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DOKUMENTATION THEATERWERKSTATT ASTHETIK UND DRAMATURGIE DES
THEATERS AN DER RUHR UBER DIE (UN-) MOGLICHKEIT, DIE
MULHEIMER STRUKTUR AUF ANDERE THEATER ZU UBERTRAGEN
VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZUBERLEGUNGEN NACH MEINER BEGEGNUNG MIT AUSTRALIEN
NACHRICHTEN DER DRAMATURGISCHEN GESELLSCHAFT NR. 3 I 4 1992
lnhaltsverzeichnis
Einladung zum Theater-Gesprach
Ulrike HaB
Dokumentation Theaterwerkstatt
Asthetik und Dramaturgie
des Theaters a.d. Ruhr
Ober die (Un-)Moglichkeit, die Mulheimer
Struktur auf andere Theater zu Obertragen
Veranstaltung FiT
Barbara Mundel
Vom Wahrnehmen der Differenz
Oberlegungen nach meiner Begegnung
mit Australien 1991/92
Die Theaterwerkstatt Mulheim fand mit Unterstiitzung des
Bundesministeriums des lnnern Bonn statt.
RedaktionsschluB des Nachrichtenbriefes 3/4 1992: 30.12.1992
Redaktion: Birgid Gysi, Karin Uecker
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Dramaturgische Gesellschaft Tempelhofer Ufer 22 · D- 1000 Berlin 61 · Telefon 030- 216 30 43
clg EINLADUNG
zum
WERKSTATT-GESPRACH
mit dem
THEATER AN DER RUHR MULHEIM
Freitag, 16. Oktober 1992
19.30Uhr Stadthal/e Miilheim: Auffuhrungsbesuch NACHTASYL I DIE AUSNAHME UNO DIE REGEL Maxim Gorki I Bertolt Brecht
anschlieBend TREFFEN mit den MULHEIMER THEATERMACHERN
Samstag, 17. Oktober 1992
11.00- 13.00 Uhr
15.00-17.00 Uhr
19.30 Uhr
ASTHETIK UNO DRAMATURGIE DES THEATERS AN DER RUHR
mit Roberto Ciulli und Helmut Schater
Einleitung und Moderation: U/rike HaB
0BER DIE (UN-) MOGLICHKEIT, DIE MULHEIMER STRUKTUR AUF ANDERE THEATER ZU 0BERTRAGEN mit Roberto Ciulli, He/mut Schafer, Hans Herdlein, (Biihnengenossenschaft, angefragt), Sabine Schbneburg (IG Medien), Hans Trankle (Staatstheater Stuttgart)
Einleitung und Moderation: K/aus PierwoB
Musiktheater im Revier Gelsenkirchen: DIE DREIGROSCHENOPER - Bertolt Brecht
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ZUR ASTHETIK UNO DRAMATURGIE DES THEATERS AN DER RUHR
WERKSTATTGESPRACH MIT ROBERTO CIUlll UNO HELM UT SCHAFER
TAGU!\!G AM 17.10.92 !!\! MULHE!M A!\! DER RUHR
DOKUMENTATION VON UlRIKE HAB
Ulrike HaB: Die Veranstaltung nennt sich Werkstattgesprach und insofern will ich nichts anderes
tun, als dieses Gesprach atmospharisch zu erleichtern durch eine Einleitung, die nicht zu lange
dauern soli.
In seinem Buch >Siegfried's Vergessen<, das gerade neu erschienen ist, beginnt Adolf
Dresen seine Einleitung mit einigen Satzen uber die Krise des Theaters, die so alt ist wie das
Theater selbst und in der sich das Theater bewegt und verandert- sozusagen als sein Alltag.
Gegenwartig ginge es jedoch um eine Krise, die von anderer Art sei, eine Krise, die ubergreifend
ist, eine Zivilisationskrise, die sich, wie Adolf Dresen schreibt, nicht nur in Naturzerstorung auBert,
sondern ebenso in Kulturzerstorung, in einem Vergessen der Kultur.
Die gegenwartige Krise wird von zwei auffalligen Phanomenen begleitet: Zum einen von
einer breiten Akzeptanz des Asthetischen, die unter dem Stichwort "Asthetisierung der
Lebenswelt" firmiert und des weiteren durch einen Asthetizismus, der fast an erster Stelle in den
Theatern grassiert und selbst ein Symptom dieser Krise ist. Von dieser Krise gibt es erstaunlich
weit verbreitete Wahrnehmungen, die sich immer wieder in der Forme! vom Tod des
abendlandischen Subjekts oder vom Verschwinden des Menschen niederschlagen. Diesen
Wahrnehmungen ist eigentUmlich, daB sie ratios sind. Diese Ratlosigkeit hangt damit zusammen,
daB gegenwartig die Endlichkeit des Widerspruchs zwischen Natur und Kultur wahrnehmbar wird.
Diesem Widerspruch sind jedoch samtliche Raume und Materialien, mit denen wir denken und
Vorstellungen hervorbringen, abgetrotzt. lnsofern stehen wir im Sog dieser Krise mit nichts als
untauglichen, gestrigen, abendlandischen Materialien in den Handen. Nun kann man die
Ratlosigkeit, die sich daraus ergibt, besanftigen und eben das ist der Weg, den wir Asthetizismus
nennen und der die Tendenz zur Entgrenzung des Asthetischen einschlagt, oder man kann diese
Ratlosigkeit radikalisieren: Dann wird man sich mit der asthetischen Grenze abmuhen, mit der
Beschrankung des Asthetischen, mit seiner Selbstreferenz.
lch fange etwas allgemein an, weil ich in Bezug auf die Karriere des Asthetischen im
Zusammenhang mit dieser Krise aufmerksam machen und an einen Beitrag erinnern will , den
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nannte >Die Grenzen des Asthetischen<. Bohrers Einspruch richtet sich na!Urlich gegen die
BefUrworter einer Entgrenzung des Asthetischen.
Die Tendenz zur Entgrenzung des Asthetischen behauptet ungefahr folgendes: lm Moment
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verlassen wir eine Kultur, die narrativ, historisch und metaphysisch grundiert war. Erkenntnisse
wurden durch Widerspruch gewonnen, die die Vernichtung des Anderen mit einschloB bzw.
voraussetzte. Widerspruch basierte auf metaphysischen und normativen Vorgaben, von denen wir
heute weit entfernt sind. Darum regiert heute nicht mehr der Widerspruch, sondern die sprach
liche Oberbietung. Die zukunftige Kultur wird spielerisch, liberal, ironisch und asthetisch sein.
Der Einspruch von Bohrer besteht in folgendem: Durch diese Dichotomie, sozusagen
gestern und heute, ist gar nichts gewonnen. Man tut damit nur das eine, namlich Fragen, fur die
traditionellerweise die Geschichtsphilosophie und Utopie zustandig waren, jetzt mit einer
Erweiterung des Asthetischen beantworten zu wollen. Das Asthetische ist aber von seinem Kern
her absolut ungeeignet fur Fragen, die im Zeitverlauf liegen, Geschichte oder Utopie also. Das
Asthetische ist von seinem Kern her zustandig fUr die ganz anderen Fragen der Prasenz des
Momentanen, des unzuruckfOhrbaren Augenblicks, fUr diese Grenze, die von der Formensprache
der Kunst umspielt wird. Somit stellt sich als heimlicher Antrieb der derzeitigen breiten Akzeptanz
des Asthetischen die Niederlage der Geschichte als dem absoluten Beg riff heraus, oder man
konnte auch sagen: die Niederlage des generellen Diskurses. An dieser Niederlage ist indes nichts
zu verbessern durch eine Entgrenzung des Asthetischen. lm Gegenteil: Man verspielt die
asthetische Erfahrung, wenn man sie als kulturkritische Korrektur in die Arena des generellen
Diskurses schicken will. Die asthetische Erfahrung entzieht sich der Intention im begrifflichen
Denken. Sie ist unversohnlich, denn sie widerfahrt mir. In ihrer Unversohnlichkeit liegt ihre
subversive Ausstrahlung.
lm folgenden geht es konkreter um die Arbeit des Theaters an der Ruhr, die, wie ich denke,
als kunstlerische Arbeit darauf abzielt, die Erfahrung der asthetischen Grenze zu ermoglichen,
indem sie sie umspielt.Die kunstlerische Arbeit dieses Theaters, jedenfalls ihr sichtbarer Teil,
beginnt mit einer Textfassung, die von allem Zufalligen, Provisorischen, Nicht- Wesentlichen
befreit wird. "Zusammenstreichen" nennen die Kritiker das, was in Wahrheit ein absolut strenger,
disziplinierter, gedanklicher ProzeB ist, der von ein oder zwei vitalen Fragen an das Stuck
getragen wird, z.B. von der Frage "Was bedeutet ein Leben aus der Erinnerung?" im Fall des
StGckes >Drei Schwestern<. Wie aber kann man in Hinblick auf ein dichterisches Werk von
Tschechow z.B. von Zufalligem, nicht Wesentlichem sprechen?
Es ist ein wenig zu einfach, wenn man sich das mit einerseits Literatur, andererseits
Theaterkunst und ihrer Autonomie erklart. Ein Text hat viele Schichten. Das Theater verfugt uber
die Moglichkeit, bis in die Dunkelkammer eines Textes hinabzusteigen. I m Gegensatz zum Film
etwa: Der Film ist auf das Schriftbild angewiesen, auf die Wort-fGr-Wort-Folge eines Textes. Ein
Film stellt eine Kutschenfahrt von Effi Briest z. B. als eine Kutschenfahrt m it einer Schauspielerin
durch eine Landschaft dar, die so ahnlich aussieht wie die Mark Brandenburg. Der Film verbraucht
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die Bilder des Textes. lndem er sie in bestimmte manifeste Bilder umwandelt, plundert er das
lmaginare der geschriebenen Worte. Der Film weiB nichts von der Dunkelkammer des Textes,
seine Bewegungsform ist die der Schrift.
Ganz anders das Theater. Es arbeitet mit den lucken zwischen den Worten, den
gesprochenen Worten: Auf der Buhne sieht man einen Menschen und neben ihm steht, wie ein
Phantom, die Unangemessenheit aller angebotenen Erklarungen, die seinen Schmerz erklaren
sollen. Wenn man sich diesem Phantom nahert, bemerkt man eine schreckliche Kluft zwischen
den gesprochenen Worten und dem, was sie bedeuten sollen. Diese Kluft, dieses Vakuum, ist der
Schmerz. Die Erfahrung dieser Kluft lauert auf dem Grund jeden groBen Textes. Die Dichter haben
uns oft genug Mitteilung von dem Vorgang gemacht, daB die Worte, je m.ehr sie sich dem
Zentrum der Bedeutung annahern sollen, sich gegen das Bedeutete sperren, daB sie sich wie
feindliche Armeen zwischen den Ausdruckswillen und die gesuchte Bedeutung schieben und sich
zuletzt allesamt als untauglich erweisen fOr den Schreibenden, der in diesen Schichten des Textes
!angst blind ist.
lch bin immer wieder erstaunt- und jetzt wieder bei der Auffuhrung von >Drei Schwestern<
- wie klar und rein die Grundfigur eines Textes sich abhebt, wenn sie von dem Phantom aller
angebotenen Erklarungen befreit wird. I m zweiten Teil dieser Auffuhrung durch das Theater an
der Ruhr sind alle Figuren gestrichen, wie es so schon lakonisch heiBt, nur die drei Schwestern
sitzen da, jede vor einem Tonbandgerat, auf dem die Stimmen, Satze der gestri-chenen Figuren
gespeichert sind. Sie tun das, was drei Schwestern immer tun: sie spielen. Sie spielen miteinander,
einander die Tonbandstimmen, die Erinnerungen vor. Albernd gleiten sie irnrner rnehr in das Reich
ihrer unerliisten kindischen Kindheit hinein, die Tonbandstimmen dabei, diese von ihren
jeweiligen leibern abgetrennten Stirnrnen, die die Stimrnen von Toten sind. Und allmahlich
begreift rnan, in welchern MaB >Drei Schwestern< eine Figur aus dem Totenreich sind, eine Figur
des lmmer-schon-Gestorbenseins.
Als vaterlich orientierte lntellektuelle, als mittlere, mittelmaBig Verheiratete, die es dem
Vorbild der Mutter gleichtut und als ewiges Kind, sind Drei Schwestern einander alles, was sie
kennen. Aus dem Gefangnis dieser Rollenkulisse fOhrt kein Weg nach drauBen. In unaufhiirlicher
Redundanz verweisen sie aufeinander, sind ohne Anfang und Ende. Verbannt in das Rosa von
Jungmadchentraumen sind sie einander zu nah. Aber was zu nahe ist, kann man nicht in den
Blick nehrnen. lhr Leben a us Erinnerung ist ungetrennt von der Erinnerung und deswegen ist es
kein Leben. Keine Lucke, keine Erfahrung bricht diese schwindelerregende Redundanz dieser Figur
des undramatischen Abgestorbenseins. Und keine Erklarung erklart ihre Not.
Diese Wahrheit der Figur >Drei Schwestern< ist unter dern lnterpretationsschutt eines
Jahrhunderts viillig unkenntlich und dam it begraben worden. Man hat das StOck Ober die
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Sehnsuchtsgebarde "nach Moskau!" zur Parabel der absterbenden Gesellschaft des ancien regime
erklart und damit war es ein StOck, das niemanden mehr etwas anging. Damit es wieder Finger
bekam und Augen, muBte die Figur der drei Schwestern neu aufgefunden werden. Nicht unter
dem lnterpretationsschutt, da ist namlich nichts, sondern auf dem blinden Grund des Textes. Erst
wenn >Drei Schwestern< von alien sozialen, kulturellen und historischen Bezugen gelost, allein
auf der Buhne sind, sieht man, daB ihre Figur die Vernichtung der Nahe inkarniert. Und daB ihrer
kein Schicksal und kein Tod harrt, sondern hochstens ein kleiner freundlicher, harlekinesker Tod
ihnen zuwinken wird, dem sie bereitwillig folgen werden, so als wuBten sie in diesem Moment,
wohin sie schon immer gehorten.
Eine ahnliche Befreiung vom Larm der Worte, die sich zwischen eine mogliche Beruhrung
und das schwerfallig sondierende Him drangen, gibt es in der Aufflihrung von >Nachtasyl<. Die
Grenze, die in diesem Stuck thematisiert wird, ist eine soziale Grenze. Die lnszenierung verwischt
sie nicht, sondern verscharft sie aufs AuBerste. Besitzende und Besitzlose erscheinen als Hof
gesellschaft auf der einen Seite und Verwundete, AusgestoBene, Sterbende auf der anderen
Seite. lhre Welten sind geteilt durch Glas und Metall, geteilt durch Materialien, die ihrer Harte
und Glatte wegen pradestinierte Materialien der Macht sind, in denen sozusagen Macht
kristallisiert ist.
Mit der Thematisierung dieses Machtkristalls in >Nachtasyl< ist das Stuck zunachst einmal
von seiner moralischen Intention gereinigt. Die Auffuhrung verunmoglicht damit schlicht solche
Fragen, wie sie >Theater heute< an die lnszenierung desselben StUckes durch And rea Breth an
der Schaubuhne Berlin anknupft, Fragen, die wie eine naive Selbstkarikatur anmuten: "Vom Leben
da unten in der Gorki'schen wie unserer Gesellschaft erzahlt die Auffuhrung zu wenig." Sie mOBte
diese Erzahlung zuspitzen auf die Frage: "MuB das so, darf das so sein? Beschadigtes Leben da
unten ?" Fragen, deren Antworten schon bekannt sind, sind falsche Fragen. Man versteht das
Elend nicht, indem man es erklart, ihm eine Geschichte oder eine Biographie verleiht. Elend kann
man Oberhaupt nicht verstehen. Man kann es nur hinnehmen. Und zwar von beiden Seiten aus,
die urn das Machtkristall arrangiert sind. Jenseits dieses Arrangements offnet sich der Mund zum
Schrei. Sonst nichts.
Es ist ein schmaler Grat, den eine wahrhaftige Auffuhrung dieses StOcks gehen muB, und
zwar deswegen, weil wir von der sozialen Frage und dem Elend zuviel verstehen. Das Verstehen
vernichtet den Skandal, den Aufruhr des Elends, der in seiner Existenz besteht. Die Auffuhrung
des Theaters an der Ruhr versucht, uns das Verstehen des Elends zu entziehen. Keine Namen,
Personen, Geschichten. Auch keine Handlungen, die unser vorschnelles Interesse auf sich ziehen.
lnmitten einer auBersten Zuspitzung und Verlangsamung, in der das Nachdenken und Verstehen
erschopft aufgeben, eroffnet sich ein bildliches Geschehen, von dem wir unsere Augen nicht
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abwenden k6nnen: Vom Moment der Hingerissenheit sehreibt Roland Barthes in seinem Bueh
>Fragmente einer Spraehe der Liebe<, daB es zur Spraehe der Liebe gehore. An den Themen
weehsel, der sieh in diesem Zitat andeutet, will ich eine letzte Bemerkung ansehlieBen, insbeson
dere aueh deswegen, weil ieh der Meinung bin, daB kein Theater von derartig falsehen
Beobaehtungen der Kritik begleitet wird wie das Theater an der Ruhr, dessen Kritiker von einem
"Abgrund der Hoffnung" spreehen und einen "selbstzerfleisehenden Realismus dieses Theaters"
suggerieren.
Das Gegenteil ist der Fall. Malgotzata Dziewulska sehreibt: "Die Kritiker wurden allzugern in
MOiheim irgendetwas Trostversprechendes ausfindig maehen, noeh am selben Tag des
Vergehens. Es gibt keinen )rost, ebensowenig wie Pessimismus. Es gibt nur das, was ist: die
Besessenheit vom Bosen und Wasser, Himmel, Lieht."
Es gibt nur das, was ist. Dies sehlieBt eine Anerkenntnis der Existenz des Leidenden ein, und
zwar nicht nur als Objekt aus der gesellsehaftliehen Kategorie mit dem Etikett >UngiQeklieh<,
sondern als ein Menseh, der genauso ist wie wir und der eines Tages vom Elend gezeichnet
wurde. Und weil man ihn so angesehen hat, jenseits einer romantisehen Hoffnung und jenseits
jegliehen Verspreehens auf eine bessere Zukunft, deswegen baut sieh der Sehmerz Ober das Elend
in die LQeke, die man ihm laBt, selber ein. Der Sehmerz fOIIt diese LQeke wie der Wahnsinn, und
dann laBt sieh nieht mehr unterseheiden zwisehen BQhne und Welt, zwisehen Sehauspiel und Leid.
Der Geist einer besonderen Art von Zuwendung wohnt jenem Spiel inne, von dem wir unsere
Augen nicht abwenden konnen. Eine Art von Zuwendung, die die GleiehgOitigkeit widerlegt und
jeder allzu billigen Hoffnung unvers6hnlieh gegenQbersteht. Das MitgefOhl wird bekraftigt dureh
seine Maehtlosigkeit. Es ermoglieht eine Beruhrung, die uns bestimmt, fur einen Augenbliek
weniger starr zu sein.
Soweit meine Einleitung, die aufgrund ihrer KQrze zur Formspraehe im Detail Oberhaupt
nichts gesagt hat. !eh will an dieser Stelle noeh einen Literaturhinweis anfQgen: In dem Bueh >Die
Theatervisionen des Roberto Ciulli<, das 1991 im felidae Verlag Essen ersehienen ist, gibt es von
Frank Raddatz einen Aufsatz, der die Formenspraehe des Theaters a.d. Ruhr unter dem Titel
>V on Nasen, Tod und Teehnik< detaillierter besehreibt.
Jetzt gibt es die M6gliehkeit zum Gespraeh mit Roberto Ciulli und Helmut Sehafer. !eh bitte
Sie um Beitrage und Fragen.
Helmut Schater: Sofern es noeh keine Fragen gibt, will ieh zu einem Aspekt, der gerade ange
sproehen wurde, einige Anmerkungen maehen. Es gab zwei Hinweise, der eine, so sehon
umsehrieben mit dem Idiom 'Phantom der Bedeutung', der andere bezog sieh auf das, was
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Fassung heiBt, Striche, bei denen die Kritik dann sehr haufig van Raubbau spricht etc. I eh denke,
daB es ein sehr groBes MiBverstandnis gibt bei der Rezeption, aber auch innerhalb unserer auf
klarerischen Tradition des Theaters, das sich vielleicht darauf stUtzt zu glauben, daB ein
literarischer Text, ein Theatertext, einen Grad der Objektivitat besaBe.
Man kann erklaren, woraus dieses Verstandnis einem Text gegenuber entspringt, indem
man historisch zuruckgeht auf das eben schon genannte Stichwort Aufklarung. lnnerhalb der
Aufklarung war es das Ziel eines Theaters und sein Interesse, die Intention so zu vermitteln, daB
man moralisch gestarkt dieses Theater wieder verlaBt. lch denke aber, und jede Erkenntnistheorie
belehrt uns auch daruber, daB das MiBverstandnis einfach darin steckt, der Rezeption, und zwar
der eigenen Rezeption, weniger zuzutrauen und weniger zu glauben als einer vermeintlichen
Objektivitat, die dann als schwacher MaBstab herhalten muB. Fassungen nun sollten die
Eigenschaft haben, eine subjektive Lesart, zu der man sich bekennt, durch einen Text hindurch zu
suchen und zu gestalten, damit einerseits das Interesse am Material erscheint. Es gibt
z. B. sehr viele gute Texte, die zu machen niemanden interessiert, weil es in der Lebensrealitat des
gesellschaftlichen Augenblicks, innerhalb dessen man sich befindet, keinen Grund dafur gibt.
Fassungen konnen nur sinnvoll entstehen, wenn sie einer eigenen Lesart folgen und - da das
Theater nun nicht eine einsame Kunst, sondern eine gemeinsame Kunst ist - innerhalb dieses
Diskurses sich bewahren.
Der Grund, an dieser oder an jener Stelle etwas zu streichen, umzustellen oder neuzu
formulieren, wenn es sich um Obersetzungen handelt. dieser Grund, an bestimmten Stellen so
auf einen Text zu reagieren, heiBt eigentlich, den ersten Versuch der Belebung eines Textes zu
beginnen und das Leben, das man selber den Text lesend nachempfunden hat, diesem Text
zuruckzuerstatten. Das sind andere Kategorien, glaube ich, als literaturwissenschaftliche oder
philosophische Kategorien. Und wenn ich eben auf Erkenntnistheorie ruckverwies, dann ist es
natGrlich eine Selbstverstandlichkeit einzusehen, daB der Grad des Erkennens van der subjektiven
Reflexion unendlich abhebt und daB es demgegenuber nur eine Objektivitat gibt, die man
wiederum selber variiert. Aber eine Objektivitat auBerhalb des Erkennens existiert nicht, sowie es
auch ein Lesen auBerhalb eines Textes nicht gibt, denn ich binder, der den Text liest.
Da gibt es, durch Rezeption unserer Tradition bedingt, ein tiefes MiBverstandnis. Das reicht weit
in die Bereiche der Philosophie hinein und ist nicht nur etwas, was ausschlieBiich das Theater als
Last zu tragen hat.
Klaus PierwoB: lch habe eine Frage, zum Verhaltnis van Assoziationsreichtum einerseits und
andererseits der groBen Stringenz, die sich bei mir beim Ansehen immer wieder vermittelt. Die
Frage ist, wie ihr damit umgeht, wieweit man sich dem subjektiven Moment uberlaBt, und
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wieweit man versucht, das in der Arbeit wieder zu objektivieren - auch unter dem Aspekt, wie sich
das in der Konstellation zwischen einem Regieteam abspielt und einer Gruppe von Schauspielern,
mit der das realisiert wird. Welchen Stellenwert hat in eurer Arbeit die Vorbereitung, wieweit
lauft sie arbeitsteilig? Oblicherweise macht man im Theater als Buhnenbildner, Regisseur,
Dramaturg, Assistent oder Mitarbeiter die Vorarbeit in einer kleinen Gruppe, und dann wird
irgendwann das Ensemble mit den Ergebnissen dieser Vorarbeit, an denen es meistens
weitgehend nicht beteiligt ist, konfrontiert. Wie verhalt es sich bei euch in der praktischen Arbeit
dam it? Und inwieweit spielt in der Auseinandersetzung, wenn ihr euch z.B. mit einem StUck wie
>Nachtasyl< befaBt, so etwas wie Buhnengeschichte oder lnterpretationsgeschichte noch eine
Rolle?
