu zerlegen. Die Totalitat muB

parzelliert werden, das Frernde wird scheibchenweise begreifbar.

In den "Traurigen Tropen" spielt Levi-Strauss mit dem Feuer, setzt sich der Totalitat a us. Er ist ja

oft tatsachlich aus der Fassung gebracht und tief beeindruckt. Andererseits schreckt er eins ums

and ere Mal zuruck, zieht sich auf bekanntes Terrain zuruck. lmmer wieder nimmt er Zuflucht zum

Vertrauten, vergleicht er das, was er sieht, mit dem, was er fruher einmal, in Frankreich meistens,

gesehen hat. Erinnerungen schutzen vor der Andersartigkeit des Neuen. Eine weit verbreitete

Angewohnheit Obrigens: Wie oft schon habe ich Reisende an den verschiedensten Orten sagen

horen, das Gesehene erinnere sie an einen fruher besuchten Ort XYZ. Das ist nicht bloB welt­

mannisches Gehabe, sondern der Versuch, jeden fremden Sinneseindruck auf eine vertraute

Ebene zu zerren. Und das ist der Ausdruck des Wunsches, sich auch im Angesicht des Anderen in

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Sicherheit wiegen zu konnen. "Es gab eine Zeit, da der Reisende Kulturen begegnete, die sich von

seiner eigenen von Grund auf unterschieden und ihn zunachst durch ihre Fremdartigkeit uber­

waltigten. Seit einigen Jahrhunderten ha ben wir dazu immer weniger Gelegenheit." (Levi-Strauss

s.o.) So wahr diese Beobachtung des Berufsreisenden a la recherche du temps perdu ist, so un­

vollstandig ist sie. Gerade wenn wir den Beg riff des Reisenden allgemeiner fassen, seiner bloB

geographischen Konnotationen berauben, dann wird es auch deswegen immer schwieriger, sich

durch Fremdartigkeit uberwaltigen zu lassen, da wir ein Instrumentarium entwickelt ha ben, mit

dessen Hilfe wir das Fremde abwehren oder auflosen konnen. Levi-Strauss, offensichtlich zutiefst

beunruhigt und verunsichert, sehnt sich nach einem perfekten Sicherheitsnetz, das es ihm

ermoglichen soli zu behaupten: 'Nichts Menschliches ist mir fremd.' "lch bin davon uberzeugt,

daB die ... menschlichen Gesellschaften genau wie die lndividuen- in ihren Spielen, ihren

Traumen, ihrem Wahn - niemals absolut Neues schaffen, sondern sich darauf beschranken,

bestimmte Kombinationen aus einem idealen Repertoire auszuwahlen, das sich rekonstruieren

lieBe. Wurde man das lnventar aller Brauche, die je beobachtet, in Mythen ersonnen, in den

Spielen von Gesunden und Kranken sowie in den V er ha ltensweisen von Psychopathen beschwo­

ren wurden, 'erstellen', dann erhielte man schlieBiich eine Art periodischer Tafel ahnlich der­

jenigen der chemischen Elemente, in der sich alle realen oder auch nur moglichen Brauche zu

Familien gruppieren wurden, so daB man nur noch herauszufinden brauchte, welche von ihnen

die einzelnen Gesellschaften tatsachlich angenommen ha ben.'' (Levi-Strauss) Die Sehnsucht des

Ethnographen ist die Aufhebung der Humanwissenschaften in den Naturwissenschaften des

19. Jahrhunderts.

lch komme jetzt zum Untertitel dieses Vortrages, es wird die Rede sein von den Beziehungen

zwischen WeiBen und schwarzen Australiern, zwischen mir und den anderen, zwischen mir und

der Wahrnehmung verschiedener Kunst-AuBerungen, denen ich auf meinen Reisen begegnete­

ohne jeden Anspruch auf eine Vollstandigkeit. Und schon beginnen die Schwierigkeiten.

lch stieB wahrend einer Historiker-Tagung auf einen Beg riff, der mir noch after unterkam: Post

War Aboriginal Resurgence. lch nehme an, dieser Beg riff bezieht sich auf die wachsende

BewuBtwerdung unter Aborigines auf die eigene kulturelle ldentitat, auf das katastrophale

Versagen der Assimilationspolitik und auf die Kampfe der Aborigines um Anerkennung ihrer

Rechte als Nachfahren der eigentlichen Bewohner dieses Landes. lch ha be (mindestens) drei

Vorbehalte diesem Beg riff gegenuber, an denen sich die Problematik der schwarzen und weiBen

Beziehungen ablesen lassen: Der erste ist mehr technischer Art und hat lediglich mit

Datierungsproblemen zu tun: War nicht bereits 1938 ein Wendepunkt in der Geschichte der

weiBen Wahrnehmung der Aborigines, als diese einen "Day of Mourning", einen "Tag der Trauer"

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organisierten als Protest gegen die Feierlichkeiten "1 50 Jahre" weiBer Besiedelung in Australien?

Der zweite Vorbehalt betrifft den Blickwinkel, aus welchem wir auf die Veranderung der Black­

White-Beziehungen schauen. 1st es denn wirklich so, daB die Aborigines geschwiegen haben

wahrend der ersten Halfte dieses Jahrhunderts und in der 2. Halfte des Jahrhunderts selbst­

bewuBter wurden und ihre Situation verbalisierten? Oder wares nicht vielmehr so, daB bis in die

60er Jahre hinein, was immer Aborigines sagten oder taten, von weiBen Australiern einfach nicht

gehort wurde? 1st es also nicht vielmehr notwendig, Gber die Veranderungen der weiBen

Verhaltensweisen zu sprechen, urn zu erklaren, warum die Tatsache, daB Aborigines auf ihrer

eigenen kulturellen ldentitat und bestimmten politischen Rechten bestehen, als "Aboriginal

resurgance" aufgefaBt wurde? Mein dritter Vorbehalt betrifft meine Nicht-Autorisierung, als Nicht­

Aborigines uber Aborigines zu sprechen - ich werde versuchen, das Sprechen "Gber" so gut es

mir gelingen mag, zu vermeiden - aber ich fUrchte, meine Sprache ist infiziert vom Bazillus des

instrumentalen Denkens.

