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d ramatur g ie Zeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft dg 2/2007 Geteilte Zeit Theater zwischen Entschleunigungsoase & Produktionsmaschine Öffentliches Symposion der Dramaturgischen Gesellschaft vom 31.01. bis 03.02.2008 in Hamburg in Kooperation mit dem Thalia Theater Hamburg

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dramaturgieZeitschrift der Dramaturgischen Gesellschaft

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Geteilte ZeitTheater zwischen Entschleunigungsoase &

Produktionsmaschine

Öffentliches Symposion der Dramaturgischen Gesellschaft

vom 31.01. bis 03.02.2008

in Hamburg

in Kooperation mit dem

Thalia Theater Hamburg

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Abendzeit Abendzeitung Abfahrtszeit Abflugszeit Abrechnungszeiten AbschreibungszeitraumAllerödzeit Altersteilzeit Altsteinzeit Amtszeit Anbetungszeiten Anfangszeiten Ankunfts-zeit Arbeitszeit Arbeitszeitkonto Arbeitszeitvermittlung Arbeitszeitvertrag Atomzeit Atom-zeitalter Auftauzeit Ausbildungszeit Ausfallzeiten Ausführungszeit Auslaufzeit Auszeit Bau-zeit Bearbeitungszeit Bedenkzeit Behandlungszeit Beitragszeiten Belegzeiten Belichtungs-zeit Bemessungszeitraum Berechnungszeitraum Bereitschaftszeit Besuchszeiten BetriebszeitBewährungszeit Bezugszeitpunkt Blockzeit Bordzeit Brennzeit Bronzezeit Brotzeit DDR-ZeitenDekompressionszeit Durchflusszeit Durchschnittszeit Echtzeitverfahren Edo-Zeit EigenzeitEinheitszeit Einlaufzeiten Einwirkzeit Eisenbahnzeit Eisenzeit Eiszeit Elementarzeit Eltern-zeit Empfängniszeit Endzeit Endzeitalter Entstehungszeitraum Entwicklungszeit Ephemeriden-zeit Erdzeitalter Erntezeit Ersatzzeiten Erziehungszeiten Essenszeit Fachzeitschrift Fahr-zeit Familienzeitschrift Fastenzeit Fehlzeiten Feldzeit Ferienzeit FeststellungszeitpunktFlugzeit Freizeit Freizeitpark Freudenzeit Friedenszeiten Frühzeit frühzeitig Fütterungs-zeit Garantiezeit Garzeit Gedenkzeit Geniezeit Gerinnungszeit Gezeiten Gezeitenarme Gezeiten-kraftwerk Gezeitenkräfte Gezeitenreibung Gezeitenströmung Glanzzeit gleichzeitig GleitzeitGoldhochzeit Grippezeit Hafenzeit Halbwertszeit Halbzeit Hallstattzeit Haltezeit Hauptreise-zeit Hauptwaschzeit Heian-Zeit Herbstzeitlose Hilfszeitwort Hochzeit Hubble-Zeit Hungers-zeiten Inkubationszeit Innovationszeit Jagdzeit Jagdzeitenverordnung Jahreszeit JetztzeitJungsteinzeit Kaiserzeit Kalkulationszeitpunkt Kaltzeit Kamakura-Zeit Kampfzeit KarenzzeitKarnevalszeit Kernzeit Kinderzeit Kochzeit Kontaktzeit Kriegszeiten Kupferzeit Kurzzeitge-dächtnis Kurzzeitparker Kurzzeitphysik Ladenschlusszeiten Lagerzeit Landeszeit LandezeitLangzeitgedächtnis Langzeitparker Latenzzeit Laufzeit Laufzeiteffekt Laufzeitfehler Lauf-zeitröhren Lebenszeit Lehrzeit Leidenszeit Lichtzeit Liegezeit Mahlzeit MaschinenzeitalterMehrzeitformen Melkzeit Mittagszeit Mittelsteinzeit Morgenzeit Morgenzeitung Muromachi-Zeit Nachhallzeit Nachkühlzeit Nachlaufzeit Nachtzeit Nara-Zeit Nationalzeit NebenzeitNeuzeit Normalzeit Ortszeit Osterzeit Öffnungszeiten Parkzeit Pausenzeit Perihelzeit Perio-denzeit Pflanzzeit Pluvialzeit Probezeit Produktionszeit Prüfungszeit Raum-Zeit-Gefüge Raum-Zeit-Kontinuum Raum-Zeit-Krümmung Raumzeit Reaktionszeit rechtzeitig Refresh-Zeiten Regel-studienzeit Regenzeit Regierungszeit Reifezeit Reisezeit Restlaufzeit Restzeit RichtzeitRisseiszeit Rollzeit Rotationszeit Ruhezeit Rundenzeit Rüstzeit Saure-Gurken-Zeit Schla-fenszeit Schonzeit Schulzeit Siegerzeit Silberhochzeit Sommerzeit Sonnenzeit Sonntagszei-tung Spielzeit Sportzeitnahme Stammzeit Standardzeit Standzeit Startzeit Steinzeit Stern-zeit Stillzeit Stückzeitakkord Systemzeit Tageszeit Tageszeitung Taktzeit Tauchzeit Teil-zeit Teilzeitbeschäftigter Todeszeitpunkt Tragzeit Trockenzeit Trocknungszeit Uhrzeit Ultra-kurzzeitgedächtnis Umlaufzeit Unterbrechungszeit Unterrichtszeit Unzeit Urlaubszeit Urnen-felderzeit Urzeit Übungszeit Verdopplungszeit Verfallszeit Verschlusszeit Versicherungs-zeiten Verteilzeit Vertragslaufzeit Verweilzeit Verzögerungszeit Volkszeitung Vollzeit Voll-zeitbeschäftigung Vorlaufzeit Vorwaschzeit Vorwärmzeit Vorzeit vorzeitig Wahlzeit WarmzeitWartezeit Wassermannzeitalter Wehrdienstzeit Weichseleiszeit Weihnachtszeit Weltzeit Welt-zeituhr Wiederbeschaffungszeitwert Wikingerzeit Winterzeit Wochenzeitung Würmeiszeit Yedo-Zeit Zeit Zeitabbruch Zeitabgleich Zeitablauf Zeitakkord Zeitalter Zeitansage ZeitarbeitZeitartig Zeitaufteilung Zeitbegriff Zeitbeschränkung Zeitbestimmung Zeitblase ZeitblomZeitbombe Zeitbrücke Zeitdauer Zeitdilatation Zeitdruck Zeiteinheit Zeiteinteilung Zeit-empfinden Zeiten Zeitenfolge Zeitenwende Zeiterfassung Zeiterscheinung Zeitersparnis Zeit-fahren Zeitfehler Zeitfenster Zeitfolge Zeitform Zeitfrage Zeitfrist Zeitgeber ZeitgefügeZeitgefühl Zeitgeist Zeitgeisterscheinung zeitgemäß Zeitgenosse Zeitgeschehen Zeitgescheh-nisse Zeitgeschichte Zeitgesteuert Zeitgewinn zeitgleich Zeitgleichung Zeitgrenze Zeit-karte Zeitkonto Zeitkritik zeitkritisch zeitlich Zeitlimit Zeitlohn zeitlos Zeitlose Zeit-lupe Zeitmanagement Zeitmaschine Zeitmaß Zeitmessung Zeitnehmer Zeitparadoxon ZeitperiodeZeitplan Zeitpunkt Zeitraffer Zeitraum Zeitrechnung Zeitreihen Zeitreihenfolge ZeitreiseZeitrelais Zeitrente Zeitreserve Zeitschalter Zeitschaltuhr Zeitschiene Zeitschleife Zeit-schloss Zeitschrift Zeitschritt Zeitsignaturen Zeitsinn Zeitskala Zeitsoldat ZeitspanneZeitspiel Zeitsprung Zeitstrafe Zeitstrahl Zeittafel Zeittakt Zeitumkehr ZeitumstellungZeitung Zeitvergleich Zeitverlust Zeitverschiebung Zeitverschwendung zeitversetzt Zeitver-trag Zeitvertreib Zeitverzug Zeitvorgabe Zeitvorsprung Zeitvortrag Zeitwaage zeitweiligzeitweise Zeitwert Zeitwort Zeitzeichen Zeitzeuge Zeitzonen Zeitzünder ZeitüberbrückungZeitüberlauf Zeitüberschneidung Zeitüberschreitung Zerfallszeit Ziehungszeiten Zirkula-tionszeit Zonenzeit Zugriffszeit Zulu-Zeit Zwischeneiszeit zwischenzeitlich Zündzeitpunkt

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Inhalt Geteilte Zeit

Theater zwischen Entschleunigungsoase & Produktionsmaschine

Editorial | Über eine „emphatische Gegenwart“ – im Büro und auf der BühneUlrich Khuon: GrußwortBernhard Waldenfels: ZeitverschiebungHans-Thies Lehmann: Tick, TackKai van Eikels: Synchronisierung. Zum Gebrauch von ZeitdifferenzenHinderk M. Emrich: Die Verwandlung von Zeit in Gegenwart: ZeittranszendenzSabine Graf: Ununterbrochen unterbrochen. Zeitmanagement im InformationszeitalterMarkus Klimmer: Sieben Fragen zur ZeitökonomieSilke Riemann: Die 4. Dimension im FernsehenRainer Gruber: Das Drama der europäischen ZeitErnst Bechert: Raster und RepriseJohn von Düffel: Epische versus dramatische Zeit Alexander Karschnia: Theater als SonderzeitzoneSigna Sørensen / Sybille Meier: „Die Erscheinungen der Martha Rubin“Boris Nikitin: quality timeJoachim Schlömer: speed.neither/norElke Schmid / zeitraumexit: „400 STUNDEN NONSTOP“Brigitte Dethier / Christian Schönfelder: „Wie lang sind eigentlich 5 Minuten?“Klaus Schumacher: 2007: Odyssee im TheaterHartmut Rosa: Entschleunigungsoase und Erfahrungsraum Programm Symposion Geteilte Zeit Theater zwischen Entschleunigungsoase & ProduktionsmaschineNikolaus Müller-Schöll: Politik (in) der DarstellungHans-Friedrich Bormann: Für ein Theater der LangeweileMaren Butte: Zeit und AffektDirk Pilz: Was lange währt, wird manchmal schlechtPatrick Primavesi: Zeit, Theater und FestDitmar Schädel/Aljoscha Begrich/Jo Preußler: Stillgestellte Zeit, ZeitspurenHanne Seitz: Äon – Chronos – Kairos. Zeitenwende im Theater und anderswoSebastian Baumgarten: Humanes Gegengewicht gegen diese wahnsinnige Beschleuni-gung der GegenwartKerstin Evert: Zeit als künstlerischer Produktionsfaktor?Wagner-Feigl-Forschung: Time is a trick of the mindgeheimagentur: Prognosen über Bewegungen, kollektive Orakel und andere Formen derZeitmessungNora Khuon / Nicola Bramkamp / Kevin Rittberger: Entschleunigung! Christine Peters: Slow Production Matthias Rebstock: Für eine Haptik der ZeitNiels-Peter Rudolph: Zeit einrichtenKristina Stang: Die vierte DimensionTim Etchells: Mistakes, and stopping timeSprechSTUNDE Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlage e.V. NACHTSchwärmerDer Kleist-Förderpreis 2007 Laudatio von Roland Schimmelpfennig Stückauszug „HEIMLICH BESTIALISCH“ von Claudia GrehnBewerbung für den Kleist-Förderpreis 2008Kulturstiftung des Bundes: Fonds für internationale TheaterpartnerschaftenPolitisches Podium: Mit immer weniger immer mehr? Konsequenzen und Visionen für „Morgen“Karlheinz A. Geißler: Kulturpolitik als ZeitpolitikJohn Holloway: Die Zeit-RevolteUwe Schmidt: Das Symposion meditiert | ImpressumHeike Oehlschlägel: Assoziationen Zeitvertreib. Ein Vor-Bei-TragInformationen rund um die TagungDie Dramaturgische Gesellschaft [dg]

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Theater braucht Zeit – mal mehr, mal weniger. Langfristige Planung,intensive konzeptionelle Vorbereitung, konzentriertes und zuweilenlangwieriges Proben sind notwendig, um in TheateraufführungenAugenblicke zu Ewigkeiten zu dehnen und Epochen im Zeitrafferzu überfliegen. Lässt man ihm Zeit, kann Theater Zukunftslabor seinund Ort der Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Geschichte.Doch auch der Zuschauer als von Zeitnot geplagter Gegenwarts-mensch hat im Vorfeld eines Theaterbesuchs einen größeren Zeit-aufwand zu unternehmen und wird im Theater in ein anderes,außer-alltägliches zeitliches Koordinatensystem gespannt.Zeit hat im Theater also im Wesentlichen drei Implikationen: pro-duktions- bzw. rezeptionsästhetisch, institutionell und (kultur-)poli-tisch. Indem Theater alltägliche Zeitstrukturen einerseits künst-lerisch markiert und infrage stellt, ist es deren zunehmenderBeschleunigung andererseits immer stärker unterworfen – einBefund, den jeder Theaterleiter, Künstler, aber vor allem auch jede/rDramaturg/in (in ihrer/seiner heutigen Eigenschaft als Allesmacheroder „Multitasker“) bestätigen kann und der auch deutlich in unse-rer Umfrage unter Kollegen Ausdruck fand (dazu mehr im Anschlussan das Editorial).Wie aber verträgt sich das allgemeine Gefühl des Zeitmangels mitder viel diskutierten These des Soziologen Hartmut Rosa von der„Entschleunigungsoase Theater“– jenem „Erfahrungsraum“ also,der es uns gestattet, uns für einige Stunden nur auf eine Sache zukonzentrieren?

Auf ihrer Jahrestagung 2008 stiftet die Dramaturgische Gesell-schaft drei Tage Auseinandersetzung mit der nicht nur für die Thea-terarbeit eminent wichtigen vierten Dimension. Theaterexpertenund Fachleute aus Kunst, Wissenschaft, Kultur und Politik werdengemeinsam mit den Tagungsteilnehmern den Umgang mit dersozialen und ästhetischen Dimension von Zeit befragen und erpro-ben, um verschiedene Möglichkeiten und vielleicht sogar Alterna-tiven für einen anderen gesellschaftlichen und theatralen Umgangmit Zeit zu aufzuzeigen. Die drei oben genannten Bedeutungen,die Zeit im und für das Theater bzw. die Theaterarbeit haben kann,bilden dabei die Leitlinien unseres Tagungsprogramms:1. Der Umgang mit Zeit auf der Bühne in Schauspiel, Tanz, Operund Performance, 2. die Zeit, die wir für die Erarbeitung von Pro-duktionen aufwenden können – oder wollen –, und 3. die Funk-tion des Theaters in der „beschleunigten“ Gesellschaft.

Das Tagungsprogramm folgt einer ganz eigenen Zeitdramaturgie.Konnten Sie sich auf den letzten Tagungen schon daran gewöhnen,zwischen zwei oder drei verschiedenen Veranstaltungen zuwählen, treiben wir das Prinzip der Simultaneität diesmal auf dieSpitze: Nach den Reden und Gegenreden, mit denen das Pro-

gramm am Freitag und Sonnabend eröffnet wird, warten nichtweniger als acht Experten auf Sie, um mit Ihnen über „Zeit“ zureden. Da Sie gemeinsam mit diesen Experten an Tischen sitzen,die eine zwanglose Kommunikation und den direkten Gedanken-austausch ermöglichen sollen, haben wir diese Gesprächsrunden„Tischgespräche“ genannt. Damit Sie nun nicht fürchten müssen,all zu viel zu verpassen, werden die Experten nach jeweils 45Minuten die Tische wechseln, so dass sich Ihnen während einerVormittagsveranstaltung je zwei verschiedene Perspektiven aufunser Tagungsthema eröffnen.

Am ersten Tag wollen wir den Blick zunächst über das Theater hinaus lenken. Der Philosoph Bernhard Waldenfels wird in seinemEröffnungsvortrag die Zeit einer philosophischen Betrachtung unter-ziehen, bevor nach einem Koreferat des TheaterwissenschaftlersHans-Thies Lehmann an den Tischen mit Gesprächen über die Zeitaus vielfältiger wissenschaftlicher Perspektive begonnen wird. Nachdiesem theoretischen Versuch einer Begriffsklärung stellen amNachmittag, wieder in kleinen Kreisen, Theatermacher Projekte vor,die sich explizit dem Thema Zeit widmen.

Auch am folgenden Tag werden nach einem Vortrag von HartmutRosa und einem Koreferat des Theaterwissenschaftlers NikolausMüller-Schöll die Tagungsteilnehmer zunächst wieder an die Tischegebeten, um mit Theater-, Kunst- und Medienwissenschaftlern dieZeitstrukturen des Theaters unter ästhetischen Gesichtspunkten zuuntersuchen. Am Nachmittag werden die Präsentationen von Thea-ter- und Kunstprojekten zum Thema Zeit fortgesetzt. Ergänzt wirddas Nachmittagsprogramm durch Workshops mit Dramaturgen,Theaterpädagogen und Zeitforschern.

Der rege Zuspruch zur Veranstaltung zum Urheberrecht auf derTagung 2007 in Heidelberg hat uns ermutigt, die Kooperation mitdem Verband deutscher Bühnen- und Medienverlage fortzusetzen.Erstmals wird der Verlegerverband am Sonnabend eine Art „Sprech-stunde“ anbieten. Sie können bei den Verlegern ein Zeitfenster fürein persönliches Gespräch, eine Beratung, den Gedankenaustauschoder die Verhandlung für die nächste Uraufführung buchen.

2007 ging der Kleist-Förderpreis, gemeinsam verliehen von derStadt Frankfurt / Oder und der Dramaturgischen Gesellschaft, andie junge Autorin Claudia Grehn. Ihr Stück „HEIMLICH BESTIA-LISCH – I CAN WAIT TO LOVE IN HEAVEN“ wird am Sonntag ineiner Lesung vorgestellt. Anschließend soll es in einem Podiums-gespräch um die Frage gehen, welche Folgen der (nicht seltenselbst erzeugte) Zeitdruck, unter dem die Institution Theater heutesteht, für die Kunst hat.

Editorial„Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze“. Seit Schiller ist das Theater kaum wenigervergänglich, und obwohl die Welt viel effizienter geworden zu sein scheint, braucht das Thea-ter Zeit, wenn es Zeit gestaltet, von Zeit und Zeiten handelt. Theater ist Ausdruck von Zeitund repräsentiert Zeit. Vor allem ist Theater jedoch eine transitorische Kunst: Die Zeit derAufführung und ihrer Rezeption durch das Publikum fallen in eins.

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Wir alle kennen das Problem: Da öffnet sich auf einmal ein unge-ahntes Zeitfenster zwischen Probe, Sitzung und wieder Probe, dochirgendwie will es uns nicht gelingen, die Zeit tatsächlich zum Ent-spannen zu nutzen. Zum Ausklang unserer Tagung laden wir Siedaher herzlich ein, zusammen mit den anderen Symposionsteil-nehmern zu meditieren und so zeitbiologisch gestärkt in den Thea-teralltag zurückzukehren.Parallel zu den Vorträgen, Diskussionsrunden und Gesprächen offe-riert die Garage auf dem Gelände des Thalias in der GaußstraßeZeit zum Anfassen: In Zusammenarbeit mit der Bühnenraumklassevon Prof. Raimund Bauer, Hochschule für bildende Künste Hamburg,wird für die Tagung eine Installation zum Thema Zeit entstehen,die die vierte Dimension eindrücklich erfahrbar machen soll. Einproduktives Innehalten für alle, die sich, wie Goethe, vom rasanten,„veloziferischen“ Lebenstempo bedrängt fühlen.Natürlich bietet die Theaterstadt Hamburg an unserem Tagungs-wochenende ein umfangreiches Theaterprogramm, das vollstän-dig wahrzunehmen die Zeit wohl nicht ausreichen wird (siehe Pro-grammhinweise in der Mitte des Heftes). Es ist für uns ein glückli-cher Zufall, dass sich das Deutsche Schauspielhaus in dieser Spiel-zeit in einer Veranstaltungsreihe ebenfalls mit dem Thema Zeitbeschäftigt und einige der in diesem Rahmen entstandenen Pro-jekte im Zeitraum unserer Tagung auf den Spielplan gesetzt hat.Ausdrücklich hinweisen möchten wir auf den Empfang der deutsch-sprachigen Bühnenverleger, die wieder mit einem großzügigen Büf-fet den geselligen Austausch von Dramaturgen und Lektoren beför-dern möchten (Sonnabend ab 22:30 Uhr), sowie auf die dg-Mit-gliederversammlung. Wir hoffen auf zahlreiches Erscheinen.Abschließend bleibt allen zu danken, die unsere Jahrestagung 2008ermöglicht und für eine reibungslose Vorbereitung und Durch-führung gesorgt haben – zuallererst unserem Gastgeber, dem Tha-

lia Theater Hamburg und seinen mit der Vorbereitung der Tagungbesonders befassten MitarbeiterInnen, insbesondere Claus Caesarund Christa Müller, sowie der Freien und Hansestadt Hamburg, demDeutschen Bühnenverein und seinem Landesverband Nord sowieder ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

Der Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft

„Wo es nur Gegenwart gibt, wo tendenziell alles gleich-

zeitig wird, schmelzen die historischen Kontrastbegriffe

[...], ein neues ontologisches Grundmuster tritt hervor, das

auch seine eigene Zeitgestalt hat: die SZENE. Was in einer

Präsenzkultur allein noch Realität haben kann, ist ein sze-

nisch Gegebenes. So zeichnet sich ab, dass auch die Struk-

turverfallzeit, d. h. die Postmoderne, nach der großen Dif-

fusion sich szenisch wieder fängt. Die Organisationsarten

wandeln sich vom System zur Struktur, von der Struktur zum

Netz, vom Netz zur Szene. Für das Zeitverständnis besagt

dies: Die Zeiteinheit ist nicht mehr die natürliche Zeit,

nicht mehr die gemessene Zeit, sondern die szenische Zeit,

die Eigenzeit unseres szenischen Daseins. Damit wird die

Grundbegrifflichkeit der Choreografie, der Regie, des Thea-

ters zur Grundbegrifflichkeit einer neuen Lehre vom szeni-

schen Sein. [...] So ist die szenische Zeit auch nicht die

gemessene Zeit, aber auch nicht die Erlebte; es ist viel-

mehr die ZEIT DER SZENISCHEN TEILHABE, und das ist viel-

leicht auch das, was unser Bewusstsein definiert. Wer weiß

schon, wo wir sind, wenn wir szenisch sind?“

[Wolfram Hogrebe: „Zeitfragment. Wandlung der Zeiterfahrung in der

Gegenwart“. In: Theaterschrift: Zeit/Temps/Tijd/Time. Nr. 12/1997]

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Über eine „emphatische Gegenwart“ – im Büro und auf der Bühne

ben, in dem Zeit eine besondere Rollegespielt hat?

16 Dramaturginnen und Dramaturgen1 nahmen sich die Zeit (vor-geschlagen waren drei Minuten, um den für Dramaturgen gewohn-ten Zeitdruck zu gewährleisten), ihre Gedanken zu Papier zu bringen.Die anderen hatten bestimmt keine Zeit. Diejenigen, die uns schrie-ben, fügten fast immer ihrer Mail hinzu: „in aller Schnelle hier meineAntworten“, „da ich nur wenig Zeit habe, hier mein kurzes State-ment“ oder „mit etwas Verspätung schicke ich Ihnen ...“ – vielleichtohne sich bewusst zu sein, damit schon die Frage nach der verfüg-baren Zeit zu beantworten.Tatsächlich ergibt sich aus der eingegangenen elektronischen Postein wenig überraschendes Stimmungsbild: Zu wenig Zeit für zu vielArbeit. Zu wenige Leute für zu viel Arbeit. Zu wenig Konzentration,zu wenig Muße, zu wenig Lesezeit. Zu wenig Gesprächs-, Entwick-lungs- und Freizeit. Der Dramaturgenalltag erscheint als „ewigerZustand der Eskalation: die Deadline naht, das Bewusstsein der

Bevor wir das Feld weit öffnen, Experten aus Soziologie, Philoso-phie und Neurologie, Sozialwissenschaftler, Physiker und Unter-nehmensberater zum Thema Zeit befragen, wollten wir es von denKollegen und Kolleginnen genau wissen. Selbstverständlich be-dienten wir uns des schnellsten asynchronen Kommunikations-mediums der Zeit, der E-mail. Folgende Fragen erreichten im Okto-ber 2007 die Dramaturgien deutschsprachiger Sprechtheater:

1. Inwiefern spielt Zeit für Ihren Berufeine Rolle und was hat sich dabei für Sieverändert?2. Wofür verwenden Sie in Ihrem Berufhauptsächlich Zeit?3. Wofür fehlt Sie Ihnen?4. Welche Bedeutung kann Zeit auf der Bühnehaben?5. Können Sie eine Aufführung bzw. einTheatererlebnis nennen und kurz beschrei-

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Deadline, des drohenden Zusammenbruchs oder des Gelingens“verbunden mit der wachsenden „Furcht, dass man irgendwann nurnoch fähig ist, so zu arbeiten“ [Henrik Adler, Berliner Festspiele].Erstaunlicherweise beziehen aber die Wenigsten die 3. Frage aufihre Lebenszeit, sondern zumeist auf die fehlende Zeit in ihremBeruf. Für einige Kollegen ist auch gerade die fehlende Trennung– Lebenszeit = Arbeitszeit – problematisch. Allein acht von 16Kolleginnen und Kollegen vermissen Zeit zum Lesen. Dr. MichaelBaumgarten aus Greifswald löst dieses Problem so: „Zur Zeit geheich wenigstens nachmittags noch nach Hause, um für den kom-menden Spielplan Stücke lesen zu können.“ Die Gestaltung einesSpielplans, das Kerngeschäft der Dramaturgen, erfordert Freiraumzu frischem Denken und Zeit, um zu lesen, das Gelesene zu reflek-tieren und im Team zu diskutieren. Sich Zeit „nehmen“ – woher,wenn nicht stehlen? Wo ist der Schrank, den man öffnen kann,ohne dass einem hundert ungelesene Stücke entgegen fallen, son-dern der freie Zeit in seinen Fächern liegen hat?

Oder handelt es sich um reines Selbstmitleid, ein stetig wachsen-des Lamento der Überforderung, das aus den Dramaturgien aller-orten nach außen dringt? Sind wir nicht alle selbst verantwort-lich für unsere Zeitgestaltung? Gibt es nicht auch 12-Stunden-Tage, in denen jede Minute produktiv genutzt wurde und die unsbeglückt das letzte Bier in der Kantine trinken lassen? Tage, indenen wir zwar eilen, aber sehen, dass die Arbeit nicht über unse-rem Kopf zusammenschlägt, sondern aus unserem Kopf den Wegauf die Bühne findet? Oder auch Tage, an denen wir früher nachHause gehen, weil wir es irgendwie geschafft haben, unsere To-do-Liste effizient abzuarbeiten? Beschleunigte Zeit als Chance: Bri-gitte Ostermann aus Zittau formuliert diese Herausforderung so:„Mir graut es bei ein bisschen Zeit zum Nachdenken davor, zu vielZeit zu haben. Mit Zeitdruck als Herausforderung entsteht oftSpannendes.“ Der aktive Umgang mit erhöhter Arbeitsgeschwin-digkeit muss sich im Produkt niederschlagen: Wird es in Zukunftmehr „Schnellschüsse“, Skizzen, kürzere Proben- und Laufzeitenund flottere, unaufwendigere Projekte geben? Liegt der Charme imUnvollkommenen und im Mut, eventuell Unfertiges zu präsentie-ren? Bei aller Offenheit, neue Wege des beschleunigten Produzie-rens zu gehen: Bei vielen bleibt das Gefühl der Überforderung undder Frustration im „Kampf mit dem eigenen Qualitätsanspruch“,denn: „Leistung = Arbeit durch Zeit“, lautet die Gleichung beiFrederik Zeugke aus Stuttgart. Die Antworten des Fragebogensbenennen vielerlei Gründe dafür: Unterbesetzung in der Abteilung,zu viele Projekte und Sonderveranstaltungen, Entgrenzung desBerufsbildes in Richtung Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltung.Dramaturgen sind schon lange nicht mehr nur „Anwälte des Tex-tes“. Sie sind heute Projektleiter, Moderatoren, Theaterpädagogen,Partner für das jeweilige Regieteam, Rechercheure, Akquisiteure,Bibliotheksgänger, Verwalter, Organisatoren. Doch der Zeit-Schrank hat demgegenüber keine neuen Fächer bekommen. Freun-de und Familien fordern ein, dass auch Ihnen Zeit gewidmet wird.Die Zeit ist dabei unser Feind, sie ist immer die Abwesende.

Beim genauen Lesen der Antworten auf die 4. und 5. Frage, die sichauf die Zeit auf der Bühne und in der Erzählweise einer Inszenierungbeziehen, fällt eine Formulierung besonders auf: „Die Zeit ist ein

Partner. Wir können mit ihr spielen“ [Christoph Meier-Gehring,Staatstheater am Gärtnerplatz, München]. Gleich fünfmal findet sichdieses Bild der Partnerschaft in den Antworten – aber eben nur imästhetischem Zusammenhang, auf der Bühne, wo Zeit wie ein Ver-bündeter gestaltet und genutzt wird, um Vorgänge und Atmos-phären zu intensivieren, zu dehnen, zu raffen, still stehen zu lassenoder zu vergrößern. In solch konzentrierten Bühnen-Zeit-Momen-ten wird Zeit zum Ereignis, es entsteht eine „einzigartige Kraft“[Meier-Gehring], ein Moment der „emphatischen Gegenwart“[Adler] und des Gefühls, „ganz da, ganz bei mir und gleichzeitigganz woanders zu sein“ [Adler]. Auf der Bühne kann Zeit alles sein:„gelebte Relativitätstheorie. Endlose Ratlosigkeit. VorübergehendeUnschlüssigkeit. Sekundenaufblitzende Erkenntnis. Erkenntnis vollGlück, Sinnlichkeit und Ewigkeit.“ [Zeugke].Es gibt kein Patentrezept, wie man sich die Zeit nicht nur auf derBühne, sondern auch in seinem Berufsalltag zum Verbündeten undPartner macht. Es kann nur ausprobiert, erfahren und erkannt wer-den, was wie lange braucht und warum. Und immer wieder mussjeder für sich entscheiden: Wie sehr lasse ich den vermeintlichenMangel an Zeit meine Arbeit und meine Freizeit bedrängen? Waswill ich verändern? Das Zeit-Problem lässt sich kaum durch eine noch größere Kon-trolle der Zeit lösen. Der Zeitforscher Karlheinz A. Geißler sprichtin diesem Zusammenhang von „Zeitwohlstand“ und einer „Kul-tur der Zeitvielfalt“. Es geht ihm um die Möglichkeit, Eigenzeit zuerleben, flexibel mit Zeitvorgaben umzugehen, das Tempo im All-tag selbst zu beeinflussen, sein Umfeld rhythmisch zu organisierenund Zeitsouveränität im Arbeitsprozess zu erhöhen.