Helmut Schlifer: lch will eine Sache als erste.aufgreifen: das Verhaltnis von Assoziation und
Stringenz. Was sind Assoziationen auf dem Theater? lch glaube, sie konnen ganz verschiedener
Herkunft sein. Sie konnen a us bildlichen Phantasien entspringen, a us thematischen Phantasien,
oder aus textlichen Phantasien, weil Worte auch Klang sind und diese Klange Korper bilden und
insoweit assoziiert man also auch musikalisch zu einem Text. Es gibt verschiedene Herkunfte von
Assoziationen, die, und das macht der Beg riff schon klar, noch keine Logik aufweisen. Vielleicht
sind Assoziationen eher das Gegengift zu einer Logik, deren Schicksal es ja viel haufiger ist,
formal zu werden. Die Frage kommt dennoch auf, wie man dieses Assoziative wiederum zu Einem
macht, weil eine lnszenierung doch eine Totalitat, wenn auch eine zerstorte Totalitat, ist. Was ist
Stringenz an dieser Stelle? Sicherlich auch der Versuch, dieses assoziative Material auf der Basis
des Thematischen fortzuphantasieren. D. h. daB ab einem bestimmten Moment innerhalb der
Arbeit sich die Oberlegungen verdichten. Man konnte an dieser Stelle "verengen" sagen, aber ich
wurde das als falsch beschrieben ansehen, weil Verdichtung doch ein anderer Vorgang ist, als
etwas nur eng zu machen. Dennoch aber entspricht die Stringenz im Wesentlichen zunachst dem
Thematischen: d. h. daB das Thema nicht in 36 Variationen verspielt wird, sondern daB man am
thematischen Kern die Assoziationen entlang gruppiert, so daB sie sich nicht mehr im Bereich des
Beliebigen befinden.
Andererseits glaube ich, wenn man dieses Verhaltnis von Assoziation und Stringenz
betrachtet, daB darin auch etwas ist, was wesentlich mit der erhofften Phantasie des Zuschauers
zu tun hat. Eine nicht assoziative Sprache des Theaters ist eine belehrende oder trocken-formale.
Sie wird nicht das in Gang setzen. was eigent!ich beim Zl•schauer in Gang kommen muB: daB er
vor Muhe des Erlebens selber in den Zustand des Assoziierens gerat. I eh glaube, daB diese
Benjaminsche Unterscheidung zwischen Erlebnis einerseits und Erfahrung andererseits im
Angesicht von Werken der Kunst etwas ist, das bis heute wesentlich gultig ist. lnsbesondere im
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Theater ist es der Moment des Erlebens, der einen initiiert, und dann erst das "Ritual des
Assoziierens" miiglich macht. Die Idee der Rezeption von Kunst ist auf der anderen Seite von der
Idee des Machens nicht so weit entfernt.
Roberto Ciulli: lch will versuchen, es so einfach wie miiglich zu sagen. lch wurde Theaterarbeit
unter ein einziges einfaches Stichwort stellen und behaupten, daB Theaterarbeit in all ihren
Phasen mit Kreativitat zu tun hat. Das fangt schon bei der Rezeption an: Was ist das historische
Moment, was ist die Welt, in der ich lebe. Schon in diesem ersten Punkt muB die Kreativitat
einsetzen. Es gibt Menschen, die nehmen die Welt so, wie sie ist und wissen, daB sie nicht aus
einem kreativen Zustand entstanden ist, und verstehen dadurch die Realitat in ihrer miiglichen
Veranderung . Das ist zum Beispiel etwas, das wir vermissen: daB bei der Politik, so wie sie ist,
keine Kreativitat herrscht. Ware Kreativitiit bei der Politik, ware der Zustand der Welt
hiichstwahrscheinlich ein anderer. Fur einen Theatermenschen, der anfangt, sich uber Themen
der Welt Gedanken zu machen - denn erst einmal ha ben wir uberhaupt kein StUck, uberhaupt
nichts - muB schon diese kreative Gier da sein.
Urn die Arbeit von 12, 15 Jahren zu beschreiben, seitdem Helmut Schafer und ich
zusammenarbeiten, kann man sagen, sie ist ein StUck Dialog zwischen Helmut Schiifer und mir.
Dann geht es nicht urn Streichungen von Texten und Fassungen. Erst einmal geht es urn den
Versuch, die Welt zu verstehen, und da setzt das kreative Moment ein. Es ist ein standiger Dialog.
Es ist nicht ein StUck, sondern ein Dialog.
In diesem Dialog tauchen Themen auf, die uns alle betreffen. In diesen Themen tauchen
Themen aus der Geschichte auf, aus dieser toten Materie der Literatur, aus diesen seit 2000
Jahren toten Dingen, tauchen StOcke auf. Material, Steine, Schriften, Hieroglyphen, etwas ...
Dann hat man ein konkretes Stuck. Man fangt an zu prufen, ob diese Hieroglyphen, diese tote
Materie doch noch eine Miiglichkeit bergen, in der Zeit und in dem Raum, in dem wir spielen,
eine lebendige Beruhrung, vielleicht auch einen kreativen ProzeB beim Zuschauer auszuliisen.
Denn die Kreativitat fangt an dem Punkt an, wie man die Welt versteht, und endet dann wieder
bei solchen Prozessen der Zuschauer. Ein Theater, das keine kreativen Prozesse in den Zuschauern
auslost, ist fur mich totes Theater.
NatOrlich ist der kreative Anspruch oder die kreative Phase wichtig fUr alle Bereiche der
Theaterarbeit. Aber innerhalb dieser Arbeit gibt es wieder spezifische kreative Begabungen. Das
ist ganz klar, daB der kreative Prozess des Schauspielers spezifisch ist, er gehiirt mit zu ihm. Und
die Kreativitat eines Regisseurs oder Dramaturgen oder eines Buhnenbildners ist eine andere. Das
Wesentliche fUr mich in der Arbeit ist, daB a lies dem moralischen Prinzip unterstellt wird, alles
machen zu konnen, damit jeder in seiner kreativen Miiglichkeit arbeiten kann und seine
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Kreativitat zur Entfaltung kommt. D.h man muB aufpassen, daB bestimmte lnstrumente, die man
sich in verschiedenen Konstellationen, mit verschiedenen Personen angeeignet hat, nicht
unkritisch Obernommen werden und man glaubt, damit weiterkommen zu konnen.
z. B. Improvisation: NatOrlich ist Improvisation der Weg, wo ein Schauspieler Kreativitat
entwickeln kann. Wenn die Improvisation eines Schauspielers jedoch da anfangt, wo eigentlich
nichts mehr zu improvisieren ist, dann hat sie keinen Sinn. Was heiBt Improvisation? Wir konnen
alles improvisieren. Aber zu meinen, das ware schon Kreativitat, ist eine Tauschung. Wir
produzieren zuerst einmal all das, was wir in uns drin haben. In dem Moment aber, in dem das
streng bewertet und dann gestrichen wird, fallt uns nichts mehr dazu ein, zum Thema Liebe z.B.,
zum Thema M ut. Man erreicht genau dann diesen Punk~. den viele KOnstler aus anderen
Bereichen, Schriftsteller oder Maler, kennen: am Punkt der totalen Einsamkeit steht man vor einer
weiBen Wand. Das ist fOr einen Schauspieler sicherlich ein besonders wunder Punkt, der fOr ihn
schwieriger zu ertragen ist als fOr einen Maler. Darum begreife ich Schauspieler, wenn sie ihre
Kunst so verstehen, als Opfer dieser Gesellschaft. Es ist ein schwieriger Punkt: Wenn man dann
doch eine Improvisation ansetzt, kann es sein, daB einige stundenlang, ja tagelang nichts zu
sag en haben und merken, daB man nichts zu sagen hat. Wenn man dann aber versucht, durch
Zusammenarbeit und Stichworte zu unterstOtzen, setzt ein bestimmter kreativer ProzeB ein.
Vielleicht nicht a lie gleich, und einige bleiben dann auf der Strecke. Das ist im Kollektiv des
Theaters manchmal so. Aber nur so, glaube ich, kommt man zu etwas Neuem. Nur so hat man
vielleicht die Chance, im Publikum den kreativen ProzeB zu vermitteln.
Teilnehmerin: lch habe zur lnszenierung von >Nachtasyl< eine Frage: lch habe den Eindruck, daB
die lnszenierung genau das Gegenteil dessen anstrebt, was der Text macht. Gorkis Text
beschreibt diese Nichtse, diese Taugenichtse, diese Niemande als lndividuen. Sie kommen a lie
dahin, weil es einen bestimmten Grund gibt. Der Text unternimmt eine lndividualisierung der
Figuren. Die lnszenierung macht fOr mich genau das Gegenteil. Sie nimmt das lndividuelle raus,
und es bleiben nur noch Typen Qbrig, soziale Grenzen, sehr krass, stilisiert und was an
lndividuellem drin ist, wird rausgenommen. Hat sich das im Lauf der Arbeit so entwickelt? War
das von Anfang an Konzept? Oder sehen Sie das ganz anders?
Helmut Schafer: An diesem StOck klebt natOrlich nicht nur eine Theatergeschichte, sondern auch
das Historische. Und oftmals ist es so, je naher diese Stucke uns historisch sind, desto
uninteressanter werden sie merkwurdigerweise im Unterschied zu solchen, die durch den
historischen Abstand vom Material befreit sind und zu denen wir einen ganz anderen Zugang
find en konnen, namlich wirklich den Zugang durch die subjektive Reflexion. Was den Gorki
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betrifft, so ist lhre Beobachtung uberhaupt nicht falsch. Gorki beschreibt diese Figuren mit ihren
Biographien, mit ihren Macken, mit ihrem ganzen Umfeld, und folgt damit einer bestimmten Idee
des Theaters seiner Zeit, der er sogar vorausgehen wollte. Dieses fast noch Naturalistische bei
Gorki, wurde man das in unsere Realitat versuchen zu ubersetzen, bleibt heute sprachlos. Es ist
uninteressant, ob der eine ein Saufer oder der andere kein Saufer ist, welche Hintergrunde der
eine oder der andere hat, das spricht heute nicht mehr.
Wir sind in einem gesellschaftlichen Zustand, in dem die Bedeutung des Biographischen,
die ubrigens nicht immer in der Geschichte existiert hat, mehr und mehr am Rande abnimmt.
Jetzt konnen wir einerseits daruber jammern und uns fragen, wo das Individuum bleibt, aber
andererseits kann man sich auch fragen, ob dies nicht ein bestimmtes, historisches Konzept des
lndividuellen gewesen ist, das im 19. Jahrhundert entspringt. D.h. wenn man sich mit einem
Material wie >Nachtasyl< beschaftigt, geht man in die falsche Richtung, wenn man den Puis des
lnteresses auf diese individuellen Eigenarten setzt und dabei unterschlagt, daB diese Eigenarten
von unserer heutigen Realitat weggewaschen werden. DaB sich Realitat uns heute so verandert
darstellt, sehen wir in jedem Fernsehfilm, uberall. Deutlich ist, daB der Untergang des Biogra
phischen natQrlich auch damit zu tun hat, daB das Obergewicht des Gesellschaftlichen immer
gr6Ber wird. Wenn man, wie wir, >Nachtasyl< sozusagen nach vorne wirft, dann muB der Entwurf
schon einer sein, der diesen kauzig-biographischen Raum so nimmt, wie die Welt es heute tut.
Teilnehmerin: Darf ich nochmal nachfragen. Was Sie gesagt ha ben, habe ich auch so gesehen
und verstanden. Aber natQrlich gibt es Punkte, wo Sie sich auch ein Bein stellen. Wenn die
>Nachtasyi<-Truppe im 2. Teil auf Mallorca sitzt, ist einer dringeblieben. Das ist nun nicht zufallig
einer, sondern das ist der Auslander, wenn man das Stuck genau kennt. Kennt man das Stuck
nicht genau, weiB man nicht, wer das ist. Also werden doch Assoziationen unmoglich gemacht
fur Leute, die das StUck nicht genau kennen.
Roberto Ciulli: Jetzt stellen Sie sich vor, wir wurden behaupten, daB es nicht urn einen Auslander
geht, sondern nur urn Arm und Reich. Damit lose ich den Widerspruch auf zwischen einem
Kurden, einem Zigeuner und einem Deutschen. Das lasse ich offen. Wenn man sagt: "Schafft
Abhilfe, schafft Abhilfe!" dann meint man dam it immer nur die Dritte Welt. Aber die Dritte Welt
ist hier. Der Konflikt ist nicht zwischen den Auslandern und den Einheimischen, sondern zwischen
solchen, die immer weniger haben und ausgeraubt werden, nicht nur an Ressourcen, sondern
auch in ihren GefQhlen. Mehr Fortschritt, mehr Wachstum produzieren eine schlechtere
Lebensqualitat, bedeuten z. B. die Krankheit zu besiegen, vielleicht sogar den Tod. Eine sehr
phantastische Zukunft: Vielleicht wird das Le ben verlangert urn 100, 200 Jahre, man will fertig
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werden m it diesem Prinzip Tod. Dann wird eine Mutation vorstellbar von Menschen, die uber
haupt nicht mehr die Miiglichkeit des Fuhlens ha ben, eine Mutation von Menschen, die eben aus
dem Grund, daB sie arm sind, noch den Schatz des GefUhls ha ben. Das ist das, was wir uns
gedacht haben. Das ist das, was wir miichten, daB man es spurt: diese Zukunftsperspektive, die
graBiich ist.
Teilnehmerin: 1st das Gorki-Stlick fur Sie Material gewesen, aus dem dann etwas ganz anderes
wird, oder soli das noch wirklich am Gorki entlanggearbeitet sein?
Roberto Ciulli: lch weiB nicht, was Gorki ist. Abgesehen davon, daB wir uns vorher informiert
haben, glaube ich, daB man mit der Geschichte des Theaters sehr vorsichtig sein muB. Die wahre
Geschichte des Theaters ist die, die nicht geschrieben wurde. Die geschriebene Geschichte ist
immer der Konsens zwischen der Gesellschaft und dem Theater der Zeit. Die wahre Geschichte ·
des Theaters ist die ungeschriebene, die der Schauspieler in den 30er, 40er Jahren oder im 9.
Jahrhundert ... Wieviel wurde uber sie geschrieben vielleicht im Verhaltnis zu Stanislawski und
Antonin Artaud.
Zu Gorki z.B. gab es politische lnterpretationen in den ersten flinf Jahren nach dem Bau der
Mauer. Das hat sich nach dem Zusammenbruch des Sozialismus viillig umgedreht. Nach dem
Zusammenbruch des Sozialismus ist Gorki heute negativ besetzt und wenn ich an 68 denke, an
die 70er Jahre, war Gorki ein positiv besetzter Autor. Man muB, glaube ich, doch sehr vorsichtig
an die Geschichte herangehen.
Teilnehmerin: Die Frage ist fur mich, ob das, was ich beim Lesen des Textes gedacht habe, was
der Text sich denkt, ob das noch eine Rolle spielt oder letztendlich keine mehr. Z. B. die Natascha.
Fur mich gehen die Grenzen zwischen Erster und Dritter Welt vie! starker querdurch. Mir war die
lnszenierung zu platt. Mir wares zu sehr schwarz-weiB. Fur mich geht es in dem Stuck differen
zierter zu, auch durch die Personen wie Natascha. Das wurde verflacht. Es gibt ja auch noch die
Geschichte der sexuellen Ausbeutung im Stuck, die eine weitere Dimension ist und die das Ganze
auch nochmal in eine andere Richtung weitergetrieben hatte. Also ist meine Frage: 1st das
Material ein Material, mit dem ich machen kann, was ich will, oder ist das, was Gorki da gemacht
hat, noch wichtig?
Helm ut Schafer: Die Frage ist, ob das Material ein so starkes Wesen ist, daB es sich gegen
Zurichtungen wehrt. Und was macht man in dem Moment, wo der ProzeB dieses Sich-Wehrens
beginnt. Man wird ganz sicher darauf reagieren. Dennoch bleibt es Material, das sein eigenes
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Wesen hat. In unserem Fall, da stimme ich vollig zu, denn das war auch unser Interesse, sollte es
platt sein. I eh sage lhnen auch warum: weil die Wirklichkeit viel platter ist, als wir glauben. Und
wenn ich diese Wirklichkeit utopisch negativ verlangere, dann wird sie noch platter. D. h. daB die
Zurichtung der Wirklichkeit an Grausamkeit gewinnt, wenn wir sie fortassoziieren oder
phantasieren. Es gibt heute z.B. einen Oberhang an lnformationen, der nicht mehr auswertbar
wird und sich innerhalb dieser medialen Realitat beschleunigt bewegt. Nicht die Geschichte ist zu
schnell, sondern die media le Realitat ist zu schnell. Noch bevor das Ereig nis stattgefunden hat, ist
die media le Realitat schon weiter. Dieser Komplexheit auf der einen Seite steht eine groBe
Plattheit der Wirklichkeit gegenuber. Daher riihrt unser Interesse.
Arnold Petersen: Sie haben gesagt, daB sich beim Lesen eines Textes herausstellt, was man
daraus beim Theater machen will. Mich interessiert jetzt - das Thema heiBt ja auch Asthetik und
Dramaturgie am Theater an der Ruhr und nicht die Asthetik von Herrn Schater und Herrn Ciulli
welche Erfahrungen haben Sie in den vielen Jahren mit lhrem Ensemble gemacht?. Wenn Sie die
Objektivitat weitgehend ausschalten wollen bei der Betrachtung von Theatertexten und das
Subjektive so hoch werten, dann muB das doch in der Ensemblearbeit auBerordentlich schwierig
sein, die ganz verschiedenen subjektiven Einstellungen zum Text zu einer szenischen Einheit zu
bring en. Wir wissen von anderen Theatern, daB das meistens nur kurze Zeit gehalten hat. Wie
ha ben Sie das gemacht?
Klaus PierwoB: Vielleicht darf ich noch eine Frage anhangen. lch glaube, daB es fur viele von
uns, die irn Theater arbeiten, interessant ware, wie Eure jetzt seit zehn Jahren praktizierte
Arbeitsweise von der Vorbereitung, von der ersten Annaherung an ein StOck aussieht. lhr habt
von der groBen Wichtigkeit von Thernen gesprochen, und trotzdern ist es doch anders beim
Stadttheater, wo man sagt, fur Auslanderthema machen wir >Skins< von Griffith, fur das Therna
Antisemitismus rnachen wir Bernardi usw .. Konnt lhr das, weil es viele von uns auch gesehen
ha ben, am Beispiel von >Nachtasyl< exemplarisch fUr Eure Arbeit darstellen.
Roberto Ciulli: Wir sprechen jetzt wirklich von etwas Vergangenern. lch ha be imrner greBe
Schwierigkeiten zuruckzublicken. lch glaube, daB es fur Theater ganz wichtig ist, daB es sich
irnmer bewegt und nicht auf die Sicherheit in alien Bereichen aufgebaut wird. Man muB den Mut
ha ben, bestirnmte Arbeitsweisen immer wieder in Frage zu stellen und nicht denken, wir haben
jetzt den Schlussel, und dann geht es auch so weiter.
Wahr ist, daB wir in den ersten funf Jahren auf uberhaupt kein Interesse gestoBen sind. Wir
wurden kaum besprochen. Unser Publikum betrug in dem Raum, den Sie gestern gesehen haben,
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20 Zuschauer im Durchschnitt. Und das funf Jahre lang. Wir ha ben in der BRD den absoluten
Rekord darin, Abonnenten rauszukatapultieren. Ludwigshafen, wo innerhalb von 10 Minuten 600
ivienschen rausgegangen sind, steht an der Spitze. Wir ha ben bestimmt zwischen 100 und 500
Vorstellungen, die vom Publikum unterbrochen wurden und ich muBte raus, um das Publikum zu
bitten, aufzuhoren. Wir sind einen langen, schwierigen Weg gegangen. Und wenn wir nicht so
eine starke Methodik entwickelt hatten, hatten wir das vielleicht nicht gemacht. Das ist diese
Strenge.
Und wie sieht es nun aus? Die personelle Konstellation hat zum Dialog zwischen Helmut
Schafer und mir gefGhrt. Es hat sich ergeben, auBer in der Zeit mit Gordana Kosanovic, daB dieser
Dialog eine Sache von uns beiden ist. Dadurch ist dann entstanden, daB wir den Vorschlag lion
Themen und StGcken machten. Es gibt eine erste Phase, die ziemlich intim ist, an der das
Ensemble nicht oder nur peripher beteiligt ist. Heute ist die Konstellation jedoch schon wieder
anders. Z. B. ist da jetzt ein Schauspieler, der einen Einstieg in diese thematische Diskussion hat.
Dann kommt der nachste Schritt. D.h. wo wir mit den Schauspielern, m it den KostGm- und
Buhnenbildnern und alien anfangen, uns mit dem StOck zu beschaftigen. Es steht schon eigentlich
eine Idee, in welche Richtung. Aber da fangen wir an und nehmen uns die Zeit, die wir brauchen.
Es ist unterschiedlich. Manchmal sollte man im Interesse des StGckes nicht zu lange machen, weil
das StOck sonst zusammenbricht, aber es gibt Stucke, die halten durch. Und dann fangt am
runden Tisch ein !anger ProzeB an, in dem wir versuchen, in einem diskursiven ProzeB doch eine
sinnliche Vorstellung des Materials gemeinsam zu erarbeiten. Da ist der Punkt, woman streng
wird, wo man sagt: Dies gehort nicht dazu, das gehort dazu.
Dann gibt es einen Besetzungsvorschlag von uns, aber die Besetzung wird standig
geandert. Wir losen gemeinsam, was wir machen wollen. Wir machen z.B. >Hamlet< und ein
Schauspieler sagt, er will den spielen. Dann kommt ein groBes Gelachter, weil alle sag en, er wird
ihn sowieso nie spielen. So fangt es an, und dann landen wir werweiBwo. Die Schauspieler sind
an diesem ProzeB nicht mit ihrer spezifischen Kreativitat beteiligt, mit Kreativitat, aber nicht mit
ihrer spezifischen Kreativitat. Wir versuchen in diesem langen ProzeB, alles so zu versinnlichen,
und wenn wir den Eindruck ha ben, wir konnen anfangen zu improvisieren, dann gehen wir runter
und fangen an mit den Proben. Fruher hatte ich ganz tolle Bucher und wuBte ganz genau, wie
der Schauspieler die Hande bewegen muB, wieviele Zentimeter etc. Heute sind die Bucher ein
leeres Blatt. Es gibt kein Probieren auf Verabredung, es gibt nicht den Versuch, eine Entwicklung
vorwegzunehrnen. VVir versuchen, das Proben und das Sple: auf Null zu biingen, d.h. dei eiste
Tag der Probe ist auch der erste Tag fUr das Spiel. lch glaube, das ist eine sehr wichtige
Geschichte, daB Schauspieler nicht denken, es gibt eine Phase von Entwieklung, und danach
fang en sie an zu spielen. Man kann nicht probieren, daB man Gefuhle hat. Entweder man hat ein
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Gefuhl oder nicht. Deswegen lassen wir die Schauspieler vom ersten Tag an spielen. Dann haben
wir durch die Improvisation die zwei Funktionen: Man steigt eine Leiter entweder runter in die
Holle oder hoch in den Himmel durch das, was die Schauspieler in einem Moment, durch das
Thema prazisiert, miteinander tun. lrgendwann macht man die Tu re auf, das Publikum kommt,
und es gibt eine Premiere. lch finde, man muBte die Premiere abschaffen. Was heiBt eine
Premiere? Man hat eine gesellschaftliche Verabredung und die Turen gehen irgendwann auf. Und
dann geht es weiter. Denn jetzt ist es ein Spiel mit dem Publikum. Jetzt muB es von den
· Strukturen die Moglichkeit geben, daB die Schauspieler mit dem Stuck alter werden konnen, sich
entwickeln und andern, weil die Zeit sich andert. Das ist interessant und das Gegenteil jener
· Wegwerf-Konsumhaltung der meisten Stadttheater, in denen sich ein Schauspieler daflir
interessiert, wieviel Premieren er in einem Jahr gemacht hat und nicht wieviele oder wielange er
eine Rolle spielen kann.
Johannes Richter: Ein Kollege sagte mal zu mir: Der Dramaturg ist doch der Sachwalter oder der
Anwalt des Autors. lch habe ihm gesagt: Was weiB ich denn, was Lessing, Schiller, in diesem Fa lie
Gorki, wirklich gemeint haben. Da helfen mir Eintragungen von Autoren, da helfen mir wissen
schaftliche Untersuchungen letztendlich nichts. lch bringe das deshalb an, weil wir diese
Diskussionen im Gebiet der ehemaligen Reichsbahn auch Qber Jahre hinweg gef(ihrt haben. Es
gab bei uns Haltungen zum Theater, die versucht haben, der Objektivitat des Textes gerecht zu
werden. lch weiB !eider nicht, was das ist: Objektivitat des Textes. Wir hatten jedoch genauso
Phasen, wo wir den Text als Staff genommen haben und damit gearbeitet haben. So einen
Umgang mit einer Textvorlage wie gestern a bend ha be ich in meinen Theaterjahren etwa nur bei
Castorf erlebt.
Meine Frage ist: Wenn wir mit den Texten so rigoros umgehen, und wenn Sie sagen,
das Kreative liegt vor allem in der Themensuche, in der Umsetzung, dann finden wir doch, daB
wir uns dann nicht mehr auf Autoren des Mittelalters und der Romantik und des Naturalismus
zu verlassen brauchen? Auf diesen Sprung der Theaterleute oder Theatermacher warte ich
eigentlich.
Ein zweites Problem: Naturlich kam mir >Nachtasyl< gestern abend auch uberdeutlich vor.
lch denke, der unbelastete Zuschauer ist da wirklich unbelasteter. Er fragt nicht nach den
Auslandern, er fragt nach den Differenzen mehrerer lnszenierungen desselben Autors. Wer das
StOck schon mehrere Male gesehen hat, konzentriert sich wirklich nur auf die Aufflihrung? Das ist
ein Problem, mit dem ich immer wieder zu kampfen habe. lch habe gestern abend naturlich auch
wieder versucht, die Figuren herauszusuchen: Die kennst du doch eigentlich ganz anders, das ist
doch eher ein boser Mensch und das ist doch eher ein guter .... Und das ist falsch. Wir tragen
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naturlich, ob wir wollen oder nicht, die Theatergeschichte im Gepack mit rum, und die start uns
wahrscheinlich jetzt immer mehr, neue Wege im Theater zu gehen.