Nach der Aufzahlung all meiner Vorbehalte, Einschrankungen, wahle ich den Beg riff

"Aboriginality", der einen GroBteil der genannten Schwierigkeiten umgeht. Nebenbei, wenn ich

im folgenden das Wort "Aborigines" benutze, meine ich jemanden, der sich als solcher selbst­

identifiziert und von anderen Mitgliedern der Aborigines-Gemeinschaft als solcher erkannt wird.

Ob eine Aborigines-Person sieben Aborigines GroBeltern hat oder nur einen, macht keinen

Unterschied im Hinblick auf seine oder ihre "Aboriginality"- eine Obersetzung dieses Beg riffs ist

mir leider nicht gelaufig.

Kolonialismus ist destruktiv und konstruktiv zugleich. Naturlich gab es "The Aborigines"

nicht, als captain Cook Australien "entdeckte". Die Vorstellung von einer Gruppe von Leuten, die

sich als Aborigines identifizierten und von anderen als solche identifiziert wurden, entstand

wahrend des 19. Jahrhunderts. Dafur gibt es viele and ere Beispiele: ein Volk in Papua-Neuguinea,

daB sich Tolai nannte und auch so genannt wurde, entstand in den 20er und 30er Jahren dieses

Jahrhunderts, ein Volk, daB sich "Papua New Guineans" nennt, existierte nicht vor 1960. Das

Auftauchen von "The Aborigines" ist teilweise das Resultat der Unfahigkeit oder des

Desinteresses der WeiBen, zwischen Awabakal und Eoara zu unterscheiden und teilweise das

Resultat der Schwarzen in dem Bemuhen, Bundnisse zu schmieden und gemeinsame lnteressen

bzw. gemeinsame ldentitaten zu formulieren- bedingt durch die Begegnungen mit WeiBen.

Es gibt eine beruhmte australische Landkarte, die sogenannte Tindale's map, die die Stammes­

Grenzen der Aborigines kartographiert. Diese Karte suggeriert, daB Stammes-Grenzen fast

verglichen werden konnen mit denen von Staaten oder daB sie funktionieren wie Verwaltungs­

Distrikte. GroBe Starrheit suggeriert diese Karte. Dabei werden diese Grenzen von vielfaltigen

Verwandtschaftsbeziehungen durchkreuzt, viele Leute durften mehr- oder wenigstens zwei-

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sprachig gewesen sein, ganze Volker "reisten" durch dieses Land, welches ihnen aber nicht

gehiirte in meinem Sinne. AuBerdem war Australien durchkreuzt van Spuren, Wegen, die die

totemistischen Ahnen zuruckgelassen haben. Davon handelt ja auch Bruce Chatwin's

"Traumpfade" {1991 ), der die anthropologische literatur, die sich mit diesem Thema beschaftigt,

popularisiert hat. AuBerdem war, zur Zeit van Captain Cook's Besuch, ldentitat ortsgebundener

als heute. Die Viilker, die damals lebten, hatten deutlich voneinander unterschiedene Sprachen

und Brauche und waren verwandt m it bestimmten Totems oder "dreamings". Heute nehmen wir

rin.e Aboriginai-Kultur an, die sich deutlich van Nicht-Aboriginai-Kulturen unterscheidet. Wenn

weiBe Australier uber "Aboriginal-Resurgence" sprechen, meinen sie oft die Renaissance van

Elementen der "traditionellen" Aboriginai-Kulturen und die Wiederbelebung van Fahigkeiten und

Brauchen, die vor der Invasion der WeiBen praktiziert wurden. Diese Annahme fGhrt fUr viele

Aboriginai-Kunstler zu dem Dilemma, permanent mit der Terminologie "traditionell" oder "urban"

konfrontiert zu sein. Nicht-Aborigines beziehen sich haufig auf Brauche wie z. B. didjeridoo,

dreaming, boomerang, dream-time etc., wenn sie Aboriginai-Kultur beschreiben sollen, obwohl

sie damit Qber etwas sprechen, das den meisten Aboriginai-Viilkern bis vor 200 Jahren unbekannt

war: the didjeridoo, zum Beispiel, ist ein Instrument, das man einst nur in Arnhem Land (ganz im

Norden van Australien) finden konnte. Aborigines selbst beschwiiren oft Elemente, die als

traditionelle Aboriginai-Kultur betrachtet werden, urn ihren Anspruch auf eine eigenstandige

Kultur zu unterstreichen und ihren Beg riff van "Aboriginality" zu illustrieren. In Newcastle, wo ich

wohnte, gehen Aborigines aus Norden, Suden und Westen in die Schulen und spielen didjeridoo,

um ein BewuBtsein unter weiBen Schulern zu schaffen, was es bedeutet, Aborigines zu sein und

um Stolz auf das gemeinsame Erbe unter Aboriginai-Studenten zu wecken.

Die Konzepte van "Aboriginai-Kultur" und "Aboriginality" sind sowohl van Aborigines gemacht,

die sich entschieden ha ben, sich auf bestimrnte Traditionen zu beziehen und van Nicht­

Aborigines, die Erwartungen in Hinblick darauf haben, wie diese Kultur sein sollte.

lch werde jetzt auf einen bestimmten, auf einen sehr wichtigen Aspekt van "Aboriginality" zu

sprechen kornmen: "Aboriginality"- geschaffen durch und ausgedruckt in Aboriginal Kunst und

literatur. In den letzten 30 oder 40 Jahren ha ben Aborigines Gedichte, Romane oder

Theaterstucke in Englisch geschrieben, und seit tausenden van Jahren haben Aborigines

Kunstwerke wie Gemalde, Schnitzereien und Tiipferwaren geschaffen.

Aboriginal Bildende Kunst reicht Tausende van Jahren zuruck. Vielleicht haben viele van

lhnen schon Aboriginal Felszeichnungen gesehen. "Traditionelle" Motive, Stile und Techniken

werden auch heute noch van vielen Kunstlern benutzt.

In Europa hat diese australische Kunst zum erstenmal im Juli 1989 mit der Ausstellung

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"Magiciens de la Terre " im Centre Pompidou in Paris fUr Aufmerksamkeit gesorgt. Dort schufen

australische schwarze Kiinstler eine Bodenmalerei. Aufsehen erregten sie zunachst durch die Art

und Weise, wie sie malten: Sie verlangten, eine Nacht lang viillig allein gelassen zu werden - auch

der Hausmeister muBte das Gebaude verlassen - um konzentriert malen und arbeiten zu kiinnen.