Unsere Tagung beleuchtet in zahlreichen Tischgesprächen und künst-lerischen Projektpräsentationen viele Aspekte des Themas Zeit – las-sen Sie sich auf dieses zeitraubende, zeitstiftende Unterfangen ein,nehmen Sie sich Zeit für Gespräche und verbringen Sie die Tagungfrei nach John Holloway, dessen revolutionäre Thesen wir Ihnen aufSeite 64 vorstellen: „Mit der Dauerhaftigkeit zu brechen, bedeutetjeden Moment als einen Moment der Möglichkeit zu öffnen, zu ver-suchen, jeden Moment aus dem allgemeinen Fluss der Zeit zu hebenund ihn über seine Beschränkungen hinaus zu drängen.“

[Auswertung der Fragebögen: Birgit Lengers und Amelie Mallmann]

PS. Die Abfolge der Beiträge in diesem Heft entspricht der Tagungs-chronologie und dient so hoffentlich der zeitsparenden(!) Orientierung.Sie möchten Ihre Zeit nicht sparen, Sie möchten sie vertreiben? Dannladen wir Sie am Ende dieses Heftes ein zu Heike Oehlschlägels „Vor-Bei-Trag“, ein Gedankenspaziergang mit „dahintreibenden Assozia-tionen und literarischen Fundstücken“. Lassen Sie sich treiben!

1 Geantwortet haben uns: Henrik Adler [Berliner Festspiele], Dr. Michael Baumgarten

[Theater Vorpommern], Christine Besier [Düsseldorfer Schauspielhaus], Judith Eimannsber-

ger [Theater Baden-Baden], Christoph Maier-Gehring [Staatstheater am Gärtnerplatz,

München], Patricia Nickel [Theater Osnabrück], Brigitte Ostermann [Gerhart-Hauptmann-

Theater, Zittau], Caren Pfeil [Landesbühne Sachsen], Jürgen Popig [Theater Osnabrück],

Christian Scholze [Westfälisches Landestheater], Susanne Schulz [Anhaltisches Theater

Dessau], Dr. Thomas Spiekermann [E.T.A-Hoffmann-Theater, Bamberg], Angelika Stübe

[Deutsches Schauspielhaus Hamburg], Frederik Zeugke [Staatstheater Stuttgart]

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ich freue mich sehr, dass das Thalia Theater und die Stadt Ham-burg Gastgeber der diesjährigen Jahrestagung der Dramaturgi-schen Gesellschaft sind – zum einen, weil ich als Intendantselbst großen Wert auf eine starke Dramaturgie und die dra-maturgische Ausrichtung unserer Theaterarbeit lege. Darüberhinaus denke ich, dass Hamburg mit seinen vielen Theatern undderen vielfältigen Ansätzen für Dramaturgen ein lohnendes Rei-seziel ist. Wenn dann noch die Studenten der Hamburger Hoch-schule für bildende Künste und der Theaterakademie Hamburg,Intendanten, Kulturpolitiker sowie das Publikum vom gegensei-tigen Austausch profitierten, würde ich mich sehr freuen.

Die letzte Jahrestagung zum Thema „Theater und Bildung“ hat gezeigt, dass innerhalb derDramaturgischen Gesellschaft zur Zeit eine engagierte Recherche stattfindet, die ihr Zielerreicht, relevante künstlerische und gesellschaftliche Fragen nicht nur für die Dramatur-gie, sondern auch für das Theater insgesamt aufzuwerfen.

Das Thema Zeit – wie viel Beschleunigung ist notwendig, wie viel ist hinderlich für qua-litativ hochwertiges Arbeiten? – erscheint mir eines der derzeit wichtigsten. Der bevor-stehenden Jahrestagung wünsche ich gute Gespräche und erfolgreiches Arbeiten undden Teilnehmern, dass sie sich bei uns wohl fühlen!

In diesem Zusammenhang darf ich auch den Unterstützern, dem Deutschen Bühnenver-ein, dem Landesverband Nord des Bühnenvereins, der Freien und Hansestadt Hamburgund der ZEIT-Stifung Ebelin und Gerd Bucerius, ganz herzlich danken, dass sie diese Unter-nehmung durch ihre Hilfe möglich machen.

Haben Sie anregende und schöne Tag in Hamburg!

Ihr Ulrich KhuonIntendant

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Mitglieder der DramaturgischenGesellschaft,

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Prof. Dr. Bernhard Waldenfels,1934 geboren, Philosoph mitden ForschungsschwerpunktenPhänomenologie, Leiblich-keit, Grenzfragen der Phäno-menologie und Psychoanalyse.Waldenfels beschäftigt sichin seinen Veröffentlichungenschwerpunktmäßig mit einerresponsiven, leiblich veran-kerte Phänomenologie und denPhilosophen Husserl undSchütz, sowie der neuerenfranzösischen Philosophie(bes. Derrida, Foucault,Levinas, Merleau-Ponty). Von1976 – 1999 ordentlicher Pro-fessor für Philosophie ander Ruhr-Universität Bochum. Veröffentlichungen (u. a.):„Spiegel, Spur und Blick. Zur Genese des Bildes“,Köln: Salon Verlag 2003. „Phänomenologie der Aufmerk-samkeit“, Frankfurt/M.:Suhrkamp 2004. „Schattenris-se der Moral“, Frankfurt/M.:Suhrkamp 2006. In Kürzeerscheint „Leben in Raum undZeit“ (Suhrkamp)

Die Zeitverschiebung, von der hier die Rede ist, lässt sichzwiefach verstehen, als eine Verschiebung der Zeit selbst und alseine entsprechende Bedeutungsverschiebung. Die folgenden Über-legungen beginnen mit einer allgemeinen Orientierung, die derOrdnung der Zeit gilt, und sie gehen dann über auf spezifischePhänomenfelder, in denen die Zeit ihre Wirkung entfaltet.

1. Logos der ZeitDer Logos der Zeit ist zu verstehen als die Art und Weise, wie wir Zeit denken, von ihrreden, sie vorstellen und darstellen, und dies alles bezogen auf eine Zeiterfahrung, die wiealle Phänomene „zur Aussprache ihres eigenen Sinnes“ zu bringen ist (Hua I: 77).Die älteste Zeitrede findet sich im Mythos. Kronos ist bekannt als ein Gott, der seine eige-nen Kinder verschlingt, ein Gott, älter als Zeus. Hier zeigt sich die Zeit als Macht, die sichim Entstehen und Vergehen, im Altern als einem Nachlassen und Zerfall der Kräfte äußert.Manches davon lebt in der Dichtung fort: „Spute dich, Kronos! Fort den rasselnden Trott!“– in Goethes „An Schwager Kronos“ adressiertem Gedicht wird dieser in seiner Fernnähebeschworen. In Virginia Woolfs Mrs. Dalloway ist es der Glockenschlag von Big Ben, derden Tagesablauf des Romans skandiert1. Oder schließlich Octavio Paz in seiner Piedra de Sol:„mientras el tiempo cierra su abanico“ – „während die Zeit zusammenklappt den Fächer“.2

Die Einwirkungen und Auswirkungen der Zeit sind älter als der Logos, der auf das Werkder Zeit antwortet, ihm eine Ordnung abzugewinnen versucht.Die klassische Zeitordnung, die jahrhundertelang unser Denken bestimmt hat, entwickeltbestimmte Bewältigungsstrategien, die der Macht der Zeit entgegenwirken. Dabei lassensich drei grundlegende Aspekte unterscheiden.

(1)An erster Stelle steht der Versuch einer gewissen Entmythologisierung. Zeit erscheintnicht länger als ein Wer oder Was, hinter denen ein Zeitherrscher oder eine anonymeZeitmacht steht, sondern sie erscheint als Wie, als Modus, als Schema; sie tritt an etwasoder an jemandem auf, nicht mehr in eigener Regie. Den großen Auftakt bildet einerseitsAristoteles, der aus der kosmischen Kinesis eine physische Zeit gewinnt, andererseitsAugustinus, der aus dem Zeiterleben der Seele eine psychische Zeit entfaltet. [...](2) Der Modus der Zeit wird immer wieder binären Ordnungsschemata wie Außen undInnen, Physis und Psyche, Materie und Form unterworfen.(3) Die Zeit wird selbst als Glied einer Opposition gedacht. Die wirkungsvollsten Oppo-sitionen sind die von Zeit und Raum (Nacheinander vs. Auseinander), von Zeit und Ewig-keit (Fließen vs. Stehen, Zeitfluß vs. nunc stans). Auf diese Weise wird die Macht der Zeitgezähmt. Man ist ihr als menschliches Lebewesen ausgeliefert, nicht aber als Denkender.

Diese klassische Zeitordnung weicht allmählich einer radikalen Zeiterfahrung, die dazu führt,dass der Logos sich selbst in einen „Logos der ästhetischen Welt“ wandelt (vgl. Hua XVII:297). Dabei kommt es zu einer Umgestaltung der klassischen Zeitvorstellung.(1) Fortan ist die Zeit [...] maßgeblich an der Bildung, Gestaltwerdung und Realisierungvon etwas (Objekt), von jemandem (Subjekt) und von Sinn (Ordnungen) beteiligt. DieseMomente, die noch Karl Popper auf drei Welten aufteilt, haben jeweils ihre zeitliche Seins-weise. Die Zeitlichkeit erweist sich als Generator von Identität. (2) Die Zeit fällt nicht län-ger unter binäre Schemata, sie erweist sich selbst als differierend im Sinne von Verzöge-rung, Verschiebung oder Aufschub. (3) Die Zeit befreit sich von der Opposition zu zeitlo-sen Instanzen; sie verwickelt sich in sich selbst in Form einer Selbstbezüglichkeit, die zur

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Selbstverdoppelung und Selbstvervielfältigung führt. So bemerktHusserl zu Beginn seiner Zeitvorlesungen (Hua X: 22), „daß dieWahrnehmung eines zeitlichen Objekts selbst Zeitlichkeit hat, daßWahrnehmung der Dauer selbst Dauer der Wahrnehmung voraus-setzt“, und Merleau-Ponty spricht in seinen späten Schriften voneinem „Wirbel“ der Zeit.3 Hier zeichnet sich eine Phänomenologieder Zeit ab, mit teils zunehmender, teils wechselnder Radikalität,wobei die Zeit sich mit dem, was sie bestimmt, chiasmatisch ver-schränkt: als Bewusstsein der Zeit und Zeit des Bewusstseins beiHusserl, als Sein und Zeit sowie Zeit und Sein bei Heidegger, alsLeib oder Fleisch der Zeit und Zeit des Leibes bei Merleau-Ponty,als Zeit des Anderen und Andersheit der Zeit bei Levinas und Derrida,als Erzählzeit und erzählte Zeit bei Ricœur. [...]

2. Zeit der SinneSollte es eine Erfahrung der Zeit geben, so muss die Zeit in irgend-einer Weise auf die Sinne bezogen sein, auf etwas also, das unsaffiziert, das uns gegeben ist und auf unsere Antwort wartet. Kön-nen wir von einer wahrgenommenen Zeit ausgehen, die wir sehen,hören und tasten oder die wir zumindest mitsehen, mithören, mit-tasten? Es fragte sich dann, was wir unter Wahrnehmung verste-hen und wieweit die Zeit in die Wahrnehmung selbst eindringt.Beschränken wir die Wahrnehmung auf ein passives Rezipieren oderRegistrieren, so haben wir es lediglich mit physischen Daten zu tun,mit Eindrücken oder Gegenständen, die in der Wahrnehmung wirk-lich gegenwärtig sind, sich also auf eine Punktualität des Zeitau-genblicks reduzieren, ohne dem Zeitablauf gerecht zu werden. EineRettung verspricht der Übergang zur psychischen Zeit, da die Psycheimstande ist, auch Nichtgegenwärtiges und Nichtwirkliches vorzu-stellen. Sie tut dies, indem sie ihre eigenen Erlebnisse in einemNacheinander und Ineinander anordnet, und dies im Gegensatz zumAuseinander der räumlichen Dinge. Mit diesem Übergang zu einerdistentio animi, zu einer Anschauungsform des inneren Sinnes odereiner unausgedehnten durée bei Augustinus, Kant und Bergsongeraten wir in die schon erwähnten Oppositionen, wobei der inne-re Sinn und mit ihm die Zeit gegenüber dem äußeren Sinn und demRaum bevorzugt wird. Diese Bevorzugung entspringt einer Steige-rung der Gegenwart. Indem der Geist sich in sich selbst sammelt undaus der Zerstreuung zu sich selbst zurückkehrt, nähert er sich einerAllgegenwart, in der die Zeit mehr und mehr aufgehoben wird. DiesePrivilegierung des Innen gegenüber dem Außen findet seinen Nie-derschlag in der traditionellen Hierarchisierung der Künste, die sichvon den Niederungen der bildenden Künste über die Tonkunst zurreinen Wortkunst erhebt. Der Vergeistigung entspricht eine Ent-räumlichung und Entzeitlichung. [...]

Eine Revision, die sowohl die Verinnerlichung wie auch die Ver-äußerlichung der Zeit hinter sich lässt, bahnt sich an, sobald wirvon der Leiblichkeit der Sinne ausgehen. Die Alternative von passi-ver Gegebenheit und aktiver Setzung verliert hier ihre Kraft. Wahr-nehmung, die in einem leiblichen Hier und Jetzt verankert ist, voll-zieht sich als Selbstbewegung, als Kinästhese. Dieser traditionelleAusdruck, den Husserl aufgreift, bedeutet nicht etwa Bewegungs-empfindung, sondern sich bewegendes Empfinden.4 Im Hinsehen,Hinhören, Abtasten, Abschmecken oder Beschnuppern antwortetmein Leib auf das, was hervortritt, was mir auffällt, was mich über-

rascht und mich leiblich affiziert. In der Wahrnehmung wird die Weltinszeniert und nicht lediglich in ihren Einzelheiten registriert. DieZeit ist hierbei mehrfach beteiligt, so schon in der Zeit des Blicks,im Augenblick, der der Redezeit gleicht. Der Blick, der seinen Bewe-gungsimpuls von anderswoher empfängt, geht sich selbst vorausund kommt auf sich selbst zurück in Form eines Vor- und Rückblicks.

Die Zeitlichkeit der Sinne lässt sich aber auch noch aus einer anderenPerspektive beleuchten, nämlich ausgehend von der Bewegungs-gestalt des Rhythmus.5 Der Rhythmus, seinem ursprünglichen Wort-sinn nach eine Art des Fließens, bezeichnet seit Platon die Ordnungder Bewegung (taxis tes kineseos), die der Bewegung Form undMaß gibt (vgl. Nomoi 664 e – 665 a), und bei Aristoteles setzt sichdies fort, wenn er in der Physik die Zeit als „Zahl der Bewegung nachdem Vorher und Nachher“ bestimmt. Das Zählen, von dem hier dieRede ist, setzt zählbare, diskrete Einheiten voraus, und der Rhyth-mus erfüllt eben diese Funktion einer Artikulation der Bewegung.Zum Rhythmus gehört die Wiederkehr des Gleichen, die durch denTakt markiert wird. Bliebe alles gleich oder flösse alles ineinanderund würde sich nichts vom anderen abheben, so gäbe es keinenRhythmus. Man würde immer in denselben Fluss steigen, und selbstdiese Selbigkeit hätte nichts, wovon sie sich abheben könnte. Indiesem Sinne übernimmt der Rhythmus eine elementare ordnungs-stiftende Funktion. Einer besonderen Beachtung erfreut sich dasPhänomen des Rhythmus im Bereich periodisch und zyklisch wie-derkehrender Lebensvorgänge und im Bereich der Hörkunst, die alsMelos und Rhythmus bis in die Wortklänge hineinreicht. [...]

Die Wiederkehr des Gleichen stellt sich zugleich als Wiederkehr desUngleichen dar. Dabei ist zunächst entscheidend, dass der Rhyth-mus als Gliederung des Zeitablaufs Ordnung erzeugt und verän-dert. Wenn wir die Genese der Ordnung beachten und uns nichtauf den Boden einer fertigen Ordnung stellen, so bedeutet Rhyth-mus nicht nur: Es gibt etwas, was sich wiederholt, sondern es bedeu-tet auch: etwas gibt es nur, indem es sich wiederholt.Auf diese Weisewird hinter der bestehenden eine entstehende Ordnung sichtbar.Etwas ist nicht identisch, sondern es wird identisch, es wird identi-fiziert, indem unsere Erfahrung immer wieder auf etwas als etwaszurückkommt (vgl. Hua I, §18).Wiederholung macht gleich, was nichtgleich ist. In diesem Sinne bedeutet Wiederholung eine verändern-de Wiederholung, eine „Wiederkehr des Ungleichen als eines Glei-chen“.6 Anders als Platon meint (Politeia 400 c – d), steigert sich derRhythmus niemals zu einer reinen Eurhythmie, sondern er ist stetsmit Momenten einer Arrhythmie durchsetzt. [...]Der Rhythmus der Sinne hat seine Bedeutung schließlich auch inder Sprache, und zwar auf der Ebene einer Vorsprache, die sich dies-seits der Bedeutungsschwelle bewegt, obwohl sie diese ständigstreift. Damit etwas als etwas wiederkehren kann, muss immer schonetwas wiederkehren. [...] Die Rhythmik, die hier am Werk ist, führtzu einer offenen Sinn- und Selbstbildung, die durch die Sinne hin-durchgeht. Dieser ‘Sinn der Sinne’ hat stets einen zeitlichen Aspekt.

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3. Zeit des Vergessens und ErinnernsIm Vergessen und Erinnern begegnet uns unmittelbar die Wirk-mächtigkeit der Zeit und nicht nur ihre Ordnung. Hierbei kommt demVergessen ein Vorrang zu: ohne Vergessen kein Erinnern. Das Ver-gessen ist ein sperriges Phänomen, es passt nicht in die geläufigenSinn- und Geltungsschemata. Das Vergessen geht uns an, aber alsintentionaler Akt oder als regelgeleitetes Verhalten lässt es sichnicht verstehen;Vergessen gehört zu dem, was uns zustößt, was unswiderfährt wie ein Unglücksfall, ein accident. [...]Doch nicht jedes Vergessen bringt uns aus der Fassung. Es lassensich verschiedene Grade des Vergessens unterscheiden, denen ver-schiedene Stufen der Vergangenheit entsprechen. Es gibt das nor-male Vergessen dessen, was einmal zur Verfügung stand; hier han-delt es sich um eine Art von Verlernen, in dem das Lernen rückgän-gig gemacht wird. Was sich uns eingeprägt hat, verliert seine Prä-gung. Davon zu unterscheiden ist ein Vorvergessen dessen, was nie-mals bewusst durchlebt oder gar geplant wurde, so etwa die eige-ne Kindheit, Träume, Rausch- und Wahnzustände oder Gedächtnis-löcher, die wir umkreisen wie einen Strudel, dem wir uns nicht völ-lig entziehen können. Schließlich steht im Hintergrund ein Urver-gessen, in dem das Vorvergessen seine äußerste Grenze erreicht, soim Falle der Geburt, in der wir laut Platon aus dem Flusse Lethetrinken, und die, weniger mythisch gesprochen, eine „Urvergan-genheit“ darstellt, „die nie Gegenwart war“.7 Diese Urvergessen-heit äußert sich als eine originäre, unaufhebbare Form der Verspä-tung, die unsere Existenz durch und durch bestimmt und sie mit demzeitlichen Index eines ‘apriorischen Perfekts’ versieht.8 Diese unauf-hebbare Verspätung wiederholt sich in allen einschneidenden Ereig-nissen, deren Wirkung ihrer Erfassung, Deutung oder Bewältigungvorausgeht, und sie wiederholt sich auf besonders intensive Weisein der Nachträglichkeit traumatischer Erfahrungen, die uns an dieVergangenheit fesseln. [...]Ebenso wenig wie das Vergessen beginnt das Erinnern mit einemAkt, etwa mit einem Akt der Beobachtung oder mit einer Neupro-grammierung. So wie mir etwas überhaupt einfällt, fällt mir etwasauch wieder ein. Die Erinnerung wird geweckt, nicht gemacht. Hier-bei kommt Fremdes ins Spiel, das nicht unserer eigenen Initiativeentstammt. Das Wiedererinnern, das sich weder erzwingen nochbefehlen läßt, stellt sich ebensowenig wie das Vergessen als inten-tional gezielter Akt oder als regelgeleitetes Verhalten dar. Das Wie-dererinnern beginnt als Wiederaufnahme, als Wiederaufführung,als reprise, als ein analambanein, wie es in den platonischen Textenzur Anamnesis heißt. [...]

4. Zeit des AnderenDie zeitliche Verschiebung, die uns schon in der eigenen Rede begeg-net, verstärkt sich, wenn wir bedenken, wie eigene und fremde Redesich ineinanderschieben. Die Zeitlichkeit gewinnt damit eine weite-re Dimension. Es tritt der soziale Charakter der Zeit hervor, der unsveranlasst, von Zeitgenossen, von Vor- und Nachfahren zu sprechen.Schon das Andenken der Erinnerung fällt in diese neue Dimension.

In diesem Zusammenhang setzt Levinas der Synchronie des Sinneseine Dia-chronie entgegen, die den klassischen Dia-log aus denAngeln eines einheitlichen Logos hebt.9 Auch im klassischen Dialog,wie er uns von Platon bis Gadamer in aller Stärke vorgeführt wird,gibt es zwar eine Zeitverschiebung, da Geben und Nehmen des Wor-tes einander ablösen. Doch diese Verschiebung ist nur eine relative,eine vorläufige Bewegung innerhalb eines durchgehenden Sinnge-schehens. Das Hier und Jetzt wird koordiniert und synchronisiert imHinblick auf ein und dieselbe ‘Sache selbst’, die sich in verschiede-nen Aspekten und Perspektiven enthüllt, oder es wird entkräftet imHinblick auf argumentativ zu erprobende Geltungsansprüche. DieReziprozität der Perspektiven, so Alfred Schütz, die Reversibilitätder Standorte, so Jean Piaget, sorgen dafür, dass eigene und frem-de Stimme, eigener und fremder Blick in einer Dialektik von Selbig-keit und Andersheit ihre Fremdheit einbüßen. Sie setzt sich fort in derklassischen Auffassung von Geschichte als Weltgeschichte, die Eige-nes und Fremdes im gemeinsamen Werk vermittelt. [...]Diachronie bedeutet demgegenüber, dass zwischen fremdemAnspruch und eigener Antwort, zwischen fremder und eigener Redeein Hiatus klafft, der den gemeinsamen Redefluss unterbricht. DerGedankenstrich, der Anspruch und Antwort voneinander trennt,lässt sich nicht in einen Bindestrich verwandeln. Der fremdeAnspruch bedeutet eine originäre Vorgängigkeit, die nicht von derGegenwart her vorwegzunehmen ist, während die eigene Antwortin einer ebenso originären Nachträglichkeit auftritt, die nicht in dieGegenwart aufzuheben ist. In diesem Sinne hat die Antwort, dieanderswo beginnt, stets etwas Traumatisches. Was in die Erfah-rung eingeschrieben, eingeritzt ist, entfaltet sich nicht zwangloswie eine aufgehende Blüte. [...]Die Synchronie, die auf eine einheitliche Zeitrechnung hinausläuft,reicht nur soweit, als der Gedanken- und Willensaustausch inner-halb einer Ordnung verbleibt; sie verliert ihre synthetische Kraft,wo die Grenzen der Ordnung überschritten werden. Wo etwas zurSprache kommt, was nicht schon in ihr vorkommt, stoßen wir aufUnerwartetes. Es kommt zu Zeitbrüchen, die unsere Zeiterfahrungin Heterochronien auseinandertreten lassen.10 Zeitschwellen, diewir nie hinter uns lassen, ermöglichen und erfordern, dass mannicht nur Zeit braucht, sondern auch Zeit gibt, dass man überhauptgibt, was man nicht schon hat, dass es etwas gibt, was nicht schonauf festem Grund steht.

Alles in allem leben wir zeitlich, wie wir leibhaftig existieren. Esgibt kein zeit- oder leibloses Außerhalb, wohl aber ist das Zeitge-schehen selbst durchsetzt mit Verzögerungen, Aufschüben, mitRitartandi jeglicher Art. Zeit differenziert sich selbst, sie verdich-tet sich in der Gegenwart, doch kulminiert sie nicht in ihr. Dieseinnere Differenzierung hat zur Folge, dass wir uns hier und jetztzugleich anderswo und anderswann befinden. Hier öffnet sichimmer wieder der Spalt für andere Zeiten: kein nunc stans, wohlaber ein nunc distans.

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Fußnoten 1 Vgl. hierzu die Interpretation dieses Zeit-Romans in

Ricœur 1984, dt. 1989.

2 Paz 1990: 122f.

3 Zur Zeitauffassung von Merleau-Ponty vgl. meinen

zusammen mit Regula Giuliani verfassten Beitrag „Wir-

bel der Zeit“, in: Waldenfels 2005.

4 Vgl. Straus 1956.

5 Mehr dazu in Kap. 3 meiner Schrift „Sinnesschwellen“.

6 Zu dieser Formulierung, die ich in bewusster Anknüpfung

an Nietzsche gewählt habe, vgl. Waldenfels 1987: 64.

7 Merleau-Ponty 1945: 280, dt. 283.

8 Heidegger 71953: 85.

9 Vgl. Levinas 1974, dt. 1992, passim.

10 Schon Husserl spricht davon, dass Retention und Wahr-

nehmung „verschiedenzeitig“ sind (Hua X: 205).

BibliographieHeidegger, Martin (71953): „Sein und Zeit“, Tübingen: Nie-

meyer.

Hua= Husserl, Edmund (1950ff.): „Husserliana“, Den Haag/

Dordrecht: Nijhoff.

Levinas, Emmanuel (1974): „Autrement qu’être ou au-delà de

l’essence“, La Haye: Nijhoff. (Deutsch: „Jenseits des

Seins oder anders als Sein geschieht“, übersetzt 1992

von Wiemer, Thomas, Freiburg/München: Alber.)

Merleau-Ponty, Maurice (1945): „Phénoménologie de la per-

ception“, Paris: Gallimard. (Deutsch: „Phänomenologie

der Wahrnehmung“, übersetzt 1966 von Boehm, Rudolf,

Berlin: de Gruyter.)

Merleau-Ponty, Maurice (1964): „Le visible et l’invisible“,

Paris: Gallimard. (Deutsch: „Das Sichtbare und das

Unsichtbare“, übersetzt von Giuliani, Regula und Walden-

fels, Bernhard, München: Fink, 1986.)

Paz, Octavio (1990): „Gedichte“, übertragen von Vogelsang,

Fritz. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Ricœur, Paul (1984): „Temps et récit“, Bd. II: „La configura-

tion dans le récit de fiction“, Paris: Seuil. (Deutsch:

„Zeit und Erzählung“, Bd. II: „Zeit und literarische Erzäh-

lung“, übersetzt von Rochlitz, Rainer, München: Fink.)

Straus, Erwin (21956): „Vom Sinn der Sinne“, Berlin/New

York/Heidelberg: Springer.

Waldenfels, Bernhard (1987): „Ordnung im Zwielicht“, Frank-

furt/M.: Suhrkamp.

Waldenfels, Bernhard (1994): „Antwortregister“, Frank-

furt/M.: Suhrkamp.

Waldenfels, Bernhard (1999): „Sinnesschwellen“. Studien zur

Phänomenologie des Fremden, Bd. 3, Frankfurt/M.: Suhr-

kamp.

Waldenfels, Bernhard (2005): „Idiome des Denkens“. Deutsch-

Französische Gedankengänge II, Frankfurt/M.: Suhrkamp.

„Zeitverschiebung“ von Bernhard Waldenfels erschien in:

Andreas Kablitz (Hrsg.), Zeit und Text, Fink Verlag, Mün-

chen: 2003. Wir bedanken uns für die freundliche Genehmi-

gung zum Abdruck.

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Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann,geboren 1944, Theater- undLiteraturwissenschaftler;Studien in Berlin bei PeterSzondi; Gastprofessuren u. a.in Amsterdam und Paris,Polen, Japan und Virginia;maßgebliche Mitarbeit beimAufbau der Studiengänge fürAngewandte Theaterwissen-schaft der Universität Gießen (1981 – 1987) und Theater-,Film- und Medienwissenschaftin Frankfurt/M.; seit 1988Professor für Theaterwissen-schaft an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt/M.Veröffentlichungen u. a.:„Beiträge zu einer materia-listischen Theorie der Lite-ratur“ (1978); „Bertolt Brechts 'Hauspos-tille', Text und kollektivesLesen“ (1980); „Theater und Mythos“ (1991);„Postdramatisches Theater“(1999). Aufsätze und Essaysu. a. über Heiner Müller,Robert Wilson, Theatertheo-rie, Ästhetische Theorie.

Jan Linders: Das 400-Stunden-Festival „Wunder der Prärie“ trägt, anders als regulä-res Theater, den Verweis auf seine Zeitstruktur immer offen mit sich. Über dem Eingangin den Kubus, in dem alle 400 Stunden sich abspielen, hängt eine Stundenuhr. Und fürdie Stunde unseres Gesprächs liegt jetzt eine große Küchenuhr auf dem Tisch vor uns. Aberjenseits solch äußerer Indikatoren: Was hat das Theater für eine Zeitstruktur und wiewird sie sichtbar?

Hans Thies Lehmann: Das normale Theater ist ja an sich schon geraffte Zeit. DasGrundmodell beinahe jeder Dramaturgie ist die zu knappe Zeit. So wie die Lebenszeitimmer zu knapp ist. Da stimmt etwas mit unseren Wünschen überein, deshalb akzeptie-ren wir immer diese vollkommen irreale temporale Konzentration als ästhetisches Verg-nügen. Nur extrem modifizierte Zeit, geraffte Zeit, Slow-Motion, sei es technisch im Filmoder etwa durch zu schnelles Sprechen, erzeugt das Phänomen, dass man die Zeit alsZeit wahrnimmt. Wenn man das bio-affine Maß verlässt, dann wird Zeit spürbar, durcheine Repetition, eine Wiederholung oder allein nur durch die Dauer. Wenn ich aus mei-nem Rhythmus herausgeworfen werde, dann werden neue Wahrnehmungsfenster geöff-net. Dass man sich die Kraft der Dauer wieder bewusst macht, ist eine enorme Chancefür das Theater.

Linders: Wenn Sie sagen, das normale Stadttheater von acht bis elf am Abend kanndiesen Eindruck von Dauer nicht vermitteln, möchte ich als Widerspruch Hartmut Rosazitieren, der ein großes Buch über die zunehmende gesellschaftliche und individuelleBeschleunigung geschrieben hat. Angewandt auf das Theater sagt Rosa, diesem 2500Jahre alten Medium sei jüngst eine neue Funktion zugewachsen, es sei zu einer „Ent-schleunigungsoase“ geworden. Durch Architektur und die Konvention des Zuschauenssei das Publikum still gestellt und in seinen Freiheitsgraden und Partizipationsmöglich-keiten reduziert.