Helmut Schafer: lch will ganz kurz antworten. Wir brauchen diese Texte, und es ist immer
anders, immer neu. I eh gebe lhnen ein Beispiel. In >K6nig Odipus< ha ben wir fast nichts
gestrichen. Das liegt am Material. D. h. ich kann nicht vorentscheiden und zu meinem Prinzip
erheben, immer Zweidrittel zu streichen. Das wurde keinen Sinn machen. lch fur mich behaupte,
daB ich diese Texte brauche. Die antiken Materialien, Shakespeare ... lch brauche diese Texte, weil
in ihnen schon etwas aufbewahrt ist, das man wiederentdecken muB. Wir sollten nicht glauben,
daB Autoren unserer Zeit oder kurzlich verstorbene, uns also noch sehr nahe Autoren, sehr viel
hellsichtiger uber unsere Gegenwart schrieben als Autoren, die schon seit 2000 Jahren tot sind.
Da gibt es hellsichtigere Texte als die, die heute ges<Ohrieben werden uber unsere Zeit. Aus
verschiedenen Grunden, die man objektivieren k6nnte, hat eine bestimmte Zeit, z. B. die Zeit der
antiken Polis, Reflexionen und Empfindungen m6glich gemacht hat, die heute eigentlich sehr
schwer zu kreieren sind. lch brauche diese Texte unbedingt. Naturlich, es hat in den spaten 70er
und fruhen 80er Jahren Theaterleute gegeben, die versucht haben, ohne diese Texte Theater zu
machen. Das ist ja keine Novitat. Aber das ist nicht das Theater, das wir machen.
Teilnehmerin: lch m6chte folgendes fragen: Das theoretische Material ist ein Text, und man hat
W6rter, man hat das Material von Menschen, Schauspieler, Buhnenbildner, Lichttechniker. Aber
Sie haben diese eigentlichen Themen, die Idee uber das Leben, wie die Menschen sind, und uber
diese Dinge. Was ich gerne wissen m6chte: Sie ha ben eine Gruppe, eine Gruppe Menschen, die
Theater machen. Und ein Theater, wie wir es gestern abend mit >Nachtasyl< gesehen ha ben,
kann doch nur gemacht werden von einer Gruppe, die voneinander weiB, was die einzelnen uber
das Leben den ken. Das geh6rt zusammen. Bei uns in Holland ist es in den letzten Jahren sehr
individualistisch geworden. Anstelle von Gruppen .. s~eht jetzt jeder fur si eh als ein Individuum.
Was mich fasziniert ist, daB Sie imstande sind, so eine Gruppe zusammenzuhalten. Wie geht das
vor sich?
Roberto Ciulli: lch muB lhnen sag en, wir sind keine Gruppe und sind es nie gewesen. Es ist
lediglich der Eindruck, den wir durch die lnszenierung geben. Das hangt damit zusammen, daB
das, was der- Schauspieler tut, von innen kornrnt. Es gibt nichts, was er rnacht, daB lhm jemand
gesagt hatte. Man hat ihm etwas uber das Was gesagt, aber uber das Wie hat er die M6glichkeit
gehabt, es selber herauszufinden. I eh halte die Meinungen von Gruppen an Theatern fUr falsch,
weil damit eigentlich eine Verlangerung der Sehnsucht, in einer Gruppe zu leben, gemeint ist. I eh
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sehe sehr viele Miiglichkeiten scheitern, weil die Leute nur dieses Model! verlangern wollen. Wir
haben uns nie a is Gruppe verstanden. lch kann ihnen sag en, es gibt kaum einen Schauspieler, mit
dem ich es !anger als 24 Stunden in einem Raum aushalten wiirde. Eigentlich ist die Erfahrung der
ganzen zehn Jahre: Wenn man sich auBerhalb der Arbeit in bestimmten Situationen befindet, ist
es eine Katastrophe. Aber innerhalb der Arbeit gibt es Konstellationen von Personen, die mit '
dieser Utopie, Theater und Leben, enger zusammenzufiihren keine Schwierigkeiten haben. Aber
das funktioniert auf der strengen Ebene der Arbeit und innerhalb des Ganzen nur selten.
Helmut Schater: lch glaube, daB Theater, wenn es sich einer miiglichen Wahrheit nahert,
ohnedies hochpolitisch ist, ohne daB die unmittelbare Spiegelung der Gesellschaft, in der wir
leben, auf der Biihne stattfindet. Der Versuch dieser unmittelbaren Spiegelung ist ein TrugschluB.
Ahnlich wie ein sehr altes Material vie! beredter Gber unsere Zeit sein kann als ein gegenwartiges,
so glaube ich, daB haufig die Materialien aus unserer Gegenwart, die sich in ihrem Selbstver
standnis als politisch begreifen, merkwiirdigerweise sehr unpolitisch sin d. lch glaube auch, daB
man soviele Themen in seinem Leben nicht hat, wenn man sie sich nicht standig von der
Gesellschaft aufschwatzen laBt. Das heiBt nicht, daB man sich nicht tagtaglich mit dem, was in
der Welt passiert, genau auseinanderzusetzen hat. lch glaube aber, daB das Theater keine
journalistische Veranstaltung sein kann, wo man auf derlei Dinge reagiert. Das Theater ist selbst
nicht der Ort einer unmittelbaren politisch-journalistischen Reaktion. Vielmehr meine ich, und
fasse damit mal zusammen, was "Thema" heiBt, daB das Theater eigentlich die Auseinander
setzung mit der Zeit ist. Aber nicht nur mit der Zeit im aktuellen Sinn, sondern mit Zeit Gberhaupt.
lch sehe, daB das wesentliche Interesse am Theater doch darauf zugeht, die Zeit endlich einmal
von ihrem qualenden FluB befreit zu sehen als Augenblick. Das hat eine Unmittelbarkeit, ganz
unabhangig von einem Thema, oder der Situation, die einen wirklich bewegt, wo wirklich ein
ProzeB in einem beginnt, weil man, was diese Gesellschaft standig verhindert, erlebt. Diesen
Augenblick zu erleben, diese verdichtete Geschichte, Geschichte verdichtet auf den Augenblick,
befreit von den Qualen der Zeit, ist etwas, was im Theater Gberhaupt von Interesse ist, was mich
am Theater vielleicht am meisten interessiert. Denn ich kiinnte auf a lie gegenwartigen Probleme,
die uns im Nacken sitzen, sonst auch anders reagieren. tch kann schreibend darauf reagieren, ich
kann redend darauf reagieren. lch kann also innerhalb der existierenden oder noch zu erfinden
den politischen Foren darauf reagieren. Das ist es nicht, was das Theater zwingend macht.
Teilnehmerin: Wares eine Grundidee, die von lhnen vorgegeben war, daB zum "Nachtasyl" noch
Brechts >Ausnahme und die Regel< hinzukam?
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Roberto Ciulli: Die Zusammenstellung ist zufallig entstanden. Es gab eine Zeitlang eine Konzen
tration auf diese beiden Stucke. Wir hatten beide StOcke im Blick bezuglich dieser Themen. Und
dann kam der Vorschlag, warum man nicht diese beiden zusammen machen konnte.
Teilnehmerin: BezOglich dieser Mischung ha be ich ein sehr gespaltenes Verhaltnis, gerade was
die Kategorien Erlebnis und Erfahrung angeht. !eh habe ein Stuck erlebt, in dem Sein und Schein
durch eine sehr scharfe Grenze getrennt waren. Es gab diese eine Ebene des Scheins, die weiBen
Figuren, und auf der anderen Ebene war dieses Sein der Elenden. I m zweiten Teil wurde diese
Grenze, diese starre Grenze, aufgebrochen. Und zwar auf eine durchaus negative Art. !eh hatte
das GefUhl, daB diese Grenze jetzt eigentlich zwischen dem ZuschauerrauiT] und der BOhne sich
etabliert hat und genauso durchlassig ist: Dort spielen die Schauspieler einen Schein und das Sein
besteht·aus meiner Wirklichkeit. Nur das ist kein reines Erlebnis. Was ich gestern gesehen habe,
beschaftigt meine Erfahrung. I eh bin eigentlich mit sehr vielen Fragen rausgegangen. 1st es das,
was Sie meinen oder ist das Erlebnis theaterasthetisch-dramaturgisch nur noch negativ
darstellbar?
Roberto Ciulli: Einen Dramaturgen zum Erleben zu bringen ist wirklich sehr schwierig. Wir sind
das schrecklichste Publikum, Dramaturgen, Regisseure, das ist klar. Wenn wir von Erlebnissen und
Kreativitat reden, meine ich etwas ganz Einfaches. Es gibt kein Publikum, erstmal sprechen wir
von Menschen. Die sitzen da und sehen was. Welches ist jetzt die Moglichkeit, die Kreativitat
einzuschalten. Wir sprechen von Kreativitat, um dazu zu kommen, etwas zu erleben. Es gibt die
Moglichkeit, daB das Theater in diesen Personen etwas auslost, vielleicht etwas Ahnliches wie
Schockwirkung. Wir konnen Ober eine Schockwirkung sprechen. Die lost in bestimmten
Augenblicken - zwei Stunden lang kann man das nicht durchhalten - eine Erinnerung an die
Kindheit aus oder etwas, was vergessen war oder in einer Kammer war. Und dann fangt seine
Interpretation an. Dieser ProzeB der Nichtobjektivierung reduziert sich nicht auf den Text. Auch
eine AuffOhrung ist nicht objektiv. D. h. ich ha be keinen Anspruch, daB die Zuschauer die Signa le,
die wir geben, unbedingt verstehen sollen oder konnen. Zunachst einmal als Regisseur, dann gibt
es noch die ldentitat des Schauspielers ... Dieser ProzeB der Nichtobjektivierung, das freie Aus
gehen von verschiedenen Situationen, das ist das lnteressante im Theater. NatOrlich, wenn wir
mit all diesen Kenntnissen ins Theater gehen, ist das schwierig. Die leute, die vie! wissen, sind
immer in Gefahr, Analphabeten zu sein, w~s Theaterrezeption angeht, eher als echte
Analphabeten.
Teilnehmer: lch fand an diesem faszinierenden Abend eine Geschichte erzahlt, die mir sehr
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eingeleuchtet hat. Sicher ist es nicht mehr das StUck von Gorki, so wie es aufgeschrieben war,
aber ein Destillat aus diesem Gorki-Stuck, uber die Dialektik von Herr und Knecht, von Oben und
Unten. An einem bestimmten Punkt schlagt dann die Sache urn. Die Erniedrigten und Beleidigten,
die ihren Kerker verlassen, verhalten sich in dem Moment, wo sie etabliert sind, ahnlich den
Privilegierten. Und nun erzahlen sie sich als PartyspaB eine thematisch dazugehorende Geschichte,
namlich die >Ausnahme und die Regel<. Nur hat dieser PartyspaB zum SchluB ein sehr ernstes
Gesicht gewonnen. Diese Atmosphare, daB Leute sich einen Jux machen aus einem Stuck, war
plotzlich verschwunden, und das Stuck horte mit einer Art Hilfeschrei jener Figur auf, die mal die
Nastja war, also so einer Art Schrei. Das Stuck hatte also zum SchluB einen groBen Ernst. Das
ha be ich also" zunachst nicht mehr zusammengekriegt mit meinem Dramaturgenverstand, aber
vielleicht konnte es so sein, daB tatsachlich dann in dieser Gesellschaft ein ErkenntnisprozeB
stattgefunden hat. lch weiB nicht, ob das bewuBt so ist, ob sich da tatsachlich der Brecht so
durchgesetzt hat, das ursprungliche Konzept plotzlich starker geworden ist, als das mal ange
fangen war.
Roberto Ciulli: lch kann mir vorstellen, daB viele Menschen erstmal in diese Falle gehen. D. h.
daB es lustig und nicht lustig ist. lch kann mir schon vorstellen, daB das eine Schwierigkeit ist. Die
Schwierigkeit ist dann, diesen Sprung zu machen. tch kann mir nicht vorstellen, daB jemand, der
weiB, daB es sich urn Brecht handelt, uns unterstellen kiinnte, daB wir so etwas tun, urn Brecht
durch den Kakao zu ziehen.
Eigentlich ist es von vornherein eine ungeheuer bittere Geschichte. Es gibt nicht viel Grund
zu lachen. Aber die bittere Geschichte ist fUr die, die schreiben, die einzige Moglichkeit,
politisches Theater zu machen. Wie die Spiele Rauber und Gendarm, wie die Spiele der Morder,
der Freizeit. lch kann mir vorstellen, das Thema ist Waldzerstorung, Drogen. Das spielt man im
Club Mediterranee, das wird alles in Unterhaltung aufgelost. Und wir merken uberhaupt nichts
mehr, weil es genau wie RTL ist oder die ganze Masse von Diskussionen im Fernsehen, die uns
die Moglichkeit des Erlebens in einem Staat, in einer Gesellschaft, in der man wirklich Gegensatze
diskutiert, rauben. Denn eigentlich diskutiert man im Fernsehen uberhaupt keine Gegensatze. Es
ist a lies in Butter. DaB es aber in dieser Welt Menschen gibt, an denen nur das GefUhl geblieben
ist, daB etwas passieren sollte: Es gibt die Sehnsucht von Leuten, die sagen, es muB etwas
passieren. Dies ist genau diese Figur von Tante Nastja, der emotionalen Figur, die eine Geschichte
aus einem Buch erzahlt und nicht Realitat und die am SchluB das wichtigste und wertvollste
GefUhl des ganzen Abends reinbringt.
Ulrike HaB: Es zwickt mich doch, jetzt zum SchluB etwas zu diesen Seh-Erfahrungen zu sag en, die
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mitgeteilt wurden. lch denke, es gibt im Sehen von Theater einen Punkt, der kann in einem StOck
auftauchen, oder kann nach dem Sehen mehrerer StOcke auftauchen, es gibt einen Punkt des
bereitwilligen Sehens oder des bereitwilligen Folgens, der ganz sicher damit zusammenhangt, daB
das Nachdenken, die gedankliche Konstruktion, die man da macht, wahrend man sieht, aufhort,
daB die Geschichten aufhoren. Die Geschichten, mit denen das StOck von vornherein belastet ist,
aber auch die Geschichten, die dazu gedacht werden mOssen, indem es einen Geschichtenzwang
auch im Zusehen gibt.
Als ich gehort ha be, daB >Nachtasyl< gemacht werden soli, dachte ich zunachst mal, das
geht auf jeden Fall schief. Dann gab es noch einen Film im Fernsehen, da gab es Probenaus
schnitte zu se hen und auch aufgrund dieser Ausschnitte ha be· ich gedacht, das geht nicht: Man
kann das Elend, an dem man partizipiert, indem man dran vorbeigeht, an Sterbenden in der
Frankfurter U-Bahn z.B. tagtaglich, nicht darstellen. Das laBt sich nicht darstellen. Was ich dann
das Oberraschende fand an der AuffOhrung, daB mit Hilfe dieser Kristallisation urn etwas, das
Macht bedeutet, an der man partizipiert, egal, auf welcher Seite man sitzt, fOr mich deutlich
wurde, daB man Elend nicht erklaren kann. DaB es dafOr okonomische Theorien oder moralische
Utopien gibt, die dann oft mit den Geschichten von Personen zu tun ha ben, aber daB der Skandal
darin besteht, daB Elend existiert und nicht behoben werden kann. Elend kann nicht erklart
werden. Und diese Erfahrung stellte sich fOr mich eigentlich dadurch ein, daB den Figuren die
Erklarung fast systematisch entzogen wurde, und dadurch die AuffOhrung auch langsamer wurde
und irgendwann das Verstehen mOde wurde und aufgegeben hat. lch denke, daB das ein Punkt
ist, an dem man beginnt, bereitwillig zu folgen und daB es ein sehr wichtiger Punkt ist fOr das
Theater, dies zu ermoglichen fOr die, die sehen.
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0BER DIE (UN-)MOGLICHKEIT, DIE M0LHEIMER STRUKTUR
AUF AND ERE THEATER ZU 0BERTRAGEN.
EIN GESPRACH MIT ROBERTO CIULLI, HELMUT SCHAFER,
HANS HERDLEIN UNO SABINE SCHONEBURG
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Klaus PierwoB: Vorweg nur wenige Anmerkungen. Die Strukturdebatte, die eine alte ist, ist in
den letzten Monaten mit zunehmender Heftigkeit gefQhrt worden, vor allem aus dem Grund
heraus, daB in den neuen und alten Bundeslandern Geld fehlt. Den Politikern fallt natlirlich ins
Auge, daB das Theater an der Ruhr als kQnstlerisch sehr renommierte Institution mit relativ wenig
Subventionen auskommt und einen ungeheuer g roBen Anteil selbst einspielt. Meistens sind es
diese beiden, von den Politikern vollig isoliert betrachteten Aspekte, die sie sagen lassen: Warum
machen wir so etwas wie in MQiheim nicht auch bei uns oder versuchen, das zu Qbertragen. Um
die Frage, wieweit das Qbertragbar und nicht Qbertragbar ist, soli es heute gehen. Als Einstieg
dafQr lese ich ein Zitat aus dem AusschuBprotokoll des Kulturausschusses von Nordrhein·West
falen vom 20. Mai, wo der stellvertretende Prasident des Stadtetages in NRW und BQhnenvereins
mitglied, wenn ich richtig informiert bin, folgendes gesagt hat: "Das Theater an der Ruhr gehort
aus gutem Grund nicht dem Deutschen BQhnenverein an. D. h. es unterliegt keinerlei Bindungen in
irgendwelche tarifvertraglichen Dinge und ist eine Institution zur Selbstausbeutung von KQnstlern,
wenn man es negativ, vom gewerkschaftlichen Standpunkt aus betrachten will: Jeder KQnstler hat
dort einen Solovertrag, der aber nicht einmal an dem festhalt, was normalerweise dem Vertrag
vom Deutschen Buhnenverein zugrundeliegt. I m Theater an der Ruhr ist jeder verpflichtet, zu
jeder Zeit a lies zu machen, was ohne Zweifel nicht dem entspricht, was bei einem normalen
Theater fallig ist." Soweit dieses Zitat.
Aus gewerkschaftlicher Sicht wird also kritisiert, ich formuliere es jetzt mal sehr provokant:
Herr Ciulli, Helmut Schafer, ihr betreibt Selbstverwirklichung auf Kosten der Selbstausbeutung.
Das ist der eine Punkt. Der andere Punkt ist, daB die Theaterbetriebe, die offentlichen
Theaterinstitutionen, in denen wir arbeiten, zunehmend gekennzeichnet sind durch Finanz
knappheit, durch eine lnfragestellung der Subventionen. Das ist aus meiner Sicht insofern nicht
gerechtfertigt, als die Theaterhaushalte auch nicht starker gestiegen sind als die offentlichen
Haushalte insgesamt, Theater indes teurer wird, als die zunehmend geringe Zahl der Vorstel
lungen, die man spielt, natQrlich eine latente Verteuerung in sich bergen. Zudem wird in diesen
Apparaten eine zunehmende Entfremdung beklagt von denen, die darin arbeiten. Und das ist
auch meine Erfahrung, daB sich in der taglichen Arbeit immer wieder die Frage stellt: Bestimmt
der Apparat uns oder bestimmen wir den Apparat? Die Theater werden immer unbeweglicher in
der Art, wie sie produzieren und wie sie die Produktio-nen prasentieren. Deshalb fUr mich eine
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zweite Frage, ob nicht gerade diese vertragliche Vereinbarung, die es hier auch am Theater an
der Ruhr gibt, und uber die wir gleich Details erfahren wollen, ob nicht diese vertragliche
Vereinbarung nichts anderes ist als der erfolgreich praktizierte Versuch, die Arbeitsverhaltnisse
innerhalb des Theaters wieder auf die kunstlerische Produktion zuruckzuorientieren. In einem
Interview mit >Theater heute< hat Roberto Ciulli formuliert, man musse den Betrieb wieder mit
Theater infizieren. lch finde dies eine sehr gute Formulierung, die jedoch gleichzeitig ganz klar
macht, daB in dieser Nichtinfektion mit Theater die Krankheit unserer Apparate liegt.
Roberto Ciulli: Zuerst dazu, daB sie berichtet ha ben, daB Politiker an unserem Model! interessiert
sirid aufgrund seiner Finanzierung. Es ist nie unser Interesse gewesen, irgendwie den Beweis zu
erbringen, daB man Theater mit weniger Geld machen kann. lch bin fUr eine hundertprozentig
subventionierte Theaterlandschaft. Andere Staaten, z. B. die Turkei, sind weiter vorn als Deutsch
land, denn die Turken haben ein Theatersystem, das hundertprozentig subventioniert wird. In
Deutschland haben wir eine Subventionierung von 85 bis 95 Prozent. Hundert Prozent muBten
von der Gesellschaft gefordert werden. Die Frage ist, ob die Gesellschaft daran glaubt, daB die
Theaterarbeit eine notwendige Arbeit ist. Unser Interesse ist es zu zeigen, was man machen
konnte, wenn man das Geld hat, das die Theater zur Verfugung haben, was man machen konnte,
wenn eine radikale Reform im deutschen Theatersystem eingeleitet wurde. Wir ha ben nicht das
Interesse zu zeigen, daB man es auflosen sollte. Das deutsche Stadttheatersystem ist eine der
wichtigsten Strukturen in Eurqpa, was Theater betrifft. Aber eben nicht so, wie es ist. Nach zehn
Jahren mussen wir feststellen, daB sehr viele Argumente, die schon vor zehn Jahren gebraucht
wurden, heute mehr Resonanz bekommen. Wir haben vor fUnf Jahren sehr lange einen Dialog
mit der Gewerkschaft gefUhrt. Doch niemand in der Gewerkschaft will wirklich den Dialog mit
uns. Wir ha ben den Dialog mit dem Buhnenverein gesucht. I eh sage sehr polemisch, daB sich der
Buhnenverein auflosen sollte.
Man muBte eine andere Moglichkeit finden. Denn der Buhnenverein versteht sich als
Arbeitgeberverein, und da setzt fUr mich der erste kritische Punkt ein: I eh verstehe mich am
Theater nicht als Arbeitgeber, sondern vielmehr als Arbeitnehmer. Aus diesem Grund verfolge ich
schon seit langem den Plan, eine neue Gewerkschaft am Theater zu grunden, die klarmacht, daB
a lie Beschaftigten am Theater ein gemeinsames Interesse ha ben, vom Pfortner bis zum
lntendanten. Die Arbeitsplatze der Techniker sind natOrlich anders als die der Schauspieler auf der
Buhne. Aber wenn dann im Theater solche Situationen entstehen, daB es das Interesse eines
Schauspielers ist, die Premiere am Sonntag zu machen, weil er meint, dam it eine bestimmte
Qualitat zu erreichen, dann muB das eben moglich gemacht werden. Was den Vorwurf gegen
unsere Vertrage betrifft, so sind sie offentlich. Jeder kann unsere Vertrage einsehen oder ha ben.
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Die Vertrage sind a us einer bestimmten Situation heraus entstanden. I eh war Mitglied des
Schauspieldirektoriums in Koln. In Koln habe ich sieben Jahre lang Erfahrungen mit einem
Stadttheaterapparat gemacht und habe dabei natlirlich bestimmte Dinge bemerkt. Aus dieser
Erfahrung heraus, als wir das Theater an der Ruhr grundeten, haben wir gesagt: Wir mochten
uns die Tarifvertrage mit Schauspielern, Technikern und kunstlerischer Leitung an einem Tisch
zusammen ansehen. Wir haben dann Paragraph fUr Paragraph danach beurteilt, was uns sinnvoll
und was uns nicht sinnvoll erschien. Das war ein ProzeB, an dem alle Abteilungen des Theaters
beteiligt waren. So sind unsere Vertrage entstanden. Erstaunlicherweise sind diese Vertrage bis
heute da. lnzwischen haben wir eine groBe Fluktuation in der Technik, bei den Schauspielern.
Diese Vertrage wurden jedoch nie in Frage gestellt. Hin und wieder wurden winzige Korrekturen
gemacht. Was das Okonomische betrifft, so nehmen wir per Vertrag an alien Erhohungen teil, die
die Gewerkschaft kennt. Die Vertrage unterscheiden sich vielleicht • ich rede immer von den
Schauspielern - von normalen Tarifvertragen in dem Punkt, daB wir nicht in den Vertragen stehen
haben, daB z. B. ein Schauspieler das Recht hat, zwei Rollen in einer Spielzeit zu spielen. Sollte ein
Schauspieler die Rolle wechseln, kann er nicht beanspruchen, daB die andere Rolle die gleiche
Bedeutung oder GroBe hat V.'ie die vorhergehende. Diese Dinge wurden von Schauspielern
vorgeschlagen. Wir sehen einfach eine Gefahr darin, wenn der soziale, der gewerkschaftliche
Aspekt in den kunstlerischen hineinlangt. Wir waren uns ganz einig, daB einige Krankheiten des
Stadttheaters in der Vermischung von sozialem und kunstlerischem Interesse bestehen. Es ist viel
besser, einen Weg zu gehen, der das soziale Interesse klar definiert und Schauspielern die
Moglichkeit gibt, sozial geschutzt zu sein wie jeder in der Gesellschaft, der aber andererseits nicht
das kunstlerische Interesse beeintrachtigt.