Dies ist typisch. Der Vorgang des Malens ist fUr die Kunstler wichtiger als das Ergebnis, das

Kunstwerk selbst.

Die moderne australische Kunst urnfaBt heute rneist Malerei - seltener Plastik- auf Papier

und Leinwand. Oft sind es groBforrnatige Bilder, die in Gemeinschaftsarbeit von einem Kunst­

lerkollektiv angefertigt werden. Haufig entsteht ein solches Bild durch die Mitarbeit der ganzen

Familie. In Zentralaustralien werden gr-oBflachige, farbig ausgewogene Bilder rnit den traditio­

nellen Motiven bemalt: konzentrische Kreise, Biigen, Wellenlinien. Die Kunstler des Nordens,

etwa die in Arnhemland, verwenden ganz andere Motive: Sie rnalen rnenschliche Gestalten,

Tiere und Pflanzen. Aber auch sie bringen ihre Motive in eine strenge Ordnung.

Die rnoderne Malerei der Aborigines leitet sich von zwei verschiedenen Traditionen her und teilt

sich deshalb in zwei Gruppen. I m Norden des Kontinents gab es von alters her die Rindenrnalerei.

Die Motive dieser Kunst entstamrnen haufig auBer-australischen Einflussen. Es gibt hier nicht nur

rnenschliche Darstellungen in Bewegung, wie laufende Jiiger, sondern auch den sogenannten

Riintgenstil, bei dem die inneren Organe der Tiere mitgemalt werden.

Die Rindenmalerei des Nordens wird in einer pointillistischen Technik ausgefuhrt: Die

Kunstler fUg en Farbtupfen in muhsamer Kleinarbeit zu Formen zusarnmen. Eine solche Technik

hat praktis.che Grunde, denn die Pinsel bestanden aus zerkauten Holzstabchen, die in die Farbe

getaucht wurden. Diese Malereien scheinen nur selten kultischen oder rituellen Zwecken gedient

zu haben. Oft sind sie schon in fruherer Zeit einfach ''I' art pour I' art" gewesen. Rindenbilder sind

sehr empfindlich, kiinnen leicht zerstiirt werden. Die altesten, die bekannt sind, stammen deshalb

erst aus dem Jahr 1884.

Vielleicht ha ben einige von lhnen auch schon ein Bild von Albert Namatjira gesehen. Albert

Namatjira, so der Name des Kunstlers und zugleich ein australischer Mythos, wurde 1902 in der

Mission Hermannsburg in Central Australien geboren als Sohn von Aranda-Eitern und wurde der

Begrunder der sogenannten Aranda-Theaterschule.

Namatjira wurde initiiert, aber wurde ebenfalls Christ. Einer der Herrnannsburger Missionare

forderte die Aborigines-Manner aut, Boomerangs, Schilder etc. zu schnitzen und Muster

einzubrennen. Die Waffen wurden dann durch die Mission verkauft. Albert Narnatjira erwies sich

als besonders geeignet fOr diese Aufgabe. Er fUgte den traditionellen, abstrakten Mustern andere

hinzu, die Kiinguruhs, Emus und menschlichen Wesen nachempfunden waren. I m Jahr 1934 hatte

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, ..

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Albert Namatjira den Kunstler Rex Batterbee getroffen und einen Handel mit ihm abgeschlossen:

Namatjira zeigte Batterbee sein Land und Batterbee unterrichtete Namatjira in der Kunst des

Aquareii-Zeichnens. Durch die Gesprache mit Batterbee erkannte er, daB durch Gemaldeverkauf

Geld zu verdienen war und zwar mehr Geld, als er je durch Arbeit fUr die Missionare verdienen

konnte.

1937 zeigte Batterbee drei von Namatjiras Aquarellen in einer Ausstellung seiner eigenen

Arbeiten in Adelaide. Damals schrieb Louis McCubbin, Direktor der South Australian Art Gallery:

"Es ist bemerkenswert, wie leicht dieser Aborigine das europaische Kunst-Konzept begriffen hat.

Sein Gemalde des 'Mount Hermannsburg' ist auBergewiihnlich in seinem Realismus, Licht, Form

und der Echtheit der Hugei-Darstellung. Alles in allem, das Wissen des Aborigines uber die

Bedeutung von Stimmung~n und Farbe ist auBergewiihnlich".

1938 hat Albert Namatjira seine erste Einzei-Ausstellung in Melbourne. Die ausgestellten 41

Arbeiten wurden innerhalb von drei Tag en verkauft und innerhalb weniger Jahre gewann

Namatjira nationalen Ruhm. 1944 war er der erste Aborigine, der ins Who's Who in Australia

aufgenommen wurde. In Melbourne, Sydney und Adelaide standen die Leute Schlange, um seine

Bilder zu sehen. Als Albert Namatjira 1954 zum ersten Mal Sydney und Melbourne besuchte,

muBte Polizei aufgeboten werden, um die begeisterte Menge unter Kontrolle zu halten. Die

Kunst-Kritik war jedoch oft skeptisch in Bezug auf Albert Namatjiras Arbeiten. Einige vermuteten,

daB er- wenn er an weiBen Standards gemessen wurde- allenfalls ein mittelmaBiger Maler.sein

wurde. Andere kritisierten ihn, daB er "ver-westlicht" sei. La ut Joyce Batty's Biographie uber Albert

Namatjira druckte Sir Davy Lindsay, der einfluBreiche Direktor der Melbourne National Gallery sein

Bedauern daruber aus, daB ein "Aborigines eine Second-Hand-Version Europaischer Kunst

produziert, anstatt seine eigene Eingeborenen-Kunst zu entwickeln. Hinzu kame, daB an

Namatjira's Aquarellen weniges erwahnenswert ware, auBer einer hochentwickelten, technischen

Fahigkeit, topographisches Interesse und daB- bedingt durch den EinfluB der Europaischen

Kunst- der Aborigine etwas von seiner Vitalitat eingebuBt zu haben schien.