Lehmann: Es ist eine, aber eben nur eine Chance des Theaters, diese Konzentration,die Stille, die Unterbrechung zu realisieren. Auf der anderen Seite bemerke ich, dass sichviele Inszenierungen Mühe geben, ähnlich wie Kino zu werden, es zu kopieren, währenddas Theater doch eine andere Chance hat. Vor allem kommt es nicht nur auf das Zeit-maß an. Theater ist vor allem auch eine Zeit, die man mit anderen verbringt. Ich nehmegleichzeitig wahr, dass auch andere wahrnehmen. Durch diese Verbindung, die passage-re Gemeinschaft, kommt ein Fluidum von Verantwortlichkeit ins Spiel. Die Zeitstrukturdes Theaters ist also auch deshalb so interessant, weil sie enorm komplex ist, und daherletztlich nicht mit Literatur und Kino zu vergleichen. Diese komplexe soziale Zeit des Thea-ters setzt sich aus vielen Wahrnehmungsschichten zusammen.

Linders: Man kann sagen, das Kino hat das Theater vom Zwang zum Illusionismusbefreit, eben auch, was die Zeitdarstellung betrifft.

Lehmann: Die frühen Filmemacher haben sich noch vom Theater inspirieren lassen. Spä-ter hat der Film durch Schnitt und Montage usw. ganz eigene Narrationsstrukturen ent-wickelt, die dann völlig unabhängig von der Theaterdramaturgie wurden. Nun sind beideemanzipiert, auch das Theater vom Film oder dem Versuch, das neue erfolgreiche Medi-um zu kopieren. So konnte das naturalistische Theater sich zum epischen Theater ent-wickeln und heute zu vielfältigen postdramatischen Formen.

Tick, TackHans-Thies Lehmann im Gespräch mit Jan Linders in Stunde90 des 400-Stunden-Festivals „Wunder der Prärie“ im zeit-raumexit, Mannheim, 12. bis 29. September 2007.

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etwas, das passiert. Nô-Theater ist aber „quelqu’un arrive“.Jemand kommt an. Das Nô zeigt sind im Grunde immer nur eineBegegnung. Ein Lebender trifft einen Geist, sehr oft im Nô, unddamit haben wir immer schon automatisch zwei verschiedene Zei-ten auf der Bühne, die der Lebenden und die der Toten. Das hatHeiner Müller sehr fasziniert.

Linders: Der Beginn des Hamlet …

Lehmann: Hamlet, Macbeth, Richard, all diese Gespensterge-schichten. Die Zeit der Shakespeare-Stücke öffnet sich ja auch schonsehr stark durch diese Geister. Denn was sagen die Geister – füruns in Deutschland ja sehr wichtig? Sie sagen, die Geschichte istnicht tot. Die Toten sind nicht tot, sie sind noch da. Das hat nichtsmit Aberglauben zu tun, das ist die ästhetische Vergegenwärtigungdes Faktums, dass unsere Präsenz durchlöchert ist von den Vergan-genheiten, den Zukunftshoffnungen im Präsens. Diese immanenteDimension einer anderen Zeit ist die Kraft der ästhetischen Erfah-rung, die uns aus diesem primitiven Jetzt ein Stück weit heraus-holt, gerade im Theater. Ein Schauspieler auf der Bühne machtirgendwas, aber ganz anders als im Film haben Sie in einem Live-Prozess im Theater die reale Potentialität, dass der nächste Momentganz anders aussehen könnte als projiziert. Das passiert natürlichnicht fortwährend, aber diese Möglichkeit und dazu die Realität derkleinen Störungen im Theater haben mit dieser wirklichen, komple-xen Zeit zu tun. Darum ist das Theater auf einer tieferen Ebeneimmer auch Ort einer utopischen Zeit, einer Zeit, die sich öffnet.

Linders: Die größte Störung, der größte Fehler, der auf derBühne passieren kann, ist der Tod. Der Tenor Richard Versalle zumBeispiel ist zu Beginn einer Premiere an der MET in New York gestor-ben, in Janačeks Oper „Die Sache Makropoulos“, die vom Leiden ander Unsterblichkeit handelt. Der Tenor sang „Too bad you can onlylive so long“, bekam einen Herzanfall, fiel von einer hohen Leiter

Linders: In der Semperoper in Dresden hängt heute noch eine Uhrüber dem Portal. Damit ist das epische Moment, der Verweis aufdie Differenz von dargestellter Zeit und Zeit der Darstellung, immerschon eingebaut. Eigentlich hätte Brecht ja eine Uhr aufhängenmüssen in seinem Theater.

Lehmann: Brecht hätte die schon aufhängen können. Anna Vie-brock macht das ja in ihren Bühnenräumen sehr gerne.

Linders: Aber die sind eher dysfunktional. Bei „Murx denEuropäer …“ fällt sie auseinander.

Lehmann: Weil eben eine andere Zeit als die Chronologie hierzählt. Wenn man das mit Marthalers Inszenierungsstil zusammen-nimmt, dann wird sehr deutlich, dass da auch in der Verlangsamung,der Unterbrechung, dem Anhalten, dem plötzlichen Singen von Lie-dern usw. das Vergehen der Zeit selbst fühlbar wird. Es gibt simpletheatertechnische Möglichkeiten, das zu erreichen. Ganz wesent-lich durch Unterbrechung, Wiederholung und andere Inszenie-rungsformen, welche Bewusstheit über die Zeit produzieren. RobertWilson hat das manchmal mit Schauspielern als lebendigen Uhrengemacht. Wenn einer sich ganz langsam dreht oder extrem ver-langsamt die Bühne überquert hat, dann bekommt der Zuschauerun- oder halbbewusst ein überhöhtes Gefühl für das Verstreichender Zeit, selbst wenn er das nicht genau messen kann. Bei ForcedEntertainment gibt es in ganz anderer Weise solche wunderbarenMomente, in denen die Zeitwahrnehmung selbst herausgearbeitetwird.Man darf nicht vergessen, wie stark wir in der europäischen Tradi-tion an ein ganz bestimmtes Schema von Zeiterfahrung eingebun-den sind. Wir hatten mal dieses große christliche Modell von Schöp-fung, Weltdurchlauf, Apokalypse, Ende. Und das entspricht einfachgut dem aristotelischen Modell. Tragödie muss ein Ganzes sein, undein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Das entspricht auchunserer Wahrnehmungsweise. Das bekannte „Tick Tack“ aus Comicsund so ist ganz richtig. Wir hören bei Uhren nicht „Tick, Tick, Tick“.Man kann nachweisen, dass der Wahrnehmungsapparat aus die-sen Ticks kleine Dramen konstruiert. „Tick“: Anfang, Pause: Mitte,„Tack“: Ende, „Tick, Tack“. Wir hören also ganz aristotelisch. Es istdiese Zeitstruktur von Anfang und Ende, die in gewisser Weise unse-ren Ordnungssinn befriedigt. Die Kunst hat aber gleichzeitig auchdie Aufgabe, unsere Ordnungsraster außer Kraft zu setzen. Deshalbist es sehr interessant, wenn man den Blick auf andere Kulturen rich-tet, wo es dieses Ordnungsschema von Anfang und Ende so nichtgibt. Im japanischen Theater sind die Geschichten überhaupt nichtmit Anfang, Mitte und Ende konstruiert. Da ist es mehr ein Prozess,der irgendwo anfängt, der dann auch irgendwann mal aufhört, abernicht im Sinne eines strukturellen Endes.

Linders:Also nicht im dramaturgischen Sinne von Konflikt undLösung?

Lehmann: Richtig! Nicht jedenfalls dramatisch durchgespielt.Der französische Dichter Paul Claudel hat schon Anfang des 20.Jahrhunderts etwas sehr schönes über das Nô-Theater gesagt:Ein Drama ist bei uns in Europa, sagt er, „quelque chose arrive“,

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Irena Polin: „Alarm Clock“ Serie Gucci, 2005

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und schlug wohl schon tot auf der Bühne auf. So ein Theatertod istder größte zeitliche Index, es gibt keine Wiederholung mehr, keineWiederauferstehung im Applaus. Das ist der vorzeitige Einbruch derRealzeit. Und dann gibt es das Sterben: 1989, kurz vor der Wende,habe ich im Hebbel-Theater in Berlin eine Performance von JanFabre gesehen, ich glaube, sie hieß „Das Interview, das stirbt“. Dalagen große Fische auf der Bühne, eine Art Koi-Karpfen, die immerwieder mal nach Luft schnappten. Nach einer Weile hat das Publi-kum realisiert, dass die Fische wirklich starben, und es begannenProteste, die Fische noch zu retten. Die sechs Schauspieler sagtenweiter unbeirrt ihren Text auf. Schließlich kletterte eine junge Frauauf die Bühne und trug die Fische in die Toilette, um sie so am Lebenzu halten. Bis ein Tierarzt unter den Zuschauern alle darüber auf-klärte, dass diese Fische nicht mehr zu retten waren. Das Sterbenist eine auslaufende Zeit, und diese war für die Fische unwiderruf-lich gekommen. Die Qual des Zuschauens war es nicht, dem Tod beider Arbeit zuzuschauen, sondern dem Sterben.

Lehmann: Das hat Godard über das Kino gesagt: „Der Film siehtdem Tod bei der Arbeit zu“. Dem hat Heiner Müller dann geant-wortet, das Theater handele von den Leiden und Freuden der Ver-wandlung, letztlich der Wiederauferstehung. Theater ist demnachprinzipiell Wiederauferstehung, was ich einen schönen Gedankenfinde. Fotografie ist dagegen ja ein prinzipiell melancholisches Me-dium: Das, was auf dem Bild zu sehen ist, das war mal. Das habenWalter Benjamin, Roland Barthes und andere zu Recht festgestellt.

Linders: Es geht immer um den Moment des Verschwindens …

Lehmann: Das Theater ist in diesem Sinne ein relativ freudigesMedium. Es ist die Zeit, die den Tod letztlich überbietet. DiesesMoment, dass man im Angesicht des Todes spielt, dass das Spielweitergeht. Theater ist in diesem Doppelsinn „live“. Es hat wirklichetwas mit Auferstehung zu tun. Das ist ein zentrales Motiv des Thea-ters: nur mit der Wiederholung kommt man an bestimmte Tiefen-schichten der Erfahrung heran. Ich habe ein Lieblingswort bei Wal-ter Benjamin. Er hat einmal die Definition der Hölle gegeben: „Wasist die Hölle? Die ewige Wiederkehr des Neuen“. Die tiefsten wirk-lichen Glücksmomente sind im Grunde genommen immer Wieder-holungen. Das könnte man auch wunderbar auf die Konsumweltanwenden und mit der Frage in Verbindung bringen, warum die Kon-sumgesellschaft panisch dauernd Neues produzieren muss und soständig immer größeres Unglück schafft. Der noch so neue Kon-sumgegenstand bringt kein Glück, wenn er nicht mit etwas Altemverknüpft werden kann.

Linders: Aber genau in dem Moment des Neuen merkt mannatürlich, dass das Alte ein Altes ist. Es wird in dem Moment einAltes, wo ein Neues auftaucht. Es muss dann sterben.

Lehmann: Ich meine erst einmal ganz einfach die Kindheitser-fahrungen, also das, was man schon erlebt hat. Insofern ist Glückimmer auch mit Trauer versetzt, weil Glück immer das Vergehenund das Vergangen-Sein beinhaltet. Aber die Zeit des Theaters istletztlich eine karnevalistische freudige Auferstehung durch die Trau-er hindurch.

Linders: Können wir hier einen Unterschied machen zwischenTheater und Performance? Dieses Festival ist ja ein Performance-Festival und damit auch ein Festival der Unwiederholbarkeiten.Das Konzept ist, dass sich in diesem einen Raum die Gegenstän-de, die Requisiten, die materiellen Reste der Performances akku-mulieren. Hier soll das Vergehen der Zeit sichtbar werden. Wiekann man Theater und Performance in der Zeiterfahrung differen-zieren?

Lehmann: Das ist eine interessante Frage, die ist auch für michoffen. Es gibt so viele komplexe Phänomene im Theater; auch vonSeiten der Künstler selbst werden die Zwischenbereiche benannt,so dass das eine in das andere übergeht. Forced Entertainmentnennen ihre Aufführungen z. B. „durational performance“. Die Per-formance hatte ja das Grundmodell der Unwiederholbarkeit. Unddas Theater das Grundmodell Wiederholbarkeit. Deswegen bestehtzunächst einmal vom künstlerischen Ansatz her ein Feindschafts-verhältnis. Für die frühen Performance-Künstler war das Theaterder Lieblingsfeind, da das Theater qua Wiederholung sich in denGesellschaftsprozess integrierte, während die Performance-Künst-ler Zeichen setzen wollten, auf künstlerischem Wege einen Aus-bruch aus dieser vergesellschafteten Zeit zu realisieren. Dannhaben die Theaterkünstler ihrerseits immer mehr Performance-Ele-mente integriert, das ist heute ganz offenkundig. Und umgekehrthaben die Performancekünstler gemerkt, dass dieses absoluteMoment der Unwiederholbarkeit ein Widerspruch in sich ist. Inder Utopie und im Konzept der Performance Art steckt sozusagenein Problem, das dahin tendiert, dass auch die Performance-Künst-ler mehr und mehr theatrale Momente aufnehmen mussten, Ins-zeniertes, Vorgeplantes usw. … Heute ist das beinahe eine über-holte Problematik. Was ich viel spannender finde: Sowohl Theaterals auch Performance koppeln sich längst nicht mehr ab von ande-ren Medien, von Film, von Computer und von Bildender Kunst imweitesten Sinne. Ich glaube, dass die Künstler jetzt gerade daranarbeiten, unser Sensorium hierfür zu schärfen: Sie versuchen, unsmehr und mehr aus der Gemütlichkeit unserer dreidimensionalenRaum- und Zeitwahrnehmung herauszuwerfen. Wir Zuschauer undBetrachter müssen alle eine neue Einstellung entwickeln. Dennnatürlich ist die Zeit, die ich erfahre, indem ich ein Bild konzentriertbetrachte, eine Bildzeit, die anders organisiert ist als die Zeitein-stellung, die ich im Theater einnehme. Wenn jetzt aber im TheaterBilder erscheinen, dann muss ich diese Einstellung, die ich eigent-lich einem Bild gegenüber habe, plötzlich mit hineinnehmen indie Einstellung, die ich gegenüber dem Theater habe. Das führtzu einer Vieldimensionalität der Theaterzeit. In einer „durationalperformance“ entscheide ich, wie angesichts von Bildender Kunst,in welchem Grad von Unvollständigkeit ich das Werk gesehenhabe, d. h. welche Zeit ich in die Betrachtung investiere und wel-che Erfahrung ich mit mir dabei mache. Hier geht es eben nicht nurum eine Erfahrung mit etwas, einem Objekt, sondern eben mitmeiner Beziehung dazu, zur Bühne, zu den anderen, also eineErfahrung mit mir selbst. Das halte ich für einen Grundimpuls vonder Performancekunst, der jetzt auch im Theater zu wirkenbeginnt, das ich postdramatisch genannt habe.

Aufgezeichnet von Ulrich Volz.

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Dr. Kai van Eikels, geboren 1969, studiertePhilosophie, Literaturwis-senschaft und Schauspielre-gie in Hamburg. Nach Insze-nierungen an deutschen Büh-nen promovierte und lehrteer in Hamburg und forschtean der Universität Tokio.Gegenwärtig ist er wissen-schaftlicher Mitarbeiter ander Freien Universität Ber-lin im Sonderforschungsbe-reich „Kulturen des Perfor-mativen“. Veröffentlichun-gen u. a. zu Zeitphilosophieund Poetik, Handlungstheo-rie, Interkulturalität,Kompetenz, Zeit-Management,Politik des Ultimatums,Rache, Schwarm und neuenKollektivformen. AktuelleProjekte: „Soziale Virtuo-sität – Paradoxien und Apo-rien von Leistung im Post-fordismus“, „Prognosen überBewegungen“ (Vortrags- undPerformance-Reihe zusammenmit Sibylle Peters am HAUBerlin). www.t-rich.org. www.prognosen-ueber-bewe-gungen.de

Beim Stichwort „Zeit-Organisation“ denkt man vermutlichzunächst einmal an die weltweit gemessene und koordinierteUhrzeit: eine künstlich, etwa mithilfe von Cäsiumatomen pro-duzierte Wiederholung, die überall in Form von Zahlen, Zei-gerständen auf Ziffernblättern, akustischen Signalen oderelektronischen Impulsen repräsentiert („angezeigt“) wird undals neutrales Maß dazu dient, allen anderen Vorgängen ihreVerhältnismäßigkeit zu geben. Die Anforderung, die man (wasin Deutschland heißt: die physikalisch-technische Bundesan-stalt) an dieses neutrale Maß stellt, ist vor allem einehöchstmögliche Regelmäßigkeit der Wiederholungsperiode. DerProzess, der die Uhrzeit ermittelt, soll ununterbrochen lau-fen, so als hätte er niemals angefangen und werde niemalsenden, und die Anstrengungen der Wissenschaftler und Techni-ker, die mit der Sicherstellung der offiziellen Zeitmessungbetraut sind, richten sich darauf, Abweichungen in der Peri-odenlänge immer weiter zu minimieren, sie, wenn sie sich schonnicht völlig ausschließen lassen, auf eine Stelle hinter demKomma hinauszuschieben, die weit jenseits des Merkbaren liegt.

Drückt man es in der Terminologie der Musik- oder Literaturwissenschaft aus, liegt derZeitmessung also ein reines Metrum praktisch ohne jeden Akzent zugrunde. Mit anderenWorten, der Prozess, der unsere offizielle Zeit ermittelt, ist eines mit aller Vehemenz nicht:rhythmisch. Ein Rhythmus nämlich besteht aus der Spannung zwischen zwei Größen –einer periodischen Wiederholung, dem metrischen Gerüst oder Takt, und einer Verschie-bung, einem Akzent, einer Verzögerung oder Übereilung, sprich: einer Differenz, die sichinnerhalb der Wiederholungsidentität (oder vielleicht sollte man sagen: an ihr) bildet, dievon der Wiederholung getragen und re-produziert wird und sie ihrerseits zugleich zubestätigen und zu verneinen scheint. Fragt man Menschen, was ihnen an einem Phäno-men, das sie für rhythmisch halten, auffällt, beziehen sich ihre Antworten fast stets auf dieWiederholung und deren Gleichmäßigkeit. Doch es ist eine ungefähre und nicht die prä-zise Gleichmäßigkeit, die das Rhythmische ausmacht – und eben in diesem Ungefähren,in der zeitlichen Differenz, die sich darin verwahrt, liegt das organisatorische Potenzialvon Rhythmen.

Dies zeigt sich in Situationen, in denen verschiedene Bewegungen oder Handlungsvor-gänge, von denen jeder/r einen eigenen Rhythmus hat, einander beeinflussen. Was siebesonders dort tun, wo es keine übergreifende neutrale Zeit-Taktung vom Typ der Uhr-zeit gibt, nach der alle sich richten, sondern die Sich-Bewegenden oder Handelnden dieFreiheit finden, sich mit einer gewissen Beliebigkeit nach sich selbst und nach anderenzu richten, sozusagen für einander zu Messinstrumenten und Maßstäben werden, anein-ander Maß für die Zeit nehmen und einander Zeit zumessen.

Improvisationen im Theater, im Tanz oder etwa bei den freieren Formen von Jazz sind dievielleicht anschaulichsten Beispiele für solche wechselseitigen Ermittlungen von Dauernund Zeitproportionen, Wiederholungsfrequenzen, Geschwindigkeiten, rhythmischenBögen und Mustern usw. Jeder Schauspieler, Tänzer oder Musiker hat seine eigenen Rhyth-

Synchronisierung. Zum Gebrauch von Zeitdifferenzenvon Kai van Eikels

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men: Er bringt durch die spezifische Anatomie seines Körpers, dieAusdifferenzierung seines sensomotorischen Nervensystems unddas, was sich als »Geist« oder »Reflexion« zwischen Sensorik undMotorik schaltet, eine individuelle, einmalige Bewegungs- oderHandlungsdisposition mit. Und er verfügt zudem über erlernteTechniken, ist durch eine jener Schulen gegangen, von denen jedebewusst oder unbewusst eine bestimmte Idee, ja meist einebestimmte Ideologie des Rhythmus’ verfolgt und in die Körper derAusgebildeten einschreibt. Doch in dem Moment, da eine kollek-tive Improvisation einsetzt, beginnen diese Rhythmen einanderzu beeinflussen und zu verändern, und die künstlerischen Strate-gien, die sich des Improvisierens als Produktionsform bedienen,bauen darauf, dass diese wechselseitig induzierten Veränderungenproduktive Effekte zeitigen, ein Ereignis auslösen, das „dasGanze“ verändert, so dass schließlich so etwas wie eine neue Ord-nung entsteht: keine geplante, im Voraus bestimmte, von einemEinzelnen konzipierte und im Kollektiv bloß beschlossene oder aus-gehandelte Ordnung, sondern ein Bewegungs- oder Handlungs-muster, das seinen Ursprung in der kollektiven Dynamik selbst hat.

Was im künstlerischen Produktionsprozess sehr deutlich konturierthervortritt (und auch explizit im Zentrum der meisten Produktions-ästhetiken steht, die dem Improvisieren eine Relevanz einräumen),lässt sich indes auf sehr vielen Szenen unseres kollektiven Lebensund Handelns beobachten: Wer beim Gehen auf der Straße schoneinmal erlebt hat, wie ein anderer hinter ihm in einem etwas ande-ren Schrittrhythmus spazierte und wie sich die Abweichung dar-aufhin als störende Kraft bemerkbar machte, bis (nach einer lin-kisch stolpernden Synkope) beide in einem veränderten, aber mit-einander gekoppelten Rhythmus glücklich und bestärkt weiter-gingen – der hat die Erfahrung eines Phänomens gemacht, dasman in den Naturwissenschaften als Phasensynchronisierungbezeichnet. Auf den Bildern von Kameras, die Bahnhöfe, Stadienoder Plätze überwachen, sieht man immer wieder Segmente vonMenschenmengen, die sich in deutlich rhythmisierten Schübenaneinander vorbei und umeinander herum bewegen, ohne dasseiner von ihnen mehr als seine direkten Nachbarn im Aufmerk-samkeitsfeld hat (eine Fahrt über die Autobahn, bei der man „gutdurchkommt“, funktioniert ähnlich). Ein Vogel- oder Insekten-schwarm vollführt im schnellen Flug ohne zentrale Führungsspit-ze die komplexesten Manöver. Und auch ein wirkungsvoller Angriffbeim Fußball kommt nicht zustande, ohne dass sich Spieler, dieweit über ein Feld verteilt sind, in ihren Lauf- und Tretrhythmensynchronisieren.

Der holländische Forscher Christiaan Huygens darf für sich rekla-mieren, den Synchronisierungseffekt im 17. Jahrhundert wissen-schaftlich entdeckt zu haben. Er beobachtete, wie zwei Uhren mitunterschiedlich schwingenden Pendeln, die beide am selben Holz-balken befestigt waren, ohne äußere Manipulation nach einigerZeit beinahe gleichmäßig gegenläufig („anti-phasisch“) schwan-gen – und schloss daraus, dass das Holz des Balkens Schwin-gungsimpulse übertrug und sich auf diese Weise eine zeitlicheAbstimmung vollzog. Seit ca. 2000 formiert sich eine interdiszi-plinäre naturwissenschaftliche Synchronisierungsforschung, dieSynchronisierungsphänomene u. a. bei elektromechanischen, bio-

logischen und chemischen Prozessen untersucht und nachGemeinsamkeiten fragt (einer der Namen, die sich diese Forschunggibt, lautet „theoretische Ökologie“).

Eine Forschergruppe um den Potsdamer Physiker Arkady Pikovskyhat in ihrem Buch Synchronization – A Universal Concept in Nonli-near Science eine Art Arbeitskonzept von Synchronisierung formu-liert, das eine ganz gute Ausgangsbasis darstellt, um sich den Wir-kungen der rhythmischen Interferenzen auch aus einer kulturwis-senschaftlichen Perspektive zu nähern. Ich möchte einige ihrerGedanken aufnehmen und für die Untersuchung menschlichenInteragierens folgendermaßen reformulieren:

– Jeder der Agenten, die sich synchronisieren, ist ein „oscillator“ –d. h., er verfügt über einen eigenen inneren Rhythmus (bzw. übereine Vielzahl eigener Rhythmen).

– Synchronisierung ergibt sich als Wechselwirkung zwischen Agen-ten. Dies genau zu verstehen ist besonders wichtig, denn dadurchgrenzt sich das, was ich hier Synchronisierung nenne, von ande-ren Phänomen oder Wirkungen ab, die man leicht vorschnell damitverwechselt: Dort, wo ein rhythmisches Element seinen Rhythmusauf andere Elemente überträgt, die selbst keinen eigenen Rhyth-mus haben (oder haben dürfen) und also nur Impulse empfangen,spricht die theoretische Ökologie von Resonanz. Resonanz ist eineeinseitige Wirkung bzw. ein einseitiges Erklärungsmodell von Wirk-samkeit. (Vorgänge als) Synchronisierungen zu beobachten läuftdarauf hinaus, sich von einer solchen einseitig ausgerichteten kau-sal-finalen Erklärung von Wirkungen zu lösen, die auch dort nochvorherrscht, wo wir alltagssprachlich sagen, eine Handlung, eineRede, ein Auftritt usw. habe „große Resonanz gefunden“. Im Hin-blick auf Synchronisierung werden zudem Zuweisungen wie„aktiv“ und „passiv“ in neuer Weise fraglich: Was ist eigentlicheine Reaktion in einem Kollektiv, wo alle von Anfang an immerschon auf andere reagieren?

– Synchronisierung kann eine Angleichung von Rhythmen bedeu-ten oder auch die temporäre Stabilisierung ihrer Differenz gemäßeinem bestimmten Muster. Sie bedeutet jedoch niemals eine völli-ge Identität der Rhythmen. Dort, wo zwei oder mehrere Rhythmenihre Differenz restlos verlieren, kommt es zu einer Vereinigung undVereinheitlichung – das Resultat ist dann ein einziger Rhythmus,oder eher: ein einziger Takt, denn eine solche Vereinheitlichungvernichtet oder reduziert in der Regel eben das differenzielle Ele-ment des Rhythmischen, die Verschiebungen gegenüber demgleich bleibenden Metrum, die den Rhythmus erst zu einem sol-chen machen. Bei zeitlichen Koordinationen, die darauf abzielen,die individuellen Elemente in einer Einheit aufzuheben, wäre esverfehlt, von Synchronisierung zu sprechen: Militärisches Mar-schieren (das exemplarische Beispiel für den ent-individualisie-renden Einsatz einer „rhythmischen“, präzise gesprochen: metri-schen Bewegungsdisziplin) ist etwas durchaus anderes als Syn-chronisierung; es zielt darauf ab, das Kollektiv von einer Vielheitmit vielen verschiedenen Wechselbeziehungen zwischen den Agie-renden in einen homogenen Kollektivkörper zu verwandeln, dertotale Resonanz ist.

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Es ist also, wie eingangs schon angesprochen, gerade das Unge-fähre in der Angleichung von Rhythmen, die stets verbleibendeoder neu hervortretende Differenz zwischen den individuellen Rhythmen, die das Besondere von Synchronisierungseffekten aus-macht. Nicht, dass alle das Gleiche tun oder das, was sie tun, imgleichen Takt ausführen, sondern dass jeder in einem Kollektiveinen Sinn dafür entwickelt, wie mit den feinen Differenzen in derAnnäherung von Rhythmen umzugehen ist, macht das strategischinteressante Moment von Synchronisierung aus. Die Frage, die sichhier stellen lässt, lautet: Wie gebrauchen Menschen Zeitdifferen-zen? Wie verwenden sie das, was ihr Handeln, ihr Sichbewegen(und das heißt auch: die Bewegungen ihrer Rede, ihres Denkens,ihrer Leidenschaften ...) ungeachtet aller programmatischenGemeinsamkeiten voneinander trennt, um interaktive Prozesse zuorganisieren, die trotz dieser Trennung oder gerade durch sie kol-lektive Aktionen gelingen lassen? Diese Frage betrifft die Künste,vor allem die sog. performativen Künste. Aber sie betrifft auch diePolitik: Je geringer das Vertrauen in den Staat und in die großenInstitutionen wird, die für sich beanspruchen, Kollektive zu reprä-sentieren, desto mehr Bedeutung gewinnen informelle, dynami-sche, sich mehr oder weniger beiläufig aus einzelnen Initiativen

bildende kollektive Konstellationen, deren Akteure weder die Not-wendigkeit sehen, noch bereit wären, ihre individuelle Freiheit fürdie Gruppe aufzugeben, und die sich darauf beschränken, einenTeil ihrer Aktivitäten mit denen von ein paar anderen zu synchro-nisieren: Bürgerbewegungen, die sich über Online-Communitiesorganisieren, informelle ›Experten‹-Netzwerke wie Wikipedia, diedas, was als Wissen zählt, neu definieren, etc. Unser Denken desKollektiven selbst sieht sich durch die erstaunliche Effektivität eini-ger Synchronisierungen herausgefordert. Und die Aufgabe bestün-de unter anderem darin, eine Ästhetik der Synchronisierung zu ent-wickeln, die wesentlich eine politische Ästhetik wäre, denn siehätte kritisch zu reflektieren, wie Menschen, deren Freiheit in ihrerTrennung besteht, sich zusammen bewegen, zusammen handelnund zusammen leben.

Ich würde mir wünschen, dass die Gespräche auf der Tagung zuPhasensynchronisierungen der Denkbewegungen führen, in denendie Differenzen zwischen verschiedenen Reflexions- und Kommu-nikationsrhythmen ein kollektives Nachdenken über Synchroni-sierung erwirken.

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"Der Wirtschaftsplan", um 1950 (Foto: Museum für Verkehr und Technik, Berlin) aus: „Zeitreise“. Bilder – Maschinen – Strategien – Rätsel, hg. von Martin Heller, Michael Scholl

und Georg Christoph Tholen, Katalog zu einer Ausstellung des Museums für Gestaltung, Zürich. Copyright © 1993 by Stroemfeld Verlag, Frankfurt am Main und Basel.

ISBN 3-87877-409-5. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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Prof. Dr. med. Dr. phil.Hinderk M. Emrich, geboren1943 ist Arzt und Professorfür Neurologie und Psychia-trie / Klinische Pharmakolo-gie, Psychotherapie und Psy-choanalytik. Seit 1992 ister Leiter der Abteilung fürKlinische Psychiatrie undPsychotherapie an der Medi-zinischen Hochschule in Han-nover und nimmt Lehraufträgean der Deutschen Akademiefür Film und Fernsehen sowiefür Philosophie an der Uni-versität Hannover wahr. SeineForschungsgebiete sind Psy-chopharmakologie, Wahrneh-mungspsychologie und System-theorie von Psychosen sowieSynästhesie. Veröffentli-chungen u. a.: ErwachendeSubjektivität in Wahrnehmung,Kreativität und Emotion, in:„Ästhetik“ nach der Aktua-lität des Ästhetischen – EinSymposium zur Perspektiveder Kulturentwicklung, Zürich1997. Film und Heimat. In:„Utopie Heimat. Psychiatri-sche und kulturphilosophi-sche Zugänge“. Parodos Ver-lag, Berlin, 2006.