Klaus PierwoB: Herr Herdlein, was spricht eigentlich dagegen, daB das Beispiel MGiheim nicht
isoliert bleibt, wenn es bei dieser hausinternen organisatorischen Regelung doch etwas gibt, das
von den Beteiligten im Grundsatz und auch in der breiteren Zustimmung gewollt wird? Es gibt
jetzt in Berlin das aktuelle Beispiel des Berliner Ensembles unter dem neuen Funfer-Direktorium,
das sich mit 1. Januar 1993 umwandelt in ein Privattheater mit offentlicher Subventionierung, das
aus dem Buhnenverein austritt und damit auch aus der Verpflichtung der tarifvertraglich
festgelegten Struktur. Besteht nicht doch die Gefahr einer gewissen Signalwirkung? "MGiheim",
"Berliner Ensemble", das sind ja vielbeachtete Modelle: Wenn sie funktionieren sollten, wird sich
das fortsetzen. Die Frage ist, was spricht dagegen, daB ein derartiger ProzeB in Gang kommt?
Hans Herdlein: Mein Problem ist, daB ich hier so gut wie keinen gemeinsamen Bezugsrahmen
herstellen kann, um die Position der Gewerkschaften aufzufachern. Was hier gemacht wird,
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scheint idealtypisch, groBartig zu sein. Meine Gegenthese ist die, daB das ganz ausschlieBiich
etwas m it der kOnstlerischen Potenz des Herrn Ciulli zu tun ha ben muB, daB derartiges
funktioniert. Was mich zu dem Artikel Ober das "Ciulli-Syndrom" veranlaBt hat, ist folgendes:
Man muB sehen, in welchem Umfeld sich welche Diskussionen bewegen. Diese Damonisierung
der Tarifvertrage geht geraume Zeit zurOck. Wir wissen urn den Legitimationszwang, unter den
die gesamte Theaterlandschaft 1974 durch den Aufbruch der 68er gestellt wurde: Wozu gibt es
euch Oberhaupt? BegrOndet diese vor sich hin stehenden Apparate! Was sich heute als Position
Ciullis darstellt, ist eine radikale Gegenposition zu dem, was ist. Das ist sein gutes Recht, dem
KOnstler sei das unbenommen.
Aber inwieweit kann man die Verhaltnisse MOiheims auf andere BOhnen Obertragen?
Und damit kommen wir zum springenden Punkt: Wenn man die Diskussionen urn diese Themen
verfolgt, muB man immer wieder feststellen, daB Theaterleute, die es wirklich besser wissen
mOssen, in der Offentlichkeit auch noch dazu beitragen, den Eindruck zu erwecken, als seien
diese "damlichen KOnstlervertrage" von dummen Gewerkschaften gemacht, die die Realitaten
des Theaters nicht sehen. lch meine, daB hier unter Fachleuten eine praszisere Diskussion gefOhrt
werden muB. lch bin nicht so apodiktisch zu sagen, daB nur meine Postition herauskommen kann.
lch meine nur, daB man dem primitivsten Rechtsgrundsatz entsprechend der anderen Seite Gehor
geben mu B. Herr Ciulli ist nie an uns herangetreten. Wir hatten eine einzige Begegnung auf
einem Berliner Theatertreffen, wo wir anlaBiich der Fragen von Mietverlangerungen am Theater
aneinander geraten sind. Mehr haben wir zwei uns eigentlich nicht auseinandergesetzt. I eh habe
mich neuerlich eingeschaltet, weil ich mich von dem zutiefst getroffen fOhlte, was Sie, Herr Ciulli
in >Theater heute< ausgesagt ha ben. Es gibt nichts, warum ich gegen Ciulli sein sollte, der bis
dato immer gesagt hat, MOiheimer Verhaltnisse seien nicht ohne weiteres Oberallhin Obertragbar.
Darum meine ich, daB sich unsere Untersuchung darauf konzentrieren sollte, was an Elementen
dieses MOiheimer Vorgehens fOr andere relevant sein konnte- und darin besteht die Kluft, die
sich zwischen uns auftut. Die einen sehen es aus der Perspektive dieses Theaters MOiheim; ich
muB es a us Perspektiven sehen, die in der Region MOiheim anfangen und an der Bayerischen
Staatsgrenze oder in Hamburg und Berlin end en. Und wenn ich zudem einen Drei-Sparten-Betrieb
betrachte, urn das nochmehr zu verallgemeinern, dann kann ich diese Vielzahl von Beschaftigten
nicht ohne ein Regulierungsinstrument, d.h. einen Tarifvertrag handhaben. Wir wissen, das sollte
man doch einmal leidenschaftslos ausarbeiten, daB es diese duale Anlage der offentlich-
...... _ ........ li-1.-. ........ • ~... ............... ;,.,a. ...li .... h .............. ........... v . ............. 1 .... +-.+li..-h rlin o .. ,...hlol"r'\n hnroitnt I'C:"-IIliii..IICII III'COl.CI l.ll, UIC IICUI.C UCI 1 ... \ .. UI.>liC\.LO.II'-11 Ul..:. I'"-''-'''-''''- ...,.._,._1\.\..0..o
Wenn ich einen Betrieb ha be, dessen Finanzgrundlage haushaltsrechtlich auf freiwilliger
Grundlage beruht, dann weiB ich, daB er, solange die Zeiten gut sind, einigermaBen lauft. Wenn
die Zeiten knapp werden, gerat er jedoch ins Wanken. Und ich kann lhnen nur eines sagen:
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Meine ganze Laufbahn ist eine einzige Hangepartie, um dieses Wan ken von Buhne zu Buhne
abzufangen. An die Substanz geht es doch immer, daruber redet man jedoch nicht la ut. Es geht
immer zuerst bei dem Kunstlervertrag Ios. Dadurch, daB der iiffentliche Subventionsgeber das
Theater haushaltsrechtlich z.T. als freiwillige Leistung behandelt, den anderen Teil seiner
Beschaftigten aber nach dem iiffentlichen Dienstrecht verpflichtet, entsteht die Kollision. Die lieBe
sich nur dadurch heilen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, daB die 40-Stunden-Woche diese ganze
Theaterlandschaft ins Beben gebracht hat. Das wirkt heute noch nach, und die Zielrichtung der
38.5 Stunden-Woche im technischen Bereich und dem Verwaltungsbereich nimmt die Theater
noch mehr unter Druck. I m Solo-Etatbereich sind keine Variationsmiiglichkeiten mehr drin und
seitens der Politik, die hier zu handeln beauftragt ware, wird einfach nicht gehandelt.
Eben das ist es, was wir verurteilen: Es wird generiis gesagt, naturlich mussen alle bedient
werden, das ist Tarifzwang, aber der lntendant soli schauen, wo er die Mittel herbringt, indem er
umverteilt. Das ist der Zustand, den wir mittlerweile erreicht ha ben. Die Solo-Vertrage sind es
mitnichten. Von der lntendantenseite aus hat man immer damit spekuliert, daB wir uns
gewissermaBen genieren wurden, ein Eigentor zu schieBen, indem wir auf einem Vertrag
beharren, dessen Grundzuge auf das Jahr 1924 zuruckgehen. Warum das so ist, das weiB
natlirlich jeder auf der Arbeitgeberseite beim Buhnenverein ganz genau: weil sich die soziale
Entwicklung, die hier strapaziert wird, im kunstlerischen Bereich nur ganz ziigerlich und in endlos
langen Schuben vollzogen hat. Das, was heute erreicht ist, ist bei der jetzigen Belastungssituation
aufs AuBerste gefahrdet, und ich meine, daB ein Normalvertrag so, wie er heute an den Buhnen
praktiziert wird, mit Sicherheit die Kunst nicht zu Tode trampeln wird. Die Probleme liegen auf
einer viillig anderen Ebene.
Wie sieht es z. B. mit veranderten Regie-Stilen a us? Wer hat denn aufwendige Technik in
die Ha user geholt? Wer hat denn Apparaturen installieren lassen, mit den en die hauseigene
Technik nicht zurechtkommt? Munchen, Augsburg, als Beispiel: Die lassen sich Apparate
einbauen, die nur noch von lngenieuren befahren werden kiinnen! Wer hat denn so einen
Unsinn zu vertreten, doch nicht wir, die Gewerkschaften! Und die Laser-Kanone, die am
Schnurboden vergammelt, ha ben wir auch nicht angeschafft! Wenn ich eine Landesbuhne ha be,
die ziemlich gut vergleichbar ist mit dem, was MUiheim macht, wenn ich ein Stadttheater habe,
das nicht viel auswarts reist, wenn ich einen 3-Sparten-Betrieb ha be, dann meine ich, komme ich
ohne den Tarifvertrag uberhaupt nicht a us! Der Mensch ist nun einmal in ein NormengefUge des
Rechts eingebunden, wenn er in seinen Alltag tritt, und das Arbeitsrecht als solches gehiirt dazu.
Wenn das wahr ist, kann Ciulli - der schlieBiich auch Philosoph ist und die Gesetze der Logik und
den Satz vom Widerspruch kennt, daB etwas sein kann und gleichzeitig etwas nicht sein kann -
hier nicht postulieren: Soziales und Kunstlerisches soli nicht gemischt werden. Aber der Kunstler
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soli gleichzeitig sozial geschutzt und als Kunstler frei sein. Wie will er denn dieses Quad rat
auflosen? Da bin ich gespannt.
Klaus PierwoB: In Mulheim treffen ganz bestimmte Sachen auf spezifische personelle Konstel
lationen, das wird bei der BE-Umwandlung wahrscheinlich genauso sein. Dies enthebt uns jedoch
trotzdem nicht der Debatte, welche Strukturelemente jenseits der personlichen, lokalen oder
regionalen Konstellationen bedenkenswert sind und warum die Theatergesetzgebung nicht in
dieser Richtung verandert werden sollte. Gesetze und Regelungen ha ben immer ihre Geschichte,
und es ist unsere Verpflichtung, sie den sich wandelnden Lebensbedurfnissen und Lebens
verhaltnissen anzupassen.
Sabine Schoneburg, wie sehen Sie diese Problematik? Stimmen Sie mit ihrem Kollegen
Oberein, oder gibt es da bei lhnen andere Akzentsetzungen?
Sabine Schoneburg: Unsere Gewerkschaft ist ja bekanntlich noch eine sehr junge Gewerkschaft.
In unserer "lndustriegewerkschaft", wie wir haufig von den Feuilletonisten polemisch genannt
werden, gibt es eine Gruppe von ea. 6.000 organisierten Theaterleuten, die seit ungefahr 1,5
Jahren tariffahig sind und an den Tarifverhandlungen m it dem Deutschen Buhnenverein
teilnehmen. Wir haben uns etwas zum Ziel gesetzt, das dem Model! des Herrn Ciulli ahnelt. Wir
wollen alle am Theater Arbeitenden unter einen Tarifvertrag stellen, der Theaterbedingungen
gerecht wird und die Situation der sieben einzelnen Tarifvertrage beendet, die sich z.T. behindern
und vom Arbeitgeber gegeneinander ausgespielt werden konnen. Wir sind mit so einem, sicher
noch unvollkommenen Modell dem Deutschen Buhnenverein gegenubergetreten und mit den
Erfahrungen, die in der DDR mit so einem derartigen Rahmen-Kollektiwertrag gemacht worden
sind. Unser Vorschlag ist vom Arbeitgeberverband oh ne jede Debatte abgeschmettert warden.
Wir sind nun schon seit geraumer Zeit mit den funf neuen GeschaftsfOhrern des Berliner
Ensembles im Gesprach und in der Debatte um einen Haustarifvertrag. lndem es nun ein Privat
theater ist, ist alles in der IG Medien organisiert, betrifft also eine interne Absprache innerhalb
des DGB. Wir ha ben es jedoch nicht geschafft, die OTV a us diesen Vertriigen herauszuhalten.
Wenn ich bei Herrn Ciulli im Interview lese, er will Vertrage machen nach kunstlerischen,
menschlichen und wirtschaftlichen Erfordernissen, aber keine Tarifvertrage- anderes wollen wir
auch nicht. Wir wolf en Arbeitsvertrage genau nach diesen Kriterien. Aber vielleicht ist im Moment
ein so groBer Verbandstarifvertrag gar nicht fQr a!!e Theater des Landes machbar. Vie!!eicht ist das
nur punktuell zu verwirklichen.
Helmut Schiifer: lch glaube, wir kommen an einen Punkt, Ober den man wirklich nachdenken
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muB: Ob man Regelungen vertraglicher Art finden muB, die sozusagen global wie Bundesrecht
wirksam sind, oder aber, ob man Regelungen finden sollte, die sich jeweils den einzelnen
lnstituten und ihren lnteressen anpassen. Die Frage aber, die auch im AnschluB an Herrn Herdlein
zu stellen ist und die man nicht unter den Tisch fallen lassen darf, ist doch die, was wir eigentlich
fur Theater wollen. Nicht welche Vertrage wollen wir, sondern welches Theater wollen wir! Das
ist doch der Grund fur den falschen Reflex auf den Tarifvertrag: daB die Theater immer lang
weiliger, immer uninteressanter geworden sind, so daB auf einmal auch ein Feuilletonist sich mit
den Hintergrunden zu beschaftigen beginnt und glaubt, der Tarifvertrag sei verantwortlich fUr die
Langeweile im Theater.
Die Frage aber, die man stellen muB, ist: Wo gibt es Zusammenhange zwischen einer
Vertragskonstruktion fur die Theater und dem, was dann in den Theatern vor allem nicht passiert.
Die Frage nach dem Defizit, das eingeklagt wird.
Also: Wenn wir andere Theater wollen als diese versteiften und sich kaum noch bewegen
den - weil das Fett auch im Hirn der Kunstler sitzt und nicht nur auf Seiten von irgendwelchen
Vertragspartnern - dann mussen wir natUrlich daruber nachdenken, wie das geht. 1st die
Konstruktion eines groBen Stadt- und Staatstheaters, eines Dreisparten-Betriebes mit den
heutigen Moglichkeiten finanzieller Art und ihren vertragsrechtlichen Bindungen uberhaupt
noch durchzuhalten? Oder gibt es Oberlegungen hinsichtlich der Veranderung dieser Struktur.
Den Vertrag wird man dann finden. Er ist eine Folge. Wie verandert man die Grundstruktur
eines solchen Hauses? Oder sind wir mit diesem unbeweglichen, kunstlerisch immer lang
weiliger werdenden Theater zufrieden. 1st man damit zufrieden, dann streitet man sich noch ein
paar Jahre uber den Tarifvertrag oder auch nicht. Was ich sinnvoller finde ist, der Idee zu folgen,
daB das Theater dem Wesen nach Kunst ist, diesem Wesen nachzuspuren und zu versuchen, sie
in das Theater wieder hereinzutragen. Wie ginge das? Kann man sich vorstellen, daB ein groBes
Haus der Stuttgarter GroBenordnung ganz anders organisiert ist? 1st das eine gottgegebene oder
nur eine historische Erfindung, ein solches Theater? lch glaube, daB die Oberlegungen da
ansetzen mussen. Wir mussen uns erst einmal daruber klarwerden, was wir wollen.
Arnold Petersen: Die letzte Frage, wie laBt sich die beantworten? I eh mochte zunachst einmal
etwas zur Rolle der lntendanten und zum Streit uber die Tarifvertrage sagen, weil das so nicht
stehenbleiben kann, was Herr Herdlein gesagt hat. Erstens ist es nicht so, daB die lntendanten
grundsatzlich Tarifvertrage ablehnen, sondern sie kritisieren deren Pervertierung, an der sie zwar
beteiligt waren, aber an der sie nicht schuld sind. Die Rolle der lntendanten im TarifausschuB ist ja
nicht die der entscheidenden, sondern der beratenden Funktion. Solange ich im TarifausschuB
war, und das ist jetzt siebzehn Jahre der Fall gewesen, ha ben die lntendanten immer den lnhalt
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der Tarifvertrage kritisiert. Nicht den Vertrag an sich und am wenigsten den Normalvertrag Solo,
der in kunstlerischer Hinsicht etwa im Vergleich zu dem TVK, dem Vertrag der Orchestermusiker,
oder den Vertragen der Chorsanger oder den Vertragen der Technik, noch ziemlich viel Spielraum
hat. Solange ich lntendant war, waren die lntendanten die legitimierten Sprecher der Theater,
die an der immer immer kunstfeindlicheren Entwicklung der Tarifvertrage mit immer komplizier
teren Ruhezeitregelungen und jetzt mit der Neueinfuhrung freier Tage unter falschen Argumen
ten Kritik geubt haben. Das klingt so, als ob ein Schauspieler 365 Tage im Jahr arbeiten wurde
und man dafur sorgen muBte, daB er tariflich freie Tage hat und nicht dabei bedenkt, daB ein
Schauspieler- einfach durch die Struktur eines Hauses bedingt- relativ viel Freizeit, auch neben
seiner Arbeitszeit, hat.
Die lntendanten leiden, genau wie Herr Ciulli in Koln, unter diesen Zwangen der Tarif
vertrage. Wenn man in den Tarifvertragen dann den schi:inen Satz liest: "Eine Arbeitszeitregelung
ergibt sich a us den Erfordernissen unter Besonderheit des Betriebes", dann ist es genau dies, was
wir an den groBen Hausern auch anstreben. Die Arbeitszeitregelung mQBte den Erfordernissen
des Betriebes angepaBt werden ki:innen. Man ki:innte boshaft sagen: An den Theatern auBerhalb
von MUiheim richten sich die Theater nach den Erfordernissen der Arbeitszeit der Leute, die in
ihm arbeiten. So kann man nicht Kunst produzieren. Die Techniker am Theater, die Handwerker
und Buhnenarbeiter mussen eine andere Regelung haben als die Arbeiter auf dem Leihamt oder
auf dem Schlachthof oder bei der StraBenbahn. Am Theater wird nicht jeden Tag dasselbe
Produkt hergestellt wie in der lndustrie, wo man die Arbeit normen kann. Man kann
Theaterarbeit nicht normieren. Es ist ein Unterschied, ob die >Zweierbeziehung< von Dario Fo
oder ob der >Wallenstein< inszeniert wird.
Die Apparate werden immer schwerfalliger, weil sie vom lntendanten gar nicht mehr
manipulierbar sin d. Sie sind nicht mehr steuerungsfahig. Jetzt wo das Geld knapp wird, da
merken die Gewerkschaften, daB es so nicht mehr weitergeht. Wir wuBten ja auch, daB man
mit Geld sehr vie! reparieren kann. Jetzt ist das Geld a lie, und da merkt man, daB das so nicht
weitergehen kann. Jetzt melden sich alle zu Wart.
I eh ha be a us moralischen Grunden nicht mehr weitergemacht. lch ha be gesagt: lch trete
a us dem Theater a us, wie and ere Leute a us der Kirche austreten. In einem Ha us wie in Mannheim
haben wir noch bis vor zwei Jahren 1.000 Veranstaltungen im Jahr auf die Beine gestellt. Die
Tatsache, daB ein Haus wie Frankfurt derzeit gerade noch 17 Vorstellungen im Monat zustande
bekommt, ist skanda!Os. Das ist mora!isch nicht mehr vertretbar. Man hat gar keine andere Wah!:
Entweder macht man armes Theater, oder man macht ein Theater in der Richtung, wie sich Kunst
entwickelt hat. Man kann Malern ja nicht vorschreiben, sie sollen wieder wie Rembrandt malen:
Sie malen so, wie sie heute Kunst machen wollen. Und Schauspieler und Regisseure wollen so
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Theater machen, wie sie heute Theater machen. Aber das ist mit diesen verkrusteten Apparaten
heute einfach nicht mehr moglich, und deshalb hat der Herr Schafer recht: Man muB nicht
uberlegen, was man an den Vertragen andern kann, sondern man muB die Struktur der Theater
andern. Die Mitarbeiter am Theater mussen erst einmal wieder mit Theater infiziert werden. Es ist
ein Unterschied, ob einer im Theater l'fortner ist, oder ob er im Gaswerk l'fortner ist. Es gibt so
viele Mitarbeiter in diesen groBen Theatern -in Stuttgart sind es uber 1.000 mit einem Jahresetat
von 150 Mio. DM. Die sind sich gar nicht mehr klar darGber, daB sie am Theater sind.
Roberto Ciulli hates geschafft, wir haben es nicht geschafft in diesen groBen Betrieben. Aber
man miiBte an der Struktur der Theater ansetzen. Dann glaube ich, daB man ein neues Vertrags
system schaffen kann. Es war in der ehemaligen DDR moglich, einen Rahmenkollektiwertrag zu
entwerfen; ein Vertragssystem, das vom ideellen Gehalt her fur alle Mitarbeiter an Theatern
gleich ist. Also eins, das sowohl fUr den l'fortner wie fUr den lntendanten gilt. Auch die
lntendanten brauchen keine Sondervertrage, wenn sie einen Rahmenvertrag haben. Dann
muBten die Bedingungen natGrlich differenziert werden. Aber sie durfen nicht so geregelt sein,
daB sie dauernd gegeneinander arbeiten. Es ist doch am Theater so: Sie haben die BGhne
vielleicht funf oder sechs Stunden. Sie konnen dann jedoch nur eine BGhnenprobe machen, die
urn 10.00 Uhr anfangt und a us tariflichen GrGnden urn 13.00 Uhr zu En de sein mu B. Drei
Stunden steht die BGhne also leer. Und wenn Sie da was andern wollen, aufgrund von Vernunft
oder Einsicht, dann stoBen Sie auf diese Funktionare, die soviel Druck auf ihre Mitglieder ausuben
konnen, daB die sich gar nicht trauen, Sonderregelungen zu probieren aus Angst, daB ihnen dann
mangelnde Solidaritat vorgeworfen wird.
Teilnehmerin: lch hore lhnen sehr gerne zu, Herr Petersen, wenn Sie so amGsant erzahlen. Aber
Sie berichten immer, daB nichts zu andern war und nichts zu andern ist. Sie sitzen in diesem
BGhnenverein als beratender lntendant, aber von wem lassen wir uns denn hier beherrschen?
Wer entscheidet denn standig a lies und jedes? Die Finanzleute in den Kommunen, die in den
BGhnenvereinen sind? Kann man denn mit den Gewerkschaften oder mit ihren Funktionaren in
den Betrieben nicht gemeinsam etwas verandern?
Roberto Ciulli: Bestimmt sind wir schuldig. I m Jahre 1974/75, in dem der Wechsel stattgefunden
hat, ha ben sich Regisseure an die Machtzentren gewandt. Das war die Zeit, in der man versuchte,
den Generalintendanten abzuschaffen und in der das Modell Direktorium entstand und
Regisseure zum erstenmallntendanten wurden. Die Frage ist, warum alle Theaterleute das wissen
und trotzdem nicht reagiert ha ben. Das sind Phanomene, die nicht an Personen gebunden sind.
Es sind politische Phanomene. I eh finde es sehr interessant, das zu analysieren. lch mochte auf
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das Thema von der "Unmoglichkeit der Struktur" zu sprechen kommen, das wir im Theater an der
Ruhr orgariisiert haben: Scheinbar bis zur Selbstausbeutung. Alle, die am Theater an der Ruhr
waren, hatten lust sich auszubeuten. An einem Detail: Wir geben 150 Vorstellungen im Jahr,
davon sind 100 woanders. Wir sind also standig auf Reisen. Bevor ein monatlicher Plan gemacht
wird, werden die Techniker gefragt, ob sie sich vorstellen konnen, einen Tag vorher in diesem
oder jenem Ort zu schlafen. Die Technik entscheidet m it, ob dieser Spielplan, den wir aus wirt
schaftlichen GrOnden erstellen, durchgefOhrt wird. Es wird nicht nur von oben entschieden.
Es g ibt in der Praxis eine Rei he von Dingen wie dieses Beispiel.
In der letzten Zeit war ich haufiger in der Position, daB mir lntendanzen angeboten wurden.
Jch habe dann jeweils gesagt: Ja, interessant, aber dann mochte ich folgende Punkte. Und jetzt
nenne ich die Punkte, mit denen es anfangt, schwierig zu werden.
Wir stellen die Forderung, daB im Theater kOnstlerische Bedingungen die Prioritat haben
sollen. Jch sage, die Produktion muB reduziert werden. Aber da hangen schon Vertrage drin. Jch
glaube, es ist Unsinn, wenn ein Theater soviel produziert. Nehmen wir ein Theater, z. B. Stuttgart,
da gabe es keine Probleme, wenn weniger StOcke im Jahr produziert wOrden.