I eh kann nur kurz auf Namatjiras Schicksal eingehen, nachdem er Ruhm gewonnen hatte und zum

"Gegenstand" erbitterter Auseinandersetzungen geworden war: Er wurde in Gewahrsam

genom men und bekam weder eine Erlaubnis, ein Haus in AI ice Springs zu kaufen, noch Eigentum

zu erwerben. lhm wurden die Burgerrechte verliehen, aber nachfolgend wieder aberkannt, weil

er seinen Ruhm mit einem Kunstler-Kollegen geteilt hatte, der nicht das Recht besaB, eine Flasche

Rum in der Offentlichkeit zu trinken. Namatjira starb wenige Tage nach seiner Freilassung aus

dem Gefangnis im Jahre 1959. Die tragischen Aspekte seines spateren Lebens und seines Todes

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ha ben eine Menge Seelen-Forschung unter weiBen Australiern hervorgerufen. Eine rnoralisierende

Legende um Albert Namatjira, den Maler und das Opfer der weiBen Gesellschaft wurde oft

beschworen, wenn weiBe Australier ilber ihre schuldbeladene und/ oder paternalische AttitUde

gegenilber Aborigines sprachen oder schrieben.

Was mich jedoch hi er interessiert, ist Namatjira's Malerei. lmitierte er nur den Stil der WeiBen?

Oder tat er das Gegenteil, als er es ablehnte, sich den Erwartungen zu filgen, er solle

"traditionelle Aboriginai"-Kunst produzieren, und anstatt sich weiBe Stile anzueignen, eine

Richtung von Aboriginality bezeichnet, die Elemente weiBer und schwarzer Kultur einschloB?

Namatjira wird oft herangezogen als das berilhmteste Beispiel filr das Versagen der Assimilations­

Politik. lch frage mich, ob er nicht der erste war, der den weiBen Australier gegenilber erprobte,

ob die Mimikry, die durch Assimilations-Politik erwartet wird, diese Politik nicht unterlaufen kann.

lch glaube, daB Namatjira, wenigstens in seinen Bildern, nicht nur ein unglilckliches Opfer der

WeiBen war, sondern daB er bewuBt die Kenntnis dessen, was Aboriginality in dieser Zeit

bedeutete, erweiterte. Die Grenzen waren eng gesteckt: In den 50er Jahren waren Aborigines

per definitionem "traditionell" und sobald sie sich der weiBen Kultur annaherten, konnten sie

nicht !anger Aborigines sein, sondern waren erfolgreich in die weiBe Gesellschaft assimiliert.

Albert Namatjira unterlauft a lie Erwartungen, wie er am besten seine "Aboriginality" zum

Ausdruck bringen kiinne.

Seit dem Tod von Albert Namatjira ha ben viele Aboriginai-Kilnstler ihre "Aboriginality" durch

Bezug auf weiBe Kunst zum Ausdruck gebracht. Die Debatte darilber, was Aboriginal Kunst

ausmacht, reiBt nicht ab. Wenn es um Nicht-Traditionelle Aboriginai-Kunst geht, wurde die Kritik

von Sir Daryl Lindsay viele Male wiederholt. Die lntupi-Maler z. B. wurden gescholten, daB sie

helle Acryi-Farben anstelle des Teer verwenden, aber sie ha ben Namatjiras Erfolg wiederholen

kiinnen und den Beg riff von "Aboriginality" erweitert.

Antikoloniale Geschichtsforschung mit Berucksichtigung der Aboriginal Australier fand bis

1970 nicht wirklich statt. Zuerst rekonstruierte man eine bisher verborgene Vergangenheit, die

gekennzeichnet war und ist von furchtbarer Unterdrilckung. Dazu habe ich lhnen einen Liste

ausgeteilt, die ilberschrieben ist: A Historian Ready Made: Diese Liste umfaBt alle bekannt

gewordenen Namen derjenigen Schwarzen, die im Gefangnis zwischen 1970 und 1989 um­

kamen, "Black Death in Custody" ist einer der schwersten sozialen Erschutterungen in Australien

in den letzten Jahren. Zusammen mit der langsam bewuBtwerdenden Tatsache des Genozids

(17881ebten ea. 300.000 Aborigines gegenilber ea. 66.000 heute). Zuallererst wurde diese

Geschichtsforschung von WeiBen gemacht, aber seit kurzem schreiben Aboriginai-Australier

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Geschichte, die mehr oder weniger in die Parameter paBt, die von der weiBen Geschichts­

forschung vorgegeben wurde. Naturlich ist es notwendig, koloniale Geschichte zu dekolonialisie­

ren. Aber ist es nicht ein erneuter Akt von kolonialem Paternalismus oder wohlwollendem

lmperialismus, wenn weiBe Forscher sich in diese Notwendigkeit einmischen, sogar wenn wir

nicht beanspruchen, "fUr" diejenigen zu handeln, "Qber" die wir schreiben? Vor 18 Jahren befand

Hayden White (Tropics of Discourse, Essays in Cultural Criticism), daB die Geschichtsforschung sich

in einem schlechten Zustand befande, weil sie ihren Urspung in der literarischen Imagination aus

den Augen verloren ha be. Das scheint mir eine wichtige Feststellung in Bezug auf Theater, fur

unser Denken zu sein: die Grenzen zwischen Tatsachen und Fiktion, zwischen Wissenschaft und

Kunst zu durchbrechen, urn der Wahrheit der Vergangenheit etwas naher kommen zu kiinnen,

urn die Geschichten der Anderen Oberhaupt hiiren zu kiinnen, die Geschichten besitzen, aber

keine "facts". Archiv-Aufnahmen, Zeitungsartikel, Tagebucher sind "kalte" Quellen. Sie kiinnen

gelesen, manipuliert, verandert werden. Die Erinnerungen von Menschen bezeichne ich als

"heiBe" Quellen, sie sind persiinlich und individuell. Wenn wir unsere Erinnerungen jemandem

mitteilen, verleihen wir ihnen Farbigkeit und Emotionalitat. Wir beziehen den Hiirer ein und

unterstreichen unsere Worte mit Kiirpersprache, Mimik und Veranderungen in Tonhohe und

Sprechgeschwindigkeit, und wir werden involviert in eine dramatische Wieder-Belebung der .