1. Die Wette mit dem Teufel„Werd’ ich zum Augenblicke sagen verweile doch du bist so schön,dann sollst du mich in Stücke schlagen,dann will ich gern zugrunde gehn.Dann soll die Totenglocke schallen dann bist du deines Dienstes frei.Die Uhr steht still die Zeiger fallen,dann ist für mich die Zeit vorbei“.

[...] Worin aber liegt das Moment von Transzendenz im Sinne dieses Goetheschen Zitates?Naiverweise würde man doch fragen, was an der Zeit kann, muss, verwandelt werden, umGegenwart zu werden? Ist es denn nicht so, dass Zeit ein Kontinuum von Vergangenem,Gegenwärtigem und Zukünftigem ist, in dem schon immer Gegenwart als eine „Jetztheit“,als eine Gegenwärtigkeit von Präsenz vorkommt? Worin aber besteht dann das Momentder Metamorphose, der Verwandlung in einen offensichtlich höheren Status von Präsenz?

2. Gibt es so etwas wie „Zeittranszendenz“?Wenden wir uns hierzu dem Theater zu: Die Frage, was wir bei einer Aufführung erleben,was wir dabei wahrnehmen, hängt ganz wesentlich von unserer eigenen Geschichte, unse-rer Erlebnis- und Erlebensgeschichte ab: Es geht dabei um Prägungen, um Wahrneh-mungs- und Erlebnis-Prägungen, letztlich um Erinnerungen; und diese sind sowohl reinneurobiologischer Natur als auch haben sie psychische Hintergründe, letztlich Schick-sals-Hintergründe, die diese Prägungen erzeugt haben und die nun aufrechterhalten oderaber abgewiesen bzw. modifiziert werden. [...] Der identitätsbildende Charakter der Ver-gangenheitsbeziehung des Menschen hat zwei Aspekte: einmal die Einbettung in diephysikalische Zeit (d. h. die äußere Zeit oder auch „kopernikanische“ bzw. kosmologischeZeit) und dann die Umgehensweise mit der „inneren Zeit“, von der aus gesagt werdenkann, dass die Vergangenheit nie ganz vergangen ist, sondern in uns weiterwirkt unduns konstelliert, determiniert, beherrscht. [...]

In diesem Sinne gibt es eine Psychologie und Neuropsychologie der Zeit. Sie hat eng zu tunmit der Frage nach Bewusstsein. Bewusstsein ist Kohärenz von Repräsentation von Seman-tik in der Zeit. Bewusstsein haben kann man nur in der Zeit, die abläuft: oder auch nicht? Gibtes ein Nirvana-Bewusstsein? Ein Yogi-Bewusstsein, das die Zeit außer Kraft setzt? [...]Gibt es nicht die Möglichkeit, dass wir Menschen, beispielsweise in der Erinnerung, in derMeditation, in der Imagination, in Tagträumen und nächtlichen Träumen uns von der äuße-ren Zeit völlig lösen? Prof. Michael Theunissen hat hierzu in seinem Buch Negative Theolo-gie der Zeit ein sehr instruktives Beispiel gegeben: „Daß Freiheit von Zeit kein Schein ist, son-dern im Verweilen Realität hat, wird erst in der [...] Glückserfahrung zur Gewißheit. DasGlück des Verweilens beweist, genauer gesagt, dass eine solche Freiheit nicht nur als Stre-ben möglich ist, sondern auch in der Erfülltheit dieses Strebens. Allerdings verrät es auch:Der Freiheit von Zeit kommt nur eine gebrochene Realität zu. Sie ist gewissermaßen mög-lich und unmöglich zugleich. Ihre Unmöglichkeit liegt auf der Hand. Nicht nur, dass die Zeituns in ihrem Vergehen mitnimmt. Das Nicht-Mitgehen mit ihr fällt selbst in die Zeit. Unddoch ist Freiheit von Zeit möglich. Dessen können wir uns versichern, wenn wir das Ver-weilen mit einem verwandten Weltverhalten vergleichen: dem Sich-Zeit-Nehmen für etwas.Während ich mir im Vorhinein nur eine Stunde oder einen Tag oder ein Jahr Zeit für etwas

Die Verwandlung von Zeit in Gegenwart:Zeittranszendenzvon Hinderk M. Emrich

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Die grundsätzliche Richtigkeit der Überzeugung, dass Wahrneh-mung das Resultat eines derartigen interaktiven Prozesses ist,wird vor allem durch die Fülle von Daten über Wahrnehmungs-illusionen belegt., bei denen es zur Desillusionierung von Vorur-teilen kommt.Dies bedeutet, dass, was für real angenommen wird, gewisser-maßen interaktiv ausgehandelt werden muss, und zwar vonMoment zu Moment, von Situation zu Situation immer wieder neu,wie das Umkippen eines Necker-Würfels.

In diesem Sinne ist Wahrnehmung ein äußerst zeit- und vergangen-heitsabhängiger Prozess, der mit individuellen Lernerfahrungen, z.T.aber auch seelischen und in diesem Sinne auch traumatischen bzw.auch Glückserfahrungen der Vergangenheit zu tun hat.Im täglichen Leben geht man in der Regel von einem Weltbild aus,das häufig von Philosophen auch als „naiver Realismus“ bezeichnetwird. Hierbei wird stillschweigend vorausgesetzt, die äußere Wirk-lichkeit sei exakt so strukturiert, wie wir sie wahrnehmen, ganz so,als ob es genügen würde, die Welt „wie sie wirklich ist“, einfach miteiner Kamera abzufotografieren bzw. abzufilmen, und das mensch-liche „Subjekt“, das „Ich“, sei nichts anderes als eine Art von Com-puter, der diese Sinnesdaten auswertet und in sich abbildet.Tatsäch-lich ist der Vorgang der Sinneswahrnehmung wesentlich kompli-zierter: Bevor Sinnesdaten ausgewertet, interpretiert und integriertwerden können, bedarf es eines „Konzeptes“, eines Weltbildes,eines „mitlaufenden Weltmodells“, in das die aktuellen Sinnesdateneingefügt werden bzw. von dem aus sie verworfen werden können.Dies führt zu einem Vergleich von „erwarteter Wirklichkeit“ mittatsächlicher Wirklichkeit und damit offenbar zu einem Erlebnis,das man mit den Worten beschreiben könnte: „Dies geschieht jetztwirklich“.[...] In der Neurobiologie geht man derzeit davon aus, dass das men-tale System „modular“ organisiert ist, d. h., dass den mentalenFunktionen funktionell und zum Teil topographisch zuzuordnende„Module“ mit unterschiedlichen Eigenschaften entsprechen, wobeiangenommen wird, dass die verschiedenen Module „interaktiv“miteinander wechselwirken. [...] Auf der Seite der Wahrnehmungspsychologie kann man einegewissermaßen „konstruktivistisch fundierte“ Illusions-Forschung

nehme, also die Begrenztheit des Zeitraums, den das jeweiligeGeschäft beansprucht, einkalkuliere, wird jedes ästhetisch qualifi-zierte Verweilen von einem Ende überrascht. Zwar ist es faktischdurchaus von begrenzter Dauer, hierin dem Sich-Zeit-Nehmen füretwas gleich. Aber seiner Idee nach ist es unendlich. Anders könntees nicht Hingabe sein.“ Eine filmische Darstellung hierzu findet sich bei Kurosawa in sei-nem Film Träume, wo Kurosawa darstellt, wie er selbst durch einÖlbild van Goghs hindurchwandert.Die Frage stellt sich nun, welchen Status eine solche „zeitbefreite“Wanderung durch ein Kunstwerk haben mag. Hier handelt es sichja offenbar um eine Form radikalisierter Gegenwärtigkeit. In welcherWeise wird hier die Vergangenheit entkräftet oder gerade – imGegenzug – bekräftigt, ja erfährt eine Wirksamkeitssteigerung? DieHauptthese wäre hier die, dass im Sinne der Theunissenschen Kon-zeption dessen, was er die „Proustsche Erinnerung“ nennt, subli-minale Anteile der Vergangenheit benutzt werden, um einen höhe-ren Zugang zum eigenen Selbst zu gewinnen, einen Zugang, der ingewissem Sinne „Zeittranszendenz“ beinhaltet. Die These lautet,dass dies einen befreienden Zugang zur Vergangenheit beinhaltet,der nicht darin aufgeht, wie in der Psychoanalyse Freuds, etwasPeinvolles, Verdrängtes, etwas, das durch „Zensur“ unterdrücktwurde, zu aktualisieren, sondern vielmehr im Subliminalen etwaszu entdecken, was man sogar als eine Art „Pforte zum Glück“, alseine „Pforte zur Freiheit“ interpretieren könnte.

3. Zeitphilosophische Aspekte der WahrnehmungIn welcher Hinsicht ist Wahrnehmung an die Dimension der ver-gangenen Zeit gebunden? Ist denn Wahrnehmung nicht ganzgegenwartsbezogen, ganz auf den Moment der aktualen Wahrneh-mung hin orientiert? Diese Frage muss wohl eindeutig mit einemklaren „Nein“ beantwortet werden.Wahrnehmung fällt in der Form,wie wir sie an und in uns erleben, nicht „vom Himmel“. Wahrneh-mungsprozesse müssen im Laufe des Lebens mühsam erarbeitetwerden; chaostheoretisch könnte man sagen, die Attraktorenland-schaft, in der sich die Wahrnehmung vollzieht, wird durch Prozesseder Autopoiesis (Prozess der Selbsterschaffung und -erhaltung einesSystems) ständig neu modelliert, und zwar dies anhand von Vorer-fahrungen, die zur Ausbildung spezifischer Attraktoren führen, diedie Wahrnehmungsprozesse konstellieren.

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Abb. 1: Komplexe Attraktorenlandschaft

Abb.2 Necker’scher Doppelwürfel, der in einer Vielzahl von

Varianten wahrgenommen werden kann.

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betreiben, denn das Besondere an Illusionen ist es ja gerade, dasssie den fiktionalen Charakter subjektiver Wirklichkeiten entlarven.Das dabei verfolgte Konzept ist die Überzeugung, dass Wahrneh-mung keinen in sich einheitlichen Vorgang darstellt, sondern eineninteraktiven komplexen Prozess, d.h. ein Geschehen, das man als„internen Dialog“ verschiedener System-Teilkomponenten darzu-stellen versuchen kann.

Bei der Drei-Komponenten-Hypothese der Wahrnehmung wirdangenommen, dass Wahrnehmung grundsätzlich aus dem Zusam-menwirken folgender drei Teilkomponenten resultiert:

1. Eingehende Sinnesdaten („sensualistische Komponente“);2. Interne Konzeptualisierung („konstruktivistische Komponente“);3. Interne Kontrolle („Zensur“ – bzw. „Korrektur-Komponente“).

Bei dieser Konzeption wird angenommen, dass sich bei der Wahr-nehmung sogenannte „bottom-up“-Strategien (Komponente 1) mitsogenannten „top-down“ Strategien (Komponente 2) überlagern.Da die von den Sinnesdaten hervorgerufene Datenlage mit deninternen Konzepten in Konflikt geraten kann, ist eine dritte Kompo-nente, eine Kontroll- bzw. Korrektur-Komponente anzunehmen, dieeine biologisch sinnvolle Wirklichkeitsfiktion i. S. von Watzlawickgarantiert. Wirklichkeit wird also nicht nur formiert, produziert,generiert; sie wird auch überarbeitet, modifiziert, gewissermaßen„geglättet“. Die eigene Wahrnehmungsgeschichte geht in die Inter-aktivität dieser drei Komponenten ein.

4. SchlussbetrachtungTheunissen hat in seinem Buch Negative Theologie der Zeit davongesprochen, dass es so etwas gibt wie die Herrschaft der Zeit überdas menschliche Subjekt im Sinne einer Herrschaft der Vergan-genheit über die Gegenwart. Zeittranszendenz würde dann bedeu-ten, die Herrschaft in gewissem Sinne zu brechen, das Subjekt zubefreien. Künstlerische Prozesse, insbesondere Prozesse der Instal-lation, der Vorstellung, der Aufführung, der Aktualisierung von vor-her geplanten seelisch-geistigen Gehalten intendiert genau einenderartigen zeittranszendierenden Aspekt. [...] Das Lebendig-machen sublimaler Anteile der Vergangenheit, von Anteilen unge-lebten oder nur in Ansätzen gelebten Lebens, stellt die Anwendungdes Proust’schen Erinnerns, der Suche nach der „verlorenen Zeit“,in einer Weise dar, die nicht nur dazu führt, dass Wahrheit imHegel’schen Sinne das Resultat unter Einschluss des Weges ist,sondern auch der Einschluss all dessen, woran dieser Weg letzt-lich vorbeiging. [...]

„Prousts unwillkürliche Erinnerung [...] ist selbst Wahrnehmung,eine nachgeholte, nicht wiederholte Wahrnehmung, die Wahrneh-mung des einst nicht Wahrgenommenen. Was wir einst nicht wahr-genommen, das haben wir vor allem nicht erlebt und letztlichebenso wenig gelebt. Unwillkürliche Erinnerung meint so im Grun-de ein Leben nicht gelebten Lebens [...]. Unwillkürliche Erinnerungenthüllt sich eine Zeit, die nicht mehr die Zeit dieser Welt ist.“(Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit; Kapitel „Ewig-keit in der Zeit“).

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Sabine Graf, geboren 1956, studierte Germanistik, Politik undPsychologie an der FU Ber-lin. Nach dem Studiumbeschäftigte sie sich mitPersönlichkeitsentwicklungund Leadership Training undließ sich zum IntegralenCoach/Business Coach an derIntegral Coach Academy Ber-lin ausbilden. Sie arbeitetein der Organisations-, Per-sonal- und Teamentwicklungund führt seit 2006 Manage-ment- und Persönlichkeit-strainings und Coachingsdurch.

In der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Sprache ermöglichte die Schriftspracheerstmals in größerem Stil asynchrone Kommunikation, das heißt Sender und Empfängermüssen nicht mehr zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein. Geschriebene Nachrichtenhießen irgendwann Briefe und wurden vom Sender zum Empfänger transportiert. Das Tele-fon benutzt der Mensch jetzt seit mehr als hundert Jahren und das Fax seit einigen Jahr-zehnten. Alle neuen Formen der Fernkommunikation brachten dem Menschen einen Zuge-winn an Informationsfluss, der zu erheblich mehr Effizienz führte. Überschüttet mit Infor-mationen wurden nur wenige, und die bauten Filter ein. Ein wichtiger Filter bekam denNamen Sekretariat.

Mit der Digitalisierung explodierte die Kommunikation innerhalb weniger Jahre. Die Über-schüttung mit Informationen ist zu einem Massenphänomen geworden. Wir sind fasziniertvon den neuen Möglichkeiten und haben aber vielfach noch nicht gelernt, effektiv damitumzugehen.

„Wenn man mit Führungskräften spricht, sagen sie, dass die Ressource, die ihnen am mei-sten fehlt, Zeit ist. Aber wenn man ihnen zuschaut, sieht man, wie sie von Meeting zuMeeting hasten, ständig ihre E-mails checken, ein Feuer nach dem anderen löschen undunzählige Telefonate führen. Eine erstaunliche Menge von schnelllebigen Aktivitäten, diekeine Zeit zur Besinnung lassen. Manager verbringen 90% ihrer Zeit mit jeder Sorte un-effektiver Tätigkeiten und nur 10 % ihrer Zeit in einer reflektierten, effektiven und sach-dienlichen Art und Weise.“ (Harvard Business Review, Februar 2002)

Meine eigenen Erfahrungen als Führungskraft ähnelten über lange Zeit der vorausge-gangenen Beschreibung aus dem Harvard Business Review. Fortwährend war ich inGedanken mit all den unerledigten Dingen beschäftigt, die auf mich warteten, und warselten wirklich präsent und effektiv mit dem, was ich gerade tat. Oft fühlte ich mich wieder Hamster auf dem Laufrad.

So fing ich an, mich mit der Frage zu beschäftigen und zu untersuchen, wie wir Präsenzund inneren Frieden zurückgewinnen können angesichts der Flut an Informationen undangesichts des Berges an unerledigten Dingen, die immer auf uns warten. Und wie wirzu mehr Qualität und Produktivität finden können.

In meiner Tätigkeit als Trainerin und Coach ist Zeitmanagement im Informationszeitaltereines meiner Schwerpunktthemen.

Ununterbrochen unterbrochen.Zeitmanagement im Informationszeitaltervon Sabine Graf

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Seit alle allen etwas mitteilen können, tun sie es auch. Niegab es so viele Unterbrechungen wie heute, eine scheinbarlogische Folge der Vernetzung durch Internet und Mobilfunk.Die elektronische Kommunikation ist innerhalb weniger Jahreexplodiert, und vor lauter Telefonaten, E-mails und Internetkommen wir oft nicht dazu, uns wesentlichen Dingen konzen-triert und mit genügend Zeit zuzuwenden.

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Dr. Markus Klimmer, geboren1964, ist Partner bei McKin-sey & Company in Berlin undleitet den Bereich öffent-licher Sektor. Er studiertean der London School ofEconomics, der Universityof California, Los Angeles,sowie der Universität Ham-burg Politik- und Verwal-tungswissenschaft, Volks-wirtschaftslehre sowieÖffentliches Recht und pro-movierte im Bereich derregionalen Strukturpolitikzum Thema Kompetenzzentren.Die Schwerpunkte seiner Be-ratungstätigkeit sind stra-tegische Fragestellungen imöffentlichen Sektor, wie z. B. Politikfeldanalysen,große Reorganisations- undSanierungsprojekte, Beteili-gungsmanagement, Standort-entwicklungsprojekte undvieles mehr. Zu seinen Klienten zählen die Bundes-regierung, obere Bundes-behörden, Landesregierungenund Kommunen sowie eineVielzahl von Regierungen inEuropa, Asien und Nordame-rika.

[1] Allenthalben konstatiert man die zunehmende Beschleunigung des gesellschaftli-chen, wirtschaftlichen, persönlichen Lebens. Trifft diese Diagnose überhaupt zu, und wennja, hat sie Konsequenzen für die politische und kulturelle Gestaltung der Gesellschaft?

[2] Gibt es Grenzen der Beschleunigung? Wenn ja, welche?

[3] Kann der Einzelne sich gegen die Beschleunigung des Systems wehren – oder ihrzumindest entkommen?

[4] Welche Rolle spielt der Faktor Zeit in der Beratung von Wirtschaft und Politik? Wiewichtig ist die Strukturierung von Zeit für Gesellschaft und Wirtschaft?

[5] Der englische Historiker Edward P. Thompson fragte 1967: „Wenn der Puritanismusein notwendiger Bestandteil jenes Arbeitsethos war, das es der industrialisierten Weltermöglichte, aus den mit Armut geschlagenen Wirtschaftssystemen der Vergangenheitauszubrechen, führt dann der nachlassende Druck der Armut auch zur langsamen Zer-setzung des puritanischen Zeitverständnisses? Wird der Mensch den ruhelosen Drang wie-der verlieren, den inneren Zwang, die Zeit sinnvoll einzusetzen, den die meisten wie ihreArmbanduhr mit sich herumtragen?“

[6] Kürzer gefragt: „Zeit ist Geld“. Kann dies noch Leitsatz einer Gestaltung der Arbeits-welt sein, in der die Arbeit nicht mehr für alle reicht? Auch und gerade in der Beratung:Ist es zukünftig nicht eher unsere Aufgabe, die Lebenszeit wieder zu entökonomisieren?

[7] Wie kann das Theater in seinen Formen Schauspiel, Oper, Tanz und Performance, inStadttheatern wie freien Gruppen als Zeitlabor in gesellschaftlicher Verantwortung wirk-sam werden? Inwieweit können die Künste so einen Beitrag zur Beratung der Gesellschaftleisten?

Sieben Fragen zur Zeitökonomievon Markus Klimmer

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Die elektrische Vereinheitlichung der Uhrzeit in einer Großstadt. Aus: „Lebendige Zeit" Wissenskulturen im Werden, hg. von:

Henning Schmidgen, Kadmos, Berlin 2005, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlages. ISBN-10: 3931659690

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Die TheaterwissenschaftlerinDr. Silke Riemann, geboren1965, war nach dem Studiuman der HU Berlin in derJugendkultur- und Sozialar-beit tätig. Seit ihrer Pro-motion über die Inszenierungvon Popstars in Videoclipsarbeitet Riemann als frei-schaffende Autorin für Thea-ter (Jugendgruppe des WeitenTheaters für Puppen und Men-schen) und Fernsehen (z. B.„Marienhof“, „Küstenwache“,„Einstein“). Lehraufträgeführten sie u.a. an die HUBerlin, wo sie über „Fiktio-nale TV-Serienformate“ refe-rierte.Veröffentlichungen:Das andere Publikum – Deut-sches Kinder- und Jugenthea-ter, hg. von Silke Riemannund Annett Israel. Berlin1996.

Das Jahr, die Woche und der Tag werden in Programm-, d. h. in Werbeblöcke eingeteilt. Fürden Rezipienten bietet das Fernsehen somit auch eine Strukturierungshilfe für den All-tag. Was ändert sich, wenn es keinen Sendeschluss mehr gibt, wenn Internetangebote,Video- und Festplattenrekorder den Zuschauer weitgehend unabhängig vom Programm-angebot machen?

Fernsehen kann sowohl zum Zeitvertreib, zur Vernichtung von Lebenszeit als auch dazubenutzt werden, sich mit seiner Zeit bewusst auseinander zu setzen.

Wie wird in den – dokumentarischen und fiktionalen – Fernsehbeiträgen mit Zeit umge-gangen? Zu Beginn der TV-Ära war alles live: nicht nur die Nachrichtenbeiträge, sondernauch die im Studio produzierten Fernsehspiele.

Live-Sendungen können Zeitzonen überspringen und das Publikum in einem Moment –allerdings räumlich voneinander getrennt und in einer „Einbahnstraßenkommunikation“– vereinigen: Im Sommer 2006 sahen 715,1 Millionen Menschen gleichzeitig, zu unter-schiedlichsten Tages- und Nachtzeiten, das Endspiel der Fußball-Weltmeisterschaft.

Die 4. Dimension im Fernsehenvon Silke Riemann

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Zeit im Fernsehen heißt zunächst auf Seiten der Produktion,dass sie eigentlich immer zu knapp ist. Dadurch entsteht einhoher Entscheidungs- und Arbeitsdruck, fortwährende Hektik unddas Empfinden, dass man Trends bloß hinterher hechelt, anstattneue zu setzen.

Fotos diese und nächste Seite:

Jens Heilmeyer

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In Geschichten (Spielfilmen, Serien) wird die erzählte Zeit struk-turiert durch Schnitte, Recaps als Zusammenfassungen des vor-angegangenen Geschehens, E-Shots zum Etablieren von Tag- undNachtwechseln, Rück- und Zukunftsblenden, Zeitlupe und -beschleunigung.

Die meisten dieser Mittel verdanken wir dem Film. Doch auch Fern-sehserien leisten einen eigenen Beitrag bei der Veränderung derWahrnehmung von Zeit: Während die einzelne Episode abge-schlossen (z. B. der Kriminalfall gelöst) wird, werden die Horizon-talen (Geschichten, die die Protagonisten über eine ganze Staffelbzw. darüber hinaus miteinander verbinden) mit offenen Fragenangereichert und somit spannend gehalten. Trotzdem sollte auchder Zuschauer, der die Vorfolge verpasst hat, schnell wieder in denStand der Handlung hineinfinden. Dies sicherzustellen ist u. a. dieAufgabe von Fernsehdramaturgen. Bei so genannten Cliff-Serien,vornehmlich Soaps, wird der dramatischste Punkt immer ans Endeder Folge gesetzt (Cliffhanger), damit der Zuschauer am nächstenTag oder in der nächsten Woche wieder einschaltet, obwohl jederweiß, dass niemand so lange an einer Klippe hängen kann.

Soll das Theater dem hohen Tempo der medialen Erzählungennacheifern oder mit Langsamkeit bewusst dagegenhalten? Bei derBeantwortung dieser Frage sollten sich die Theaterleute eines Vor-teils ihres Mediums gegenüber dem Fernsehen bewusst sein: Sieverfügen über die volle und alle Sinne umfassende Aufmerksam-keit der Menschen, denn Theater stellt für die Zeit der Aufführungeinen gemeinsamen Erlebnisraum her. Die Möglichkeit, dass derFernsehstar aus dem Bildschirm heraus ins Wohnzimmer derZuschauer tritt und sich zwischen sie auf die Couch setzt, bleibthingegen ein schöner Traum – oder ein Albtraum?

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Dr. Rainer Gruber, geboren 1941, promoviertein Quantenfeldtheorie undforschte die letzten 20Jahre am Max-Planck-Insti-tut für ExtraterrestrischePhysik in Garching bei München.

Wir leben in einer Zeit, in der sich Zeit wie ein eherner Käfigum uns gelegt hat. Schimmernde Armbänder verdecken kaum, dasswir von Zeit beringt sind wie die Hühner. Das Prinzip dieserZeit ist die abstrakt-gleichmäßige Taktung bis in alle Ewig-keit. Und ihre Unabhängigkeit von Raum und Geschehen.

Wir wissen, dass andere Völker von anderen Kontinenten ein ganz anderes Zeitverständ-nis haben. Wenn wir von der Zeit reden und „wir“ sagen, meint das: wir Europäer. Denndieses Zeitverständnis hat sich in Europa entwickelt. Die Universalisierung des europäi-schen Zeitverständnisses findet ihre Stütze in der Physik. Diese begreift sich selber alsobjektiv, und deshalb erscheint uns ihr Zeitverständnis als universal und wir mit ihm. Dochim Innern dieser Zeitmaschine läuft die Zersetzung dieses Zeitbegriffs.

Mit der Speziellen Relativitätstheorie verschmelzen Zeit und Raum unauflöslich. Gleich-zeitigkeit wird zur Chimäre. Die einst Ewigkeit verheißende Zeit zerfällt in Eigenzeiten,Raum und Zeit zersplittern. Mit der Allgemeinen Relativitätstheorie krümmt sich dieRaumZeit und explodiert, die RaumZeit-Krümmung wird zum Synonym für das Gravitati-onsfeld. Die Prinzipien einer Quantenfeldtheorie schließlich verlangen gebieterisch, diesesRaumZeit-Gebilde zu quantisieren. Der als kontinuierlich fließend begriffenen Zeit drohtdie Häckselung in diskretisierte RaumZeit-Zustände.

Schon schickt die innige Verschmelzung der Zeit mit dem Raum sich an, die bevorrechtigteStellung der Zeit, das Basiskonzept einer Physik, die auf Dynamik abhebt, zu schleifen. Mitdem Soziologen Alfred Sohn-Rethel sind die Geschütze von außen aufgefahren. SeineThese weist die von Kant als a priori postulierten Kategorien unseres abstrakten Den-kens – dazu gehören Raum und Zeit – als die kategorialen Formen aus, die dem Tauschaktin warenproduzierenden Gesellschaftsformationen innewohnen. Der Tauschakt, eine„Realabstraktion“, erzeugt nicht nur den Tauschwert, sondern in seinem Gefolge die daseuropäische Denken auszeichnende Spaltung in Subjekt und abstraktes Objekt.

Die materiell geronnene Form des Tauschwerts, das Geld, erscheint erstmals in den grie-chischen Städten Kleinasiens zu einer Zeit, als die Vorsokratiker – erste Vorboten deseuropäisch-rationalen Denkens – die Bühne betreten. Weit davon entfernt, universal zusein, entstammen die Kategorien des rationalen europäischen Denkens – folgen wir Sohn-Rethel – nicht einem transzendentalen, durch Objektivität geadelten Apriori der Indivi-duen, sondern sie entstanden mitsamt ihrem Objektivitätsanspruch gewissermaßen vorderen Haustüre als Korrelat der Art und Weise, wie sie sich als gesellschaftliche Wesen aus-getauscht haben. Der Käfig der Zeit scheint also selbst gewählt zu sein. Doch die Fragebleibt, was es ist, das die Physik zu einer so präzisen Wissenschaft macht, dass ein GPSfunktionieren kann.

Das Drama der europäischen Zeitvon Rainer Gruber

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Ernst Bechert1958 in Würzburg geboren,1979 – 84 Studium in Hamburg:Mathematik, Musikpädagogikund Komposition (bei U.Leyendecker und G. Ligeti),anschließend Studienaufent-halt in Italien bei LucianoBerio. Bis 2006 lehrte eran der Musikhochschule Mann-heim Komposition. Er lebtals freischaffender Kompo-nist in Hamburg. Werkaus-wahl: „Schreber“. Eine Kam-meroper. (1990/91) Librettovon Lukas B. Suter. Auf-tragswerk der Kampnagelfa-brik. „Der Schmutz – 100 easypieces“ Musiktheater nachTexten von Chr. Enzensbergeru. a. UA: Micro-Oper / E.Bechert, Münchner Biennale1996. „100 Wunderhörner, vonwo anders, Wunderhorn-Fina-le“ Teil des Projekts „Dasneue Wunderhorn“ UA: Philh-arm. Orchester / Chor Heidel-berg, 2007. Über 80 Film-und Theatermusiken.

In der Musik ist die Zeit gerastert - dem kontinuierlichen Fluss, der so schwer fasslich ist,wird eine Ordnung aufgeprägt. Die rhythmischen Grundelemente Metrum und Takt sindStrukturen regelmäßiger Pulsation; die Tondauern und das musikalische Tempo sind dar-auf bezogen (beats per minute). Aber auch die Tonhöhen sind in ein Zeitraster einge-spannt: die einzelne Schwingung wird regelmäßig wiederholt. Es gibt also ein „gequan-teltes“ Kontinuum, das von langsamer Pulsation (Metrum, Rhythmus) bis zu sehr schnel-ler Pulsation (hoher Ton) reicht. Mit gewöhnlichen Instrumenten ist das zwar nicht erfahr-bar, im digitalen Sampler wird es aber zur akustischen Realität – hier lässt sich ein getrom-meltes Staccato so weit beschleunigen, bis ein intensiv schnarrender Ton entsteht, undumgekehrt ein Ton soweit verlangsamen, bis er in einzelne Impulse zerfällt.