Eine zweite Forderung: Das Abonnementsystem darf nicht mehr existieren. Eine radikale
Forderung. Jch wOrde kein Theater Obernehmen, wenn nicht zuvor die Frage des Abonnement
systems gelost ist. Warum? Das hat einen einfachen Grund. Bei einem Theater wie Stuttgart, das
im Jahr ea. 120.000 Karten verkauft, werden 100.000 Karten an Abonnenten und nur 20.000
frei verkauft. Jch sage, das Theater der Zukunft muB auf dem Freiverkauf aufbauen. Es ist
unmoglich, daB ein Theater von einem Publikum lebt, das entscheidet, immer am Mittwoch ins
Theater zu gehen. Wenn Sie einen solchen Ring- DOsseldorf z.B. hat 19 Ringe- bedienen, hat
das Konsequenzen: DOsseldorf muB ein Jahr im Voraus planen, weil es weiB, daB am Mittwoch,
den 6. Mai diese oder jene AuffOhrung stattfinden muB. Das ist eine ungeheuer brenzlige
Situation fOr das Theater. Heute wOrden die Stadte bereit sein, diese bestimmte kritische
Forderung anzunehmen. I eh wOrde sag en, ihr mOBt mir fOnf Jahre Zeit geben. Es ist sicher
moglich, daB es in den ersten zwei Jahre durch die Zerstorung des Abonnementsystems
schwierig wird, weil die Publikumskurve nach unten geht. Wir mOssen fOnf Jahre durchhalten,
aber dann kommt das Publikum.
Dann kommt die Forderung, daB man etwas gegen dieses Karusselsystem unternehmen
mu B. Das Karusselsystem mag in NRW noch schlimmer sein als in anderen Bundeslandern, weil
hier aiie Theater im Umkreis von i 00 km eigeniiich dasseibe produzieren, nur in verschiedenen
Farben, und die Regisseure von Theater zu Theater wandern und innerhalb von drei, vier Jahren
ihre Jnszenierungen in jeder Stadt machen. Meine Forderung ware also, daB die Regisseure in
einer Stadt mit einem Ensemble mindestens drei Jahre arbeiten. Nur unter der Voraussetzung
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einer solchen Kontinuitat kann es eine kunstlerische Entwicklung geben und die Legitimation,
warum wir in NRW soviele Theater ha ben.
Dann kommt ein vierter Punkt, und das ist dann natUrlich das Rote Tuch: lch sage, daB wir
bitte sofort aus dem Buhnenverein austreten sollen und keine Tarifvertrage brauchen. Heute ist
es soweit, daB man bereit ist, auch uber diesen Punkt zu diskutieren. lch kann mich sehr gut in
die Rolle eines lntendanten im Buhnenverein hineinversetzen, aber ich glaube, damit wurde ich
meine Rolle falsch verstehen. Als lntendant bin ich kein Beamter in Kunst, der ein Haus auf eine
Zeit ubernimmt, mit einem Etat von z.B. 25 Mio. DM. Fur 23 oder 24 Mio. DM brauche ich nur
am Morgen meine Unterschrift drunterzusetzen, ich selbst habe nur eine Million zu bewegen.
Dann frage ich mich in diesem Fall, ob ich das wirklich vertreten kann. Meine Arbeitgeber sind
die Stadte, das sind die Leute. Zudem m6chte ich die lnteressen meiner Arbeitnehrner gerne nach
auBen vertreten. Und dazu mussen wir die Freiheit haben, das so zu gestalten, wir wir das jetzt
meinen.
Was die M6glichkeit angeht, das Theater an der Ruhr als Modell fUr Stadttheater zu
betrachten, so muBte man zunachst einmal sagen, es ware falsch zu glauben, daB das Theater an
der Ruhr, so wie es ist, als Modell ubertragbar ist. Aber es gibt 70 oder 80 Prozent von Dingen,
die wir hier in den zehn Jahren realisiert haben, die sehr wohl ubertragbar sind. Wir sind
immerhin ein Stadttheater. Das hat man ubersehen. Heute sind wir ein Stadttheater. Wir machen
150 Auffuhrungen im Jahr, davon also 50 in der Stadt MUiheim. Wir machen natUrlich nur zwei
Produktionen, aber wir ha ben schon eine zweite Gruppe, die ebenfalls zwei macht. Wir sind
dabei, ein turkisches Theater aufzubauen, und dann werden wir sechs Produktionen im Jahr, d.h.
ungefahr 550 Vorstellungen im Jahr haben. Das ist die Gr6Be des Dusseldorfer Theaters. Und
dann muB erklart werden, warum das Modell Theater an der Ruhr als eine solche Chimare, ein
solcher Ausnahmefall, betrachtet werden soli.
Hans Herdlein: Es ist vielfach das Wort "Arbeitgeberverband" angesprochen worden, und immer
rekurriert man damit auf die Tarifvertrage. Auch in Herrn Schafers AusfUhrungen klang an, ob
man denn solche allgemeinen Vertrage brauche oder ob es nicht sinnvoller sei, Vertrage als
Hausvertrage auf die spezielle Erfahrung eines Hauses zuzuspitzen. I eh m6chte nur einen Eindruck
korrigieren, als sei die ganze Kunstlerschaft mit unendlich reichen Gaben gesegnet. Es wird hohe
Zeit, daB wir endlich wieder auf den Boden der Tatsachen zuruckkehren. Wenn ich vorher Herrn
Petersen attackiert ha be, so eigentlich a us der Erbitterung jahrzehntelanger erfolgloser Verhand
lungen heraus, wo man mir in diesen Tarifausschussen eine Phalanx von Vervvaltungsjuristen
gegenubersetzte, die nicht die leiseste Beziehung zum Theater hatten. Da waren uns die nachsten
natUrlich immer die lntendanten. Aber sie waren die letzten, die uns geholfen ha ben ...
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Herr Schafer, ich kann mir nicht helfen, aber ich gewinne den Eindruck, als ob Sie und Herr
Petersen einander ausschlieBende Standpunkte vertreten. lch hare hier heraus, daB wir spezielle
Regeln brauchen, die aufs Haus zugeschnitten sein sollen. Dann brauchen wir aber wieder das
Theater Oberhaupt, und ich wage zu bezweiflen, ob das wirklich so langweilig ist, wie das hier
postuliert wurde. Dann wieder wird der Eindruck vermittelt, wenn die Tarifvertrage nicht waren,
wurden die Musen gewissermaBen scharenweise in die Theater einfallen und sich ein unsterb
liches Meisterwerk an das andere reihen. Das kann doch wohl nicht stimmen.
Die ganze Strukturdiskussion a us unserer Perspektive ist eine Diskussion aus der Frosch
Perspektive. Strukturdiskussionen sind immer von der Politik initiiert worden, wenn sie den
Kulturetat .benutzten wollten, um die Loch er an anderen Stellen zu stopfen. Hinter den Tarif
vertragen stehen die Rechte von Menschen. Das ist ganz unpathetisch gemeint, wie ich das sage.
Und wenn Sie zu 1729 wieder zuruckwollen, dann 16sen Sie diese Tarifvertrage auf. Dann haben
wir wieder die Urzustande wie vorher. Aber man kann nicht so tun, als man wolle das ja gar
nicht. Wenn Sie Hand an diese Dinge leg en, dann wollen Sie das. Dann mussen wir eine noch viel
prazisere Diskussion flihren.
Roberto Ciulli: lch will dazu nur zwei Dinge anmerken: Wenn sich die Frage stellt, daB Tarif
vertrage in Deutschland vertreten werden, als seien sie Menschenrechte der franz6sischen
Revolution, dann hat naturlich jeder, der dagegen ist, einen schweren Stand. Das zweite ist: I eh
muB lhnen sagen, daB ich fur die Formulierung vom 'subventionierten MittelmaB' sehr viel
Zustimmung von lntendanten bekommen ha be. Das hat mir so viel Sympathie eingebracht, wie
ich es nie geglaubt hatte.
Helmut Schafer: lch treffe hin und wieder ein paar lntendanten: Feststeht, daB die Qualitat der
Produktion, auf die Spielzeit bezogen, viel zu mittelmaBig, viel zu schlecht ist. Aber da mache ich
nicht den Tarifvertrag dafur verantwortlich. lch ha be etwas ganz anderes gesagt. lch ha be gesagt:
Wenn man Strukturen neu bildet, werden die einen Reflex auf neu zu bildende Vertrage haben.
lch weiB doch, was mich mehr interessiert: Mich interessieren die Kunstler mehr als die Gewerk
schaft. Das liegt in der Natur meiner Arbeit. D. h. ich argere mich mehr Ober mittelmaBige
Produktionen als Ober Tarifvertrage.
Die Frage lautet also: Haben wir ein gemeinsames Interesse oder nicht? Ha ben wir das
gemeinsame Interesse, diese Theater zu verandern? Und ha ben wir ein Interesse, sie so zu
andern, daB sie rnit der Zeit, in der wir leben, auch etwas zu tun ha ben?
Teilnehmer: lch spreche jetzt aus der Sicht eines Betroffenen, also als jemand aus den Neuen
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Bundeslandern, ich bin aus Saehsen. Es dreht sieh bei uns aussehlieBiieh urns Geld. Es spielt
uberhaupt keine Rolle, ob das Theater eine kunstlerisehe Qualitat bietet, wieviel Vorstellungen
usw. Es ist sehlieht und einfaeh ein Argument der verantwortlichen Leute, was kostet das? Neun
Millionen? Zuviel. Neun Millionen ist der Gesamtetat fur unser Theater fur das Jahr 1993. Geht
nicht. Konnen wir nieht. Ende der Debatte. Die Tarifvertrage geraten aus einer ganz anderen
Riehtung unter BeschuB: Wir konnen namlich die Lohnabsehlusse der Tarifvertrage nicht bezahlen.
!eh denke, es ist nicht so sehr der NV Solo, der zu besehlieBen ist, sondern es ist die Frage: Wie
kriege ieh den NV Solo mit dem VK und mit dem BAT bzw. mit dem BMT unter einen Hut, so daB
unterm Strieh eine vernunftige Regelung dabei herauskommt? !eh denke, es ist ein sehr
kpmpliziertes GefUge, und ich glaube, der Ansatz von Herrn Herdlein ist richtig: Man kann das
Problem von grundauf nur losen, wenn man die Kulturpflicht des Staates finanziell wirklich
dingfest maeht. Denn das erste Argument, was wir von jedem Kreisrat horen, ist: lhr seid
freiwillig; unsere pf!icht ist, daB wir Baugenehmigungen ausstellen und die Mullabfuhr machen.
Und wenn wir kein Geld haben, dann konnen wir den freiwilligen Luxus nieht mehr finanzieren.
Das ist die existentielle Situation, in der wir zur Zeit stehen. Und es erhebt sich fur viele Leute in
vergleichbarer Situation die Frage, in welcher Situation ist fUr Theaterleute ein einfaeheres
Oberleben: Unter der Diktatur der ldeologie oder unter der Diktatur des Geldes?
Teilnehmer: Herr Sehiifer hat vollig reeht, Herr Herdlein im Prinzip aueh. Mieh argert eine
Vermengung von zwei Strukturdebatten: der auBeren, die ich a is diejenige bezeiehnen wurde,
die vielleieht den Deutsehen Stadtetag und uns in der Diskussion anginge, und die Debatte einer
inneren Strukturkrise der Theater. Herr Ciulli hat noehmal explizit darauf hingewiesen: Man kann
das MU!heimer Model! nieht im Hinbliek auf groBe Hauser, auf Mehrspartenhauser, auf Stadte
diskutieren. !eh komme von einem kleinen, von seinem Auftrag relativ privilegierten Theater in
Moers her. Da arbeite ich mit Sehauspielern zwolf Woehen an einer Produktion und aufgrund von
streitenden Teehnikern soli ieh einen Sehauspieler da halten, wo er ist, und ihm verbieten, seine
kunstlerisehe Arbeit naeh auBen zu tragen? Da sehaden wir uns doeh selbst. Das lnteressante ist,
daB in MU!heim der Versueh gemaeht wurde, ein Gegenmodell zu entwerfen und es nicht nur im
Kopf zu entwerfen, sondern uber Jahre hinweg zu praktizieren: ein GroBiabor zu starten mit dem
Ziel, Theater fUr diese Gesellsehaft sinnvoll und aueh sozial verantwortlieh zu nutzen - denn
Subventionen gehen auf soziale Verantwortung, finde ieh - und trotzdem noeh zu beweisen, daB
niemand dabei auf einem modernen Sklavenmarkt endet. Und das ist etwas, wo wir uns
selbstkritiseh fragen mussen: Warum ist ein lntendant, ein Kunstler, denn bereit, sieh zu einem
Dinosaurier zu begeben, der ihn auffriBt, anstatt wie Herr Ciulli zu sag en, ich entziehe mich, ieh
maehe meine eigene Struktur oder ieh suehe mir ein Haus, das mir diese Struktur bietet.
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Roberto Ciulli: Es klingt vielleicht polemisch, aber ware ich hier der advocato diabolis, dann
wurde ich auf die andere Seite gehen und jetzt ein Politiker sein, der zu entscheiden hat, ob
9 Millionen zuviel oder nicht zuviel sind. In solchen Fallen solidarisieren wir Theaterleute uns
wieder a lie. Die Zeiten haben sich geandert. Leider sind wir nicht in einer Situation, in der wir
die Gesellschaft motivieren ki:innen, fOr das Theater zu protestieren. Wir haben viel gri:iBere
Schwierigkeiten als unsere Vater, uns zu solidarisieren. Warum? Weil ein Theater in der Sadt
naturlich erst einmal beweisen muB, daB es genauso notwendig ist wie Mullabfuhr und
Kindergarten. Dann ist es nicht mehr die Frage, ob 9 Millionen zuviel oder zuwenig sind. Nur
ich frage Sie, wie legitmieren Sie ein Theater und bringen es zu einer derartigen Position bei
Menschen, die eigentlich nicht zum Theater gehi:iren? Das ist ein ganz wichtiges Moment. In der
Diskussion in den Gewerkschaften wird dieser Aspekt unterschatzt.
Die ganze Diskussion mit den Gewerkschaften ist nicht unbedingt meine gri:iBte Lust. Die
Gewerkschaft hat natOrlich ihre Berechtigung. lch verstehe es auch sehr gut, und unser Ziel ware
es auf jeden Fall, auf einen Einheitstarifvertrag fur alle interessierten Theater hinzuarbeiten. In
einer Gesellschaft mussen die Leute abgesichert arbeiten. Alle Theaterleute sollten das zusammen
machen. Nur mir scheint, die Gewerkschaften verteidigen die Leute, die einen Arbeitsplatz im
Theater ha ben. I eh mi:ichte die Leute verteidigen, die keinen Platz im Theater haben. Wer
verteidigt die vielen Leute auBerhalb des Theaters, die nicht reinkommen in das Theater, weil da
alles so statisch, so unflexibel ist. NatOrlich kummert es die Gewerkschaften z.B., daB wir die 35-
Stunden-Woche ha ben. Nur die Frage ist: Was ist mit den Arbeitern bei BMW oder Mercedes, die
erfahren, daB dasselbe Produkt, das sie in Deutschland in einer 35-Stunden-Woche herstellen, in
SOdamerika mit Giften, die nicht in Deutschland erlaubt sind, in einer 60-Stunden-Woche
hergestellt wird? FOr diese Frage hatten sie im Theater einen Ort der Auseinandersetzung. Man
mOBte auf alien Ebenen ein anderes BewuBtsein entwickeln und diese Trennung zwischen
Kunstlern und denen, die der Kunst nur zu dienen haben, aufheben. Das ist mein Wunsch.
Klaus PierwoB: lch mi:ichte mich zum AbschluB dieser Debatte im Namen der Dramaturgischen
Gesellschaft bei alien Diskutanten bedanken. Ganz besonders herzlich will ich mich bei Roberto
Ciulli und Helmut Schafer bedanken , die uns Gastgeber waren und sich den Gesprachen gestellt
ha ben. I eh denke, daB diese beiden Tage fur alle sehr anregend und informativ gewesen sind.
Vielen Dank.
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FiT im Literaturhaus Berlin
"VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZ
Versuch eines theatralischen Reisejournals, Australien 1991/92"
Vortrag von Barbara Mundel, Regisseurin und Dramaturgin,
zum Thema "Das Fremde im theatralen Proze6"
25. Oktober 1992 - 12.00- 18.00 Ubr
Literaturbaus Berlin, Fasanenstra6e 23, W - 1000 Berlin 15
"White Australia has a black history."
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Die Konsequenzen dieses Satzes kann ich nur ahnen. Deswegen: Kein Uberblick iiber Australi
sches Theater, sondem personliche Bemerkungen zu denFragen: Was erfahre ich iibermich, was
iiber "den Anderen". Wie begebe ich mich aufReisen. Istes moglich mit dem "Fremden" einen
theatralischen Dialog zu fiihren, oder: IstTheaterimmernur Reprasentation des "Fremden", bzw.
Verdrlingung der Angste vor dem Fremden? Fliichten wir uns in die modische Diskussion iiber
das Fremde, wahrend urn uns der HaB immer ungeziigelter ausbricht. Ich babe von den Reisen
nach Australien Material mitgebracht (Videos, Musik etc.) und werde versuchen, mein Wissen
von schwarzen australischen Kiinstlerlnnen iiberdieFrageder "Aboriginality" mitlhnen zu teilen
(Barbara Mundel).
AnschlieBend an den Vortrag werden Gesprlichskreise zu Teilaspekten des Themas stattfmden.
Im AnschluB daran die Ergebnisse ausgetauscht werden.
Arbeitsgruppe "Frauen im Theater" (FiT) - Dramaturgische Gesellschaft
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VOM WAHRNEHMEN DER DIFFERENZ
UBERLEGUNGEN NACH MEINER BEGEGNUNG MIT AUSTRALIEN 1991/92
Zum Titel: Statt "Differenz" konnte da auch stehen "Das Fremde" oder "das Andere"
(!'autre, the other) oder Victor Segalens "das Diverse", das mir inzwischen besser gefallt als die
beiden Alternativen; es beschreibt weniger eine Dichotomie, weist eher auf die pjfferenz hin.
Der Bindestrich zwischen "er" und "lernen" ist eigentlich ein !anger Gedankenstrich. Eine Regie
anweisung: Hier sollst Du, lieber Leser, innehalten. Der Bindestrich verlangert das Wort und
schafft an einer exakt bezeichneten Stelle Dauer, um Nach-Denken zu provozieren.
"Wahrnehmung" bedeutet: in Bewegung sein: "Samtliche Etappen sind zwar schon da,
aber den Weg werden wir gemeinsam verlangern i'nussen. Die Lektion kann nicht als bekannt
vorausgesetzt werden." (Victor Segalen, Asthetik des Diversen 1986). Was folgt, sind Vorschlage
und Fragen, ldeen und Assoziationen, die dieser Auseinandersetzung dienen konnten. lch bin
weder Expertin fOr australische Geschichte noch Expertin fur australisches Theater, ich bin
lediglich ea. 1/2 Jahr in Australien gewesen- auf der Suche nach australischen Theaterformen,
Themen, die sich eignen fOr eventuelle gemeinsame Projekte, auf der Suche danach, ob und wie
sich Theatermacherinnen mit der Frage nach dem "Fremden" auseinandersetzen konnen.
lch mochte beginnen m it der Frage, ob und wie in meiner eigenen Biographie das Fremde er-lernt
wird bzw. nicht er-lernt wird und einigen Problemstellungen nachgehen, die sich nach einer
LektOre der bekanntesten Ethnographien ergaben:
Warum gerade dieser Gegenstand? Die spontane Idee kann ich im Nachhinein als Ver
knupfung biographischer Themen verorten. !eh habe etwas auf dem Herzen. Hinter der Spon
taneitat, dem plotzlichen Bedurfnis, diese VerknOpfung herzustellen, verbergen sich schmerzhafte
Erinnerungen, Narben. Der Eke! vor der Schule wahrend der letzten Jahre der Schulzeit, das
Gefuhl der Entfremdung, die Unsicherheit wahrend der Begegnungen mit Aborigines.
Anstatt auf ein akademisches Erkenntnisinteresse verweisen zu konnen, muB ich Zom und
Trauer anfOhren, aber auch die Erregung beim Entdecken von Fragen und Zusammenhangen
durch die und in der Konfrontation m it dem Anderen. Referenzpunkte sind weniger wissen
schaftliche Debatten, schon eher LektOren (~ je 1 Text+ 1 Zeitraum + 1 Ort und 1 Ensemble von
Stimmungslagen), z.B. die Lekture von "Phantom Afrika" wahrend der Vorbereitung einer
lnszenierung von Koltes "Kampf des Negers und der Hunde" und das GefOhl des Scheitems der
eigenen Arbeit.
Es ist mir bei den Oberlegungen und Schreiben dieses Vortrages passiert, daB meine
Gedanken sehr oft zu meinen "Anfangen" zuruckschweiften, und dazu gehoren die Erinnerungen
an Schule und die Art und Weise, wie uns das zu Lernende nahergebracht wurde. Mir scheint,
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dieses Graben in den eigenen Bedingungen des Denkens und Fuhlens ist wichtig, um vielleicht zu
"anderem" Denken gelangen zu kiinnen.
Meine ganze Schulerziehung beruht darauf, den Gegenstand als etwas dem Lehrer, der
Lehreriri Bekanntes und dem SchOier, der SchOierin bekannt zu machendes zu begreifen. Dem
Gegenstand wird seine Fremdheit grundlich ausgetrieben:
MuB das so sein? Kiinnte das auch anders sein? 1st das vielleicht manchmal auch anders?
Diese Fragen stellen sich im Laufe der Beschaftigung mit Autoren, die sich berufsmaBig der
Erfassung und Erlernung, dem Begreifen und Erkennen des Anderen, des Fremden oder, wie
Victor Segalen sagt, des Diversen widmen. Und zwar interessieren mich hier besonders
diejenigen, die das Andere nicht sogleich aufzuliisen versuchen und die ihre eigene Person in die
Auseinandersetzung mit dem Anderen einbringen. Victor Segalen, Arzt, Reisender, Ethnograph,
Poet, spricht in diesem Zusammenhang vom Exotismusgefuhl, "das letztlich nichts anderes ist als
der Beg riff des Anders-Seins, die Wahrnehmung des Diversen, das Wissen, das etwas nicht das
eigene lch ist" und von der Fahigkeit des Exotismus, der Fahigkeit, "anders aufzufassen". (Segalen
s.o.) Nicht zu verwechseln mit Exotik, der "Verzerrung des Fremden zum 'guten Wilden'oder
'braven Kerl aus dem Busch'oder allgemein die Degradierung zum Projektionsobjekt. Die exotisch
motivierte Begegnung grundet nicht darauf, etwas uber den Anderen in dessen Ordnungen und
uber sich selbst erfahren zu wollen. Exotik ist ethnozentristische Ausschmuckung und Veraben
teuerung." (Hans Jurgen Leiris, Die eigene und die Fremde Kultur 1985) Die Fahigkeit des
Exotismus beobachtet Victor Segalen beim Kind: "Fur das Kind entsteht der Exotismus zur selben
Zeit wie die AuBenwelt. Abstufung: anfangs ist alles das exotisch, was seine Arme nicht erreichen
kiinnen. Das verbindet sich mit dem Geheimnisvollen. Sobald es a us der Wiege heraus ist,
erweitert sich der Exotismus und wird zum Exotismus seiner vier Wande. Wenn es nach drauBen
kommt, tritt eine entscheidende Wende, ein Ruckzug ein. Es bezieht sein Gefuhl von der
AuBenwelt auf sein zu Hause; es erlebt mit groBer Heftigkeit die konkrete Welt eines Ha uses. Fur
das Kind ist a lies das exotisch, was es als solches ansieht.
Eine weitere Veranderung: Beim Lesen einer Erzahlung wird es sich auf einmal bewuBt, daB
es eines Tages die Dinge, die es liest, erleben kann! Die Spiele gehen weiter wie zuvor. Es ist
dasselbe Spiel. nur die Auffassung hat sich geandert. Eine unbekannte Gefuhlsbewegung: das
Begehren, das erste Gefuhl des Erwachsenseins. Es weiB, daB es ein Spiel ist. Aber es setzt es mit
dem Wunsch fort, es zu erleben. Es ist eine Schule des Lebens. Das geht bis zu dem Tag, an dem
erneut a lies in Frage gestellt wird und es diese Dinge aus Buchern neu erlernen muB (Geschichte
und Geographie), deren steriler lnhalt den Exotismus verkummern lassen." (Segalen s.o.)
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Wie miiBte Erziehung, Theater aussehen, damit der kindliche Exotismus nicht
verkiimmert?
Zwar gibt es innerhalb der Disziplin Ethnologie nicht EIN Selbstverstandnis oder EINE
Methode, der sie sich verpflichtet fuhlte. Doch es gibt auch hier so etwas wie ein vorherrschendes
Bestreben, das Fremde im Bekannten, das partikulare Andere in einer allgerneingultigen Regel
oder die subjektive Erfahrung der Feldforschung in einer objektiven, analytischen Beschreibung
aufzul6sen. Die Autoren, die rnich interessieren, verfolgen entweder Ziele, die diesern Bestreben
zuwider laufen, oder sie versagen in seiner Verfolgung.
Wie konnen wir Theatermacherlnnen dieses Scheitern fiir unsere Arbeit fruchtbar
·machen?
In einer Kritik an Marcel Mauss und an der Kurnpanei zwischen Ethnologie und
Kolonialisrnus schreibt Hubert Fichte: "Ware nicht eine andere Welterfahrung denkbar? Nicht ...
die Magazinierung van Erlebnissen, das Priiparieren van Erfahrungstrophiien, sondern Warten, in
der Mitte einer Welt und ihres Geschehens, bis das Frernde auf einen zukornrnt und sich
erschlieBt?" (Hubert Fichte, Xango 1984) Starnrnelnd lernen wir eine neue Sprache.