Vergangenheit- und haben die Miiglichkeit, das mundlich Gehorte abzukuhlen. Wir machen

Aufzeichnungen und konzentrieren uns auf den "lnformationsgehalt", wir machen Tonband­

aufzeichnungen, und die gesamte Kiirpersprache wird eliminiert, durch Transkription dann auch

noch die Information. Das Gesprach wird zu einem Text, eine Synapse und wird zu einer Quelle

wie andere. Wir mussen uns klarwerden daruber, daB die "kalten" Quellen normalerweise unsere

Begegnung mit dem "Anderen" bestimmen.

Die erste schwarze australische Dichterin, die in Englisch publizierte, war Kath Walker, die sich seit

1988 Dodgeroo nennt. Eine spannende Geschichte, auf die ich aber nicht naher eingehen kann,

ist die Namensgebung von Personen und Orten, Landschaften in Australien und der Kampf urn

die Ruckgewinnung der ja bereits existierenden Namen in den jeweiligen Stammes-Sprachen. Als

Dodgeroo ihre ersten Gedichtbande "We are going" und "The Dawn is at Hand" 1964 und 1966

veriiffentlichte, wa ren die Kritiken sehr gemischt. Die Kritik klatschte Beif all, weil sie die erste

Aboriginal war, die einen Gedichtband veriiffentlichte, aber einige konnten "den inneren Wert"

ihrer Dichtung nicht entdecken, die unachtsam gegenuber ihrer Rasse sei. Einige Kritiker

verneinten, daB das, was sie geschrieben ha be, Qberhaupt Dichtung sei. Man versuchte den Wert

ihrer Bucher danach zu bemessen, wieviel "Aboriginality" Eingang in die Gedichte gefunden

hatte, oder ob, wie eine Kritik es formulierte, Dodgeroo einen spezifischen Aboriginal Beitrag zur

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Australischen Literatur geleistet habe. WeiBe, australische Autoren hatten seit einiger Zeit ver­

sucht, sich von schwarzen australischen Kultur-Traditionen inspirieren zu lassen.

In den 40er Jahren begannen "the Jindiyworobaks", eine weiBe Autorengruppe aus South

Australia, die europaische Literatur zu bereichern, indem sie sich auf Tradition und traditionelle

Aboriginal-Stile bezogen. Es war ein Versuch, den "cultural cringe" (das kulturelle Kriechertum) zu

Qberwinden und eine "echte", wahre australische Literatur zu entwickeln.

Kurzer Ausflug zum Beg riff des "cultural cringe" und zur Geburt des "australischen Dramas":

"Cultural cringe" das ist der kulturelle Minderwertigkeitskomplex, der aus dem komplizierten

Verhaltnis zum "Mutterland" GroBbritannien entstand. Hatten die Australier noch vor 1{)0 Jahren

ein utopisches, besseres, englischeres England schaffen wollen, so richtete sich ihr Patriotismus im

20. Jahrhundert immer starker auch gegen die als arrogant empfundenen Englander- ohne sich

dabei des britischen Werte- und Klassensystems entledigen zu konnen, das jeder Australier

grQndlich intus hatte.

Die Geburt des australischen Dramas hing aber nicht nur damit zusammen, daB "australianness"

endlich ein Thema furs australische Theater wurde; die australische Sprache muBte Qberhaupt fUr

buhnentauglich deklariert und dramenreif gemacht werden. Historischer Geburtshelfer war dabei

unumstritten Ray Lawler, Schauspieler, Theaterautor und seit 1975 (neben dem Grunder John

Sumner) Direktor der reichen und traditionsreichen Melbourne Theatre Company. 1955 hatte er

"The Summer of the Seventeenth Doll" geschrieben, das in Australien und sogar in England

Theaterpreise gewann und das Renommee des gerade gegrundeten Elizabethan Theatre Trust

starkte (die erste Institution, eine Stiftung, die in Australien das Theater subventionierte). Lawlers

StUck handelt von der sechzehn Jahre wahrenden Liebesgeschichte zweier Paare, der Zuckerrohr­

Arbeiter Roo und Barney und der Melbourner Bardamen Olive und Nancy. Dje Mates schuften

zwei Drittel des Jahres in Queensland, um den Sommer bei ihren Freundinnen verbringen zu

konnen. I m 17. Sommer zerbricht all dies; Nancy hat mittlerweile burgerlich geheiratet, und die

Neue fur Barney beiBt bei ihm, dem Weiberhelden, nicht an; Roo hat gerade seine Position als

Vorabeiter- und dam it sein SelbstwertgefQhl - an einen JQngeren verloren, und am Ende wirft

Olive ihn hinaus, weil sie ihn nun nicht mehr vergottern kann; Barney und Roo ziehen gemeinsam

in eine ungewisse Zukunft. Die unverbruchliche Mannertreue Gberdauert als einziger Halt die

existentielle Katastrophe. Lawlers StUck traf den Nerv der Zeit und der Nation, weil der

australische Mannermythos angesichts der zunehmenden Urbanisierung des Landes immer

unzeitgemaBer zu werden drohte; der australische Slang, den seine Figuren sprechen, bedeutete

darum mehr als bloBes Lokalkolorit: Er durchleuchtete die Wirklichkeit.

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"Summer of the Seventeenth Doll" war aber beileibe nicht das erste StUck Ober oder aus

Australien .. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine ausgepragte Tradition sentimen­

taler Melodramen und einer typisch australischen Stand-Up-Comedy, die mit Show- und Kabarett­

Mitteln, vom Vaudeville beeinfluBt, fOrs Entertainment in den jungen australischen Stadten

sorgte. Melbourne hatte damals seine eigene Theatermeile mit -zig Theatern ... Moderner

Abkommling dieser Komik ist Barry Humphries, ein antipodischer Loriot, der in Solonummern

verschiedenste australische Typen unnachahmlich karikiert. Seine bekannteste Figur ist die viel­

verehrte Dame Edna Everage (average = durchschnittlich), eine Hausfrau aus den properen

Vororten Sydneys, die sich im Verlaufe ihrer Ober 20jahrigen Existenz zum "Mega-Star" entwickelt

hat {M. Merschmeier).

Offenbar hatte man aber erwartet, um auf Dodegeroo zuri.ickzukommen, daB mit den Aborigines,

die selbst Gedichte oder Romane schrieben, eine authentischere, urspri.inglichere Interpretation

schwarzer, australischer Traditionen seinen Eingang finden wi.irde in die australische Literatur.