Besonders interessant sind für mich Erscheinungen, die in rhythmischen Grenzbereichenauftreten: beispielsweise habe ich in meinem Klavierstück „Amadinda“ zwei sehr schnel-le gezackte Pulsfolgen ineinander verzahnt. Dadurch treten sogenannte „inherent pat-terns“ auf, d. h. man hört kurze melodische Floskeln, die gar nicht gespielt werden - siewerden im Grunde erst im Kopf des Hörers erzeugt. Noch komplexer wird die Situation,wenn die zusammenspielenden Musiker voneinander unabhängige Raster verwenden: Dasreicht von leichter Asynchronität (in meinem Musiktheater „Bleckend weiss“) bis zumgleichzeitigen Beschleunigen und Verlangsamen von repetitiven Mustern („Trio Nr.1“ fürKlarinette, Marimba und Cello). Auch die Großform kann gerastert sein: Im Musikthea-terstück „Der Schmutz“ habe ich 100 kurze Episoden mit einer Durchschnittslänge vonknapp einer Minute aneinandergereiht, wobei die Reihenfolge verändert werden kann.Das Stück nach Texten von Christian Enzensberger und anderen umkreist das Thema des„Unreinen“, der „Störung“. Es wird keine Geschichte erzählt, aber doch ein Bogengespannt, und der Zuhörer nimmt die kleinteilige formale Struktur kaum wahr.

Eine solche Großform kommt nicht ohne die andere grundlegende Zeitstruktur aus: dieReprise. Die 100 Episoden sind nicht alle völlig verschieden; einige tauchen in leicht vari-ierter Form immer wieder auf und helfen mit, den Bogen zu spannen. Reprise kann abernoch mehr sein: Das Wiederholen von bereits Erklungenem umfasst auch das musikalischeZitat – in Bernd Alois Zimmermanns Konzept von der „Kugelgestalt der Zeit“ ist diegesamte Musikgeschichte jederzeit präsent und wird als Material in große Collageformeneingebaut. Mich interessiert freilich auch hier wieder mehr die Abweichung: Das unge-nau oder falsch erinnerte Zitat, oder (in „erased memory“ ) das Knacksen und Rauschen,das die alte ethnologische Aufnahme einer ausgestorbenen afrikanischen Sprache störtund den zeitlichen Abstand hörbar macht.

Raster und Reprisevon Ernst Bechert

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Étienne-Jules Marey: Gebeugter Lauf (abfotografierte Spuren, durch projizierte und überlagerte Filmbilder erzeugt. 1895.

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John von Düffel,1966 geboren, aufgewachsenin Londonderry /Irland,Diemelstadt/ Hessen, Ver-million/South Dakota undverschiedenen kleinerendeutschen Städten. 1985Abitur in Oldenburg. Nachdem Studium der Philoso-phie, Germanistik undVolkswirtschaft in Stir-ling/Schottland und Frei-burg im Breisgau 1989 Pro-motion über Erkenntnistheo-rie an der Albert-Ludwigs-Universität zu Freiburg(„Intentionalität alsAbsichtlichkeit“, Kohlham-mer, Stuttgart 1989).Anschließend Film- undTheaterkritiker für Presseund Rundfunk. 1991 Drama-turg für Schauspiel undTanztheater am Theater derAltmark in Stendal, 1993 amStaatstheater Oldenburg,1996 leitender Schauspiel-dramaturg am Theater Basel.Seit August 1998 Autor undDramaturg am SchauspielBonn. Ab Sommer 2000 Autorund Dramaturg am ThaliaTheater Hamburg.

Am Beispiel seiner Bearbeitungen von Thomas Manns „Buddenbrooks“ und TheodorStorms „Schimmelreiter“ wird John von Düffel, Autor und Dramaturg am Thalia Theater,über Stoffe und Zeitstrukturen sprechen, auch im Hinblick auf die zunehmende Integrati-on epischer Erzählelemente im zeitgenössischen Drama, z. B. bei Anja Hilling und DirkLaucke

Epische versus dramatische Zeit mit John von Düffel

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Das zunehmende Interesse an Romanbearbeitungen für die Bühnewirft die Frage auf, welche Struktur ein epischer Text habenmuss, um als „Drama“ funktionieren zu können. Wie verhält sichdie Dramaturgie eines Romans zu der eines Theaterabends undwie ist es möglich, die epische Zeit des Erzählens in drama-tische Zeit zu überführen, zu verdichten.

Étienne-Jules Marey: Gebeugter Lauf. 1895.

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Alexander Karschnia, Texter und Theoretiker, istMitbegründer des Künstler-InnenNetzwerks andcompany &Co. Nach dem Studium derTheater-, Film- du Medien-wissenschaften arbeitete ermit Christoph Schlingensief(„Chance 2000“), René Pol-lesch („Stadt als Beute 2“)und über Heiner Müller(„Shakespeare Factory“). Von2001 – 2004 war Karschnia imGraduiertenkolleg Zeiterfah-rung und ästhetische Wahr-nehmung Frankfurt/M. Er ist Mitherausgeber derBände: „Zum Zeitvertreib.Strategien-Institutionen-Lektüren“, Bielefeld 2005.„Na(ar) het Theater – aftertheater?“, Amsterdam 2007.

Im aktuellen Stück TIME REPUBLIC betrifft das: Juri Gagarins Raumfahrt 1961, die Kuba-Krise 1962, das Chicago 7 Trial 1968, die Mondlandung 1969 und den Mord an John Len-non 1980. Und jenen letzten Kosmonauten, der 1991 einsam im All kreiste, während sichtief unter ihm auf der Erde die Sowjetunion auflöste. Es war Jacques Derrida, der nachseiner Rückkehr aus Moskau feststellte, dass die Utopie der UdSSR ihr Name war, da erohne Referenz auf ein real-existierendes Territorium auskam: „Raumstaaten erzittert!“rief 1917 Velimir Chlebnikow, der „erste Präsident des Erdballs“ und verkündete die Grün-dung von Zeitstaaten. Natürlich ist es verführerisch, diese futuristische Idee auf die Bühnezu übertragen, liegt doch die große Chance des Theaters darin, die Zeit aus den Fugen zubringen, die „kapitalistische Dauer“ (Virno) zu perforieren mit der unmöglichen Vergan-genheit einer möglichen Zukunft oder der möglichen Zukunft einer unmöglichen Vergan-genheit. Werfen wir also einen Blick zurück nach vorn auf das, was vergangen ist ohne zugeschehen und das, was geschehen ist, ohne zu vergehen. Im Tischgespräch sollen anhandder Theaterarbeit von andcompany&Co. die Möglichkeiten eines Theaters jenseits des Dra-mas besprochen werden, das vor allem eines nicht mehr (aner)kennt: die Einheit der Zeit.

Links:www.andco.de

Porträt von andcompany&Co. in der nachtkritik:

http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=462

Über TIME REPUBLIC:

http://www.andco.de/textz-Archivare.htm

Temponauten-Theater: Alexander Karschnia in der Berliner Gazette:

http://www.berlinergazette.de/index.php?pagePos=12&id_text=53814

Theater als Sonderzeitzone von Alexander Karschnia

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Das Theater von andcompany&Co. versteht sich als Remix-Lab:Geschichte und Geschichten werden zu einem eigenen Statementneu abgemischt.

links: „revolutionary timing“ 2006

[li: Noah Fischer, re: Alexander Karschnia]

rechts: „time republic“ 2007

Foto: Peter Manniger

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Doch jeder Wunsch nach bekannten Ordnungsmustern wurde bereits am Eingang zu „DieErscheinungen der Martha Rubin“ enttäuscht. Die Zeit war zwar nicht stehen geblieben,aber sie tickte anders, sehr viel langsamer, wie ein Vergleich mit der eigenen Armband-uhr oder dem inneren Gefühl ergab. Ab und zu stand eine der uniformierten Frauen auf,um den Zeiger wieder entsprechend zurechtzurücken.

In der Nonstop-Performance-Installation des dänisch-österreichischen KünstlerduosSIGNA am Schauspiel Köln spielt Zeit eine wesentliche Rolle, sowohl was die Vorberei-tungen des Projektes betrifft als auch als bestimmender Faktor für die Performance selbst.Über ein halbes Jahr wurde von allen Beteiligten in die ehemalige Industriehalle Kalk

„Die Erscheinungen der Martha Rubin“Durational-Performance-Installationvon SIGNA am Schauspiel Köln vorgestellt von Signa Sørensen und Sybille Meier

Wer sich am letzten Oktoberwochenende 2007 in die Warteschlangevor dem Checkpoint Rubytown eingereiht hat in der Erwartung,bald die Grenze passieren zu können, mag ab und zu einen Ori-entierung suchenden Blick auf die Uhr geworfen haben, die überdem Schreibtisch der beiden Grenzsoldatinnen hing.

SIGNA Die Arbeiten der dänischenPerformance- und Installa-tionskünstlerin SignaSørensen und des öster-reichischen Performance-und Medienkünstlers ArthurKöstler – des KünstlerduosSigna – zählen zu den unge-wöhnlichsten und innovativ-sten Kunstprojekten derskandinavischen Theatersze-ne. Ihre meist über 100Stunden dauernden Perfor-manceinstallationen setzensich zusammen aus Elementender Popkultur, der Unter-haltungsindustrie und derFilmwelt, die sie mit unse-rer Realität konfrontieren.Ihre Arbeiten werden vonKritik und Publikum als„unkonventionell und rät-selhaft-verstörend“bezeichnet.

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Sybille Meier studierte Griechisch, La-tein und Germanistik an der Universität Heidelberg.Während des Studiums grün-dete sie die freie Gruppe„Perfides Theater“. Nachwissenschaftlicher Lehrtä-tigkeit war sie Referentinfür Presse- und Öffentlich-keitsarbeit am Theater ander Ruhr. 2001/02 arbeite sie drama-turgisch beim Antikenpro-jekt MANIA THEBAIA am Düs-seldorfer Schauspielhausmit. Draufhin folgte eineDramaturgieassistenz. Von2004 – 2006 war sie Drama-turgin am DüsseldorferSchauspielhaus mit demSchwerpunkt internationaleTheaterarbeit. Seit dieserSpielzeit ist sie Dramatur-gin am Schauspiel Köln.

eine eigene Welt gebaut aus zusammengesuchten Materialien und alten Wohnwagen.Über 40 Darsteller bewohnten und bespielten diese Siedlung aus Hütten, Geschäften,Bühne, Bar, Peepshow, Restaurant, Schönheitssalon und Kapelle nonstop – und zwar indrei Zyklen hintereinander: erst 36, dann 60 und schließlich 84 Stunden. Besucher blieben,so lange sie wollten, manche übernachteten dort oder kehrten immer wieder zurück.Kein Spiel war vorher verabredet.

Wie lässt sich dieses Format fassen, das zwischen Theater und Installationskunst, Dar-stellung und Interaktion, Experiment und Fiktion anzusiedeln ist? In welcher Weise istder Darsteller gefordert, der seinen fiktiven Charakter während der Performance niemalsverlässt? Wie re- und agiert der Besucher, je länger er sich darin aufhält und ihn das(distanzierende) Bewusstsein des Theaterbesuchs allmählich verlässt? Eine eigene fiktiveWelt behauptet ihr Recht auf Realität: Es gibt keine objektive Wahrnehmung eines Ganzenmit Anfang und Ende, sondern nur subjektive Erlebnisse einzelner Szenen und Hand-lungsstränge, die sich simultan an verschiedenen Orten entwickeln und sich im Laufe derZeit zu einer komplexen Geschichte um das 1913 verschwundene Orakel Martha Rubinzusammenfügen.

„Die Erscheinungen der Martha Rubin“ zur Eröffnung der Intendanz von Karin Beier amSchauspiel Köln ist das erste große Kunstprojekt von SIGNA in Deutschland. Ihre Arbei-ten wurden bereits erfolgreich in Dänemark, Schweden, Spanien und Argentinien realisiertund mit Preisen ausgezeichnet. Das ungewöhnliche, (Stadt-) Theaterkonventionen spren-gende Projekt wird aus der Innenperspektive von Signa Sørensen sowie der beteiligtenDramaturgin anhand von dokumentierendem Bild- und Textmaterial vorgestellt. Bereichertwird das Gespräch von den zahlreichen schriftlichen Zuschauerreaktionen.

Weitere Informationen unter www.signa.dk und www.schauspielkoeln.de.

„Die Erscheinungen der Martha Rubin“

Foto: Arthur Köstler / Signa Sørensen

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Boris Nikitin, geboren 1979, ist seit 2002Student der Angewandten Thea-terwissenschaft in Gießen.Er führt Regie bei Tanz- undPerformanceprojekten. Er warKurator und Organisator deseuropäischen Festivals fürTheater/ Tanz/ Performance„diskurs“. Seit 2007 organi-siert er zusammen mit JanRitsema das experimentelleAtelier „quality time“. ZurZeit arbeitet er am Formatvon Diskussionsperformances.www.diskursfestival.de

Im Licht der in den letzten Jahren stattgefundenen Umdeutung künstlerischer Lebensfor-men in ein Konzept der Kulturproduktion, das prototypisch für einen allgemeinen, selbst-ausbeuterischen Arbeitsethos steht, und das den Künstler in einen 24-Stunden-Arbeiterumwandelt, erscheinen freizeitliche Beschäftigungen wie das Umherschweifen, Sinnierenoder Observieren, die zuvor als Privilegien des Künstlerlebens außerhalb der Norm gal-ten, als Synthetisierung von Freizeit und Arbeit. Müßiggang ist nun „quality time“, ver-meintlich freie Zeit, die dazu dient, Material zur Schaffung von Kulturprodukten anzu-sammeln und das Private als Rohstoffkammer der wertschöpfenden Arbeit auszubeuten.

Seit längerem befassen sich Kunstschaffende daher mit der Frage, ob eine Zeit jenseits vonProduktionsprinzipen überhaupt möglich ist. Als Subjekte ihrer eigenen Arbeit sehen siesich dabei dem Paradoxon gegenübergestellt, dass jegliche Tätigkeit, selbst ihre Negation,letztlich als potentiell verwertbares Rohmaterial ihrer Arbeit in den Kreislauf der Verwer-tung einfließt. „quality time“ ist in diesem Sinne allgegenwärtig.

Lässt sich dennoch eine Lebensform denken, in der die Verantwortung sich selbst gegen-über nicht zwangsläufig in eine Verantwortung bzw. Unterwerfung gegenüber den Pro-duktionszwängen des Marktes umschlägt? Gibt es Modelle, in welchen Leben nach Qua-litätsgesichtspunkten nicht zwangsläufig Strategien informeller Wertschöpfung wider-spiegeln muss? Ist ein Konzept vorstellbar, in dem „quality time“ nicht lediglich Mittel zurHerstellung irgendeines Produktes ist, sondern wieder zu sich selbst führt? Was, wenn esbei „quality time” um nichts anderes geht, als „quality time“ zu haben? Wenn also dasProdukt selbst „quality time“ ist?

Unter der Überschrift „quality time“ haben sich für „Atelier 07“ zehn internationaleKünstlerinnen und Künstler in Giessen versammelt, um für das diskursfestival eine Eigen-produktion zu erarbeiten. Nach fünf Wochen vorbereitender Diskussionen und Auseinan-dersetzungen über E-Mail galt es, innerhalb von sieben Tagen eine Performance zu ent-wickeln, unter der einzigen Maßgabe, dass jede und jeder Einzelne ebenso wie die Gruppeals Ganzes sowie das Publikum der Präsentation „quality time“ hat und verbringt.

quality timevon Boris Nikitin

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Der Ausdruck „quality time“ stammt aus der Marktwirtschaft undmeint qualitativ hochwertige Freizeit, wie beispielsweise dasLesen eines guten Buches, das Betreiben von Sport, Wellnessoder Spazieren. Es handelt sich dabei um ein bewusstes Anwen-den von Entspannungs- und Erholungstechniken mit dem Ziel,sich ausgeruht, bereichert und inspiriert dem Berufsleben undder Wertschöpfung widmen zu können. Die Qualität der Zeitrichtet sich hier nach dem Maßstab der erreichten Fitness desEinzelnen für den Markt. Zeit ist hier genutzte Zeit, bewuss-te Zeit und produktive Zeit.

Atelier 07

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Joachim Schlömer,geboren 1962, wurde nacheinem Architekturstudium ander Folkwang Hochschule inEssen zum Tänzer und Cho-reografen ausgebildet.Einem ersten Engagement ander Brüsseler Opera folgtedie Gründung seines eigenenEnsembles, der CompagnieJosch. Nach ersten Erfolgenseiner Compagnie in London,Antwerpen, Brüssel und Lis-sabon übernahm er in Folgedie Direktion der Tanzthea-ter in Ulm, Weimar undBasel.Seit Ende der 90 Jahrearbeitet Joachim Schlömersynergetisch auch alsOpern- und Schauspielregis-seur. Seit 2001 ist erfreischaffender Regisseur.In San Francisco gründeteer mit David Finn das fish-house, eine Performance-gruppe; mit Graham Smith inLissabon dogs, eine Zwei-mannkompanie. Ihre ersteProduktion „speed.neither/nor“ ging auf Europatour-nee. Seit 2005 ist SchlömerKurator des pvc – physicalvirus collective an denTheatern von Freiburg undHeidelberg.

„Für den heutigen westlichen Menschen, auch wenn er kernge-sund ist, erzeugt der Gedanke an den Tod eine Art Hinter-grundgeräusch, das sein Gehirn erfüllt, sobald die Pläne undWünsche weniger werden. Mit fortschreitendem Alter wird dieGegenwart dieses Geräusches immer aufdringlicher, man kann esmit einem dumpfen Rauschen vergleichen, das manchmal von einemKnirschen begleitet wird. In anderen Zeitaltern wurde das Hin-tergrundgeräusch durch das Warten auf das Reich des Herrnerzeugt; heute wird es durch das Warten auf den Tod erzeugt.So ist das nun mal.“ [Michel Houellebecq]

Das Tanzstück „speed.neither/nor“ ist ein kompromissloses Werk über die Vergänglichkeitdes Seins. In schnellen, fast synchronen Bewegungen tanzen sich zwei Männer, JoachimSchlömer und Graham Smith, bis an den Rand des Möglichen und wieder zurück zum Still-stand.

www.pvc-tanz.de

speed.neither/norvon Joachim Schlömer

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Thomas FreyerUND IN DEN NÄCHTEN LIEGEN WIR STUMM Schauspiel Hannover · Regie: Tilmann Köhler

Juli ZehCORPUS DELICTIRuhrTriennale · Regie: Anja Gronau

Tina MüllerTÜRKISCH GOLDJunges Schauspielhaus Düsseldorf · Regie René Schubert

Sibylle BergHABE ICH DIR EIGENTLICH SCHON ERZÄHLT ... Dramatisierung: Andreas ErdmannDeutsches Theater Göttingen · Regie: Katja Fillmann

Händl KlausSAMMLUNG MARIANNE BOSCHBurgtheater (Akademietheater) Wien · Regie: Christiane Pohle

John von DüffelSIEBEN SONETTE nach ShakespeareAltes Schauspielhaus Stuttgart · Regie: Carl Philip von Maldeghem

David GieselmannNEFFE VETTER EIFFELTURMSaarländisches Staatstheater Saarbrücken · Regie: Daniela Kranz

Daniela JanjicGELBE TAGE Theater an der Winkelwiese, Zürich · Regie: Stephan Roppel

René PolleschDIE WELT ZU GAST BEI REICHEN ELTERN Thalia Theater Hamburg · Regie: René Pollesch

Tim StaffelNEXT LEVEL PARZIVAL RuhrTriennale in Koproduktion mit dem Theater Basel und Junges Theater Basel · Regie: Sebastian Nübling

Gerhild SteinbuchVERSCHWINDEN oder DIE NACHT WIRD ABGESCHAFFT Schauspielhaus Graz in Koproduktion mit dem steirischen herbst · Regie: Roger Vontobel

Theresia WalserEIN BISSCHEN RUHE VOR DEM STURMNationaltheater Mannheim · Regie: Burkhard C. Kosminski

Feridun Zaimoglu /Günter Senkel’68 ff.Schauspiel Hannover · Regie und musikalische Leitung: Franz Wittenbrink

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www.rowohlt-theater.de

THEATER VERLAG 2007/2008Eine Auswahl

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Elke Schmid,geboren 1960, lebt alsfreie Regisseurin, Kultur-organisatorin und Schau-spiellehrerin in Mannheim.Studium der Theaterwissen-schaften und private Schau-spielausbildung in München.Eigene Inszenierungen seit1989. Seit 1995 zahlreicheTheaterprojekte unter demLabel EX!T Ausgangspunkt-theater – kontinuierlicheEntwicklung und Erforschungvon Echtzeitdynamik /fokussierte Spontaneitätals Theatersprache. In Vor-bereitung: „Als sie aus demWagen stieg“, Premiere:17.01.2008. Zusammen mitGabriele Osswald, TiloSchwarz, Wolfgang Sauter-meister Gründung und Künst-lerische Leitung von zeit-raumexit e.V. in Mannheim.Seit 2000 kontinuierlichesVeranstaltungsprogramm mitjährlichem Festival („Wun-der der Prärie“). zeitrau-mexit ist ein interdiszi-plinäres Künstlerhaus mitdem Schwerpunkt Theater /Performance / BildendeKunst. www.zeitraumexit.de

Schmid: Die Idee, ein Tag- und Nacht-Festival zu machen, beschäftigt uns schon seitlängerer Zeit. Wir haben bei zeitraumexit immer wieder Durational Perfomances gemacht,unter anderem mit „Ulysses“ über die Zeitdauer von 18 Stunden. Im Jahr der 400-Jahr-Feier der Stadt Mannheim standen dann die Mittel zur Verfügung, unser „Wunder derPrärie Festival“ auf 400 Stunden auszudehnen, also 16 Tage und 16 Stunden non-stop.

Sautermeister: Ob die Zeit des Theaters eine andere ist als die des Performers,kommt auf den Betrachter an, auf seine subjektive Wahrnehmung von Zeit und Dauer.

Linders: Mein Eindruck zur Halbzeit des Festivals ist, dass Theaterproduktionen hierin einen performativen Rahmen eingebunden sind und so zu Performances werden. Wenneine Theaterprobe öffentlich ist oder wenn die Aufführung zu einer ungewöhnlichen Uhr-zeit gespielt wird und nicht zu der konventionellen Theaterzeit um 19:30, dann bekommtTheater auf einmal einen performativen Charakter, auch im Sinne von Einmaligkeit.

Oßwald: Der Kubus von 11 mal 11 Metern ist 400 Stunden durchgehend offen; jedeangefangene Stunde kostet 2 Euro. Das Publikum, das schon mehrfach zu unterschiedlichenZeiten da war, nimmt wahr, dass dieser Raum umstrukturiert wird, sich verändert. Das hatnatürlich immer auch einen Einfluss auf die einzelnen Vorstellungen. Die Energien, diedas enge Zeitraster und die Öffentlichkeit des Ortes bringen, sind deutlich zu spüren.

Sautermeister: Es ist seltsam, das Festival für ein paar Stunden Schlaf zu Hause zu ver-lassen. Das Abschalten ist schwierig. Das Wissen darüber, dass andere da sind, beruhigteinen nur bedingt. Es ist immer auch das Gefühl vorhanden, dass man etwas versäumt. Esbedeutet für mich selbst betrachtet, dass ich mehr Aufwand erbringen muss, mir die Zeitanzueignen.

Schwarz: Bei mir ist es komplett anders. Ich kenne von den zehntägigen Festivals, die wirbisher veranstaltet haben, den Punkt, irgendwann einmal am Stock zu gehen, sehr deut-lich. Wenn man z.B. die technische Organisation leitet und gleichzeitig acht unterschiedli-che Orte betreuen muss. Das ist bei diesem Festival durch die Zentrierung und Konzentrati-on auf einen Raum ganz anders. Ich bin in eine andere Zeit gerutscht. Die Zeit dehnt sich,der Raum dehnt und streckt sich hier drin und in mir irgendwie auch. Es ist auch die Zeitda, zu mir zu kommen. Aufgezeichnet von Ulrich Volz.

www.wunderderpraerie.de

„400 STUNDEN NONSTOP“STUNDE 211 / 14:02 Uhrvon Elke Schmid

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Ein „Konzept-Gespräch“ in Anlehnung an John Cages Spielprinzip„Indeterminacy“: Jeder der vier Festivalleiter Gabriele Oßwald,Wolfgang Sautermeister, Elke Schmid, Tilo Schwarz und der Ge-sprächsleiter Jan Linders hat genau eine Minute Zeit, eine klei-ne Geschichte aus dieser Festivalchronik („Wunder der Prärie“)zu lesen und später auf Fragen zu antworten. Ob viel oder wenigText, den Sprechenden steht hierfür jeweils nur eine Minute Zeitzur Verfügung. Ein Strukturprinzip, das dem Festival „400 STUN-DEN NONSTOP“ sehr nahe kommt. Der eigenwillige Rhythmus diesesGesprächformats ist in Schriftform leider nicht zu vermitteln.

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Brigitte Dethier ist seit 2002 Intendantindes Jungen Ensemble Stutt-gart (JES) und Leiterin desinternationalen Festivals„Schöne Aussicht“. Siebegann ihre Theaterlaufbahnan der Schauburg, dem Thea-ter der Jugend in München.Von 1989 – 1993 war sieKünstlerische Leiterin desKinder- und Jugendtheatersan der WürttembergischenLandesbühne Esslingen, von1993 – 1995 in gleicher Funk-tion am Landestheater Würt-temberg-Hohenzollern inTübingen, von 1996 – 2002Direktorin des Schnawwl, desKinder- und Jugendtheatersam Nationaltheater Mannheim.Neben ihrer Tätigkeit alsKünstlerische Leiterin undRegisseurin setzt sich Bri-gitte Dethier in internatio-nalen Verbänden und Organi-sationen für die Förderungdes professionellen Kinder-und Jugendtheaters ein. Soist sie z. B. im Vorstandder deutschen ASSITEJ und im

Wie lang ist ein Sommer? Wie lang die Zeit zwischen Weihnachtenund Weihnachten? Und wie lang sind eigentlich fünf Minuten?– Fragen, auf die wir je nach Situation ganz unterschiedli-che Antworten haben. Manchmal kann eine Stunde nicht schnellgenug vergehen, manchmal dehnt sie sich ins Unendliche. Vorallem aber sind die Antworten abhängig vom Alter: Als Kinderhaben wir Zeit im Überfluss, später laufen wir ihr nach undwerden gleichzeitig von ihr gehetzt, im Alter zerrinnt sieuns zwischen den Händen. Unsere Perspektive auf Zeit undLebenszeit verändert sich. Wir wollen älter werden, wenn wirjung sind, aber jünger bleiben, wenn wir älter werden.

Gemeinsam mit dem Ensemble und jugendlichen Darstellern gehen JES-Intendantin Bri-gitte Dethier und der belgische Choreograf Ives Thuwis ab Mitte März dem Geheimnisder Zeit nach und erzählen zugleich vom Älterwerden, von zu- und abnehmenden Fähig-keiten und Fertigkeiten, vom Aufbrechen und Ankommen, vom Gegen- und Miteinanderder Generationen. Das choreografische Projekt „Wie lang sind eigentlich 5 Minuten?“wird am 31. Mai das internationale Festival „Schöne Aussicht“ am Jungen Ensemble Stutt-gart eröffnen. Zum ersten Mal stehen dabei die JES-Schauspieler gemeinsam mit jugend-lichen Spielern auf der Bühne.

Ausgangspunkt des Projektes ist das Spielzeitthema: „Älter werden – oder wie die Zeitvergeht“. In seinen Inszenierungen, Spielclubs und begleitenden Veranstaltungsreihenwidmet sich das JES ein Jahr lang dem Thema Zeit und Lebenszeit. Was bedeutet es bei-spielsweise, wenn junge Menschen herausgerissen werden aus der Zeit und sterben?Wie beschäftigen sich Kinder mit dem, was für sie meist unendlich weit entfernt scheint,was kommt für sie nach dem Ende der Lebenszeit? Fragen, die bei der Inszenierung „DieBrüder Löwenherz“ im Mittelpunkt standen.

Bei dem Projekt „Wie lang sind eigentlich 5 Minuten?“ (wie auch bei dem Tagungs-Workshop) geht es eher um das subjektive Zeitempfinden. Wir suchen nach individuellenAntworten auf allgemeine Fragen: Was ist diese Zeit, die uns unendlich erscheint unddann wieder viel zu kurz? Welche Zeit ist die Maßgebende? Die hinter uns, die vor uns,oder die dazwischen? Was ist ein Augenblick? Hat sich die Zeit verändert in letzter Zeit?Hat sie sich tatsächlich beschleunigt, weil immer mehr in immer weniger Zeit passierensoll?

Die Arbeit des 2004 gegründeten Kinder- und Jugendtheaters JES basiert auf drei Säu-len: dem professionellen Ensemble mit drei fest engagierten Schauspielern und einemfesten Stamm von Gästen, der vergleichsweise großen theaterpädagogischen Abteilung,die neben Vor- und Nachbereitungen und vielen Fortbildungen vor allem eine ausgeprägteProjektarbeit mit Kindern und Jugendlichen anbietet, sowie einem internationalenSchwerpunkt mit länder- (und genre-) übergreifenden Kooperationen und dem alle zweiJahre ausgerichteten Festival „Schöne Aussicht“. Ein Schwerpunkt der künstlerischenArbeit im JES sind Stückentwicklungen: die gemeinsame autorische Arbeit sowohl vonSchauspielern wie von Regie und Dramaturgie während des Probenprozesses.

„Wie lang sind eigentlich 5 Minuten?“Choreografisches Projekt am Jungen Ensemble Stuttgart [JES]

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Christian Schönfelder ist seit Sommer 2006 Drama-turg am Jungen EnsembleStuttgart. Nach einem Volon-tariat und zwei Jahren alsSportredakteur bei der Gos-larschen Zeitung, einer Welt-reise und einem Dramaturgie-Studium an der SpielstattUlm/Akademie für darstellen-de Kunst war er von 1997 –1999 Dramaturg am zwinger3(Kinder- und Jugendtheaterder Stadt Heidelberg), von1999 – 2002 Dramaturg amSchnawwl (Kinder- und Jugend-theater am NationaltheaterMannheim) und von 2001 – 2005PR-Dramaturg am Schauspieldes Mannheimer Nationalthea-ters sowie für die Interna-tionalen Schillertage. www.jes-stuttgart.de

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Kuratorium für das Kinder-und Jugendtheaterzentrum inder Bundesrepublik Deutsch-land. Außerdem ist sie Vor-standsmitglied des Landes-verbandes Baden-Württembergim Deutschen Bühnenverein.

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Klaus Schumacherin Unna geboren, studierteangewandte Kulturwissen-schaften an der UniversitätHildesheim und gründete wäh-rend des Studiums das Thea-ter „ASPIK“ mit. Von 1995 –2005 war er Mitglied des„moks“-Ensembles am BremerTheater und 2000 – 2004 des-sen Leiter. Seine Inszenie-rungen von „Cyrano“ und„Playback Life“ wurden zumBerliner Kinder- und Jugend-theatertreffen eingeladen.Er inszenierte am Staatsthea-ter Stuttgart, am SchauspielHannover und am Schauspieldes Bremer Theater. Seit2005 leitet Klaus Schumacherdie neu gegründete Sparte„Junges Schauspielhaus“ amDeutschen Schauspielhaus inHamburg. 2006 erhielt er alsersten Kinder– und Jugend-theaterregisseur den Deut-schen Theaterpreis „DerFaust“.