Kleinster gemeinsamer Nenner der Ethnologie seit Malinowski ist die Feldforschung als
unurngiingliche Etappe auf dem Weg zur Erkenntnis (und zu akademischen Weihen). Die
Feldforschung ist das Unterfangen der Forscherin, des Forschers vor Ort, rnit und van vor Ort
lebenden Menschen zu lernen. Dabei begeben sich die Ethnologen aus der vertrauten Kultur in
eine frernde Kultur in der GewiBheit, das Andere nur in einer direkten Auseinandersetzung und
nur durch direkte Anschauung lernen und spiiter beschreiben zu k6nnen. Uns ist hingegen
norrnalerweise der direkte Zugang zurn "Gegenstand" durch das Buch z. B. versperrt. Es steht die
Frage irn Raurn, kann denn Reisen, Feldforschung Oberhaupt die Wahrnehrnung der Differenz, das
Aushalten der Differenz errn6glichen?
Feldforschung ist hautnahes Lernen. Nicht nur in dern offensichtlichen Sin ne, daB
Erkenntnis, die rnit Hilfe sinnlicher Wahrnehrnungen oder durch personliche Gesprache rnit
anderen Menschen erlangt wird, eher unter die Ha ut geht als die in der Abgeschiedenheit der
Studierstube erworbene (u. a. deswegen, weil die Ethnologen sich dem Schrecken oder der
Faszination des Erlebten nicht einfach entziehen konnen, etwa so, wie ein Leser ein aufwuhlen
des Such zuklappt und zur Seite legt). Der unbeteiligte Beobachter wird rasch zurn Akteur. Es
geht irnrner auch darurn, wie der Ethnologe van denen, die er beobachtet, gesehen wird, d. h.
wie er sich irn Geflecht der Dinge, die er eigentlich beschreiben will, verhiilt. Ober ihre Rolle als
Ethnographin schreibt Jeanne Favret-Saada: " .. .wer Ober Hexerei spricht, tut es niernals, urn etwas
zu erfahren, sand ern urn Macht zu ha ben. Ebenso wer fragt. Noch bevor der Ethnograph ein
Wart gesagt hat, steht er in einern Kriifteverhiiltnis, so wie jeder, der zu sprechen beabsichtigt.
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Und sobald er sprieht, versueht sein Gespraehspartner in erster Linie, seine Strategie zu ermitteln,
seine Kraft zu messen, herauszufinden, ob er Freund ist oder Feind, ob man ihn kaufen oder
vernichten soli. Wie an jeden Redenden wendet man sieh an den Ethnographen als ein Subjekt,
von dem man annimmt, daB es Maeht hat ( ein Zauberer, ein Zauberbanner) oder keine Macht hat
(ein Opfer, ein Verhexter)." (Jeanne Favret-Saada, Die Worter, der Zauber, der Tod 1979) Umso
erstaunlicher ist es, daB nur wenige Ethnologen ihre personliehen Erlebnisse publiziert haben. Ja,
es war bis vor kurzem sogar unublich, Ethnographien, in der ersten Person Singular abzufassen.
Wenn man die Veroffentliehungen der allerletzten Jahre einmal unberueksichtigt laBt, dann blei
ben nur sehr wenige autobiographische ethnologische Sehriften. "A Diary in the Strict Sense of
the Term" von Bronislaw Malinowski (1985), "Return to Laughter" von Laura Bohannan (1966)
und "Tristes Tropiques" von Claude Levi Strauss (1979) sind die bekanntesten. Jede von ihnen hat
eine aufsehluBreiehe Gesehichte, die zeigt, wie sehr die Ethnologen in der Vergangenheit bestrebt
waren, ihr !eh aus ihren Forsehungsergebnissen zu tilgen. Malinowski hatte zu Lebzeiten nie das
Tagebueh seiner Feldforschungen in Neuguinea veri:iffentlicht. Seine Witwe publizierte das zufallig
in seinem NachlaB gefundene Tagebueh uber zwanzig Jahre naeh seinem Tod und uber vierzig
Jahre naeh seinem Feldforsehungsaufenthalt auf den Trobriand-lnseln. Laura Bohannan
veri:iffentliehte ihre Feldforsehungserfahrungen unter einem Pseudonym, uber zehn Jahre naeh
ihrem Aufenthalt bei den Tiv in Nigeria und als vorgeblieh fiktiven Roman. Levi-Strauss lieB fast
zwanzig Jahre verstreiehen, bevor er ein Bueh uber seine Reisen zu versehiedenen lndianer
gruppen in Brasilien publizierte. Zu diesem Zweek Oberarbeitete (entseharfte?) er seine Tage
buehaufzeichnungen. Und immer noeh seheint er einen wesentlichen Teil seines Selbst auBen vor
zu lassen. Erst auf S. 296 erfahren wir, daB Levi-Strauss auf zumindestens einer seiner Reisen von
seiner Frau begleitet wurde.
Fremderfahrung ist Selbsterfahrung, ist Arbeit am Selbst. "Es wandelt niemand ungestraft
unter Palmen", sehreibt Goethe in den "Wahlverwandtsehaften". "!eh hatte mieh verandert", sagt
die Ethnologin in Laura Bohannans autobiographisehem Roman "Ruekkehr zum Laehen". "Was
immer die Verdienste der Ethnologie urn die Welt oder die meiner Arbeit urn die Ethnologie
waren, diese Erfahrung hatte in mir personlieh viele Veranderungen bewirkt- und ich war anfangs
der Meinung gewesen, daB alles, was nicht Material fOr meine Notizbueher war, Abenteuer sein
wurde. !eh hatte geglaubt, daB jegliehes Wissen die Muhen seiner Erwerbung lohnte. I eh hatte die
Annahme willig akzeptiert, daB man nur lernen kann, indem man seine eigenen Vorurteile unter
drOekt oder zumindest wahrend des Lernvorgangs suspendiert. Die Sehwierigkeit lag in meiner
ungeprOften Annahme, daB davon nur meine 'Vorurteile' betroffen sein wurden und nie meine
'Prinzipien' - es war mir nieht in den Sinn gekommen, daB die Unterseheidung zwisehen 'Vorurteil'
und 'Prinzip' selbst eine Saehe des Vorurteils ist." (Bohannan s.o.) Was bedeutet das fOr einen
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theatralischen Dialog m it dem Fremden?
Das Fremde, das sich nicht zuklappen laBt, macht sich wom6glich breit im Selbst. Hubert
Fichte und Leonore Mau kehren nach der Beobachtung eines brasilianischen Totentanzes in der
Nacht in ihr Quartier in Bahia zuruck: "Psychosomatische Storungen nach dem Anhoren des
Schlagzeugs: Wir stehen nachts auf und ubergeben uns. Durchfalle. Allergische Reaktionen.
Unsere Denkfahigkeit verandert sich. Dumpfheit. Wir werden unaktiv, kritiklos, erinnerungslos."
(Fichte s.o.)
"Die Erkenntnis, die nicht durch die Sinne gegangen ist, kann keine andere Wahrheit
erzeugen als die schadliche.' Leonardo da Vinci. Wenn diese Erkenntnis' nach dem langen
gefiihrlichen Experiment mit der abstrakten Rationalitat, das im instrumentalen Denken endete
wieder fruchtbar wurde: Dies ware wirklich eine neue Renaissance des BewuBtseins. Was spricht
dagegen? DaB die Sin ne vieler Menschen - nicht durch ihre 'Schuld' - verodet sind und daB sie,
mit Recht, Angst davor ha ben, sie zu reaktivieren. DaB sie es vielleicht nicht mehr konnen."
(Christa Wolf, Kassandra 1983)
Damit das Fremde umstandslos in etwas Bekanntes aufgelost werden kann, mQssen die
Sinne umschifft werden. Hier ist ein Mensch mit dem uberlegenen Blick des Siegers. Die sinnliche
Wahrnehmung des Fremden, so schwierig und gefahrlich sie auch sein mag, provoziert eine
andere Erkenntnis. Da ist ein Mensch, der angestrengt, gespannt, angstvoll vielleicht, staunend
womoglich, mit leicht zur Seite geneigtem Kopf, lauscht, sich fragt.
"Es gibt Bucher, in denen der Korper und die Sprache des Autors in so vielen Verastelungen
gegenwartig sind, daB sie den Raum zwischen dem eigenen Korper und der eigenen Sprache und
dem Korper und der Sprache des anderen erschlieBen. Der Autor ist darin leiblich gegenwartig,
aber se in Korpergeruch vernebelt nicht die von ihm erschlossene Welt.", schreibt Heinrichs (in:
Leiris s.o.) unter der Oberschrift "Ethnologische Poetologie". Oder Poetische Ethnographie,
welcher Beg riff mir lieber ist. Vielleicht ist das der Versuch, das Fremde auszuhalten durch seine
poetische Beschreibung. Gute Ethnographien sind oft sehr gelungene Beispiele "schoner"
Literatur. Der "Vater" der modernen Ethnologie, Bronislaw Malinowski, ist einer der
prominentesten Vertreter der "literarischen" Ethnographie. DaB die Resultate wissenschaftlicher
Forschung in literarisch ansprechender Form dargeboten werden, ist, denken wir an andere
Disziplinen, nun uberhaupt nicht selbstverstandlich, konnte andernorts leicht als Schmahung
verstanden werden. (Man beachte die adjektivische Einschriinkung!) DaB eine wissenschaftliche
Monographie etwas vollig anderes sei als ein Roman, soli hiermit nicht behauptet werden. Der
beschworende Tonfall, mit dem manche Wissenschaftler eine solche Unterscheidung behaupten
oder einfordern, macht sie nicht weniger unsinnig. "Der Unterschied zwischen Wissenschaft und
Literatur ist der zwischen Karteikarten und DIN-A-4-Papier" meint einer, dessen Bucher sich beim
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besten Willen nicht entweder ... oder klassifizieren lassen und der deswegen von den Verfechtern
einer klaren Unterscheidung als Literat abgetan wird (z.B. Hubert Fichte). Anders als den
Verfassern lesbarer Ethnographien, geht es den Autoren poetischer Ethnographien nicht bloB urn
den Stil; sondern urn sprachliche Formen als konstitutive Teile des In halts, den sie vermitteln
wollen. Der poetische Zugang ist zugleich defensiv (ein Eingestandnis des Scheiterns positivi·
stischer Beschreibbarkeit) und offensiv (dort, wo das Beschriebene nicht rekonstruiert, sondern
neu geschaffen, ja, neu entdeckt wird). Und die poetische Sprache kann dabei, wie die Bucher.
Hubert Fichtes zeigen, definitiv und ganz und gar nicht ausweichend dem Beschriebenen auf den
Leib rucken.
"Fur die Wissenschaftler sind Morgendammerung und Abenddammerung ein und dieselbe
Erscheinung, und schon die alten Griechen waren dieser Ansicht, denn auch sie bezeichneten sie
mit demselben Wort, das sie, je nachdem ob es sich urn den Abend oder den Morgen handelte,
durch ein anderes Attribut erganzten. Diese Vermengung veranschaulicht sehr deutlich das
vorherrschende Bemuhen um theoretische Spekulationen sowie eine eigentlimliche Vernach
lassigung des konkreten Aspekts der Dinge. DaB sich irgendein Punkt der Erde in einer kontinuier
lichen Bewegung von der Zone, wo die Sonnenstrahlen einfallen, zu derjenigen hinbewegt, wo
das Licht entschwindet, ist moglich. Aber in Wahrheit ist nichts so verschieden wie Abend und
Morgen." (Ciaude Levi·Strauss, Traurige Tropen 1979} Und, muBte man hinzufligen, nichts ist so
verschieden wie zwei Abenddammerungen. lch erinnere mich an schematische Darstellungen der
Bewegung der Sonne am Firmament im Heimatkundeunterricht der Volksschule. lch erinnere mich
nicht daran, im Rahmen von Schule, jemals einen Sonnenuntergang oder -aufgang betrachtet zu
ha ben. Noch erinnere ich mich an schematische Darstellungen, die fette Wolken, naBkalten
Morgennebel oder die Blickwinkel von Menschen in verglasten fensterlosen Burohochhausern
berucksichtigten. I m Jahre 1934 reiste Claude Levi-Strauss von Marseille nach Santos. Erst
wahrend des Aufenthalts in Brasilien wird Levi-Strauss Ethnologe. Wahrend der Oberfahrt
beobachtet er Sonnenuntergange. Zwanzig Jahre spater, Levi-Strauss hatte sich inzwischen einen
Namen als Ethnologe gemacht (und wahrlich nicht als einer, der allzu viel Gewicht auf die
Beschreibung des Partikularen legte), schrieb er iiber jene Oberfahrt: "m it der Naivitiit des
Anfangers beobachtete ich auf dem menschenleeren Deck voller Spannung jene ubernaturlichen
Umwalzungen, deren Beginn, Entwicklung und Ende taglich einige Augenblicke lang der
Sonnenaufgang und der Sonnenuntergang an alien vier Enden eines Horizonts vor Augen flihren,
der groBer war, als ich mir je hatte traumen lassen. Kiinnte ich Worte finden, um diese fluchtigen
Erscheinungen festzuhalten, die jedem Versuch, sie zu beschreiben, spotten, und ware es mir
gegeben, anderen Menschen, die Phasen und Glieder eines Ereignisses mitzuteilen, das doch
einmalig ist und sich niemals in denselben Formen wiederholen wurde, dann, so schien es mir,
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ware ich mit einem Schlag in das tiefste Geheimnis meines Berufs gedrungen; dann gabe es kein
noch so bizarres oder absonderliches Erlebnis, dem die ethnographische Forschung mich
aussetzen wurde, dessen Sinn und Bedeutung ich nicht eines Tages alien Menschen begreiflich
machen konnte." (Levi-Strauss s.o.)) Der Naivitat des Anfangers sei Dank, folgt auf den nachsten
Seiten eine ausfuhrliche Beschreibung eines Sonnenuntergangs, die er bereits wahrend der
Oberfahrt verfaBt hatte (und die m it den eingangs zitierten Worten beginnt). Seine Sprache ist
leidenschaftlich und von ausschweifender Prazision. Die Sprache der Verliebten: Levi-Strauss ist
verliebt in das Sujet. Seine Wahrnehmungsgabe setzt eine Konzentration voraus, die fiebernden
Menschen eigen ist.
"Denn weil sie sich wunderten, ha ben jetzt und immer schon die Menschen begonnen,
nachzudenken, sie haben sich anfangs verwundert uber die Unbegreiflichkeiten des Alltags und
sahen sich dann Schritt fUr Schritt immer groBeren Fragen gegenuber, den Wandlungen des
Mondes, den Bewegungen der Sonne und der Sterne, der Entstehung des Ails. Wer aber ratios ist
und sich verwundert, hat das GefUhl der Unwissenheit." (Aristoteles, Metaphysik). Daran nicht zu
verzweifeln, das auszuhalten, das zu schatzen, will gelernt sein, doch das ist so ungefahr das
letzte, was in unseren Schulen auf dem Lehrplan stUnde. lm Gegenteil, in der Schule wird das
Bedurfnis der Schuler, die a us Verwunderung und Erstaunen resultierende Unsicherheit zu
beenden, instrumentalisiert. In der Motivationsphase, einem festen Bestandteil fast jeder
Stundenplanung, soli das Interesse der SchOier geweckt werden. Sie sollen sich wundern und
nach nicht mehr als fUnf Minuten sind sie gehalten, mit Hilfe von wieso-Fragen dem Sujet auf
den, in den Lernzielen festgelegten Grund zu gehen. "Zu erschopft, urn noch ein guter
Ethnograph zu sein, schlief ich bei Einbruch der Dunkelheit ein, immer wieder aufgeschreckt durch
die Obermudung und die Gesange, die bis zum Morgengrauen dauerten .... <Die Stimmen
wurden> von Kurbisrasseln begleitet. ... Sie zu horen, war staunendes Entzucken." (Levi-Strauss
s.o.)) Durfen der gute Ethnograph und der gute Schuler nicht entzuckt sein? Ein klein wenig
staunendes Entzucken sei ihnen zugestanden, aber dann sollen sie, bitteschon, die Kurbisrassel
beschreiben (notfalls, indem sie sie zersagen), klassifizieren, den Gesang deuten, und schlieBiich
der Kurbisrasselregel und der strukturellen Beziehung zwischen Rassel (R) und Rassler (R2) auf die
Schliche kommen. "Schlaf nicht mit offenen Augen", ruft der Lehrer dem kleinen Claude zu, der
noch lange nach der lerntheoretisch bewilligten dreiminutigen Abspielung des Kurbisrassel
gesangs vertraumt, selbstvergessen, versunken, andachtig und mit staunendem Entzucken
lauscht, michhort.
"Doch die Verhaltnisse, sie sind nicht so", laBt Brecht Peachum in der "Dreigroschenoper"
singen. Weder sind sie so, wie sie sein sollten, noch so, wie sie sein konnten. DaB sie so sein
konnten, wie sie sein sollten, ist bloB eine schwache Hoffnung. Und wie sie sein sollten und
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konnten, ist bloB eine undeutliche Ahnung dessen, was Marx mit dem "Traum von einer Sache"
umschrieb. In diesem Sin ne ist das Begehren zu wissen, 'angetrieben von einer a us Traurigkeit
schopfenden Leidenschaft', wie Michael Taussig in seinem Buch "Devil and Commodity Fetishism"
sinngemaB sagt. Das Erkenntnisinteresse ruhrt her von einer nagenden Unzufriedenheit mit den
Verhaltnissen. Wenn es moglich ware, unzulangliche Verhaltnisse zu reformieren, konnte die
Unzufriedenheit ihr Heil in tatkraftiger Politik suchen. Wenn stattdessen der Aktionismus
zugunsten des Versuchs zurucktritt, Verhaltnisse im Akt des Schreibens ·zu transzendieren ( oder zu
hintergehen}, dann ist Unzufriedenheit in Melancholie umgeschlagen. In den "Traurigen Tropen"
trauert Levi-Strauss urn die Zerstorung der Gesellschaften, die er besucht, und urn seine eigene
Gesellschaft, da er durch die Konfrontation mit dem Anderen schmerzhaft des Verlustes (nicht
verdinglichter Beziehungen beispielsweise) gewahr wird, dessen Wahrnehmung er ansonsten
verdrangen kann. In manchen guten Ethnographien schwingt Trauer mit, ist die Melancholie das
Objektiv des poetischen Auges, durch das fremde Gesellschaften beschrieben werden. Bei vielen
nicht so guten Ethnographien tritt an die Stelle der Melancholie ein billiger Romantizismus.
Urn fUr uns die Wahrnehmung des Lebens wiederherzustellen, die Dinge fuhlbar, den Stein steinig
zu machen, gibt es das, was wir Kunst nennen. Das Ziel der Kunst ist, uns ein Empfinden fUr das
Ding zu geben, ein Empfinden, das Sehen und nicht nur Wiedererkennen ist. Dabei benutzt die
Kunst zwei Kunstbegriffe: die Verfremdung der Dinge und die Kornplizierung der Form, urn die
Wahrnehmung zu erschweren und ihre Dauer zu verlangern. Denn in der Kunst ist der
WahrnehmungsprozeB ein Ziel in sich und muB verlangert werden. Die Kunst ist ein Mittel, das
Werden eines Dings zu erleben, das schon Gewordene ist fur die Kunst unwichtig." (Victor
Sklovskij, Theorie der Prosa 1966} Die Verfremdung ist ein Mittel, mit dessen Hilfe nicht nur das
Fremde vor seiner umstandslosen Auflosung ins Bekannte geschutzt, sondern auch das Bekannte
fremd gemacht werden kann. Auch Perzeptionen konnen zum Tanzen gebracht werden. Oft stellt
sich der verfremdende Blick auf das Bekannte nach oder wahrend einer Konfrontation mit dem
gemeinhin Fremden ein. Oder er kommt zustande wie bei Peter Schneider, der nach der Ruckkehr
von einer Sudamerikareise schreibt: "Zuruckgekehrt aus einer Fremde, die mir unheimlich bekannt
vorkam, ist mir das Bekannte mehr und mehr unheimlich geworden." (Peter Schneider, Botschaft
des pferdekopfs 1981) Die Fahigkeit, anders zu sehen, muB gelernt werden (ich muB lernen, es
auszuhalten). In der Schule allerdings wird die aus der Kindheit bewahrte Fahigkeit womoglich
noch ausgetrieben. Wohl nicht ganz ohne Grund. DaB die heimatliche Erde rnit Macht zum
Diversen wird (Segalen s.o.), ist nicht ganz ungefahrlich fUr das I eh, das sich da einem Ansturm
von auBen aussetzt. Und: Gefahrlich kann die Verfremdung auch den verfremdeten Verhaltnissen
werden. Verfremdung ist das GegenstGck zur Entfremdung, schreibt Ernst Bloch (Prinzip Hoffnung
1972}, mehr noch, sie kann letztere dingfest machen.
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In den letzten Jahren scheint es in zunehmendem MaBe wieder ein Anliegen der
Ethnologen zu sein, Qber eine Beschreibung fremder Kulturen, eine Kritik der eigenen Kultur zu
formulieren. (siehe Marcus und Fischer, Anthropology as Cultural Critique 1986) Dieses Anliegen
ist nichts Neues. Es liegt ja nahe, auch und gerade Qber eine Auseinandersetzung mit dem
Fremden sich dem Vertrauten zu entfremden, um es so hin.tl!rfragen zu kiinnen. "Wenn es uns
aber gelingt, diese fremden Gesellschaften besser kennenzulernen, verschaffen wir uns eine
Miiglichkeit, uns von der unsrigen zu liisen, nicht weil sie absolut schlecht oder als einzige
schlecht ware, sondern weil sie die einzige ist, von der wir uns emanzipieren mQssen." (Levi·
Strauss s.o.) Doch ist die Haltung des professionellen Beobachters des Fremden nicht ohne
Ambivalenz. Die Verfremdung macht den betroffenen Blick auf das Nahe leicht zum distanzierten
Blick a us der Ferne.
Sperrt sich das Fremde gegen seine Aufliisung im Bekannten? Der deutsche Naturforscher und
Aufkliirer Georg Forster begleitete James Cook auf seiner zweiten Reise in die SQdsee. AnliiBiich
eines Aufenthaltes auf Tahiti berichtete Forster folgende Begebenheit: "Um diese Zeit erfuhren
wir, daB Maheine <der tahitianische Dolmetscher der Expedition, kn> die Tochter eines im Thai
Matavai wohnhaften Befehlshabers namens Toperri, geheyrathet ha be. Einer unsrer jungen See·
Offiziere, von dem sich diese Nachricht herschrieb, rQhmte uns, daB er bey der Verheyrathung
zugegen gewesen, und die dabey vorgefallnen Ceremonien mit angesehen ha be; als wir ihn aber
um die Beschreibung derselben ersuchten, gestand er, daB sie zwar sehr sonderbar gewesen
wiiren, doch kiinne er sich keiner insbesondere erinnern, wisse auch nicht wie er sie erziihlen
solle. Auf solche Art entging uns eine merkwurdige Entdeckung, die wir bey dieser Gelegenheit
Qber die Gebriiuche dieses Volkes hiitten machen kiinnen; und es war zu bedauern, daB kein
verstiindigerer Beobachter zugegen gewesen, der wenigsten das, was er gesehen, auch hiitte
erziihlen kiinnen." (Georg Forster, Rei se um die Welt o. J.) Oder ist es oft sogar so, daB der
Beobachter das And ere nicht an sich heranlassen kann a us Angst, sein eigener Kiirperpanzer
werde dabei beschiidigt? Ein Zeitgenosse des jungen See-Offiziers, unverdiichtig sich nicht
artikulieren zu kiinnen, schrieb Qber den Riimischen Karneval: "Das Karneval in Rom muB man
gesehen haben, um den Wunsch viillig loszuwerden, es je wieder zu sehen. Zu schreiben ist
davon gar nichts, bei einer mundlichen Darstellung miichte es allenfalls unterhaltend sein." (J.W.
Goethe, ltalienische Reise) Bei einem spiiteren Besuch besann sich der Autor eines anderen und
verfaBte eine ethnographische Beschreibung des Karnevals: "lndem wir eine Beschreibung des
Riimischen Karnevals unternehmen, mussen wir den Einwurf befQrchten, daB eine solche
Feierlichkeit eigentlich nicht beschrieben werden kiinne. Eine so groBe lebendige Masse sinnlicher
Gegenstiinde sollte sich unmittelbar vor dem Auge bewegen und von jedem nach seiner Art
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angeschaut und angefaBt werden. Noch bedenklicher wird diese Einwendung, wenn wir selbst
gestehen mussen, daB das Romische Karneval einem frernden Zuschauer, der es zum erstenmal
sieht und nur sehen will und kann, weder einen ganzen noch einen erfreulichen Eindruck gebe,
weder das Auge sonderlich ergotze, noch das Gemut befriedige. Die lange und schmale StraBe, in
welcher sich unzahlige Menschen hin und wider walzen, ist nicht zu Obersehen; kaum unter
scheidet rnan etwas in dem Bezirk des Getlimmels, den das Auge fassen kann. Die Bewegung ist
einformig, der Larm betaubend, das Ende der Tage unbefriedigend." (Goethe s.o.)