Dodgeroo enttauschte mit ihren ersten beiden Bi.ichern die weiBen Hoffnungen auf eine

authentische, schwarze Stimme. Anstatt einen authentischen, traditionellen Aboriginai-Stil zu

entwickeln, imitierte Dodgeroo die Form der australischen Busch-Ballade und insbesondere die

Dichtung von Henry Lawson.

Die Besprechungen beklagten nicht nur, daB Dodgeroo versagt habe, in dem Sinne

innovativ zu sein, indem sie die traditionelle Aboriginal-Art von mOndlicher Dichtung

weiterentwickelte, sondern sie hinkte auch hoffnungslos hinter zeitgenossischer, weiBer Dichtung

her, indem sie metrische und rhythmische Muster des spaten 19. und frOhen 20. Jahrhunderts

benutzte. Es hat seitdem viele Versuche gegeben, von Aboriginal Autoren, "traditionelle" Formen

zu gebrauchen. Beispiel: 1988 veroffentlichte der Aboriginal Dichter und Kritiker Mudrooroo ein

Buch m it dem Titel Dalwurra, in welchem er einen traditionellen Lieder-Zyklus He manikay a us

dem ostlichen Arnhemland, modernisiert. lnteressanterweise gibt es dafOr einen weiBen

Vorganger: 1948 hatte der Anthropologe Ronald Berndt die Transkription und Obersetzung eines

Manikay veroffentlicht, der den Dichter Les Murray, der sich der letzte "Jindyworobaks" nennt, zu

seinem Gedicht inspirierte: "The Buladelah - Taree Holiday Song Cycle" (ungefahr 15 Jahre vor

Mudrooroo). Mudrooroo's zweiter Roman, Long live Sandawara, hat ein Aboriginai-Thema: das

Leben von Sandawara, der in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts einen Aufstand gegen die

WeiBen anfOhrte. Der Literatur-Kritiker Adam Shoemaker nimmt es Mudrooroo sehr Obel, daB er

sich auf ein Buch des weiBen Autors Jon ldress Ober Sandawara bezieht, anstatt seine fiktionale

Erzahlung auf mOndliche Aboriginal Traditionen zu begri.inden. Shoemaker nennt in einem

Interview als Beispiel die mundliche Tradition, in der Daisy Utemorrah aus Western Australia

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stehe, selber eine publizierende schwarze australische Autorin, um den Reichtum dieser Tradition

zu demonstrieren. Er folgert, daB es sicher anzunehmen sei, daB Mudrooroo's Roman "more

distinctive original and independent of White Australian literary influence", wenn er si eh auf diese

Quelleri besonnen hatte.

In der Tat beruhen a lie drei historischen Romane, die Mudrooroo bis jetzt geschrieben hat,

auf weiBen lnterpretationen und weiBen Primar-Quellen, Master of the Ghost Dreaming, z. B., auf

den Berichten eines englischen Missionars, G. A. Robinson.

Die Hauptfigur dieses Romans ist der Schamane Jangamuttuk, der sein Volk auffordert, sich selbst

mit einer Art subversiven, europaischen Mode zu schmucken. So frisierten die Manner z. B. ihr

Haar so, daB es im Feuerschein aussehen konne wie der Helm von euiopaischen Soldaten. In

seinem Essay "Beyond Colonialism: The Artist as Healer" fordert Satendra Naudan, daB ein

KQnstler die "Wunden der Geschichte sehen mQsse, die durch Kolonialismus verursacht seien".

Der Autor wird zum "Heiler", der die Krankheit der Koloniai-Herren diagnostiziert und den

gesichtslosen Kolonialisierten ihre eigenen Vorstellungen zuruckgibt. Dieser Akt des Heilens

schlieBt keine Versohnung zwischen Eroberer und Opfer ein, sondern arbeitet die lnteraktion

zwischen Eroberer und Opfer auf. lch lese das erste Kapitel von "Master of the Ghost Dreaming"

als die Stellungnahme eines postcolonialen Aboriginai-Autors, der die "Wunden der Geschichte"

heilt. Dieser HeilungsprozeB benutzt weiBe Literatur-Traditionen und weiBe Geschichten.

Mudrooroo setzt "Wahrheit" und "Fiktion", historische Dokumente und schamanistische Visionen,

als scheine er sagen zu wollen, daB europaische Darstellungen nicht notwendigerweise

ausgeschlossen werden mussen, sondern daB sie um-gelesen, urn-erzahlt, urn-arrangiert werden

mussen. Die weiBen Mythen und Geschichten mussen vielleicht verzerrt, verdreht, sogar

vereinnahmt werden, urn eine andere Geschichte schreiben zu konnen.

lch mochte lhnen jetzt zwei Filme zeigen, die in bemerkenswerter Weise aufeinander Bezug

nehmen. Der erste ist ein Spielfilm mit dem Titel "Jedda" des weiBen australischen Filrnregisseurs

Charles Chauvel aus dern Jahre 1955 und "Nightcries" aus dern Jahre 1989, gedreht von der

vielleicht wichtigsten, nicht "nur" schwarzen Filmernacherin Australiens, Tracey Moffart. tch

denke, es ist notwendig, lhnen ein paar Hinweise zu geben, um die Bedeutung dieser beiden

Filme und ihrer Rezeption durch das australische Publikum ermessen zu konnen. Ein tndiz fUr diese

Bedeutung mag auch sein, daB ich kurzlich eine Version von "Jedda" sah, adaptiert und getanzt

von der "Aboriginal Island Dancers"- der beruhmtesten schwarzen Tanz-Kompanie, die aber, wie

so viele kulturelle tnstitutionen, urn das Oberleben karnpfen.