Die Echtzeit – Erzählzeit im TheaterBereits in der Planungsphase war klar, dass „Die Odyssee“ im Jungen Schauspielhaus vierStunden dauern wird. Mit Ad de Bont hatte ich einen umfassenden, vertiefenden Text ver-einbart, der teils in Hexametern, teils in heutiger Sprache die Irrfahrten des Odysseus ver-handelt.Außerdem sollten heutige „Odysseen“ von Kindern erzählt werden.Aber inwieweitüberfordert solch eine lange Erzählzeit im Theater ein junges Publikum ab zwölf Jahre hin-sichtlich der Lust und Konzentrationsfähigkeit? Aus zahlreichen Gesprächen mit jungenZuschauern haben wir inzwischen erfahren, dass die Dauer der Theatervorstellung keinProblem darstellt. Vielmehr wird sie als eine besondere Zeiterfahrung empfunden, da mitzwei Pausen und Verpflegung eine richtige Theaterreise erlebt werden kann. Im Vordergrundsteht jedoch die inhaltliche und ästhetische Erfahrung mit den erzählten Geschichten.

Die historische Zeit – Die erzählte ZeitDie Odyssee von Homer aus dem achten Jahrhundert vor Christi erzählt die Geschichte desKönigs von Ithaka, der durch den Trojanischen Krieg und seine anschließenden Irrfahrten zumHelden wurde. Uns ging es in der Bearbeitung des Stoffes um die Suche nach einem Begriffvon Heimat, um den Topos der ewigen Liebe und vor allem um den heldenhaften Kampfdes Menschen gegen das Schicksal, das durch die Götter verkörpert wird. Um auch heutigeIrrfahrten von Kindern zu erzählen, die in unserer Welt immer noch erzwungen werden,erweiterten wir den Stoff mit historisch belegten Ereignissen während der Militärjunta inArgentinien und um eine Fluchtgeschichte von marokkanischen Einwandererkindern.

Zeitverläufe – Erzählende ZeitOdysseus ist 17 Jahre von seiner geliebten Penelope und seinem Sohn Telemach getrennt.Obwohl er die Zeit über weite Strecken mit attraktiven Nymphen und Halbgöttinnen ver-bringt, treibt ihn die Sehnsucht über viele Stationen zurück in seine Heimat. Dieses nichtenden wollende Sehnen ist eine der Triebfedern seines Handelns. Das Epos selbst – und soauch unser Kernstück – umschreibt nur eine kurze Zeitspanne von etwa zwei Wochen.Währenddessen erzählt Odysseus von den Irrfahrten, bis er schließlich nach Hause zurück-kehrt. Um darüber hinaus den grundsätzlichen Motiven weiter nachzugehen, fügt Ad deBont mit der Sterbeszene der Penelope eine Art Epilog an und erweitert dadurch die zeitli-chen Ebenen um eine erzählte Zukunft, die aus heutiger Sicht weit in der Vergangenheit liegt.

Die OdysseeUraufführung von Ad de Bont.Aus dem Nieder-ländischen vonBarbara Buri. RegieKlaus Schumacher.Do, 31.01.2008 um18:00 Uhr im Jun-gen Schauspielhaus.Weitere Infos unter: www.schauspielhaus.de

2007: Odyssee im Theatervorgestellt von Klaus Schumacher

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In seinem Meisterwerk „2001“ verwandelt Stanley Kubrick einenKnochen in ein Raumschiff und umreißt mit diesem wohl berühm-testen Zeitsprung der Filmgeschichte die Odyssee der Mensch-heit und ihre Suche nach Bestimmung.

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Prof. Dr. Hartmut Rosa,geboren 1965, ist Professorfür allgemeine und theo-retische Soziologie an derFriedrich-Schiller-Univer-sität Jena und regelmäßigerGastprofessor am Departmentof Sociology an der NewSchool University in NewYork. Seine Forschungs-schwerpunkte sind nebenzeitsoziologischen undmodernen theoretischenUntersuchungen die Theorie-strömung des Kommunitaris-mus und das Verhältnis vonpolitischer Kultur und bür-gerschaftlichem Engagement.Seine viel beachtete Studie„Beschleunigung. Die Verän-derung der Zeitstrukturenin der Moderne“ ist 2005 imSuhrkamp Verlag Frankfurt/M.erschienen.

Wir sind gehetzt. Wir sind spät dran. Uns läuft die Zeit davon.Wir sind ununterbrochen mit ‚Multitasking’ beschäftigt: Hierein Anruf, dort eine Besorgung, hier rasch eine Aufgabe dazwi-schen geschoben, dort geschwind einen Auftrag weitergeleitet,und schon sind wieder drei E-Mail-Nachrichten eingegangen.Atemlos und gedanklich zerstreut an hunderterlei völlig hete-rogene Dinge erreichen wir unseren Platz im Theater, getrie-ben von notorischer Unruhe: Dieses Gespräch haben wir nochnicht geführt, jenen Brief vergessen, einen Kollegen nichtinformiert, noch kein Geburtstagsgeschenk für den Sohn besorgt.

So präsentiert sich der Alltag des durchschnittlichen deutschen Theatergängers. So prä-sentiert sich unser aller Alltag: Er zerfällt in sich überlagernde Zeit- und Aufmerksam-keitsfragmente, die mit hoher Geschwindigkeit aufeinander folgen, sich aber zu keinemLebensganzen mehr zusammenfügen und in uns das Gefühl permanenter Gehetztheiterzeugen. Was auch immer wir tun – stets sind wir schon zu spät dran, wenn wir damitanfangen.Kaum aber verdunkelt sich das Saallicht, sind wir gefangen, werden wir geradezu zwangs-entschleunigt: Handy aus. Kein Computer in Reichweite. Wir können jetzt nirgendwohingehen, nicht mal eine Notiz machen. Wir sind geradezu auf dem Sitz festgenagelt. Nurwenige haben das Glück, am Rand zu sitzen und so wenigstens die Illusion der Bewe-gungsautonomie aufrechterhalten zu können – sie bezahlen dafür mit schlechterer Sichtund suboptimaler Akustik. Für die nächsten ein, zwei, selten auch drei Stunden werdenwir zum absoluten ‚Monotasking’ gezwungen, wenngleich unser Geist, insbesondere inder ersten halben Stunde, noch unruhig hierhin und dorthin wandern mag. Und diesesMonotasking ist auch noch ausgesprochen passivisch: Wir sind zum Schweigen und Still-sitzen verurteilt!

Das Theater stellt damit – ähnlich wie auch das Kino – geradezu eine „Entschleuni-gungsoase“ für den modernen Menschen dar. Indem es uns der Chance beraubt, wegzu-zappen oder aufzustehen und Dringendes, das uns eben einfällt, zu erledigen, entlastetes uns (für die Dauer der Vorstellung) auch von der Verantwortung, unser Bewusstseinnach Unerledigtem abzusuchen und auf effizientere Weisen und Möglichkeiten der Zeit-nutzung zu drängen.Aber das ist beileibe nicht die einzige Zeit-Funktion des Theaters. Indem es unseremBewusstsein auf der Bühne einen Ankerpunkt bietet, zwingt es uns zugleich in einen kol-lektiven Zeit- und Erfahrungsrhythmus: Es gibt nicht mehr viele Orte in unserer fragmen-tierten Gesellschaft, in der die Aufmerksamkeit von zugleich anwesenden Menschen aufdieselbe Geschichte, dieselben Worte, Gefühle, Geräusche und Bilder gelenkt wird, so dassviele gleichzeitig Ähnliches als Kollektives erleben. Nur das Fußballstadion oder das Rock-konzert sind in dieser Hinsicht ähnlich einschlägig.Zugleich eröffnet uns die „Zeitinsel“ Theater die Chance, durch die exemplarische, expres-sive und experimentelle Darstellung und Erprobung fremder Zeithorizonte und Zeitmusterunsere eigenen Zeiterfahrungen gleichsam von außen zu betrachten und in Frage zu stellen.

Zeit scheint uns handelnden Menschen stets eine Naturtatsache zu sein: Sie ist eben da,und sie ist irgendwie immer knapp. Deshalb stellen wir die Zeitzwänge und -rhythmenso gut wie nie in Frage. Tatsächlich aber ist Zeit eine soziale Konstruktion und die moderne

Entschleunigungsoase und Erfahrungs-raum – Die Zeitstrukturen des Theatersvon Hartmut Rosa

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Gesellschaft wie keine Gesellschaft jemals zuvor eine zeitgesteu-erte: Niemand schreibt uns mehr über moralische Gebote und Ver-bote vor, wie wir zu leben haben. Wir können glauben, wählen,heiraten, unsere Freizeit verbringen usw. wie wir wollen. Wiesoaber fühlen wir uns dann dauernd im Stress, haben ständig dasGefühl, unter Druck zu sein, vor einer endlos langen Liste an Auf-gaben zu stehen und daher nie Zeit für das zu haben, was uns„wirklich wichtig“ ist? Weil sich das Dringende stets vor das Wich-tige schiebt! Die Auftragsfristen, Verfallstermine und Deadlineskommen in immer dichterer Folge und werden immer enger gezo-gen: Vorschulische Ausbildung spätestens mit drei, in die Schulemit fünf, Abi nach zwölf statt dreizehn Jahren, Studienabschlussnach sechs statt zehn Semestern etc. Moderne Gesellschaften wer-den über Fristen und deadlines gesteuert und koordiniert, nichtüber Normen. Daher erwecken sie den Eindruck, ihren Mitgliedernvöllige Freiheit zu gewähren, während sie sie in Wahrheit unterstärkeren und totaleren Druck setzen, als es traditionalistischeGesellschaften je vermocht hätten.

Dadurch erzeugen sie für die in ihnen lebenden Subjekte aber eingroßes Problem. Ihnen (also uns!) droht die Vermittlung von All-tagszeit, Lebenszeit und historischer Zeit zu misslingen. Als Sub-jekte sind wir gezwungen, drei grundverschiedene Zeitebenengleichzeitig im Blick zu behalten, sie miteinander zu vermittelnund zu harmonisieren: Die Alltagszeit (wann fährt der Bus, gleichschließt der Laden, um 16 Uhr muss die Tochter abgeholt wer-den); die Lebenszeit („mit 63 will ich in Rente gehen, bis dahin einEigenheim besitzen; ich möchte glückliche Kinder haben und beruf-lich bis zur Stelle eines Abteilungsleiters vorankommen, zugleichmöchte ich mich als Geiger oder als Katholik entwickeln“);und schließlich die geschichtliche Zeit der eigenen Epoche („In derheutigen Zeit muss man flexibel sein; heute kann man nicht mehreinfach Gärtner lernen, man muss Abitur machen; im Zeitalter derGlobalisierung muss man mindestens eine Fremdsprache kön-nen.“). Im Zeitalter der Beschleunigung fällt es uns aber immerschwerer, diese Vermittlungsleistung auf überzeugende Weise zuvollbringen: Wer kann schon noch einen sinnvollen Zusammen-hang herstellen zwischen den oft sinnlosen, von Hetze geprägtenAlltagspflichten und den Lebenszielen? Haben wir überhaupt nocheinen lebenszeitlichen Horizont? In der Regel begnügen wir unsdamit, unsere je momentane Existenz vor uns selbst und anderenals vorübergehend zu rechtfertigen: Ich mache das halt jetzt malso („Ich mache jetzt diese Ausbildung; ziehe eben mal – für eineZeit – nach soundso; probiere es mal, mit X oder Y zusammenzu-leben.“) – was die Zukunft bringt, bleibt offen („Gut möglich, dassich alles wieder rückgängig mache oder ändere – oder dass sichdie Umstände ändern.“). Und was uns das Zeitalter noch allesabverlangen mag, lässt sich ohnehin nicht vorhersagen – die Weltist kaum mehr lesbar. Kurz: Alltag, Leben und Epoche zerfallen undfragmentieren ebenso wie unsere Zeiterfahrung.

Nicht selten wird uns ebendies im modernen Theater schonungs-los vor Augen geführt. Im Handeln der Akteure begegnet uns dieseFragmentierung, diese Desynchronisation noch einmal. Letztlichgeht es im Theater ja genau darum: Wir erleben fremde Akteuredabei, wie sie ihren Alltag mit ihrem Leben und ihrer Epoche zu

vereinbaren suchen, wie ihnen das (selten genug) gelingt und wiesie daran (zumeist) scheitern; wie sie ihrer Zeit voraus sind oderhinterherhinken, wie sie von den Verhältnissen abgehängt wer-den oder sich ihnen anpassen, wie sie im Dickicht der Alltagssor-gen ihre Lebensziele aus den Augen verlieren oder wie sie ihrenAlltag grundlegend umgestalten, um ihn mit jenen Zielen in Ein-klang zu bringen.Die Theaterbühne wird damit unweigerlich zu einem Ort der Zeit-experimente: Sie verdichtet und dehnt die Zeit, sie ist eine Zeit-maschine, die uns über Epochengrenzen hinwegträgt, Lebenszei-ten auseinanderreißt und wieder zusammensetzt, mittels fastfor-ward und slowmotion Zusammenhänge und Brüche sichtbar wer-den lässt, die uns sonst – zumal im eigenen Leben – verborgenblieben. Hier wird in der Alltagsepisode sichtbar und spürbar, wiesich die Muster und Horizonte der Epochenzeit und der Lebens-zeit im Handeln und Erleben der Subjekte niederschlagen – undumgekehrt. Und indem das Theater Tempo, Rhythmus, Sequenz undDauer von Ereignissen beliebig variieren kann, wird es auch zueinem Experimentierraum für andere Zeitmuster und andere Zeit-erfahrungen, die durch Kontrastierung unsere eigenen Zeithori-zonte in Frage stellen. Wenn es stimmt, dass unsere Gesellschaftüber verborgene, aber ungemein wirkmächtige Zeitnormen undZeitmuster gesteuert wird, ist das Theater ihr vielleicht letzter revo-lutionärer Ort.Weil uns das Theater aber vorübergehend zu Gefangenen macht(Ausbruchsversuche während der Vorführung sind selten und ste-hen unter starkem Sanktionsdruck in Form kollektiver Missbilli-gung), eröffnet es uns zugleich die Chance, Erfahrungen zumachen, zu denen wir sonst nie kämen: Unsere Epoche zeichnetsich, wie schon Walter Benjamin spekulierte und wie sich heutemit Hilfe sozialpsychologischer Befunde auch „empirisch“ zeigenlässt, dadurch aus, dass sie ungemein erlebnisreich, aber zugleichschrecklich erfahrungsarm ist. Ein Erlebnis ist noch keine Erfahrung,solange es eine unverbundene, fragmentierte „Episode“ in unseremWahrnehmungs- und Erlebensstrom bleibt. Ein Fernsehkrimi oderein Computerspiel etwa mögen sehr intensive Erlebnisse sein, abersie werden nicht zu Erfahrungen, weil sie nicht zu einem organi-schen Teil unserer Identität und unserer Lebensgeschichte werden,weil sie untereinander unverbunden bleiben und wir sie uns nicht„anverwandeln“. Im Gegensatz zu wirklichen Erfahrungen (derersten Liebe etwa oder des ersten Rockkonzerts) werden wir sieschon bald vergessen haben. Im modernen Leben reiht sich unauf-hörlich eine Erlebnisepisode an die andere; wir erinnern uns baldnur noch mit Hilfe von Fotos und Souvenirs an sie. Zu einem Erfah-rungsganzen fügen sie sich nicht mehr zusammen. Das erklärtauch, wieso uns die Zeit gewissermaßen „an beiden Enden“ zurasen scheint: Da wir einerseits Meister darin sind, die Erlebnis-episoden so rasch wie möglich aufeinanderfolgen und so stimu-lationsreich wie möglich werden zu lassen, vergeht die Zeit imErleben rasch (sie rast in der Wahrnehmung) – da wir uns aber spä-ter kaum mehr an die Erlebnisse zu erinnern vermögen, weil siegegeneinander isoliert bleiben und nichts mit unserer Identitätund gelebten Geschichte zu tun haben, schrumpft die erlebte Zeitin der Rückschau, in der Erinnerung auf fast nichts zusammen: Wie-der ist ein Jahr um, und wir haben das Gefühl, es hätte geradeerst angefangen …

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Deutsches Schauspielhaus„Die Odyssee“ 18:00 – 22:00, Malersaal,

Marmorsaal & Rang foyer

R: Klaus Schumacher

Thalia Theater„Penthesilea“20:00 Alstertor

R: Stephan Kimmig„Gerettet“20:00 Gaußstraße

R: Jette Steckel

KampnagelTeil der Tanzthemenreihe„forever young“ „Histoires“ 19:00

R: Olga de Soto

„Voilà!“ 21:00 R: Philippe Olza

Programm: Symposion „Geteilte Zeit“

Theater zwischen Entschleunigungsoase & Produktionsmaschine

Donnerstag 31.01.08

Freitag 01.02.08

19:00 – 23:00

ab 22:00 – 01:00

Eintrödeln im „Nachtasyl“, Thalia Alstertor

Die einzelnen Formate im Überblick:

10:00 – 10:30

10:30 – 12:00

12:00 – 12:30

Begrüßung Karin von Welck [Kultursenatorin, Hamburg], Ulrich Khuon [Intendant, Thalia TheaterHamburg], Peter Spuhler [Vorsitzender der Dramaturgischen Gesellschaft, Intendant, Theater undPhilharmonischen Orchester der Stadt Heidelberg]

Eröffnungsvortrag Bernhard Waldenfels [Philosoph, München] Koreferat Hans-Thies Lehmann [Theaterwissenschaftler, Frankfurt am Main / GraduiertenkollegZeiterfahrung und ästhetische Wahrnehmung] Moderation: Jan Linders

Kurzpräsentation des Tagesprogramms und der Formate durch den Vorstand der dg

* Begrenzte Teilnehmerzahl, um frühzeitige Anmeldung vor Ort wird gebeten.

Meditation

Geselligkeit

Vortrag / Koreferat

Tischgespräch *

künstl. Projekt-präsentation /Workshop *

Diskussion

Theaterbesuch

Lesung

Pause

gesamte Tagung CHRONOTOP - Zeit visuell +++ Installation zum Thema Zeit +++ In Zusammenarbeit mit der Bühnenraumklasse von Prof. Raimund Bauer [Hochschule für bildende Künste Hamburg].

Tagungsort: Gaußstraße

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Freitag 01.02.08

Samstag 02.02.08

12:30 – 14:00

14:00 – 15:30

15:30 – 18:30

ab 19:00

Sabine Graf[Business Coach]:Zeitmanagementim Informations-zeitalter

Rainer Gruber[Physiker]:Das Drama dereuropäischenZeit

Kai van Eikels [Kul-turwissenschaftler]:Synchronisie-rung. Zum Ge-brauch von Zeit-differenzen

Hinderk M. Emrich[Neurologe & Psychia-ter]: Die Verwand-lung von Zeit inGegenwart: Zeit-transzendenz

Mittagspause [Restaurant FO]

„Iphigenie“19:30 Thalia

Alstertor,R: Nicolas Stemann

„Romeo und Julia“19:30 Thalia Gauß-

straße, R: AndreasKriegenburg

Kampnagel„China istunsere Zu-kunft” 21:00

R: geheimagentur

Staatsoper „La Bohème“19:30

R: Guy Joosten

Ernst Bechert[Komponist]:Raster und Re-prise – rhyth-mische Grenz-bereiche[Diskussion]

Brigitte Dethier[Intendantin, JES] undChristian Schönfelder[Dramaturg, JES]: Wielang sind 5 Mi-nuten? Choreogra-fisches Projekt am JES– Jungen EnsembleStuttgart [Projekt-

präsentation und

Workshop, 90 Min.]

John von Düffel[Dramaturg am ThaliaTheater und Autor]:Epische versusdramatische Zeit [Workshop

zur Romanadaption,

90 Min.]

Alexander Karschnia[Performer und Theo-retiker der andcom-pany & Co]:Temponauten-Theater am Bei-spiel von timerepublik[Projektpräsenta-

tion]

10:00 – 11:30

11:30 – 12:00

12:00 – 13:30

13:30 – 15:00

15:00 – 18:00

Vortrag Hartmut Rosa [Soziologe, Jena / New York]Koreferat Nikolaus Müller-Schöll [Theaterwissenschaftler, Bochum / Gießen] Moderation: Hans-Peter Frings

Kurzpräsentation des Tagesprogramms + Zwischenresümee durch den Vorstand der dg

Hans-Friedrich Bor-mann [Theaterwissen-schaftler, Freie Univer-sität Berlin]:Für ein Theaterder Langeweile

Maren Butte[Kulturwissenschaftle-rin „eikones“,Nationa-ler Forschungsschwer-punkt Bildkritik, Uni-versität Basel]:Zeit und Affekt

Nikolaus Müller-Schöll[Theaterwissenschaft-ler,Universität Bochum/Institut für AngewandteTheaterwissenschaftGießen]:Politik [in]der Darstellung

Patrick Primavesi[Theaterwissenschaft-ler, Johann WolfgangGoethe-Universität Frankfurt a. M.]:Zeit, Theaterund Fest

Mittagspause [Restaurant FO]

Sebastian Baumgar-ten [Opern- & Schau-spielregisseur – ange-fragt]:Ästhetische Di-mension von Zeitim Musik-und imSprechtheater[Gespräch]

Kerstin Evert[Dramaturgin Kamp-nagel, Leiterin Tanz-plan Hamburg]:Produktions-Zeitim Tanz[Projektpräsenta-

tion]

Florian Feigl[Performer der Wag-ner-Feigl-Forschung]:Zeit alsKategorie derPerformance[Workshop, 90 Min.]

geheimagentur[Sybille Peters / Kaivan Eikels / MatthiasAnton]:Prognosen überBewegungen[Projektpräsenta-

tion]

Programm: Symposion „Geteilte Zeit“

Thalia Theater

gesamte Tagung +++ CHRONOTOP - Zeit visuell +++ Installation zum Thema Zeit +++

Tagungsort: Gaußstraße

Tagungsort: Gaußstraße

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Deutsches SchauspielhausVeranstaltungsreihe ENTSCHLEUNIGUNG!

„Rasender Stillstand. Tempolette“20:30, Rangfoyer

R: Studenten der Theaterakademie Hamburganschließend „Beyond History“ca. 22:30, Malersaal

R: Kevin Rittberger

Markus Klimmer[Unternehmensbera-ter, McKinsey]:Zeitökonomie

Hans-Thies Lehmann[Theaterwissenschaft-ler]: SzenischeZeit

Silke Riemann[Fernseh-Autorin]:Schnellersehen im TV

Bernhard Walden-fels [Philosoph]:Phänomenologieder Zeit

Signa Sørensen /Sybille Meier:durational per-formance imStadttheateram Beispiel von SIG-NAs „Die Erscheinun-gen der Martha Ru-bin“ [Projektprä-

sentation]

Boris Nikitin[Performance-Kuratorund Regisseur]:quality timeatelier 07/diskurs 07,Gießen [Projektpräsen-

tation]

Elke Schmid[Co-Leiterin von „zeit-raumexit“,Mannheim]:Wunder der Prä-rie. 400 StundenNonstop-Festival[Projektpräsen-

tation]

Joachim Schlömer[Choreograph und Re-gisseur] speed. neither/nor[Projektpräsen-

tation]

Klaus Schumacher[Künstlerischer LeiterJunges SchauspielhausHamburg]:2007 Odyssee imTheater[Projektpräsen-

tation]

Dirk Pilz[Kritiker, u. a.www.nachtkritik.de]:Was lange währt,wird manchmalschlecht. Aktu-alität + Archiv– Theaterkritikim Netz

Hartmut Rosa[Soziologe, Friedrich-Schiller-UniversitätJena]:Soziale Be-schleunigung

Dietmar Schädel[Dozent für Fotografie,Universität Duisburg-Essen:StillgestellteZeit, Zeitspuren– Theater & Foto-grafie Mit dabei:Aljoscha Begrich &Jo Preussler [Foto-grafen]

Hanne Seitz[Professorin für Äs-thetische Praxis, Fach-hochschule Potsdam/Ästhetische Bildung,Schwerpunkt: Perfor-mance und Interven-tion]: Äon – Chronos – Kairos.Zeitenwende imTheater

Nora Khuon[Dramaturgin Deut-sches SchauspielhausHamburg]:Entschleunigung![Präsentation der

Veranstaltungs-

reihe]

Christine Peters[Kuratorin/ Künstlerin]:ChronometerFestival Weimar[Projektpräsenta-

tion]

Matthias Rebstock[Komponist / Regis-seur]:Zeitregie imMusiktheater[Diskussion]

Niels-Peter Rudolph[Regisseur, Dozent,Thea t e rakadem ieHamburg]:Texteinrichtung[Workshop, 120

Min.]

Kristina Stang[Theaterpädagogin /Dramaturgin THEATERAN DER PARKAUEBerlin]:Die 4. Dimension.Jugendclubarbeitzum Thema Zeit[Workshop, 90 Min.]

Theater zwischen Entschleunigungsoase & Produktionsmaschine

Freitag 01.02.08

Samstag 02.02.08

12:00 – 13:30 sowie

15:00 – 18:00

SprechSTUNDEin Zusammenarbeit mitdem Verband DeutscherBühnen- und Medienver-lage e.V.Mit: Wolfgang Neruda[Vertriebsstelle und Ver-lag deutscher Bühnen-schriftsteller und Bühnen-komponisten], BerndSchmidt [Gustav Kiepen-heuer Bühnenvertrieb],Thomas Tietze [Alkor-Edition Kassel], MarionVictor [Verlag der Auto-ren], Dr. Jan Ehrhardt[Geschäftsführender Jus-tiziar des VDB] Hans-Jür-gen Drescher [SuhrkampVerlag]

+++ In Zusammenarbeit mit der Bühnenraumklasse von Prof. Raimund Bauer [Hochschule für bildende Künste Hamburg]. +++

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Samstag 02.02.08

Sonntag 03.02.08

Thalia Theater„Das letzte Feuer“20:00 Thalia

Alstertor, R: An-dreas Kriegenburg„Hikikomori“20:00 Thalia

Gaußstraße, R:Dominik Günther

DeutschesSchauspielhaus:„Songs from aroom“ 20:00 R:Thomas Matschoß„Hunger nachSinn“22:00 Rangfoyer

R: Kevin Rittberger

Kampnagel„Histoires“ 19:00

R: Olga de Soto„Voilà!“ 21:00 R: Philippe Olza „China istunsere Zu-kunft” 21:00

R: geheimagentur

NACHTSchwärmer Verlegerempfang Die im Verband Deutscher Bühnen- und Medienverlageorganisierten Verleger laden zu einem Empfang ein.Der Ort wird kurzfristig bekannt gegeben.

Mitgliederversammlung der dg [nicht öffentlich]17:30 – 19:00

ab 19:00

ab 22:30

HEIMLICH BESTIALISCH – I CAN WAIT TO LOVE IN HEAVEN von Claudia GrehnLesung des Kleistförderpreis-Stückes 2007 mit Schauspielern des Thalia Theaters, Einrichtung:Christine RatkaAnschließend Diskussion mit der Autorin sowie den Kleist-Förderpreis-Jurymitgliedern PetraThöring [freie Dramaturgin] und Florian Vogel [Dramaturg, Deutsches Schauspielhaus Hamburg]

Präsentation: Fonds für internationale Theaterpartnerschaften durch die Kulturstiftung des BundesZusammenfassende Berichte von den Tischrunden und Projektpräsentationen durch denVorstand der dg

Snackpause

Zeitpolitik ist Kulturpolitik Politisches Podium mit Frank Baumbauer [Intendant, Münchener Kammerspiele], Rolf Bolwin [GeschäftsführenderDirektor des Deutschen Bühnenvereins], Jörg Bochow [Chefdramaturg, Schauspiel Stuttgart] undHolk Freytag [Intendant, Staatsschauspiel Dresden / Vorsitzender der Intendantengruppe im Deut-schen Bühnenverein] Moderation: Peter Spuhler

Das Symposion meditiert Ausklang mit Uwe Schmidt [Kwan Um Zen Schule, Hamburg]

Thalia Theater„Hikikomori“19:00 Thalia

Gaußstraße,R: Dominik Günther

Deutsches Schauspielhaus „Minna vonBarnhelm“ 19:30

R: Karin Henkel

Staatsoper „Arabella“18:00

R: Sven-Eric Bechtolf

10:00 – 11:30

11:30 – 12:30

12:30 – 13:00

13:00 – 14:00

14:30 – 16:00

ab 19:00

Programm: Symposion „Geteilte Zeit“

gesamte Tagung CHRONOTOP - Zeit visuell +++ Installation zum Thema Zeit +++ In Zusammenarbeit mit der Bühnenraumklasse von Prof. Raimund Bauer [Hochschule für bildende Künste Hamburg].

Tagungsort: Gaußstraße

Tagungsort: Gaußstraße

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Erlebnisepisodenverdichtung und Fragmentie-rung führen daher zu Erfahrungsarmut, der vielleicht schlimmstenForm geistiger Armut. Weil das Theater aber eine in sich geschlos-sene Episode mit zeitlichen Eigenmustern ist, birgt es die Chance zurnicht-fragmentierten und nicht-verdichteten Erfahrung. Selig sind dieArmen im Geiste mag daher auch heißen: Selig sind die Erlebnis- undStimulationsarmen, denn sie haben die Chance, Dinge zu erfahren,die ihren inneren Wert nur langfristig enthüllen. Die moderne Gesell-schaft gleicht einem Supermarkt. Sie überhäuft uns ununterbrochenmit Erlebnisangeboten: Wenn uns eines nicht gefällt, zappen wirweiter. Nun gibt es aber viele Angebote, die auf den ersten Blick, vonAußen, keinen Erfahrungswert zu bergen scheinen. Wenn man dieWahl zwischen Harry Potter und dem „Zauberberg“, zwischen SAT.1und Arte, zwischen Disco und Meditation, zwischen Computerspielund Geigeüben hat, dann enthüllen die ersteren ihren Wert jeweilssehr rasch und ohne große Voranstrengung. Wenn ich die Discobetrete oder den Fernseher einschalte, habe ich sofort interessanteund angenehme Erlebnisse, ohne erst Zeit und Energie investieren zumüssen. Wenn ich nicht genug Zeit und Energie investiere, entber-gen sich mir die Erfahrungsmöglichkeiten der Geige, der Meditati-on oder auch des „Zauberbergs“ dagegen überhaupt nicht. Habeich sie noch nie erlebt, gibt es für mich auch keinen Grund, michauf sie einzulassen; ja angesichts der allgegenwärtigen Zeitknapp-heit und der ebenso allgegenwärtigen, bunten und verlockendenAngebote, Erlebnisse ohne Vorinvestitionen zu haben, wird es sogardann unwahrscheinlicher, dass wir uns darauf einlassen, wenn wirbereits positive Erfahrungen mit ihnen gemacht haben.