Unbeschreibbar ist die Wildheit des Anderen, das "GetOmrnel", der "betaubende Larm", durch
das sich der Beobachter bedroht fuhlt, bedeutet die teilnehrnende Beobachtung solcher
Ausgelassenheit doch moglicherweise, die eigenen Affekte nicht·mehr beherrschen zu konnen.
Die Angst vor dem Fremden paralysiert die Fahigkeit, das Gesehene in eigenen Worten
wiederzugeben. Unbeschreibbar ist die Wildheit aber auch, da der sinnliche Eindruck sich nicht
leicht aufs Papier bannen la Bt. Wie kann ich dem anderen, daB ich flihle, rieche, schmecke, hore
und sehe, bei seiner Beschreibung gerecht werden? Was auf Goethe beim Romischen Karneval
eindrang, war eine Flut von Sinneseindrucken, neue und fremde Geruche, neue und fremde
Gerausche, usw .. Es ist oft waghalsig, sich dieser Flut auszusetzen, und dann oft unrnoglich, sich
anderen, die diese Erfahrung nicht gernacht haben, mitzuteilen. Knapp zweihundert Jahre nach
Goethe ha·t der wissenschaftlich vorgebildete Ethnograph alierdings genaue Vorsteliungen, wie er
rnit der Totalitat des Sinneseindrucks urnzugehen habe: "In welcher Reihenfolge soli ich die wirren
und tiefen Eindrucke beschreiben, die den Neuankornmling in einem Eingeborenendorf
Qberfalien, dessen Kultur relativ intakt geblieben ist? ... Angesichts einer Geselischaft, deren
Traditionen noch lebendig sind, ist der Schock so stark, daB er den Forscher aus der Fassung
bringt: Welchem Faden soli er zuerst folgen, dieses tausendfarbige Knauel gilt es zu entwirren,
ein tausendfarbiges Ganzes ist in seine Farbkomponenten zu zerlegen. Die Totalitat muB
parzelliert werden, das Frernde wird scheibchenweise begreifbar.
In den "Traurigen Tropen" spielt Levi-Strauss mit dem Feuer, setzt sich der Totalitat a us. Er ist ja
oft tatsachlich aus der Fassung gebracht und tief beeindruckt. Andererseits schreckt er eins ums
and ere Mal zuruck, zieht sich auf bekanntes Terrain zuruck. lmmer wieder nimmt er Zuflucht zum
Vertrauten, vergleicht er das, was er sieht, mit dem, was er fruher einmal, in Frankreich meistens,
gesehen hat. Erinnerungen schutzen vor der Andersartigkeit des Neuen. Eine weit verbreitete
Angewohnheit Obrigens: Wie oft schon habe ich Reisende an den verschiedensten Orten sagen
horen, das Gesehene erinnere sie an einen fruher besuchten Ort XYZ. Das ist nicht bloB welt
mannisches Gehabe, sondern der Versuch, jeden fremden Sinneseindruck auf eine vertraute
Ebene zu zerren. Und das ist der Ausdruck des Wunsches, sich auch im Angesicht des Anderen in
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Sicherheit wiegen zu konnen. "Es gab eine Zeit, da der Reisende Kulturen begegnete, die sich von
seiner eigenen von Grund auf unterschieden und ihn zunachst durch ihre Fremdartigkeit uber
waltigten. Seit einigen Jahrhunderten ha ben wir dazu immer weniger Gelegenheit." (Levi-Strauss
s.o.) So wahr diese Beobachtung des Berufsreisenden a la recherche du temps perdu ist, so un
vollstandig ist sie. Gerade wenn wir den Beg riff des Reisenden allgemeiner fassen, seiner bloB
geographischen Konnotationen berauben, dann wird es auch deswegen immer schwieriger, sich
durch Fremdartigkeit uberwaltigen zu lassen, da wir ein Instrumentarium entwickelt ha ben, mit
dessen Hilfe wir das Fremde abwehren oder auflosen konnen. Levi-Strauss, offensichtlich zutiefst
beunruhigt und verunsichert, sehnt sich nach einem perfekten Sicherheitsnetz, das es ihm
ermoglichen soli zu behaupten: 'Nichts Menschliches ist mir fremd.' "lch bin davon uberzeugt,
daB die ... menschlichen Gesellschaften genau wie die lndividuen- in ihren Spielen, ihren
Traumen, ihrem Wahn - niemals absolut Neues schaffen, sondern sich darauf beschranken,
bestimmte Kombinationen aus einem idealen Repertoire auszuwahlen, das sich rekonstruieren
lieBe. Wurde man das lnventar aller Brauche, die je beobachtet, in Mythen ersonnen, in den
Spielen von Gesunden und Kranken sowie in den V er ha ltensweisen von Psychopathen beschwo
ren wurden, 'erstellen', dann erhielte man schlieBiich eine Art periodischer Tafel ahnlich der
jenigen der chemischen Elemente, in der sich alle realen oder auch nur moglichen Brauche zu
Familien gruppieren wurden, so daB man nur noch herauszufinden brauchte, welche von ihnen
die einzelnen Gesellschaften tatsachlich angenommen ha ben.'' (Levi-Strauss) Die Sehnsucht des
Ethnographen ist die Aufhebung der Humanwissenschaften in den Naturwissenschaften des
19. Jahrhunderts.
lch komme jetzt zum Untertitel dieses Vortrages, es wird die Rede sein von den Beziehungen
zwischen WeiBen und schwarzen Australiern, zwischen mir und den anderen, zwischen mir und
der Wahrnehmung verschiedener Kunst-AuBerungen, denen ich auf meinen Reisen begegnete
ohne jeden Anspruch auf eine Vollstandigkeit. Und schon beginnen die Schwierigkeiten.
lch stieB wahrend einer Historiker-Tagung auf einen Beg riff, der mir noch after unterkam: Post
War Aboriginal Resurgence. lch nehme an, dieser Beg riff bezieht sich auf die wachsende
BewuBtwerdung unter Aborigines auf die eigene kulturelle ldentitat, auf das katastrophale
Versagen der Assimilationspolitik und auf die Kampfe der Aborigines um Anerkennung ihrer
Rechte als Nachfahren der eigentlichen Bewohner dieses Landes. lch ha be (mindestens) drei
Vorbehalte diesem Beg riff gegenuber, an denen sich die Problematik der schwarzen und weiBen
Beziehungen ablesen lassen: Der erste ist mehr technischer Art und hat lediglich mit
Datierungsproblemen zu tun: War nicht bereits 1938 ein Wendepunkt in der Geschichte der
weiBen Wahrnehmung der Aborigines, als diese einen "Day of Mourning", einen "Tag der Trauer"
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organisierten als Protest gegen die Feierlichkeiten "1 50 Jahre" weiBer Besiedelung in Australien?
Der zweite Vorbehalt betrifft den Blickwinkel, aus welchem wir auf die Veranderung der Black
White-Beziehungen schauen. 1st es denn wirklich so, daB die Aborigines geschwiegen haben
wahrend der ersten Halfte dieses Jahrhunderts und in der 2. Halfte des Jahrhunderts selbst
bewuBter wurden und ihre Situation verbalisierten? Oder wares nicht vielmehr so, daB bis in die
60er Jahre hinein, was immer Aborigines sagten oder taten, von weiBen Australiern einfach nicht
gehort wurde? 1st es also nicht vielmehr notwendig, Gber die Veranderungen der weiBen
Verhaltensweisen zu sprechen, urn zu erklaren, warum die Tatsache, daB Aborigines auf ihrer
eigenen kulturellen ldentitat und bestimmten politischen Rechten bestehen, als "Aboriginal
resurgance" aufgefaBt wurde? Mein dritter Vorbehalt betrifft meine Nicht-Autorisierung, als Nicht
Aborigines uber Aborigines zu sprechen - ich werde versuchen, das Sprechen "Gber" so gut es
mir gelingen mag, zu vermeiden - aber ich fUrchte, meine Sprache ist infiziert vom Bazillus des
instrumentalen Denkens.
Nach der Aufzahlung all meiner Vorbehalte, Einschrankungen, wahle ich den Beg riff
"Aboriginality", der einen GroBteil der genannten Schwierigkeiten umgeht. Nebenbei, wenn ich
im folgenden das Wort "Aborigines" benutze, meine ich jemanden, der sich als solcher selbst
identifiziert und von anderen Mitgliedern der Aborigines-Gemeinschaft als solcher erkannt wird.
Ob eine Aborigines-Person sieben Aborigines GroBeltern hat oder nur einen, macht keinen
Unterschied im Hinblick auf seine oder ihre "Aboriginality"- eine Obersetzung dieses Beg riffs ist
mir leider nicht gelaufig.
Kolonialismus ist destruktiv und konstruktiv zugleich. Naturlich gab es "The Aborigines"
nicht, als captain Cook Australien "entdeckte". Die Vorstellung von einer Gruppe von Leuten, die
sich als Aborigines identifizierten und von anderen als solche identifiziert wurden, entstand
wahrend des 19. Jahrhunderts. Dafur gibt es viele and ere Beispiele: ein Volk in Papua-Neuguinea,
daB sich Tolai nannte und auch so genannt wurde, entstand in den 20er und 30er Jahren dieses
Jahrhunderts, ein Volk, daB sich "Papua New Guineans" nennt, existierte nicht vor 1960. Das
Auftauchen von "The Aborigines" ist teilweise das Resultat der Unfahigkeit oder des
Desinteresses der WeiBen, zwischen Awabakal und Eoara zu unterscheiden und teilweise das
Resultat der Schwarzen in dem Bemuhen, Bundnisse zu schmieden und gemeinsame lnteressen
bzw. gemeinsame ldentitaten zu formulieren- bedingt durch die Begegnungen mit WeiBen.
Es gibt eine beruhmte australische Landkarte, die sogenannte Tindale's map, die die Stammes
Grenzen der Aborigines kartographiert. Diese Karte suggeriert, daB Stammes-Grenzen fast
verglichen werden konnen mit denen von Staaten oder daB sie funktionieren wie Verwaltungs
Distrikte. GroBe Starrheit suggeriert diese Karte. Dabei werden diese Grenzen von vielfaltigen
Verwandtschaftsbeziehungen durchkreuzt, viele Leute durften mehr- oder wenigstens zwei-
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sprachig gewesen sein, ganze Volker "reisten" durch dieses Land, welches ihnen aber nicht
gehiirte in meinem Sinne. AuBerdem war Australien durchkreuzt van Spuren, Wegen, die die
totemistischen Ahnen zuruckgelassen haben. Davon handelt ja auch Bruce Chatwin's
"Traumpfade" {1991 ), der die anthropologische literatur, die sich mit diesem Thema beschaftigt,
popularisiert hat. AuBerdem war, zur Zeit van Captain Cook's Besuch, ldentitat ortsgebundener
als heute. Die Viilker, die damals lebten, hatten deutlich voneinander unterschiedene Sprachen
und Brauche und waren verwandt m it bestimmten Totems oder "dreamings". Heute nehmen wir
rin.e Aboriginai-Kultur an, die sich deutlich van Nicht-Aboriginai-Kulturen unterscheidet. Wenn
weiBe Australier uber "Aboriginal-Resurgence" sprechen, meinen sie oft die Renaissance van
Elementen der "traditionellen" Aboriginai-Kulturen und die Wiederbelebung van Fahigkeiten und
Brauchen, die vor der Invasion der WeiBen praktiziert wurden. Diese Annahme fGhrt fUr viele
Aboriginai-Kunstler zu dem Dilemma, permanent mit der Terminologie "traditionell" oder "urban"
konfrontiert zu sein. Nicht-Aborigines beziehen sich haufig auf Brauche wie z. B. didjeridoo,
dreaming, boomerang, dream-time etc., wenn sie Aboriginai-Kultur beschreiben sollen, obwohl
sie damit Qber etwas sprechen, das den meisten Aboriginai-Viilkern bis vor 200 Jahren unbekannt
war: the didjeridoo, zum Beispiel, ist ein Instrument, das man einst nur in Arnhem Land (ganz im
Norden van Australien) finden konnte. Aborigines selbst beschwiiren oft Elemente, die als
traditionelle Aboriginai-Kultur betrachtet werden, urn ihren Anspruch auf eine eigenstandige
Kultur zu unterstreichen und ihren Beg riff van "Aboriginality" zu illustrieren. In Newcastle, wo ich
wohnte, gehen Aborigines aus Norden, Suden und Westen in die Schulen und spielen didjeridoo,
um ein BewuBtsein unter weiBen Schulern zu schaffen, was es bedeutet, Aborigines zu sein und
um Stolz auf das gemeinsame Erbe unter Aboriginai-Studenten zu wecken.
Die Konzepte van "Aboriginai-Kultur" und "Aboriginality" sind sowohl van Aborigines gemacht,
die sich entschieden ha ben, sich auf bestimrnte Traditionen zu beziehen und van Nicht
Aborigines, die Erwartungen in Hinblick darauf haben, wie diese Kultur sein sollte.
lch werde jetzt auf einen bestimmten, auf einen sehr wichtigen Aspekt van "Aboriginality" zu
sprechen kornmen: "Aboriginality"- geschaffen durch und ausgedruckt in Aboriginal Kunst und
literatur. In den letzten 30 oder 40 Jahren ha ben Aborigines Gedichte, Romane oder
Theaterstucke in Englisch geschrieben, und seit tausenden van Jahren haben Aborigines
Kunstwerke wie Gemalde, Schnitzereien und Tiipferwaren geschaffen.
Aboriginal Bildende Kunst reicht Tausende van Jahren zuruck. Vielleicht haben viele van
lhnen schon Aboriginal Felszeichnungen gesehen. "Traditionelle" Motive, Stile und Techniken
werden auch heute noch van vielen Kunstlern benutzt.
In Europa hat diese australische Kunst zum erstenmal im Juli 1989 mit der Ausstellung
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"Magiciens de la Terre " im Centre Pompidou in Paris fUr Aufmerksamkeit gesorgt. Dort schufen
australische schwarze Kiinstler eine Bodenmalerei. Aufsehen erregten sie zunachst durch die Art
und Weise, wie sie malten: Sie verlangten, eine Nacht lang viillig allein gelassen zu werden - auch
der Hausmeister muBte das Gebaude verlassen - um konzentriert malen und arbeiten zu kiinnen.
Dies ist typisch. Der Vorgang des Malens ist fUr die Kunstler wichtiger als das Ergebnis, das
Kunstwerk selbst.
Die moderne australische Kunst urnfaBt heute rneist Malerei - seltener Plastik- auf Papier
und Leinwand. Oft sind es groBforrnatige Bilder, die in Gemeinschaftsarbeit von einem Kunst
lerkollektiv angefertigt werden. Haufig entsteht ein solches Bild durch die Mitarbeit der ganzen
Familie. In Zentralaustralien werden gr-oBflachige, farbig ausgewogene Bilder rnit den traditio
nellen Motiven bemalt: konzentrische Kreise, Biigen, Wellenlinien. Die Kunstler des Nordens,
etwa die in Arnhemland, verwenden ganz andere Motive: Sie rnalen rnenschliche Gestalten,
Tiere und Pflanzen. Aber auch sie bringen ihre Motive in eine strenge Ordnung.
Die rnoderne Malerei der Aborigines leitet sich von zwei verschiedenen Traditionen her und teilt
sich deshalb in zwei Gruppen. I m Norden des Kontinents gab es von alters her die Rindenrnalerei.
Die Motive dieser Kunst entstamrnen haufig auBer-australischen Einflussen. Es gibt hier nicht nur
rnenschliche Darstellungen in Bewegung, wie laufende Jiiger, sondern auch den sogenannten
Riintgenstil, bei dem die inneren Organe der Tiere mitgemalt werden.
Die Rindenmalerei des Nordens wird in einer pointillistischen Technik ausgefuhrt: Die
Kunstler fUg en Farbtupfen in muhsamer Kleinarbeit zu Formen zusarnmen. Eine solche Technik
hat praktis.che Grunde, denn die Pinsel bestanden aus zerkauten Holzstabchen, die in die Farbe
getaucht wurden. Diese Malereien scheinen nur selten kultischen oder rituellen Zwecken gedient
zu haben. Oft sind sie schon in fruherer Zeit einfach ''I' art pour I' art" gewesen. Rindenbilder sind
sehr empfindlich, kiinnen leicht zerstiirt werden. Die altesten, die bekannt sind, stammen deshalb
erst aus dem Jahr 1884.
Vielleicht ha ben einige von lhnen auch schon ein Bild von Albert Namatjira gesehen. Albert
Namatjira, so der Name des Kunstlers und zugleich ein australischer Mythos, wurde 1902 in der
Mission Hermannsburg in Central Australien geboren als Sohn von Aranda-Eitern und wurde der
Begrunder der sogenannten Aranda-Theaterschule.
Namatjira wurde initiiert, aber wurde ebenfalls Christ. Einer der Herrnannsburger Missionare
forderte die Aborigines-Manner aut, Boomerangs, Schilder etc. zu schnitzen und Muster
einzubrennen. Die Waffen wurden dann durch die Mission verkauft. Albert Narnatjira erwies sich
als besonders geeignet fOr diese Aufgabe. Er fUgte den traditionellen, abstrakten Mustern andere
hinzu, die Kiinguruhs, Emus und menschlichen Wesen nachempfunden waren. I m Jahr 1934 hatte
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Albert Namatjira den Kunstler Rex Batterbee getroffen und einen Handel mit ihm abgeschlossen:
Namatjira zeigte Batterbee sein Land und Batterbee unterrichtete Namatjira in der Kunst des
Aquareii-Zeichnens. Durch die Gesprache mit Batterbee erkannte er, daB durch Gemaldeverkauf
Geld zu verdienen war und zwar mehr Geld, als er je durch Arbeit fUr die Missionare verdienen
konnte.
1937 zeigte Batterbee drei von Namatjiras Aquarellen in einer Ausstellung seiner eigenen
Arbeiten in Adelaide. Damals schrieb Louis McCubbin, Direktor der South Australian Art Gallery:
"Es ist bemerkenswert, wie leicht dieser Aborigine das europaische Kunst-Konzept begriffen hat.
Sein Gemalde des 'Mount Hermannsburg' ist auBergewiihnlich in seinem Realismus, Licht, Form
und der Echtheit der Hugei-Darstellung. Alles in allem, das Wissen des Aborigines uber die
Bedeutung von Stimmung~n und Farbe ist auBergewiihnlich".
1938 hat Albert Namatjira seine erste Einzei-Ausstellung in Melbourne. Die ausgestellten 41
Arbeiten wurden innerhalb von drei Tag en verkauft und innerhalb weniger Jahre gewann
Namatjira nationalen Ruhm. 1944 war er der erste Aborigine, der ins Who's Who in Australia
aufgenommen wurde. In Melbourne, Sydney und Adelaide standen die Leute Schlange, um seine
Bilder zu sehen. Als Albert Namatjira 1954 zum ersten Mal Sydney und Melbourne besuchte,
muBte Polizei aufgeboten werden, um die begeisterte Menge unter Kontrolle zu halten. Die
Kunst-Kritik war jedoch oft skeptisch in Bezug auf Albert Namatjiras Arbeiten. Einige vermuteten,
daB er- wenn er an weiBen Standards gemessen wurde- allenfalls ein mittelmaBiger Maler.sein
wurde. Andere kritisierten ihn, daB er "ver-westlicht" sei. La ut Joyce Batty's Biographie uber Albert
Namatjira druckte Sir Davy Lindsay, der einfluBreiche Direktor der Melbourne National Gallery sein
Bedauern daruber aus, daB ein "Aborigines eine Second-Hand-Version Europaischer Kunst
produziert, anstatt seine eigene Eingeborenen-Kunst zu entwickeln. Hinzu kame, daB an
Namatjira's Aquarellen weniges erwahnenswert ware, auBer einer hochentwickelten, technischen
Fahigkeit, topographisches Interesse und daB- bedingt durch den EinfluB der Europaischen
Kunst- der Aborigine etwas von seiner Vitalitat eingebuBt zu haben schien.
I eh kann nur kurz auf Namatjiras Schicksal eingehen, nachdem er Ruhm gewonnen hatte und zum
"Gegenstand" erbitterter Auseinandersetzungen geworden war: Er wurde in Gewahrsam
genom men und bekam weder eine Erlaubnis, ein Haus in AI ice Springs zu kaufen, noch Eigentum
zu erwerben. lhm wurden die Burgerrechte verliehen, aber nachfolgend wieder aberkannt, weil
er seinen Ruhm mit einem Kunstler-Kollegen geteilt hatte, der nicht das Recht besaB, eine Flasche
Rum in der Offentlichkeit zu trinken. Namatjira starb wenige Tage nach seiner Freilassung aus
dem Gefangnis im Jahre 1959. Die tragischen Aspekte seines spateren Lebens und seines Todes
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ha ben eine Menge Seelen-Forschung unter weiBen Australiern hervorgerufen. Eine rnoralisierende
Legende um Albert Namatjira, den Maler und das Opfer der weiBen Gesellschaft wurde oft
beschworen, wenn weiBe Australier ilber ihre schuldbeladene und/ oder paternalische AttitUde
gegenilber Aborigines sprachen oder schrieben.
Was mich jedoch hi er interessiert, ist Namatjira's Malerei. lmitierte er nur den Stil der WeiBen?
Oder tat er das Gegenteil, als er es ablehnte, sich den Erwartungen zu filgen, er solle
"traditionelle Aboriginai"-Kunst produzieren, und anstatt sich weiBe Stile anzueignen, eine
Richtung von Aboriginality bezeichnet, die Elemente weiBer und schwarzer Kultur einschloB?
Namatjira wird oft herangezogen als das berilhmteste Beispiel filr das Versagen der Assimilations
Politik. lch frage mich, ob er nicht der erste war, der den weiBen Australier gegenilber erprobte,
ob die Mimikry, die durch Assimilations-Politik erwartet wird, diese Politik nicht unterlaufen kann.
lch glaube, daB Namatjira, wenigstens in seinen Bildern, nicht nur ein unglilckliches Opfer der
WeiBen war, sondern daB er bewuBt die Kenntnis dessen, was Aboriginality in dieser Zeit
bedeutete, erweiterte. Die Grenzen waren eng gesteckt: In den 50er Jahren waren Aborigines
per definitionem "traditionell" und sobald sie sich der weiBen Kultur annaherten, konnten sie
nicht !anger Aborigines sein, sondern waren erfolgreich in die weiBe Gesellschaft assimiliert.
Albert Namatjira unterlauft a lie Erwartungen, wie er am besten seine "Aboriginality" zum
Ausdruck bringen kiinne.
Seit dem Tod von Albert Namatjira ha ben viele Aboriginai-Kilnstler ihre "Aboriginality" durch
Bezug auf weiBe Kunst zum Ausdruck gebracht. Die Debatte darilber, was Aboriginal Kunst
ausmacht, reiBt nicht ab. Wenn es um Nicht-Traditionelle Aboriginai-Kunst geht, wurde die Kritik
von Sir Daryl Lindsay viele Male wiederholt. Die lntupi-Maler z. B. wurden gescholten, daB sie
helle Acryi-Farben anstelle des Teer verwenden, aber sie ha ben Namatjiras Erfolg wiederholen
kiinnen und den Beg riff von "Aboriginality" erweitert.
Antikoloniale Geschichtsforschung mit Berucksichtigung der Aboriginal Australier fand bis
1970 nicht wirklich statt. Zuerst rekonstruierte man eine bisher verborgene Vergangenheit, die
gekennzeichnet war und ist von furchtbarer Unterdrilckung. Dazu habe ich lhnen einen Liste
ausgeteilt, die ilberschrieben ist: A Historian Ready Made: Diese Liste umfaBt alle bekannt
gewordenen Namen derjenigen Schwarzen, die im Gefangnis zwischen 1970 und 1989 um
kamen, "Black Death in Custody" ist einer der schwersten sozialen Erschutterungen in Australien
in den letzten Jahren. Zusammen mit der langsam bewuBtwerdenden Tatsache des Genozids
(17881ebten ea. 300.000 Aborigines gegenilber ea. 66.000 heute). Zuallererst wurde diese
Geschichtsforschung von WeiBen gemacht, aber seit kurzem schreiben Aboriginai-Australier
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Geschichte, die mehr oder weniger in die Parameter paBt, die von der weiBen Geschichts
forschung vorgegeben wurde. Naturlich ist es notwendig, koloniale Geschichte zu dekolonialisie
ren. Aber ist es nicht ein erneuter Akt von kolonialem Paternalismus oder wohlwollendem
lmperialismus, wenn weiBe Forscher sich in diese Notwendigkeit einmischen, sogar wenn wir
nicht beanspruchen, "fUr" diejenigen zu handeln, "Qber" die wir schreiben? Vor 18 Jahren befand
Hayden White (Tropics of Discourse, Essays in Cultural Criticism), daB die Geschichtsforschung sich
in einem schlechten Zustand befande, weil sie ihren Urspung in der literarischen Imagination aus
den Augen verloren ha be. Das scheint mir eine wichtige Feststellung in Bezug auf Theater, fur
unser Denken zu sein: die Grenzen zwischen Tatsachen und Fiktion, zwischen Wissenschaft und
Kunst zu durchbrechen, urn der Wahrheit der Vergangenheit etwas naher kommen zu kiinnen,
urn die Geschichten der Anderen Oberhaupt hiiren zu kiinnen, die Geschichten besitzen, aber
keine "facts". Archiv-Aufnahmen, Zeitungsartikel, Tagebucher sind "kalte" Quellen. Sie kiinnen
gelesen, manipuliert, verandert werden. Die Erinnerungen von Menschen bezeichne ich als
"heiBe" Quellen, sie sind persiinlich und individuell. Wenn wir unsere Erinnerungen jemandem
mitteilen, verleihen wir ihnen Farbigkeit und Emotionalitat. Wir beziehen den Hiirer ein und
unterstreichen unsere Worte mit Kiirpersprache, Mimik und Veranderungen in Tonhohe und
Sprechgeschwindigkeit, und wir werden involviert in eine dramatische Wieder-Belebung der .