Zum lnhalt von "Jedda": Jedda, genannt nach einem heimischen Vogel, ist ein verwaistes

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Aboriginal Baby, das von dem kinderlosen Paar Sarah und Doug McNahon adoptiert wird. Diese

leben als Viehzuchter auf einer einsamen Farm im Northern Territory. Sarah, die ihr eigenes Kind

verloren hat, versucht Jedda als "weiBes" Kind aufzuziehen, aber als diese heranwachst, wird

diese von den Ritualen der Aborigines, die rund um die Farrn leben, in Bann gezogen. Jedda wird

Joe, einem Mischling, zur Frau verspro(hen. Joe soli die Farm einmal ubernehmen, wenn

McNahon sich zuruckzieht. Aber diese Plane geraten durch die Ankunft Marbuks durcheinander,

eines majestatischen, sehr attraktiven Schwarzen, der, wie sich herausstellt, in der Welt der

WeiBen gesucht wird wegen Mordes. Sein eigener Stamm verurteilt ihn, weil er "Jedda" als Braut

gewahlt hatte, da sie nicht die "richtige Ha ut" habe. Marbuk wird verruckt und zieht Jedda mit

sich in den Tod.

lch denke, schon durch diese kurze lnhaltsangabe wird deutlich, daB es spannend sein durfte, sich

mit diesem Film auseinanderzusetzen. Bevor wir ihn uns anschauen, nur noch die kleine

Information, daB "Jedda" der erste Spielfilm ist, der Aboriginal in den Mittelpunkt seiner

Handlung stellt.

Der Vorspann des Films erklart: "Um diesen Film zu besetzen, reiste das Produktionsteam zu den

primitiven Stammen Australiens und stellt ihnen jetzt Nanla Kunoth als Jedda und Robert

Tudewalli (beide Namen sind vereinfacht, man stelle sich das vor) ein Mann vom Stamm der Tiwi

als Marbuk ... Die Geschichte von Jedda beruht auf Tatsachen." Die Chauvels waren kreuz und

quer durch Australien gereist, auf der Suche nach Geschichten und Charakteren und woben

daraus "eine Geschichte des Western Territory". Chauvel wollte einen Film drehen, wie ihn nur

"Australien der Welt schenken konne" das war sicherlich ein Beitrag zur Oberwindung des

"cultural cringe". Chauvel bemuhte sich sehr, den anthropologischen Forschungsstand seiner Zeit

in den Film einflieBen zu lassen, die Musik von lsadore Grodman basiert z. B. auf Aufnahmen von

Aboriginal Musik eines sehr einfluBreichen australischen Ethnologen namens A.P. Elkin. 1951 war

das Jahr, in dem "Assimilation" offizielle Commonwealth Politik wurde und eine Zeit anbrach, in

der es in Theorie und Praxis des kulturellen Kontaktes zu garen begann. "Jedda" wurde der erste

australische Film, der zum Film-Festival nach Cannes eingeladen wurde und die beruhmte

franzosische Filmzeitschrift "Cahiers du Cinema" lobte seine Melodramatik. Der Film zerfallt m. E.

in zwei Halften, die erste ist wie ein didaktischer Film-Essay uber die Schwierigkeiten von

"Assimilation", die zweite gerat in den Bann der Geschichte und die Dramatik der australischen

Landschaft. Chauvels eigene Ansichten uber das Verhaltnis von WeiBen und Schwarzen beruht, so

Chauvels Frau Eisa, auf einer utopischen Vision von Assimilation durch Heirat zwischen den

Rassen. Er nimmt an, daB ein tiefes Verstandnis der kulturellen Differenz notwendig sei, bevor

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eine nationale Einheit erfolgreich sein konne, und das tiefste Verstehen kame durch sexuelle

Vereinigung. Er nimmt aber selbstverstandlich an, daB die Assimilation an die dominante Kultur

erfolgen wird und das ist die der WeiBen. "Jedda" ist gefilmt wie ein Hollywood-Famlien­

Melodram der 40er und 50er Jahre. Sarah ist der Prototyp der hysterischen Frau, deren

Sehnsucht, Jedda zu assimilieren, direkt vom Verlust ihres eigenen Kindes abgeleitet wird,

eigentlich mehr die Sicht des 19. Jahrhunderts. "Marbuk" reprasentiert den unberuhrten Wilden,

Joe, den Mischling, der sich den Anforderungen der Assimilation freiwillig unterwirft, vor alien

Dingen wegen der Bedingungen der Landarbeit, wahrend Jedda selbst steht fUr die erfolglose

und unfreiwillige Assimilation. Der Film entwirft die Vision einer autonomen, kulturellen

Autonomie von Stammen, die "irgendwo", "nowhere", unberuhrt und weit entfernt von WeiBen,

ihren Traditionen und ihrer Kultur folgen.

Zu Tracey Moffat's Film - "Night Cries, a rural tragedy". !eh habe lhnen ein Interview mit Tracey

Moffat kopiert, in dem sie die Hintergrunde ihrer Arbeit erlautert. Tracey Moffat ist, ein wenig

wie "Jedda", das Kind einer Aboriginal, die, da sie die Farnili.e nichternahren kann, Tracey zur

Adoption freigeben muB. Das war auch im Sinne der offiziellen Assimilations-Politik, die

Aboriginai-Frauen zu Tausenden zwang, ihre Kinder zur Adoption freizugeben. Tracey schatzt es,

daB sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern in der gleichen Situation, den Kontakt zu

ihrer Mutter nie Verloren ha be und es einen engen Kontakt zwischen Stief- und leiblicher Mutter

gegeben habe. Tracey Moffat webt in diesem 35 mm-Kurz-Film, der ausschlieBiich im Studio

gedreht wurde, ihre eigene Geschichte und Motivstrange aus "Jedda" ineinander. Sie erweckt

Jedda und ihre Mutter wieder zurn Leben und holt sie in die Gegenwart, beide sind gealtert, die

Mutter inzwischen vielleicht 80 oder 90 Jahre alt und bettlagerig, und die Aboriginai-Tochter

fungiert als ihre Krankenschwester, versklavt nicht nur durch australische Politik und Verhaltens­

weisen, sondern auch durch ihre eigene, ambivalente Liebe. BeeinfluBt vom japanischen Kino, im

Stil eines Melodramas, ist es der Film einer schwarzen Filmernacherin, die der zweiten Generation

angehort, wie Tracey Moffat sagt- nicht mehr zu denen, die gekampft ha ben urn land rights,

legal service, medical centre etc., sondern zu denen, die vor alien Dingen nach kunstlerischen

Formulierungen suchen. Vergleichen Sie nur die Biographie von Kath Walker und Tracey Moffat.

I eh komrne zu der einzigen Theaterauffuhrung. die ich in Australien sa h. die rnich nachhaltig

beeindruckte und noch imrner beschaftigt. !eh spreche von dem Aboriginal-Musical "Bran Nue

Dae". Aus den Danksagungen erfahren wir, daB der Druck des Scriptes durch die groBartige

Unterstiitzung von Wim Wenders, BHP Minerals Limited, The Australian Freedom for Hunger

Campaign, zwei Parlamentsmitglieder aus Western Australia und die Djarindjin Aboriginal

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Community erst moglich wurde.