Ein Theaterbesuch kann durchaus selbst zu einer dieser zahllosenErlebnisepisoden werden – und oft genug wird er es. Aber indemer uns zum Stillsitzen und Aufmerken zwingt und dazu bringt, Dingeviel länger auszuhalten, als wir es sonst täten ohne um- oder aus-zuschalten, erleichtert er uns auch die Vorinvestition von Zeit undEnergie (wir konzentrieren uns auf einen präsentierten oder ver-handelten Vorgang, auf Bilder, Farben oder Töne) – und erhöht damitdie Wahrscheinlichkeit, dass wir neue und wirkliche Erfahrungenmachen. Aber dieser Kampf gegen die geistige (Erfahrungs-)Armutist riskant: Die Versuchung, auch das Theater auf die Produktioneiner raschen Folge von Erlebnisepisoden zu reduzieren, ist groß.Das Publikum wird nur dann zu der genannten Vorinvestition bereitsein, wenn es dem Theater gelungen ist, Vertrauen aufzubauen,sodass die Zuschauer darauf setzen, dass sie bereichert nach Hausegehen werden, nicht nur obwohl, sondern gerade weil sie sich zwi-schendurch gelangweilt oder sogar belastet gefühlt haben mögen.Das Himmelreich werden sie dabei nicht finden – aber eine Erwei-terung des eigenen Zeit- und Erfahrungshorizontes und dadurcheinen neuen Blick auf die stumme normative Macht der Beschleu-nigungszwänge schon. Und erst dies eröffnet die Chance, über alter-native Formen der Lebensführung produktiv nachzudenken.

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Lange Zeit wurde Theater in seinem Verhältnis zur Politik alsderen Widerspiegelung, als ihre Illustration, als Einspruchs-instanz gegen sie oder aber als ihre Fortsetzung mit anderenMitteln begriffen. Man unterschied dementsprechend unter-schiedliche Formen des politischen Theaters nach der Zeit, inder sie produziert wurden, und nach den politischen Regimen,unter denen sie entstanden.

Man begriff Theater als Ort einer direkten Auseinandersetzung mit der Politik, die zurselben Zeit an anderem Ort geschah. Oder aber man glaubte, das Theater gegen „die Herr-schenden“ in Stellung bringen zu können, wollte von der Bühne aus ihnen den Kampfansagen. Und schließlich wurde das Theater auch als Ort der Ideologieproduktion begrif-fen, seine Bühne als Erziehungsinstanz, die weit wirksamer arbeiten könne als Schule,Kanzel, Gericht, Polizei und Politik. Politisches Theater bezeichnete in jedem dieser Fälleseiner Tendenz nach ein Theater, das sich auf vergleichsweise naive Weise über die eige-ne Medialität und dabei nicht zuletzt über die eigenen Zeitstrukturen hinwegsetzte, umvermeintlich direkt in politische Auseinandersetzungen eingreifen zu können. Dagegenwäre die Hypothese zu prüfen, ob nicht das Verhältnis von Theater und Politik auf ande-re Weise zu definieren ist und dementsprechend andere Formen des Theaters als ein sol-ches zu begreifen wären, von dem man mit einer Formulierung Jean-Luc Godards sagenkönnte, dass es politisch gemacht wird.

Ein politisch gemachtes Theater, so der Ausgangspunkt, ist ein Theater, das sich mit sei-ner Politik der Vorstellung auseinandersetzt. Darunter ist jene Politik zu verstehen, dieim öffentlichen Auftreten eines Schauspielers, eines Performers oder eines Tänzers unmit-telbar betrieben wird - noch bevor dieses Auftreten mit irgendeinem politischen oderkünstlerischen Zweck verbunden wird. Ein großer Teil der experimentellen Theater-, Film-,Kunst- und Performance-Praxis der vergangenen Jahre untersucht auf unterschiedlicheWeise die Darstellungspolitik, die mit dem eigenen Tun verbunden ist. Die theatralischeArbeit erforscht das eigene Medium, dessen Sprache, Raum und eben Zeit, versucht inunzähligen, immer von Neuem an eine Grenze stoßenden Anläufen, das Unbewusste derDarstellung bewusst zu machen. Herauszufinden ist, durch welche architektonischen,schauspielerischen und wahrnehmungstheoretischen Vorgaben die Tradition des Theatersdessen gegenwärtige Erscheinungsformen präfiguriert, kanalisiert, überfrachtet und letzt-endlich blockiert. Es geht nicht zuletzt um die Frage, wie die überkommenen Formeneiner Kunst verändert werden müssen, um dem einen Zugang zur Darstellung zu ver-schaffen, was von diesen in ihrer Form, von Beginn an, strukturell ausgegrenzt worden ist.

Politik (in) der Darstellungvon Nikolaus Müller-Schöll

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freitag | samstag | sonntag || vormittag | nachmittag

PD Dr. Nikolaus Müller-Schöll, geboren 1964, stu-dierte in Hamburg und Balti-more Germanistik (Schwer-punkt Theater und Medien),Kunstgeschichte, Philosophieund Politik, promovierte inFrankfurt/M. bei Hans-ThiesLehmann mit einer Arbeitüber Benjamin, Brecht undHeiner Müller und lehrte ander École Normale Supérieurein Paris. Seit 2004 ist erWissenschaftlicher Assistentam Institut für Theaterwis-senschaft der Ruhr-Univer-sität Bochum, 2007/8 Vertre-tungsprofessor für HeinerGoebbels am Institut fürAngewandte Theaterwissen-schaft in Gießen.Letzte Veröffentlichungenals Herausgeber: „Politikder Vorstellung. Theater undTheorie.“ Berlin 2006. Jüng-ster Aufsatz: „Denken aufder Bühne.“ In: Hans-JoachimLenger und Georg ChristophTholen: Mnema. Derrida zumAndenken. Bielefeld, Oktober2007. Weitere Informationen unter:www.uni-giessen.de/theater Étienne-Jules Marey:Analyse cinématique de la marche. In: „Comptes rendus des séances de l'Academie des sciences“ 1884.

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Dr. Hans-Friedrich Bormann,geboren 1968, Studium derAngewandten Theaterwissen-schaft in Gießen, Promotion.Seit 1994 künstlerische Mit-arbeit und Klangelektronikin der Berliner Performance-formation „Lose Combo“.www.losecombo.deDerzeit tätig als wissen-schaftlicher Assistent amInstitut für Theaterwissen-schaft der Freien Univer-sität Berlin. Mitarbeit u. a. im Sonderforschungsbe-reich „Kulturen des Perfor-mativen“ und im Zentrum fürBewegungsforschung. Publika-tionen zur Geschichte undTheorie der performativenKünste, darunter: „Ver-schwiegene Stille. JohnCages performative Ästhe-tik“, München 2005.

1 http://www.deutscheakademie.de/druck-

versionen/buechner_2004.html [Stand:

18.11.2007].

Die Langeweile ist überhaupt nur möglich, weil jedes Ding,wie wir sagen, seine Zeit hat. Hätte nicht jedes Ding seineZeit, gäbe es keine Langeweile. [Martin Heidegger]

„Es war langweilig.“ Dieses Urteil über eine Aufführung zählt sicher zu den häufigstenBeschwerden des Theaterliebhabers, und wie kaum ein anderes kann man auf das Ver-ständnis seiner Gesprächspartner hoffen. Kennt nicht jeder die quälenden Minuten odergar Stunden, in denen man sich fortwünscht, aber von Konventionen und Verpflichtun-gen gefesselt bleibt? Gleichwohl lohnt die Frage, was denn überhaupt dieses „es“ ist,das man für seine Qualen verantwortlich macht. Immerhin vermögen sowohl die Leere(das „Zuwenig“) als auch die Fülle (das „Zuviel“) langweilig zu sein, die Virtuosität eben-so wie der Dilettantismus, das Bekannte ebenso wie das Neue – und ganz sicher das„graue Mittelmaß“. Offenbar ist Langeweile gar keine bestimmbare Eigenschaft bestimm-ter Gegenstände, sondern beschreibt lediglich unser Verhältnis zu ihnen.

Vielleicht ließe sich Langeweile auch als die Möglichkeitsbedingung ihres Gegenteilsbegreifen: Wer sich langweilt, erfährt einen Mangel oder Überschuss des Sinns und erhältdamit die Gelegenheit, auf „dumme Gedanken“ zu kommen – das heißt, auf vermeint-lich sinn-lose, un-sinnige Gedanken, die sich der Ökonomie von Frage und Antwort, vonAngebot und Nachfrage entziehen und so zur Ankündigung eines anderen, zukünftigenSinns werden. Und womöglich könnte gerade das Theater – aufgrund seiner eng umgrenz-ten räumlich-zeitlichen Verfassung, seiner sozialen Konventionen und Zwänge – ein aus-gezeichneter Ort sein, sich für solche Erfahrungen bereit zu halten. Dem negativen Urteilüber die Langeweile wäre unter diesen Voraussetzungen ebenso zu misstrauen wie dervorschnellen Zustimmung: Vielleicht handelt es sich dabei nur um eine Form der Selbst-Bevormundung, wenn nicht der Selbst-Anästhesierung?

In seiner Büchnerpreis-Rede hat Wilhelm Genazino sich 2004 unter anderem an „Chefre-dakteure, Programmleiter, Fernsehdirektoren, Eventdenker, Kaufhauschefs“ gewandt (unddavon könnten sich auch Intendanten, Regisseure, Dramaturgen, Schauspieler etc. ange-sprochen fühlen): „Laßt die Finger weg von unserer Langeweile! Sie ist unser letztes Ich-Fenster, aus dem wir noch ungestört, weil unkontrolliert in die Welt schauen dürfen! Hörtauf, uns mit euch bekannt zu machen! Hört auf, euch für uns etwas auszudenken! Sagtuns nicht länger, was wir wollen!“1

Es kann keine Dramaturgie der Langeweile geben; eher schon geht es um ihre Abschaffung,insofern sie auf den Ausgleich zwischen imaginierten oder tatsächlichen Erwartungen undkünstlerischen Prozessen ausgerichtet ist. Aus dem gleichen Grund kann die Langeweilekeiner speziellen Theaterkonzeption zugerechnet werden, ebenso wenig wie einzelnenhistorischen Schlüsselfiguren – nicht Robert Wilson, dessen radikales Bild- und Klangthea-ter zum Stage Design mit einem bestimmten Repertoire von Licht- und Toneffekten, Gestenund Sprechweisen geworden ist, nicht Christoph Marthaler, bei dem man die routinierteGeschwätzigkeit artistischer und musikalischer Floskeln kritisieren könnte.

Das Theater der Langeweile, von dem hier die Rede ist, basiert auf der Wiedererrichtungder Rampe, der Vertiefung des Grabens, der Vergrößerung des Abstands zwischen Bühneund Auditorium. Es fordert auf, Abschied zu nehmen von der imaginierten Gemeinschaft.An deren Stelle tritt ein Publikum, in dem jeder Zuschauer für sich allein schaut und hört– an seinem eigenen Ort, in seiner eigenen Zeit. Auf solche Weise gelangweilt zu werden,heißt: aufmerksam sein können für das, was sich jenseits des Kalküls ereignet.

Für ein Theater der Langeweilevon Hans-Friedrich Bormann

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Der Affekt, oder auch das Pathos beschreibt in seinerursprünglichen Bedeutung in Rhetorik, Poetik und Philosophiedas Moment des Getroffenseins, des Erleidens. Dabei umfasster stets zweierlei: die Darstellung einer Emotion und dasErgriffensein des Zuschauers, also Verkörperung und Wirkung.Diese affektive Teilnahme folgt stets einer je nach Mediumund Darstellungsart variierenden Zeitkomposition, einem Wech-selspiel von Stillstand und Bewegung, Aufschub und Einlösung,Distanz und Übertragung. Georges Didi-Hubermans Theorie desAffekts aufgreifend soll in diesem Impulsreferat der „Affektals das Bewahren eines Rhythmus“ und damit die jeweilige Ver-schränkung von Zeit, Figur und Affekt an Beispielen unter-schiedlicher Kunstformen (u. a. an Meg Stuarts „Alibi“, 2001)untersucht werden.

Zeit im Bild – Lebendigkeit und TemporalitätFür das Bild maßgebliche Qualitäten wie „Lebendigkeit“ oder „affektive Energie“ ver-danken sich der fundamentalen Rolle der Temporalität in visuellen Repräsentationen.Diese Behauptung widerspricht dem ersten Augenschein. Tatsächlich geht es darum, einaltes Vorurteil abzubauen, eine Revision dessen zu bewirken, was Gotthold Ephraim Les-sing mit seinem „Laokoon-Paradigma“ prätentierte: Nämlich die systematische Trennungder bewegten Zeitkünste von den immobilen Raumkünsten – ein Modell, das bis heutefortwirkt.Wenn schon das traditionelle Bild ein Potential an Bewegung in sich entfaltet, dann lässtsich umgekehrt am bewegten Bild, nicht nur des Kinos oder des Videos, sondern ebensodes Tanzes oder anderer performativer Künste, eine Neigung zur Stasis beobachten. Mitanderen Worten: Das Bild eröffnet eine Spannung, die aus der flexiblen Reaktion beiderMomente resultiert. Temporalität ist seine leitende Kategorie, nicht auch zuletzt deshalb,weil sie auch die jeweiligen Raumaspekte steuert. [Quelle: www.eikones.ch]

Zeit und Affekt von Maren Butte

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„Getting into bed“ (1887) von Eadweard Muybridge; Lichtdruck; Wellcome Library, London

Maren Butte, geboren 1978 inFrankfurt/M., studierteTheaterwissenschaft, Kunst-geschichte und Allgemeineund Vergleichende Literatur-wissenschaft an der JohannesGutenberg-Universität Mainz.Nach ihrem Studium war sieu. a. als Regieassistentintätig. Seit Oktober 2005 istsie wissenschaftliche Mitar-beiterin im SchweizerischenNationalen Forschungsschwer-punkt „Bildkritik. Macht undBedeutung der Bilder“ (eiko-nes) an der UniversitätBasel.

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Dr. Dirk Pilz,geboren 1972, studierteLiteraturwissenschaft, Phi-losophie und Psychologie;promovierte 2005 an derUniversität Potsdam inLiteraturtheorie; arbeitetals Theaterkritiker (u. a.Neue Zürcher Zeitung, Ber-liner Zeitung, StuttgarterNachrichten), war von 2003 – 2007 Redakteur beiTheater der Zeit; Mitbe-gründer und Redakteur vonwww.nachtkritik.de; nahmverschiedene Lehraufträgefür Literaturwissenschaftund Theaterkritik an; lebtin Berlin.

Wenn Kritiker über Theater schreiben, geschieht notwendigetwas Unerhörtes: Ein flüchtiges Bühnenereignis wird zu einem(relativ) zeitlosen Urteil. Und die Reaktion der Macher? OftEnttäuschung und Missverständnis, meist kopfschüttelndesSchweigen, manchmal auch stumme Zustimmung. Das war’s.

War’s das? Vorausgesetzt, dass einerseits die Macher ernst nehmen, was das Publikum(und die Kritik) zu sagen hat, und vorausgesetzt, dass das Publikum (und die Kritik) wis-sen will, was die Macher zu sagen haben, muss es das nicht gewesen sein. Der Dialog zwi-schen Bühne und Parkett braucht sich nicht in tendenziell pädagogisierenden Publikums-gesprächen oder lehrerhaften Theaterbeschimpfungen zu erschöpfen, wenn es dafür denRahmen und die Atmosphäre gibt. Den Rahmen gibt es mit dem Netz: Kritiken stehen nichtmehr nur schwarz auf weiß in der Zeitung, sondern haben das schnelle Medium Interneterreicht. nachtkritik.de eröffnet die Möglichkeit, der Kritik zu widersprechen, sie zu ergän-zen oder ihr beizuspringen, eben den Dialog zu suchen. Wenn man ihn will. Wenn sichbeide Seiten nicht als kumpelhafte, aber gleichberechtigte Dialogpartner begreifen, dieum dieselbe Sache streiten: das Theater.

Allerdings – die Vorurteile. Kritiker haben ihre Vorurteile über das Theater, das Theater überdie Kritiker. Zum Beispiel der Vorwurf, eine schnell geschriebene Kritik könne dem kom-plizierten, langwierigen Arbeitsbedingungen der Bühne nie gerecht werden. Kann sienicht, weil Kritik nicht bedeutet, Arbeitsprozesse, sondern die jeweils gemachten(Zuschau-)Erfahrungen zu beschreiben.

Bleibt die Frage der Schnelligkeit. Für nachtkritik.de entstehen die Texte noch schneller alsim sonstigen Kritikergewerbe. Man könnte auch sagen: sie sind unmittelbarer, unge-schützter. Gleichzeitig bleiben die Texte im Unterschied zum Theaterereignis erhalten – dasArchiv von nachtkritik.de ist mit einer ständig steigenden Anzahl von Kritiken gefüllt, fürdie beim Lesen keine Rolle mehr spielt, dass sie über Nacht geschrieben wurden.

Schadet also der Zeitmangel der Kritik? Nicht unbedingt. Was lange währt, wird manch-mal auch schlecht. Die gehaltvolleren, triftigeren Texte sind nicht zwingend diejenigen mitlängerer Anlaufzeit. Erste Eindrücke sind auch im Theater nicht immer die schlechteren:Langes Sinnen produziert mitunter auch Unsinn. Meist werden durch mehr Zeit die stili-stischen Qualitäten eines Textes besser, nicht notwendig steigt der denkerische Gehalt.Dieser ist vor allem davon abhängig, mit welchen Voraussetzungen und welcher Offenheitman ins Theater hineingeht – und mit welchem Gesprächsbedarf man wieder heraus-kommt. Dass die Macher anderes sehen und erfahren als die Zuschauer kann aber nurbedeuten, sich über die Differenzen zu verständigen. Über die Ursachen, die Folgen, dieoffenen Fragen. Deshalb braucht es den gemeinsamen Dialog: Wenn Kritik und Theaterden Gegenverkehr zulassen, sich gegenseitig Einwände, Nachfragen, Kommentare gestat-ten, steigt die Chance, weniger aneinander vorbei zu fahren.

Was lange währt, wird manchmal schlecht. Aktualität & Archiv – Theater-kritik im Netzvon Dirk Pilz

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PD Dr. Patrick Primavesi,geboren 1965, Wissenschaft-licher Assistent am Institutfür Theater-, Film- undMedienwissenschaft derJohann Wolfgang Goethe-Uni-versität in Frankfurt/M.;seit 2002 Aufbau und Leitungdes Masterstudiengangs Dra-maturgie. Dissertation: Kom-mentar, Übersetzung, Theaterin Walter Benjamins frühenSchriften, 1998. Habilita-tionsschrift zu „Fest, Thea-ter und Repräsentationskri-tik um 1800“. Neueste Pub-likationen und Bücher:„Geteilte Zeit. Zur Kritikdes Rhythmus in den Künsten“(Hrsg., mit Simone Mahren-holz, 2005); „Fliegen,Gehen, Fahren. Wie neuereTheaterformen ihre Zuschauerin Bewegung setzen“, in:Kristin Westphal / NicoleHoffmann (Hg.), „Orte desLernens“, Weinheim und Mün-chen 2007.

Die Zeit des Theaters wird traditionell verstanden als Zeit-dauer der Aufführung eines Dramas, einer Geschichte oder aucheiner Choreografie. Sie ist jedoch immer auch die Zeit einesEreignisses, das über die Reproduktion vorher bestehenderWerke hinausgehen und etwas anderes ermöglichen kann: das Ein-malige in der Wiederholung, das Unnachahmliche im Prozess derMimesis, die Lücke im Ablauf.

Dieses Potential eines Ereignisses, das nicht nur vor einer Gemeinschaft stattzufinden,sondern diese erst noch hervorzubringen hätte, verbindet das Theater mit dem Fest. Aberauch beim Fest können wir eine zweideutige, ambivalente Zeitlichkeit beobachten: die Zeitder Repräsentation, im Sinne der symbolischen Funktionen eines Festes, und anderer-seits die Zeit der Überschreitung, die Durchbrechung des Alltäglichen in einem Momentder Verausgabung. Beides hängt eng zusammen, wie sich an der Kulturgeschichte desFestes (besonders am Karneval) zeigt.

Gerade durch ihr Potential, die Zeitordnung der alltäglichen Lebensrhythmen zu unter-brechen, können Feste ihrerseits zu Markierungen dieser Ordnung werden und das anson-sten bestehende Zeitgefüge bestätigen. Zeiterfahrung unterliegt jedoch selbst einemgeschichtlichen Wandel, der sich heutzutage allenthalben bemerkbar macht. Mit derBeschleunigung unserer alltäglichen Lebensvorgänge wächst das Risiko, den Anschluss andas Tempo medialer und ökonomischer Prozesse zu verlieren, „aus der Zeit zu fallen“.

So können Unterbrechung, Pause und „Auszeiten“ zugleich als Utopie und Katastropheerscheinen. Inwiefern diese Ambivalenz unserer Zeiterfahrung auch die Wechselbezie-hungen zwischen Fest und Theater prägt, wird zu diskutieren sein. Verschiedenste For-men von Theater arbeiten gegenwärtig daran, den Prozess der gemeinsam verbrachtenZeit als solchen erfahrbar zu machen, mit einer ähnlichen Intensität wie im Fest, aber querzur Logik der Repräsentation.

Versuchen wir also, die Frage nach der Zeitlichkeit des Theaters neu zu stellen: WelcheSpielräume gibt es für eine variablere Organisation von Zeit im Theater? Welche Erfah-rungen gibt es mit der extremen Dehnung oder Verkürzung der Aufführungsdauer undandererseits der Pausen? Wie verhalten sich diese Erfahrungen zum Potential des Ereig-nisses, der Überschreitung und des Festes? Sind die Formen von Fest, die wir im Theaternoch veranstalten und auch genießen können, nicht eher die beiläufigen, nicht-repräsen-tativen und unspektakulären?

Zeit, Theater und Fest von Patrick Primavesi

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Bertolt Brecht Die Judith von ShimodaTheater in der Josefstadt

Tankred Dorst Ich bin nur vorübergehend hierschauspielhannover

Tankred Dorst KünstlerBremer Theater

Bettina Erasmy Mein Bruder Tom Landestheater Tübingen

Martin Heckmanns Ein Teil der Gans Deutsches Theater Berlin

SuhrkampTheaterUraufführungen 07/08

Cesare Lievi Fremde im HausHessisches Staatstheater Wiesbaden

Christoph Nußbaumeder Jetzt und in EwigkeitNationaltheater Mannheim

Christoph Nußbaumeder Mörder-VariationenSchauspiel Köln

Rafael Spregelburd Die Sturheitschauspielfrankfurt in Kooperation mit Nationaltheater Mannheim

Peter Weiss Inferno Badisches Staatstheater KarlsruheWeitere Informationen unter www.suhrkamp.de

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Ditmar Schädel ist Fotograf, Ausstellungs-macher und Publizist. Erleitet das Fach Kunst undGestaltung an der Univer-sität Duisburg-Essen undist Vorstandsmitglied inder „Deutschen Gesellschaftfür Photographie“. SeinInteresse gilt den besonde-ren zeitlichen Herstel-lungsformen der Fotografievon der Lochkamera bis hinzu speziellen Transfer-Ver-fahren mit Polaroidmate-rial. Als Fotograf konzen-triert er sich darüber hin-aus auf Motive, in die sichder Charakter der zeit-lichen Veränderung einge-schrieben hat. Gerade indiesen Motiven und Techni-ken spiegelt sich dieBedeutung der Fotografieals Ausdruck eines gesell-schaftlichen Wandels imUmgang mit der Zeit. www.ditmar-schaedel.de

Das Moment der Zeit spielt hier eine herausragende Rolle, obwohl genau zu diesemAspekt eine Vereinbarkeit schwierig zu sein scheint. Schon in direkter zeitlicher Nähezum offiziellen Erfindungsdatum der Fotografie 1839 hat Daguerre einen Schuhputzer undseinen Kunden so inszeniert, dass der Eindruck einer Momentaufnahme entsteht. Mitdiesem Datum beginnt eine intensive Forschung nach immer kürzeren Belichtungszeitenmit dem Ziel, Bewegung auf einen Moment zu reduzieren und flüchtige Dinge mittelsFotografie für den Betrachter festzuhalten.

Muybridge, Marey und Anschütz sind als Pioniere der Bewegungsfotografie mit wichti-gen Arbeiten verbunden, vor der Kamera ablaufende Handlungen werden auf einem Bildversammelt oder fast filmisch segmentiert. Die Bewegung im Foto gewinnt aber mitBeginn des 20. Jahrhunderts eine neu zu definierende künstlerische Bedeutung: Durchgesteuerte Langzeitbelichtungen und extrem kurze Zeitausschnitte werden alltäglicheAbläufe aber auch Tanz- und Theateraufführungen neu gesehen, die Ästhetik der Bewe-gung, z. B. bei Gret Palucca, anders sichtbar gemacht.

Auch in den vergangenen Jahrzehnten ist die Verbindung von dramaturgischen und foto-grafischen Vorgehensweisen erkennbar. Kaum eine Performance bleibt ohne fotografischeReferenz, die fotografische Begleitung gehört zu jeder Theateraufführung. InszenierteFotografie auf Miniaturbühnen und im alltäglichen Umfeld sind en vogue, der Aufwandgleicht dabei hin und wieder dem eines Films. Aktuelle Arbeiten thematisieren Zeit immerwieder in Bezug auf das Theater. Die Langzeitbelichtungen von Aufführungsstätten durchSugimoto oder die Akkumulierung einer ganzen Inszenierung in einem Foto von Begrichund Preussler sind dafür stellvertretend.

Stillgestellte Zeit, Zeitspuren –Theater und Fotografievon Ditmar Schädel. Mit dabei: Aljoscha Begrich und Jo Preußler

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Theater und Fotografie sind auf den ersten Blick zwei ver-schiedene Welten (bewegt/still, Raum/Fläche, Kontinuum/Zeit-ausschnitt). In ihrer Überschneidung verstärkt sich dasscheinbar Konträre der Medien und beginnt von den jeweiligenästhetischen Besonderheiten zu erzählen.

Der Weg Foto: Ditmar Schädel

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Aljoscha Begrich, geboren1977 in Zgorzelec, Fotografund Bühnenbildner (National-theater Mannheim, Neues Thea-ter Halle und Columbia Uni-versity New York), Mitgliedvon lunatis produktion.

Jo Preußler, geboren 1977 inGörlitz, Videoautor (Moebius17, Videoklub Berlin) undals Jo Irrläufer Generaldi-rektor des Graffitimuseumsin Berlin.

Aljoscha Begrich und Jo Preußler erhielten fürihre Langzeitbelichtungen am schauspiel-frankfurt und die wissenschaftliche Arbeit„Wie sich Theaterstücke einbilden. Für einedramatische Fotografie des Theaters“ im Jahr2003 den Deutschen Studienpreis der Körber-Stiftung. Diese Arbeit wurde in dem Band“fast forward. Essays zu Zeit und Beschleuni-gung” herausgegeben von Hartmut Rosa(Hamburg: edition Körber-Stiftung 2004), ver-öffentlicht. www.cronometrio.com

oben: Andromache (Detail) (Regie: Luk Perceval)

21. Jan. 2006, 19:42 – 20:35 (Foto: Begrich / Preußler)

unten: Ulrike Maria Stuart (Regie: Nicolas Stemann)

16.Apr. 2007, 20:04 – 22:02 (Foto: Begrich / Preußler)

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Prof. Dr. Hanne Seitz,geboren 1951, Studium derKunstwissenschaft, Kunst-pädagogik, Psychologie, Er-ziehungswissenschaft undArchitektur in Frankfurt/M.,Marburg und Darmstadt;freiberufliche Tätigkeit imKulturbereich, in Theater-projekten, in der Kunstver-mittlung, in der Aus- undFortbildung; wissenschaft-liche Mitarbeiterin amInstitut für Kunstpädagogikder Universität Frankfurt/M.;seit 1994 lehrt sie an derFachhochschule PotsdamTheorie und Praxis ästheti-scher Bildung (Theater,Tanz, Performance); For-schungsschwerpunkte: ästhe-tische und theatrale Inter-ventionen / social impactof the arts.

Wem die gleichmäßig fließende Zeit von Chronos zu eintönig,die wiederkehrende Zeit also zu lang wird oder erst gar nichtins Bewusstsein rücken will, der mag gleich auf Äon(en) set-zen. Doch Chronos – den Kreis in der Hand – kämpft dafür,dass die Wirkung der Dinge in messbaren Einheiten wieder-kehrt. Seine Zeit ist auf das Jetzt begrenzt und doch unend-lich, weil zyklisch wiederkehrend. Äon hingegen – die Linievorzeigend – unterteilt jede Gegenwart in ein Vergangenes undBevorstehendes. Anders als erwartet, ist seine Zeit nichtunendlich, sondern unendlich teilbar (und darum dauert seineMinute ewig).

Unschwer zu erkennen, dass sich Äon nicht für Wirklichkeiten, sondern nur für Möglich-keiten interessiert und in großem Maßstab denkt. Mit Chronos wird die Zeit physikalischhandhabbar, mit Äons Pfeil sind wir in eine Lücke gestellt. Ob des Widerspruchs ihrerWirkungen drohen wir gar aus der Zeit zu fliegen. Während die Zeit von Chronos ohneAbstand ineinander übergeht, also zyklisch ist, aber linear wirkt, erzeugt Äon in einerHin- und Herbewegung zwischen damals und dann eine abstand-machende Lücke. Undgenau da lauert Kairos, jener lachende Dritte, mit dem die Zeit zu packen ist, der Wei-chen stellen, Wenden herbeiführen, mitunter sogar Glücksmomente realisieren kann.

In Abgrenzung zu Äon, der für die Unmöglichkeit und Relativität von Gegenwart steht,aber auch im Unterschied zu Chronos, der nicht leer ausgehen und also die Lücke über-brücken will, findet sich Kairos (ganz unverhofft) in jener unbesetzten Leerstelle wieder.Anders als Chronos, der zur Behauptung seiner territorialen Macht Strategien anwendet(und sogar Kinder verschlingt), operiert Kairos eher mit Geschick und Gespür. Als Takti-ker rechnet er erst gar nicht mit Eigenem, sondern handelt gleich am Ort des Anderen, wil-dert in den Ordnungen und spielt also mit dem, was andere geschaffen haben, profitiertvon den Widersprüchen und Rissen im System.

Mit Blick auf die „prägnanten Augenblicke“ (Lessing), jene Bilder also, die das Theater aufdramatische und serielle Weise ehedem in Szene zu setzen hatte, scheint Kairos demBühnengeschehen schon immer entscheidende Impulse gegeben zu haben – wäre da nichtjene eigentümliche Körperlosigkeit, mit der die Gesten einer universellen Idee und einemfast äonenhaften Anspruch zu genügen hatten. Mit Blick auf den so genannten Performa-tivierungsschub wird Kairos inzwischen gehörig beim Schopf gepackt und als Zuschauer(mitunter wenig zimperlich) in Ereignisse unterschiedlichen Zeiterlebens versetzt. Derartmit der konstruierten Zeit des Theaters und der realen Zeit der Zuschauer konfrontiert,wird Zeit relational und mit Blick auf das Erleben der (sozial) Anderen auch differenterfahrbar. Die Zeit im Theater mag Chronos und selbst den lückefüllenden (mitunter sogarGlück verheißenden) Versprechungen von Kairos temporär Raum geben, vor allem aberrückt sie deren Unerfüllbarkeit und Unverfügbarkeit ins Licht und damit ein Begehren,das Äon immer von neuem nähren wird, das die Zuschauer – nunmehr weniger schau-end, als vielmehr Situationen ausgesetzt – aus der Zeit, auch in die Zeit, aber nie in dieGegenwart fallen lässt.