Vergangenheit- und haben die Miiglichkeit, das mundlich Gehorte abzukuhlen. Wir machen
Aufzeichnungen und konzentrieren uns auf den "lnformationsgehalt", wir machen Tonband
aufzeichnungen, und die gesamte Kiirpersprache wird eliminiert, durch Transkription dann auch
noch die Information. Das Gesprach wird zu einem Text, eine Synapse und wird zu einer Quelle
wie andere. Wir mussen uns klarwerden daruber, daB die "kalten" Quellen normalerweise unsere
Begegnung mit dem "Anderen" bestimmen.
Die erste schwarze australische Dichterin, die in Englisch publizierte, war Kath Walker, die sich seit
1988 Dodgeroo nennt. Eine spannende Geschichte, auf die ich aber nicht naher eingehen kann,
ist die Namensgebung von Personen und Orten, Landschaften in Australien und der Kampf urn
die Ruckgewinnung der ja bereits existierenden Namen in den jeweiligen Stammes-Sprachen. Als
Dodgeroo ihre ersten Gedichtbande "We are going" und "The Dawn is at Hand" 1964 und 1966
veriiffentlichte, wa ren die Kritiken sehr gemischt. Die Kritik klatschte Beif all, weil sie die erste
Aboriginal war, die einen Gedichtband veriiffentlichte, aber einige konnten "den inneren Wert"
ihrer Dichtung nicht entdecken, die unachtsam gegenuber ihrer Rasse sei. Einige Kritiker
verneinten, daB das, was sie geschrieben ha be, Qberhaupt Dichtung sei. Man versuchte den Wert
ihrer Bucher danach zu bemessen, wieviel "Aboriginality" Eingang in die Gedichte gefunden
hatte, oder ob, wie eine Kritik es formulierte, Dodgeroo einen spezifischen Aboriginal Beitrag zur
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Australischen Literatur geleistet habe. WeiBe, australische Autoren hatten seit einiger Zeit ver
sucht, sich von schwarzen australischen Kultur-Traditionen inspirieren zu lassen.
In den 40er Jahren begannen "the Jindiyworobaks", eine weiBe Autorengruppe aus South
Australia, die europaische Literatur zu bereichern, indem sie sich auf Tradition und traditionelle
Aboriginal-Stile bezogen. Es war ein Versuch, den "cultural cringe" (das kulturelle Kriechertum) zu
Qberwinden und eine "echte", wahre australische Literatur zu entwickeln.
Kurzer Ausflug zum Beg riff des "cultural cringe" und zur Geburt des "australischen Dramas":
"Cultural cringe" das ist der kulturelle Minderwertigkeitskomplex, der aus dem komplizierten
Verhaltnis zum "Mutterland" GroBbritannien entstand. Hatten die Australier noch vor 1{)0 Jahren
ein utopisches, besseres, englischeres England schaffen wollen, so richtete sich ihr Patriotismus im
20. Jahrhundert immer starker auch gegen die als arrogant empfundenen Englander- ohne sich
dabei des britischen Werte- und Klassensystems entledigen zu konnen, das jeder Australier
grQndlich intus hatte.
Die Geburt des australischen Dramas hing aber nicht nur damit zusammen, daB "australianness"
endlich ein Thema furs australische Theater wurde; die australische Sprache muBte Qberhaupt fUr
buhnentauglich deklariert und dramenreif gemacht werden. Historischer Geburtshelfer war dabei
unumstritten Ray Lawler, Schauspieler, Theaterautor und seit 1975 (neben dem Grunder John
Sumner) Direktor der reichen und traditionsreichen Melbourne Theatre Company. 1955 hatte er
"The Summer of the Seventeenth Doll" geschrieben, das in Australien und sogar in England
Theaterpreise gewann und das Renommee des gerade gegrundeten Elizabethan Theatre Trust
starkte (die erste Institution, eine Stiftung, die in Australien das Theater subventionierte). Lawlers
StUck handelt von der sechzehn Jahre wahrenden Liebesgeschichte zweier Paare, der Zuckerrohr
Arbeiter Roo und Barney und der Melbourner Bardamen Olive und Nancy. Dje Mates schuften
zwei Drittel des Jahres in Queensland, um den Sommer bei ihren Freundinnen verbringen zu
konnen. I m 17. Sommer zerbricht all dies; Nancy hat mittlerweile burgerlich geheiratet, und die
Neue fur Barney beiBt bei ihm, dem Weiberhelden, nicht an; Roo hat gerade seine Position als
Vorabeiter- und dam it sein SelbstwertgefQhl - an einen JQngeren verloren, und am Ende wirft
Olive ihn hinaus, weil sie ihn nun nicht mehr vergottern kann; Barney und Roo ziehen gemeinsam
in eine ungewisse Zukunft. Die unverbruchliche Mannertreue Gberdauert als einziger Halt die
existentielle Katastrophe. Lawlers StUck traf den Nerv der Zeit und der Nation, weil der
australische Mannermythos angesichts der zunehmenden Urbanisierung des Landes immer
unzeitgemaBer zu werden drohte; der australische Slang, den seine Figuren sprechen, bedeutete
darum mehr als bloBes Lokalkolorit: Er durchleuchtete die Wirklichkeit.
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"Summer of the Seventeenth Doll" war aber beileibe nicht das erste StUck Ober oder aus
Australien .. Schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine ausgepragte Tradition sentimen
taler Melodramen und einer typisch australischen Stand-Up-Comedy, die mit Show- und Kabarett
Mitteln, vom Vaudeville beeinfluBt, fOrs Entertainment in den jungen australischen Stadten
sorgte. Melbourne hatte damals seine eigene Theatermeile mit -zig Theatern ... Moderner
Abkommling dieser Komik ist Barry Humphries, ein antipodischer Loriot, der in Solonummern
verschiedenste australische Typen unnachahmlich karikiert. Seine bekannteste Figur ist die viel
verehrte Dame Edna Everage (average = durchschnittlich), eine Hausfrau aus den properen
Vororten Sydneys, die sich im Verlaufe ihrer Ober 20jahrigen Existenz zum "Mega-Star" entwickelt
hat {M. Merschmeier).
Offenbar hatte man aber erwartet, um auf Dodegeroo zuri.ickzukommen, daB mit den Aborigines,
die selbst Gedichte oder Romane schrieben, eine authentischere, urspri.inglichere Interpretation
schwarzer, australischer Traditionen seinen Eingang finden wi.irde in die australische Literatur.
Dodgeroo enttauschte mit ihren ersten beiden Bi.ichern die weiBen Hoffnungen auf eine
authentische, schwarze Stimme. Anstatt einen authentischen, traditionellen Aboriginai-Stil zu
entwickeln, imitierte Dodgeroo die Form der australischen Busch-Ballade und insbesondere die
Dichtung von Henry Lawson.
Die Besprechungen beklagten nicht nur, daB Dodgeroo versagt habe, in dem Sinne
innovativ zu sein, indem sie die traditionelle Aboriginal-Art von mOndlicher Dichtung
weiterentwickelte, sondern sie hinkte auch hoffnungslos hinter zeitgenossischer, weiBer Dichtung
her, indem sie metrische und rhythmische Muster des spaten 19. und frOhen 20. Jahrhunderts
benutzte. Es hat seitdem viele Versuche gegeben, von Aboriginal Autoren, "traditionelle" Formen
zu gebrauchen. Beispiel: 1988 veroffentlichte der Aboriginal Dichter und Kritiker Mudrooroo ein
Buch m it dem Titel Dalwurra, in welchem er einen traditionellen Lieder-Zyklus He manikay a us
dem ostlichen Arnhemland, modernisiert. lnteressanterweise gibt es dafOr einen weiBen
Vorganger: 1948 hatte der Anthropologe Ronald Berndt die Transkription und Obersetzung eines
Manikay veroffentlicht, der den Dichter Les Murray, der sich der letzte "Jindyworobaks" nennt, zu
seinem Gedicht inspirierte: "The Buladelah - Taree Holiday Song Cycle" (ungefahr 15 Jahre vor
Mudrooroo). Mudrooroo's zweiter Roman, Long live Sandawara, hat ein Aboriginai-Thema: das
Leben von Sandawara, der in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts einen Aufstand gegen die
WeiBen anfOhrte. Der Literatur-Kritiker Adam Shoemaker nimmt es Mudrooroo sehr Obel, daB er
sich auf ein Buch des weiBen Autors Jon ldress Ober Sandawara bezieht, anstatt seine fiktionale
Erzahlung auf mOndliche Aboriginal Traditionen zu begri.inden. Shoemaker nennt in einem
Interview als Beispiel die mundliche Tradition, in der Daisy Utemorrah aus Western Australia
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stehe, selber eine publizierende schwarze australische Autorin, um den Reichtum dieser Tradition
zu demonstrieren. Er folgert, daB es sicher anzunehmen sei, daB Mudrooroo's Roman "more
distinctive original and independent of White Australian literary influence", wenn er si eh auf diese
Quelleri besonnen hatte.
In der Tat beruhen a lie drei historischen Romane, die Mudrooroo bis jetzt geschrieben hat,
auf weiBen lnterpretationen und weiBen Primar-Quellen, Master of the Ghost Dreaming, z. B., auf
den Berichten eines englischen Missionars, G. A. Robinson.
Die Hauptfigur dieses Romans ist der Schamane Jangamuttuk, der sein Volk auffordert, sich selbst
mit einer Art subversiven, europaischen Mode zu schmucken. So frisierten die Manner z. B. ihr
Haar so, daB es im Feuerschein aussehen konne wie der Helm von euiopaischen Soldaten. In
seinem Essay "Beyond Colonialism: The Artist as Healer" fordert Satendra Naudan, daB ein
KQnstler die "Wunden der Geschichte sehen mQsse, die durch Kolonialismus verursacht seien".
Der Autor wird zum "Heiler", der die Krankheit der Koloniai-Herren diagnostiziert und den
gesichtslosen Kolonialisierten ihre eigenen Vorstellungen zuruckgibt. Dieser Akt des Heilens
schlieBt keine Versohnung zwischen Eroberer und Opfer ein, sondern arbeitet die lnteraktion
zwischen Eroberer und Opfer auf. lch lese das erste Kapitel von "Master of the Ghost Dreaming"
als die Stellungnahme eines postcolonialen Aboriginai-Autors, der die "Wunden der Geschichte"
heilt. Dieser HeilungsprozeB benutzt weiBe Literatur-Traditionen und weiBe Geschichten.
Mudrooroo setzt "Wahrheit" und "Fiktion", historische Dokumente und schamanistische Visionen,
als scheine er sagen zu wollen, daB europaische Darstellungen nicht notwendigerweise
ausgeschlossen werden mussen, sondern daB sie um-gelesen, urn-erzahlt, urn-arrangiert werden
mussen. Die weiBen Mythen und Geschichten mussen vielleicht verzerrt, verdreht, sogar
vereinnahmt werden, urn eine andere Geschichte schreiben zu konnen.
lch mochte lhnen jetzt zwei Filme zeigen, die in bemerkenswerter Weise aufeinander Bezug
nehmen. Der erste ist ein Spielfilm mit dem Titel "Jedda" des weiBen australischen Filrnregisseurs
Charles Chauvel aus dern Jahre 1955 und "Nightcries" aus dern Jahre 1989, gedreht von der
vielleicht wichtigsten, nicht "nur" schwarzen Filmernacherin Australiens, Tracey Moffart. tch
denke, es ist notwendig, lhnen ein paar Hinweise zu geben, um die Bedeutung dieser beiden
Filme und ihrer Rezeption durch das australische Publikum ermessen zu konnen. Ein tndiz fUr diese
Bedeutung mag auch sein, daB ich kurzlich eine Version von "Jedda" sah, adaptiert und getanzt
von der "Aboriginal Island Dancers"- der beruhmtesten schwarzen Tanz-Kompanie, die aber, wie
so viele kulturelle tnstitutionen, urn das Oberleben karnpfen.
Zum lnhalt von "Jedda": Jedda, genannt nach einem heimischen Vogel, ist ein verwaistes
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Aboriginal Baby, das von dem kinderlosen Paar Sarah und Doug McNahon adoptiert wird. Diese
leben als Viehzuchter auf einer einsamen Farm im Northern Territory. Sarah, die ihr eigenes Kind
verloren hat, versucht Jedda als "weiBes" Kind aufzuziehen, aber als diese heranwachst, wird
diese von den Ritualen der Aborigines, die rund um die Farrn leben, in Bann gezogen. Jedda wird
Joe, einem Mischling, zur Frau verspro(hen. Joe soli die Farm einmal ubernehmen, wenn
McNahon sich zuruckzieht. Aber diese Plane geraten durch die Ankunft Marbuks durcheinander,
eines majestatischen, sehr attraktiven Schwarzen, der, wie sich herausstellt, in der Welt der
WeiBen gesucht wird wegen Mordes. Sein eigener Stamm verurteilt ihn, weil er "Jedda" als Braut
gewahlt hatte, da sie nicht die "richtige Ha ut" habe. Marbuk wird verruckt und zieht Jedda mit
sich in den Tod.
lch denke, schon durch diese kurze lnhaltsangabe wird deutlich, daB es spannend sein durfte, sich
mit diesem Film auseinanderzusetzen. Bevor wir ihn uns anschauen, nur noch die kleine
Information, daB "Jedda" der erste Spielfilm ist, der Aboriginal in den Mittelpunkt seiner
Handlung stellt.
Der Vorspann des Films erklart: "Um diesen Film zu besetzen, reiste das Produktionsteam zu den
primitiven Stammen Australiens und stellt ihnen jetzt Nanla Kunoth als Jedda und Robert
Tudewalli (beide Namen sind vereinfacht, man stelle sich das vor) ein Mann vom Stamm der Tiwi
als Marbuk ... Die Geschichte von Jedda beruht auf Tatsachen." Die Chauvels waren kreuz und
quer durch Australien gereist, auf der Suche nach Geschichten und Charakteren und woben
daraus "eine Geschichte des Western Territory". Chauvel wollte einen Film drehen, wie ihn nur
"Australien der Welt schenken konne" das war sicherlich ein Beitrag zur Oberwindung des
"cultural cringe". Chauvel bemuhte sich sehr, den anthropologischen Forschungsstand seiner Zeit
in den Film einflieBen zu lassen, die Musik von lsadore Grodman basiert z. B. auf Aufnahmen von
Aboriginal Musik eines sehr einfluBreichen australischen Ethnologen namens A.P. Elkin. 1951 war
das Jahr, in dem "Assimilation" offizielle Commonwealth Politik wurde und eine Zeit anbrach, in
der es in Theorie und Praxis des kulturellen Kontaktes zu garen begann. "Jedda" wurde der erste
australische Film, der zum Film-Festival nach Cannes eingeladen wurde und die beruhmte
franzosische Filmzeitschrift "Cahiers du Cinema" lobte seine Melodramatik. Der Film zerfallt m. E.
in zwei Halften, die erste ist wie ein didaktischer Film-Essay uber die Schwierigkeiten von
"Assimilation", die zweite gerat in den Bann der Geschichte und die Dramatik der australischen
Landschaft. Chauvels eigene Ansichten uber das Verhaltnis von WeiBen und Schwarzen beruht, so
Chauvels Frau Eisa, auf einer utopischen Vision von Assimilation durch Heirat zwischen den
Rassen. Er nimmt an, daB ein tiefes Verstandnis der kulturellen Differenz notwendig sei, bevor
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eine nationale Einheit erfolgreich sein konne, und das tiefste Verstehen kame durch sexuelle
Vereinigung. Er nimmt aber selbstverstandlich an, daB die Assimilation an die dominante Kultur
erfolgen wird und das ist die der WeiBen. "Jedda" ist gefilmt wie ein Hollywood-Famlien
Melodram der 40er und 50er Jahre. Sarah ist der Prototyp der hysterischen Frau, deren
Sehnsucht, Jedda zu assimilieren, direkt vom Verlust ihres eigenen Kindes abgeleitet wird,
eigentlich mehr die Sicht des 19. Jahrhunderts. "Marbuk" reprasentiert den unberuhrten Wilden,
Joe, den Mischling, der sich den Anforderungen der Assimilation freiwillig unterwirft, vor alien
Dingen wegen der Bedingungen der Landarbeit, wahrend Jedda selbst steht fUr die erfolglose
und unfreiwillige Assimilation. Der Film entwirft die Vision einer autonomen, kulturellen
Autonomie von Stammen, die "irgendwo", "nowhere", unberuhrt und weit entfernt von WeiBen,
ihren Traditionen und ihrer Kultur folgen.
Zu Tracey Moffat's Film - "Night Cries, a rural tragedy". !eh habe lhnen ein Interview mit Tracey
Moffat kopiert, in dem sie die Hintergrunde ihrer Arbeit erlautert. Tracey Moffat ist, ein wenig
wie "Jedda", das Kind einer Aboriginal, die, da sie die Farnili.e nichternahren kann, Tracey zur
Adoption freigeben muB. Das war auch im Sinne der offiziellen Assimilations-Politik, die
Aboriginai-Frauen zu Tausenden zwang, ihre Kinder zur Adoption freizugeben. Tracey schatzt es,
daB sie, im Gegensatz zu den meisten anderen Kindern in der gleichen Situation, den Kontakt zu
ihrer Mutter nie Verloren ha be und es einen engen Kontakt zwischen Stief- und leiblicher Mutter
gegeben habe. Tracey Moffat webt in diesem 35 mm-Kurz-Film, der ausschlieBiich im Studio
gedreht wurde, ihre eigene Geschichte und Motivstrange aus "Jedda" ineinander. Sie erweckt
Jedda und ihre Mutter wieder zurn Leben und holt sie in die Gegenwart, beide sind gealtert, die
Mutter inzwischen vielleicht 80 oder 90 Jahre alt und bettlagerig, und die Aboriginai-Tochter
fungiert als ihre Krankenschwester, versklavt nicht nur durch australische Politik und Verhaltens
weisen, sondern auch durch ihre eigene, ambivalente Liebe. BeeinfluBt vom japanischen Kino, im
Stil eines Melodramas, ist es der Film einer schwarzen Filmernacherin, die der zweiten Generation
angehort, wie Tracey Moffat sagt- nicht mehr zu denen, die gekampft ha ben urn land rights,
legal service, medical centre etc., sondern zu denen, die vor alien Dingen nach kunstlerischen
Formulierungen suchen. Vergleichen Sie nur die Biographie von Kath Walker und Tracey Moffat.
I eh komrne zu der einzigen Theaterauffuhrung. die ich in Australien sa h. die rnich nachhaltig
beeindruckte und noch imrner beschaftigt. !eh spreche von dem Aboriginal-Musical "Bran Nue
Dae". Aus den Danksagungen erfahren wir, daB der Druck des Scriptes durch die groBartige
Unterstiitzung von Wim Wenders, BHP Minerals Limited, The Australian Freedom for Hunger
Campaign, zwei Parlamentsmitglieder aus Western Australia und die Djarindjin Aboriginal
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Community erst moglich wurde.
Die kulturellen Einfliisse, aut die sich die Auffiihrung letztendlich bezieht, sind mindestens
so vielfaltig: Katholische Messe, Country und Western, Road movie, Schnulzen, Broadway and
Broome. Diese Auffiihrung erhielt donnernden Applaus van Publikum in ganz Australien: van
Schwarzen und WeiBen, in Provinzstadten und den groBen Stadten. Die Geschichte ist nicht nur
ein Vorwand fiir die Songs •. sondern ein sentimentales Marchen mit seinem eigenen Reiz. Willie,
ein jugendlicher Schwarzer aus Lambodina in der Nahe van Broome, wird wegen Diebstahls van
Cherry Ripe bars aus einem Heim in Perth rausgeschmissen. Dieses Heim wird van einem
deutschen Missionar namens Father Benedictus geleitet.
Willie trifft in hochster Not auf Tadpole, einen alteren Aboriginal, der behaupt€t, er sei sein Onkel
und auBerdem auf ein australisches Hippiemadchen, Mariguana Annie und ihren deutschen Lover,
Slippery. Die vier reisen nach Broome. Auf ihrem Weg, genauer in Roeburne (was wichtig ist,
darauf komme ich noch zuriick) werden sie van der Polizei festgenommen, weil sie Marihuana
pflanzen in ihrem Auto mitgefiihrt ha ben. Endlich in Broome angekommen, gehen sie in eine
Kneipe, wo Rosie, eine Aboriginal als Sangerin einer Western & Country-Band auftritt. Willie hatte
bei seinem letzten Besuch in Broome ein Auge auf Rosie geworfen. Willie, Rosie, Slippery, Annie
und Tadpole ha be eine Begegnung mit pfingstlern, die van Theresa gefiihrt werden. Theresa ist
Willies Mutter. Theresa gibt zu, nachdem es sowohl Slippery als auch Annie bezeugen, ein Kind
van einem deutschen Missionar zu ha ben. lm Finale stellt sich heraus, daB Slippery, der Sohn van
Benedictus und Theresa ist, Willie der Sohn van Tadpole, Theresas Ex·Mann, Annie war als Kind
zur Adoption freigegeben warden und so stellt sich heraus, daB alle Aborigines sind, auBer Father
Benedictus.
"Bran Nue Dae" nimmt Bezug aut einige zentrale Probleme und Themen schwarz-weiBer
Beziehungen in Australien: Leben unter einem Missionars-Regime, die Wegnahme van Aborigines
Kindern, Alkoholismus, die ungleichen Beziehungen zwischen schwarzen Frauen und weiBen
Mannern, black death in custody.
Das StOck spezifiziert die Gefangnisszene als das Gefangnis in Roeburne. Roeburne wurde
schlieBiich nicht rein zufallig gewahlt. Der Aufruhr iiber den Tod van John Pat im Jugendgefangnis
van Roeburne am 28. September 1983 fiihrte mehr als alles andere zur Einsetzung einer Royal
Commission iiber Black Death in Custody.
Die Royal Commission kam zu der Auffassung, daB der Tod van John Pat durch Korperver
letzungen van seiten der Polizei verursacht warden sei, obwohl die 5 Polizisten, die wegen
Mordes an John Pat im Jahre 1983 angeklagt warden waren, van 12 Nicht-Aboriginals Geschwo·
renen freigesprochen warden waren. In dem Musical bleibt all das unerwahnt.
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Tadpole antwortet nicht. Peter Bilby schreibt in seiner Einleitung: "Yeah, I'm a man now', says
Willie- and he is a Royal Commission in five words."
Der Plot basiert auf den Erfahrungen von Jimmy Chi, seine eigene Reise zuruck nach Broome, die
Begegriung mit der weiBen Gesellschaft, seine Suche nach kultureller ldentitat, die Erfahrung von
Aboriginal Spiritualitat und das Heimkommen im Netzwerk von Beziehungen. Diese Erfahrungen
werden nicht einfach rekonstruiert, sondern im ProzeB der Darstellung auf der BQhne wieder
belebt, zersplittert und dekonstruiert. Die Dekonstruktion der Vergangenheit geschieht durch
Parodie, lronie, Wortspiele und Witze. Das Lachen zerbricht die Homogenitat von Vergangenheit
und Gegenwart, es befreit und verwirrt und zwingt das Publikum, die Vergangenheit wahrzu
nehmen .. ·
"A play to ease the pain"- sagt Chi in einem Interview und weiter: Er habe "Bran Nue Dae•
fur alle Australier geschrieben, und so weit ich das beobachten konnte, liebte das weiBe Publikum
dieses Musical und das, obwohl es ein radikales politisches Manifest ist, das die koloniale Ver
gangenheit mit den Augen der "Anderen" beleuchtet. Die schwarze Sache gewinnt, weil es sich
am Ende herausstellt, daB sowieso alle Aborigines sind und unterlauft so die weiBe, kulturelle
Vorherrschaft. Jimmy Chi zwingt das weiBe Publikum nicht, den schwarzen Forderungen und
Klagen zuzuhoren, sondern benutzt eine subtilere, subversivere Methode, indem sein weiBes
Publikum den Titel-Song mitsingt:
"Bran Nue Dae• ist ein Aboriginal-Musical, aber erfullt viele Erwartungen an "Aboriginai
Kultur" Qberhaupt nicht, vor alien Dingen an "Authentizitat". Es zeigt eine lebendige, aufregende
heutige Aboriginai-Kultur, die viele Einflusse aus anderen Kulturen Qbernimmt und integriert als
auch "traditionelle" Aborigines-Kultur in die Gegenwart holt und verandert- alles, urn den ProzeB
der Assimilation umzudrehen.
Die Sprache der meisten Dialoge ist Broome Kriol und nicht das Standard-Englisch der
"Eindringlinge". Als ich dieses Musical sah, wurde mir klar, daB es notwendig se in wird, unsere
eigene Geschichte neu zu schreiben, die Stimmen der anderen Qber uns zu Wort kommen zu
lassen - wortwortlich.
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