Die kulturellen Einfliisse, aut die sich die Auffiihrung letztendlich bezieht, sind mindestens

so vielfaltig: Katholische Messe, Country und Western, Road movie, Schnulzen, Broadway and

Broome. Diese Auffiihrung erhielt donnernden Applaus van Publikum in ganz Australien: van

Schwarzen und WeiBen, in Provinzstadten und den groBen Stadten. Die Geschichte ist nicht nur

ein Vorwand fiir die Songs •. sondern ein sentimentales Marchen mit seinem eigenen Reiz. Willie,

ein jugendlicher Schwarzer aus Lambodina in der Nahe van Broome, wird wegen Diebstahls van

Cherry Ripe bars aus einem Heim in Perth rausgeschmissen. Dieses Heim wird van einem

deutschen Missionar namens Father Benedictus geleitet.

Willie trifft in hochster Not auf Tadpole, einen alteren Aboriginal, der behaupt€t, er sei sein Onkel

und auBerdem auf ein australisches Hippiemadchen, Mariguana Annie und ihren deutschen Lover,

Slippery. Die vier reisen nach Broome. Auf ihrem Weg, genauer in Roeburne (was wichtig ist,

darauf komme ich noch zuriick) werden sie van der Polizei festgenommen, weil sie Marihuana­

pflanzen in ihrem Auto mitgefiihrt ha ben. Endlich in Broome angekommen, gehen sie in eine

Kneipe, wo Rosie, eine Aboriginal als Sangerin einer Western & Country-Band auftritt. Willie hatte

bei seinem letzten Besuch in Broome ein Auge auf Rosie geworfen. Willie, Rosie, Slippery, Annie

und Tadpole ha be eine Begegnung mit pfingstlern, die van Theresa gefiihrt werden. Theresa ist

Willies Mutter. Theresa gibt zu, nachdem es sowohl Slippery als auch Annie bezeugen, ein Kind

van einem deutschen Missionar zu ha ben. lm Finale stellt sich heraus, daB Slippery, der Sohn van

Benedictus und Theresa ist, Willie der Sohn van Tadpole, Theresas Ex·Mann, Annie war als Kind

zur Adoption freigegeben warden und so stellt sich heraus, daB alle Aborigines sind, auBer Father

Benedictus.

"Bran Nue Dae" nimmt Bezug aut einige zentrale Probleme und Themen schwarz-weiBer

Beziehungen in Australien: Leben unter einem Missionars-Regime, die Wegnahme van Aborigines­

Kindern, Alkoholismus, die ungleichen Beziehungen zwischen schwarzen Frauen und weiBen

Mannern, black death in custody.

Das StOck spezifiziert die Gefangnisszene als das Gefangnis in Roeburne. Roeburne wurde

schlieBiich nicht rein zufallig gewahlt. Der Aufruhr iiber den Tod van John Pat im Jugendgefangnis

van Roeburne am 28. September 1983 fiihrte mehr als alles andere zur Einsetzung einer Royal

Commission iiber Black Death in Custody.

Die Royal Commission kam zu der Auffassung, daB der Tod van John Pat durch Korperver­

letzungen van seiten der Polizei verursacht warden sei, obwohl die 5 Polizisten, die wegen

Mordes an John Pat im Jahre 1983 angeklagt warden waren, van 12 Nicht-Aboriginals Geschwo·

renen freigesprochen warden waren. In dem Musical bleibt all das unerwahnt.

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Tadpole antwortet nicht. Peter Bilby schreibt in seiner Einleitung: "Yeah, I'm a man now', says

Willie- and he is a Royal Commission in five words."

Der Plot basiert auf den Erfahrungen von Jimmy Chi, seine eigene Reise zuruck nach Broome, die

Begegriung mit der weiBen Gesellschaft, seine Suche nach kultureller ldentitat, die Erfahrung von

Aboriginal Spiritualitat und das Heimkommen im Netzwerk von Beziehungen. Diese Erfahrungen

werden nicht einfach rekonstruiert, sondern im ProzeB der Darstellung auf der BQhne wieder­

belebt, zersplittert und dekonstruiert. Die Dekonstruktion der Vergangenheit geschieht durch

Parodie, lronie, Wortspiele und Witze. Das Lachen zerbricht die Homogenitat von Vergangenheit

und Gegenwart, es befreit und verwirrt und zwingt das Publikum, die Vergangenheit wahrzu­

nehmen .. ·

"A play to ease the pain"- sagt Chi in einem Interview und weiter: Er habe "Bran Nue Dae•

fur alle Australier geschrieben, und so weit ich das beobachten konnte, liebte das weiBe Publikum

dieses Musical und das, obwohl es ein radikales politisches Manifest ist, das die koloniale Ver­

gangenheit mit den Augen der "Anderen" beleuchtet. Die schwarze Sache gewinnt, weil es sich

am Ende herausstellt, daB sowieso alle Aborigines sind und unterlauft so die weiBe, kulturelle

Vorherrschaft. Jimmy Chi zwingt das weiBe Publikum nicht, den schwarzen Forderungen und

Klagen zuzuhoren, sondern benutzt eine subtilere, subversivere Methode, indem sein weiBes

Publikum den Titel-Song mitsingt:

"Bran Nue Dae• ist ein Aboriginal-Musical, aber erfullt viele Erwartungen an "Aboriginai­

Kultur" Qberhaupt nicht, vor alien Dingen an "Authentizitat". Es zeigt eine lebendige, aufregende

heutige Aboriginai-Kultur, die viele Einflusse aus anderen Kulturen Qbernimmt und integriert als

auch "traditionelle" Aborigines-Kultur in die Gegenwart holt und verandert- alles, urn den ProzeB

der Assimilation umzudrehen.

Die Sprache der meisten Dialoge ist Broome Kriol und nicht das Standard-Englisch der

"Eindringlinge". Als ich dieses Musical sah, wurde mir klar, daB es notwendig se in wird, unsere

eigene Geschichte neu zu schreiben, die Stimmen der anderen Qber uns zu Wort kommen zu

lassen - wortwortlich.

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