Äon – Chronos – KairosZeitenwende im Theater und anderswovon Hanne Seitz

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Sebastian Baumgarten, 1969in Berlin geboren, studier-te Opernregie an der Musik-hochschule „Hanns Eisler“.Seit 1992 eigene Regiear-beiten in Musik- und Schau-spieltheater. Von 1999 – 2002 war er Ober-spielleiter für Musikthea-ter am Staatstheater Kasselund von 2002 – 2005 Chef-regisseur für Musiktheaterund Schauspiel am MeiningerTheater. Er inszenierte u.a. an der Deutschen OperBerlin, am NationaltheaterMannheim, an der SemperoperDresden, an der KomischenOper Berlin, am TheaterFreiburg, am schaupielfrank-furt, am schauspielhannover(zuletzt „Faust I und II“),am Düsseldorfer Schauspiel-haus (zuletzt „Europa“ nachLars von Trier). Zurzeitprobt er an der VolksbühneBerlin „Tosca“ (Premiere:1. Februar 2008).

Ich habe im Moment das Bedürfnis, mich wieder auf Geschichteeinzulassen. Heiner Müller sprach einmal von dem Bedürfnis,sich abzukapseln gegen diese Gegenwart, das Kunstwerk zu ver-rätseln und des damit zunächst einmal unzugänglich zu machen.Das ist ein Versuch, eine Art Schutzprozess, um utopischeAnsätze wieder möglich zu machen und zu retten.

Man braucht ein humanes Gegengewicht gegen diese wahnsinnige Beschleunigung derGegenwart. Wenn ich irgendwie in der Lage sein will, mich zu einer katastrophalen gesell-schaftlichen Entwicklung zu verhalten, brauche ich ein Bewusstsein von Geschichte. BeiWagner, durch seine Mythen, finde ich wieder dahin. […] Wir haben es vom Publikumher mit einer neuen Generation zu tun, einer Generation, die viel stärker über Grundim-pulse funktioniert. Es gibt eine Oberflächengestaltung für einen bestimmten Gefühlsaus-druck, den nehmen diese Jugendlichen wahr, jede weitere Differenzierung, den ganzenintellektuellen Prozess, den wir im Theater praktizieren, akzeptieren die nicht mehr. […]Mit Hilfe der Analyse von musikalischen Strukturen bin ich zu Ergebnissen und zu Ent-deckungen gekommen und muss heute feststellen, dass ich mich im Hinblick auf ein jun-ges Publikum auf eine Einbahnstraße zu bewege. Ich befürchte, meine Ausdifferenzie-rungen finden keinen Widerhall mehr, außer vielleicht bei Dramaturgen und Feuilletonis-ten, denn ich glaube, Wahrnehmung funktioniert heute anders. […] Es gibt keine Prozes-se mehr, sondern nur noch Schlaglichter, die auf Leute treffen. Informationen von schlag-lichtartiger Eindeutigkeit, diese Clip-Schnelligkeit vom Fernsehen, wie ein Flashlight trifftes die Leute. Das erwischt die Jugendlichen sofort, unmittelbar – die Information zeigt sichklar und deutlich, die Jugendlichen kennen die Codes und wissen sofort, worum es geht.Dieses Phänomen macht mir Angst, denn es stellt absolut meine Ausdifferenzierungsma-schine in Frage, die verlangt nach besonderen Kenntnissen und Fähigkeiten. Und nurnoch wenige werden bereit sein, sich mit mir auf eine Reise zu begeben, um Zeichen zudecodieren. Doch ich habe nicht das Gefühl, dass das Musiktheater der Zukunft ganz all-gemein so sein wird. Ich bin überzeugt, dass auf einer ganz anderen Ebene, über diese„Oberflächen“ hinaus, sich neue Möglichkeiten für eine neue Sprache auftun werden –vorausgesetzt, man kombiniert diese Oberflächen entsprechend und bedient sich einerganz anderen Technik. Das kann durchaus wieder politisch sein, auch im kritischen Sinne.

Auszug aus: „Aus dem Geist der Musik heraus das Heutige denken“. Gespräch mit

Sebastian Baumgarten aus: „Warum Oper? Gespräche mit Opernregisseuren“. Hrsg.:

Barbara Beyer. Alexander Verlag Berlin 2005.

Humanes Gegengewicht gegen diese wahn-sinnige Beschleunigung der GegenwartSebastian Baumgarten [angefragt] über die ästhetischeDimension von Zeit im Musik- und im Sprechtheater

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Dr. Kerstin Evert, geboren 1971, Theater- undTanzwissenschaftlerin, Dra-maturgin und Festivalprodu-zentin (u. a. „ZeitenWende",2000); Diplom und Promotionam Institut für AngewandteTheaterwissenschaft der JLUGießen (Dissertation „Dan-ceLab“ ausgezeichnet mitdem TanzwissenschaftspreisNRW 2001). 1997 – 2000 Dok-torandin im Graduiertenkol-leg Körper-Inszenierungenan der FU Berlin, 2002 –2006 Dramaturgin auf Kamp-nagel Hamburg; seit August2006 Leitung „K3 – Zentrumfür Choreografie / TanzplanHamburg“.

Welche Rolle spielt Zeit im künstlerischen Arbeitsprozess?Ist Zeit ein Faktor, der Qualität und Ergebnisse künstleri-schen Schaffens beeinflusst? Macht weniger Zeit kreativer –oder ist es gerade umgekehrt: Sind längere Proben- und Arbeits-prozesse notwendig, weil sie jenseits von direkt anstehendemPremierendruck Recherchen und Prozesse ermöglichen, die eineknappe Probenzeitökonomie nicht zulässt? Die Zeit, die fürkünstlerische Arbeitsprozesse zur Verfügung steht bzw. diesich Künstler nehmen können, ist andererseits durch Zwängegering ausgestatteter Produktionsbudgets begrenzt. Residen-zen haben Konjunktur – werden zugleich von Künstlern jedochauch zunehmend kritisch befragt.

Nicht ohne Grund schaffen sich Künstler zunehmend selbst organisierte Arbeitstrukturenund Netzwerke, um sich Arbeitsmöglichkeiten jenseits der hergebrachten, von Veranstal-tern bzw. Förderinstitutionen angebotenen Produktionsstrukturen aufzubauen. Eine Not-wendigkeit für Theater, Produktionshäuser und Kulturpolitik Zeit als künstlerischen Pro-duktionsfaktor neu zu überdenken?

K3 – Zentrum für Choreografie / Tanzplan HamburgAuf Kampnagel ist ein neuer Raum für zeitgenössischen Tanz entstanden, das „K3 – Zen-trum für Choreografie / Tanzplan Hamburg“. Dazu wurde im Sommer 2007 eine bislangals Ausstellungsraum genutzte Halle Kampnagels umgebaut.

Inhaltliche Arbeitsschwerpunkte von K3 sind die Förderung junger ChoreografInnen imRahmen eines Residenzprogramms, Kursangebote für Tanzschaffende (Profitraining,Workshops etc.) sowie die Vermittlung zeitgenössischen Tanzes, insbesondere auch imBereich kultureller Bildung.

„Tanzplan Hamburg“ ist Teil der Initiative „Tanzplan Deutschland“ der Kulturstiftungdes Bundes und wird von der Kulturbehörde Hamburg gefördert. Als Teil des TanzplansHamburg ist K3 seit April 2006 auf Kampnagel angesiedelt.Informationen: www.k3-hamburg.de

Zeit als künstlerischer Produktions-faktor?von Kerstin Evert

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Netzwerk zur Uhrensynchronisation

Aus: Ladislaus Fiedler, Die Zeittelegraphen und die elek-

trischen Uhren vom praktischen Standpunkte, Wien

1890.In: „Lebendige Zeit“, Kadmos, a. a. O., Abdruck

mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

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Wagner-Feigl-Forschung/Festspiele wurde 1996gegründet und hat ihrenSitz in Berlin und Wien.Florian Feigl (Jg.1970)arbeitet als Performan-cekünstler solo und in ver-schiedenen Kooperationen.Otmar Wagner (Jg.1966)betreibt angewandte Utopie-und Sehnsuchtsforschung.

Projekte in Forschung undPraxis (u. a.):„wet'n'wild“ (1996) /„Warum wir so gute Perfor-mances machen“ (1998/99) /„Quo Vadis“ (2001) /„Astroport Teglby – Inter-vention E6“ (2002) / „DieEnzyklopädie der Perfor-mancekunst“ (seit 2002) /„Ich bin vergänglich 1 – 3“(2005) / „Through the Eyesof Angels“ (2005) / „Wasist Theater?“ (2007)

In Band 9 der Enzyklopädie der Performancekunst, „Dimension1: Zeit als explizite Kategorie der Performance Kunst“,extrapoliert die Wagner-Feigl-Forschung wesentliche Aspekteund Charateristika der Zeit als Thema und Material der Per-formancekunst.

In der 90minütigen Worshop-Demonstration werden ausgewählte Beispiele aus der Performancekunst vorgestellt und grundlegende Verfahrensweisen im Umgang mit Zeitaufgezeigt, erprobt und diskutiert.

„In den 80er Jahren sang die Band Rip Rig Panic ,Time is a trick of the mind’. Wenn esso sein sollte, dass die Zeit ein Trick ist, dann kann man mit ihr spielen, sie formen undverändern. Man muss sich immer wieder klar machen, dass es sich bei der Zeit um einKonzept handelt, um etwas Künstliches. Klar, es gibt Stunden, Minuten, Sekunden usw.,aber das sind Hilfskonstruktionen. Die Vorstellung vom Zeitstrahl, der unumstößlich in eineRichtung weist, ist ein Konzept. Bewiesen ist da nichts! Es ist nicht so besonders abwe-gig, auf Grund der zeitlichen Parallele, die Anfänge der Performancekunst mit der Ent-wicklung der Relativitätstheorie in Verbindung zu bringen. So betrachtet kann es kaummehr verwundern, dass die Auseinandersetzung mit Zeit für die Performancekunst immerein wichtiger Gegenstand war. Und man darf gespannt sein, wie die Performancekunst aufneuere Erkenntnisse aus der Physik reagieren wird: Welche Bedeutung Phänomene wieRetrokausalität z.B. für die Performancekunst haben werden. Wenn wir uns mit Zeitbeschäftigen, sollten wir eigentlich fragen: Was ist die Zukunft der Zeit!“

[Wagner-Feigl-Forschung in einem Interview mit Havannah Sriva]

Time is a trick of the mindWagner-Feigl-Forschung

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Matthias Anton war Einpar-ker, Sexshop-Verkäufer,Übersetzer und Sinologebevor er freier Künstlerund Performer wurde. Chinanicht zu verstehen, ist einwichtiges Anliegen seinerArbeiten. In Zusammenarbeitmit der geheimagentur hater zahlreiche partizipato-rische Projekte entworfenund realisiert. Heute ister als Wundersucher, auto-nomer Astronaut, Zauberer,Casino-Betreiber undZukunftsforscher tätig.

Prognosen sind nicht nur Aussagen über die Zukunft, sie sind maßgeblich an der Gestal-tung unserer Gegenwart beteiligt. Wie können wir aus der Prognose eine vielschichtige-re, offenere und für alle zugängliche kulturelle Praxis machen? Mit einem künstlerisch-wissenschaftlichen Forschungsprozess und einem internationalen Kongress im HAU Ber-lin im Sommer 2008 sucht das Projekt „Prognosen über Bewegungen“ nach Antwortenauf diese Frage. Dabei geht es um zukünftige Bewegungen, vor allem aber um neue per-formative und kollektive Verfahren der Zukunftsvorhersage (www.prognosen-ueber-bewegungen.de). Ein Verfahren dieser Art stellt die „geheimagentur“ in ihrem Projekt„golden weeks – das china-orakel“ vor. Es wird im Januar/Februar auf Kampnagel pro-duziert und ist dort pünktlich zur Tagung zu sehen. Ein gemeinsamer Ausgangspunkt bei-der Projekte ist die Internet-Plattform „t-rich.org“, die zur Tagung in einer neuen Versiononline gehen wird. t-rich thematisiert Zeitmessung als Steuerung und versteht sich alsPlattform für künstlerische und wissenschaftliche Interventionen in die öffentliche Dar-stellung und Organisation von Zeit.

Die geheimagentur führt Forschungen im Bereich des Irregulären, Außergewöhnlichenoder strikt Absonderlichen durch: in Bochum sucht sie nach Wundern, auf der Erde nachdem Weltraum, in Zagreb nach Trickstern, in Zürich nach einem Alibi für den Abend ihresAuftritts. Und überhaupt nach Passagen von einer Wirklichkeit zur anderen. Situationenund Techniken, die wie Fiktionen erscheinen und dann überraschenderweise doch die Rea-litätsprüfung bestehen – das sind die Momente, nach denen die Geheimagentur sucht.Politische Performance ist für die geheimagentur dann interessant, wenn sie die Grenzenvon Aufklärung und symbolischer Politik in Richtung auf „instant pleasure“ überschreitet.Ihre Strategien wollen eine andere Realität im Kleinen entstehen lassen und nicht in kri-tischer Geste die alte Welt bestätigen.www.geheimagentur.net

Prognosen über Bewegungen, kollektive Orakel und andere Formender Zeitmessung Projektpräsentation von Matthias Anton, Kai van Eikels,Sibylle Peters und der geheimagentur

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Kai van Eikels Biografie siehe Seite 13

aus „golden weeks: die orakelshow aus china“ Foto: Matthias Anton

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Dr. Sibylle Peters ist Kulturwissenschaftlerin,Performerin und Projektema-cherin zwischen Kunst undWissenschaft. Sie promovier-te in Hamburg (Germanistikund Philosophie). Seit 1998war sie als Lehrbeauftragte,wissenschaftliche Mitarbei-terin und Forschungsstipen-diatin an den Universitätenin Hamburg, München, Baselund Berlin tätig. Als freiePerformerin realisierte siezahlreiche Projekte, u. a.im Deutschen Schauspielhausin Hamburg, auf Kampnagelund bei der Ruhr-Triennale.Zur Zeit habilitiert siesich zum Thema „Der Vortragals Performance“. Publikationen (u. a.):„Intellektuelle Anschauung“.Figurationen von Evidenzzwischen Kunst und Wissen,hg. gemeinsam mit MartinSchäfer, Bielefeld 2006;„Heinrich von Kleist undder Gebrauch der Zeit.“ Vonder MachArt der BerlinerAbendblätter, Würzburg 2003.„De Figura. Rhetorik –Bewegung – Gestalt“, hg.gemeinsam mit GabrieleBrandstetter, München 2002.www.prognosen-ueber-bewegun-gen.de

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Nora Khuon, 1980 geboren,studierte Kulturwissen-schaft und Neuere DeutscheLiteratur an der HU Berlin.Sie arbeitete als Regie-und Dramaturgieassistentinam Deutschen Theater Ber-lin, als Projekt- und Pres-seassistentin bei dem Fes-tival „Theaterformen“ inHannover und Braunschweigund als Gastdramaturgin amslowenischen Nationalthea-ter in Ljubljana. Seit 2006ist sie Dramaturgin amDeutschen Schauspielhaus inHamburg. Zusammen mit derDramaturgin Nicola Bramkampund dem Regisseur KevinRittberger hat sie dieReihe „Entschleunigung!“konzipiert.

Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Handy, E-mail, Billigflieger– eine ganze Armada an Zeitsparhelfern steht uns zur Seite, und doch sind wir gestresst.Weil alles sich verändert, unvertraut ist und sich unserer Kontrolle entzieht, müssen wir,um am Puls der Zeit zu bleiben, die Zeit, die wir sparen, in neue Tätigkeiten investieren.Durch die sich beschleunigende Abfolge immer neuer Erlebnisepisoden leiden wir unterErfahrungsverlust. Denn unser Erfahrungshorizont bezieht sich auf immer kürzer wer-dende Phasen unseres Lebens – unser Leben scheint wegzuschwimmen, und wir selbstmüssen uns immer wieder neu erfinden. Ungeachtet der Betriebsamkeit um uns,beschleicht uns bisweilen das Gefühl, dass es nicht richtig vorangeht.

Auf die Frage: Wie kann ich Gegenwart aus ihrer prognostizierten Schrumpfung wiederzurückgewinnen? antworten wir: Es kommt nicht darauf an, Zeit zu gewinnen, sondernZeit zu verlieren. Und da ästhetische Wahrnehmung nicht zweckmäßig ist und sich durchRegression, Entspannung, Erinnerung und Passivität auszeichnet, kämpfen wir gegenden Kollaps der über uns zusammenschlagenden Zeitschichten im Theater an: mit Denken,Reden, Gucken, Spielen, Tanzen, Trinken und Singen. Denn dieses ist eine „Entschleuni-gungsoase“ (Hartmut Rosa), deren kultureller Mehrwert eben darin bestehen kann, einererlebnisreichen, aber erfahrungslosen Gesellschaft Zuflucht zu gewähren.

Unsere Reihe „Entschleunigung!“ am Deutschen Schauspielhaus Hamburg geht dergeheimen Logik des Paradoxons der modernen Welt auf die Spur, Zeit zu sparen und trotz-dem im Rückstand zu sein. Wir führen den tempogeplagten Menschen zurück zu seinenWurzeln. Jeden zweiten Donnerstag im Monat versuchen wir, die Gegenwartsschrumpfungaufzuhalten, interviewen Zeitjongleure und multiple Identitäten, verfeinern unsere Sen-sorik für den Karmakapitalismus und begeben uns in die unerbittliche Beschleunigungs-spirale. Hierfür haben sich vier Autoren und vier Regiestudenten der Hamburger Thea-terakademie in den rasenden Stillstand hineinbegeben: Johanna Kaptein und Felix Rothen-häusler suchen nach den entscheidenden Momenten hin und her gleitend zwischen Ernstund Verstellung in „Musical, kurz“, Tim Staffel und Nina Mattenklotz vervielfältigen Iden-titäten im „Third Life“, Bernhard Studlar und Christina Ohmen schrauben sich in die epi-sodenhafte Erinnerungswelt eines gealterten Paares in „Busstop-Biography“ hinein undDavid Gieselmann und Alexander Riemenschneider entschleunigen den Sport in „Rijkund Strijk lösen das Dopingproblem“. Außerdem setzen wir uns in „Beyond History“ vonKevin Rittberger auf groteske Weise mit populistischer Geschichtsvermittlung, der Mega-city als „Sinnesschleuder“, alternativen Strategien von Entschleunigung und der spät-modernen Identität als „Rollenmultitude“ auseinander.

Entschleunigung! von Nora Khuon, Nicola Bramkamp, Kevin Rittberger

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Christine Peters lebt und arbeitet in Frank-furt/M.; Sie studierte An-glistik, Romanistik undTheaterwissenschaft in Dublin,Gießen und Frankfurt/M.;Sie war von 1998 – 2003Künstlerische Leiterin amKünstlerhaus Mousonturm.Seit 2004 arbeitet sie alsfreie Kuratorin und Drama-turgin für zeitgenössischeKunst und Performance, u. a.für: Festival Tanz & Thea-ter, Hannover 2004, FestivalTheater der Welt, Stuttgart2005, Festival SteirischerHerbst, Graz 2006 (als Co-Kuratorin der Gruppenaus-stellung „Protections“ amKunsthaus Graz. Sie unter-richtet interdisziplinärePraxis am Institut für Thea-ter- Film- und Medienwissen-schaft der UniversitätFrankfurt/M..

Welche strukturellen Konsequenzen, Limitierungen und Poten-tiale hat die Arbeit einer Institution, eines Festivals, einerBiennale, die ihren Schwerpunkt auf Experiment, Dialog undResearch legt? Wie verändert sich eine Arbeit, wenn als Kern-frage im Zentrum steht, Zeit und Raum für Akklimatisierungund entspannte Arbeitsbedingungen zu schaffen?

Was heißt das für die Künstler, als auch für Publikum undTeam-Mitarbeiter? Es ist existentiell wichtig, ein Klima und einen Kontext für Begegnung zu kreieren und überelastische Dramaturgien beim Erstellen eines Programms nachzudenken. Was heisst es:Ein guter Gastgeber zu sein? Auf welche Art und Weise beeinflussen künstlerische Kon-zepte die kuratorische und institutionelle Arbeit, sowohl inhaltlich als auch strukturell?Wie im Verhältnis zu künstlerischen Bedürfnissen an der eigenen Elastizität arbeiten, umdie jeweiligen Profile in enger Verbindung mit einem kontinuierlichen Dialog zu schär-fen? Was, wenn ein Teil der jährlichen Produktionskosten nicht in „das Schlachtschiffnamens Premiere“ [Alexander Kluge] fließt, sondern 'unterschwellig' als Reflektion, Dia-log, Forschung eine Arbeit nachhaltig begleitet? Wie verändern sich dadurch strukturelleset-ups sowie die Präsentations- und Vermittlungsarbeit?

Tägliche Rituale, Routinen und Konventionen?Mittel- und langfristig gesehen – würde sich der Geldkreislauf verändern, Forschung undWeiterbildung den Kreislauf kultureller Produktion so erweitern, dass Energieressourcensich weniger schnell verbrauchen? Die Phänomene unserer Zeit – sozialer Jetlag, Burn-out-Syndrom und temporal bulimia – wie gegensteuern? Unter dem Stichwort „Slow Production“ werden diese Fragen exemplarisch untersucht –auch anhand des Projekts „Protections“, das im Herbst 2006 am Kunsthaus Graz statt-fand.

Protections war als mehrschichtiges, sich veränderndes, selbst hinterfragendes Gefügevielfältiger Versuchsanordnungen angelegt: von architektonischen Interventionen, Perfor-mances, theatralen Formen und performativen Installationen bis hin zu filmischen, kon-zeptuellen und diskursiven Studien. Die komplexe und provokante Architektur des Kunst-hauses Graz und die sozialen und kulturellen Milieus der Stadt bildeten die Matrix füralle künstlerischen Annäherungen und Ausformulierungen in einer Ausstellung, die alssozialer Raum zum täglich neuen Ereignis wurde.

[„Protections. Das ist keine Ausstellung“, 22.September – 23.Oktober 2006, KunsthausGraz & Festival Steirischer Herbst. / www.kunsthausgraz.at]

Slow Productionvon Christine Peters

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oben: „Protections“ – Projektskizze

rechts: Kris Martin: Mandi II, Installation, 2002

[Digitaluhr ohne Zeit]

rechts aussen: Kunsthaus Graz

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Niels-Peter Rudolph, gebo-ren 1940, studierte Kunst-geschichte, Germanistik undTheaterwissenschaften inKiel und Berlin. Ab 1963die ersten Inszenierungen. Mehrere Einladungen zumBerliner Theatertreffen.1975 – 1979 Aufbau des Stutt-

garter Schauspiels mit Claus Peymann und Hermann Beil.Von 1980 – 1985 Intendant desDeutschen Schauspielhausesin Hamburg. Erfindung derHamburger Kampnagel-Fabrikfür experimentelles Schau-spiel- und Musiktheater.Seit 1986 freier Regisseur

für Oper und Schauspiel.1997 – 2005 Professur fürMusiktheaterregie an derFolkwang-Hochschule Essen.Zur Zeit Dozent für Schau-spiel- und Musiktheaterregiean der Theaterakademie derHochschule für Musik undTheater Hamburg.

Ein Theaterbesucher: „Als ich um zehn heimlich auf die Uhr schaute, war es viertel nachacht.“ Arbeiten über Zeit auf der Bühne – gefühlte Zeit, Dramazeit, Erzählzeit, Green-wichzeit und andere. Was heißt das für eine Textfassung? Praktische Erfahrungen undÜbungen anhand des komplexen vierten Aufzugs von Schillers „Don Carlos“.

Zeit einrichtenEin Workshop zur Arbeit am Text vonNiels-Peter Rudolph

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Matthias Rebstock, geboren 1970, studierteKlavier, Schulmusik undPhilosophie in Berlin undLondon und ist als Regis-seur und musikalischer Lei-ter im Bereich Neues Musik-theater tätig. 2000 – 2005Lehrtätigkeit für Experi-mentelles Musiktheater ander UdK Berlin; seit 2006

Juniorprofessor für Szeni-sche Musik an der Univer-sität Hildesheim.

Inszenierungen sind u.a.„Niebla“ von Elena Mendoza-Lopez, Kunstforum Hellerau/Dresden 2007. „Rotkäppchen“von Georges Aperghis, JungeOper Mannheim 2007. „winzig-Musiktheater für

ein Haus“ von Manos Tsanga-ris und „MoMa“ von DieterSchnebel, NationaltheaterMannheim 2006/05. „Gaumenkino“, Sophiensaele2004. „Sport“, KonzerthausBerlin 2004. Gründung desEnsembles leitundlause.1. Preis beim 7. Interna-tionalen Wettbewerb fürjunge Kultur Düsseldorf.

Für die Formen von Musiktheater, die ihre Struktur nicht aus einer Handlung oder einerdurchgehenden Narration beziehen, wird Zeit zum entscheidenden kompositorischen Mit-tel: der Rhythmus des Zusammenspiels der Elemente, das Timing etc. Dennoch lässt sichZeit nie direkt als Material verwenden, sondern wird nur erfahrbar durch das, was sichin ihr vollzieht – oder gerade nicht vollzieht. Für jedes Stück und für jede Probe stelltsich also die Frage neu: wie kann (Musik)Theater mit, in und gegen die Zeit komponiertwerden, wie kann sie konkret, „haptisch“ erfahrbar gemacht werden, welche Gestaltenkann sie annehmen? Die Antworten gibt letztlich jeweils nur der Probenprozess, der zueinem Experimentieren mit der Zeit wird – und dafür auch seine Zeit braucht.

Für eine Haptik der Zeitvon Matthias Rebstock

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Kristina Stang, Jahrgang 1978, studierteKulturwissenschaften undÄsthetische Praxis mitSchwerpunkt Theatertheorieund -praxis an der Univer-sität Hildesheim sowie ander Hogeschool voor deKunsten Utrecht / NL undarbeitet seit der Spielzeit2005 / 2006 als Dramaturginund Theaterpädagogin am„Theater an der Parkaue“,Kinder- und Jugendtheaterdes Landes Berlin.

Klassische Frage: Warum vergeht die Zeit im Zahnarztwartezim-mer langsamer als bei einem tollen Konzert? Wie schafft manes, bei einer Zeitreise die Zeugung seiner Großmutter zu ver-hindern und trotzdem zwei Generationen später selber auf dieWelt zu kommen? Wie kann man eine Abkürzung durch die Zeit neh-men, und wohin geht die Zeit, wenn sie vergeht? Was haben diePyramiden damit zu tun, und welchen Zusammenhang gibt es zwi-schen Fotoapparaten und Vögeln, die reglos am Himmel stehen?Wie bekommt man Zeit in ein Einmachglas, und was würde pas-sieren, wenn man Adolf Hitlers Kindheit wiederholen würde?

Je komplizierter es wird, umso schöner wird es mit der „Zeit“ – schließlich kann man siesehen, hören und fühlen. Und darstellen.Im Theaterclub 3 am „Theater an der Parkaue“ erforschen sechzehn 13 – 16jährige dasPhänomen Zeit. Unter der Leitung der Theaterpädagogin und Dramaturgin Kristina Stanguntersuchen sie die Zeit anhand von halsbrecherischen Theorien, Shakespeare-Sonettenund eigenen Forschungsergebnissen im Altersheim, im Shoppingcenter und im Selbstver-such. Neben der thematischen Beschäftigung ist ein zweiter Schwerpunkt die Frage derDarstellbarkeit von Zeit auf der Bühne. Welche Vorgänge haben welches Tempo, was istLangeweile und wie sieht Zeit aus, wenn sie vergeht?

Seit Probenbeginn im November 2007 sind die Jugendlichen so zu Experten für diese zweiThemen – Zeit und Bühnenzeit, Tempo – geworden. Aus diesem Expertentum heraus ent-steht ein praktischer Workshop, der die Arbeitsweisen des Theaterclubs und seine For-schungsansätze thematisiert und so aufzeigt, wie sich Jugendliche in der Theaterarbeit dieZeit auf der Bühne erobern und welche Wege der Darstellbarkeit gefunden wurden.

Die vierte Dimensionvon Kristina Stang

Apparat von Étienne-Jules Marey zur Analyse des Vogel-

flugs ohne die Anwesenheit von Menschen.

Gravure in: „La Méthode graphique“, 1878.

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The first night of the pantomime – a performance invol-ving 38 kids – was a huge rolling exhibition of distrac-tion, nervous ticks, absent-mindedness, costume tangles,nose picking and ill-advised stage behaviour. From Misti-ming in general, from disputes about cues, through earlyentrances and forgotten exits, to things done eithermuch too quickly (a dance) or rather too slowly ( a scenechange) were very much a part of the fabric that wewitnessed – as if temporal dysfunction were some kindof contagious disease, running rife in the theatre thatnight. I’m sure it wasn’t at all out of the ordinary as per-formances with kids go, but it was pretty complex.

My favourite scene was the one where the whole Royalfamily, the court, Aladdin, Widow Twankey and a mot-ley crew of hangers-on, servants, merchants, dancinggirls and townspeople were supposedly frozen as sta-tues, suspended in time by a spell from the genie asinstructed by the evil Abanazer. The sight of 38 kids onthe stage, 36 of them attempting to be perfectly stillwas pretty captivating, mainly because so few of themcould even get close to being still. Almost everywhereyou looked in this supposedly suspended moment therewas wavering and blinking, fidgeting, cramping or justa good-natured lack of concentration. The kids perfor-ming were so very, very there in it, so revealed, so visi-ble in everything they did, intentional or not (more like-ly not), that it was impossible not to love this scene forall its failure as an illusion of stopped time or magical-ly induced stillness.

I guess the big difference (between the kids as perfor-mers and ourselves) is that if we ever did such a thingas this 'frozen scene' in improvisation for a theatre per-formance we’d very likely spend the next six weeks stu-dying the tape of it, notating and plotting the timeline,trying to understand its dramaturgy, isolating key or fea-ture moments, comparing one improvised version toanother and another and another, cherry picking goodbits. This done we'd probably end up trying to fix somethings, or simply letting them settle by dint of repetiti-on, so that in the end the scene's broad shape could be

more-or-less reproduced (a scene with a structure, apiece of time that unfolds with a particular direction, apiece of time with a particular weight that can be usedas an element in a larger dramaturgy) even though thescene's detail would stay live, playable, endlessly con-tingent in the way that performance always is.

But in any case, maybe this whole thing about mistakemight best be seen as a rather particular version or aspecial case, of the dynamic that fascinates me betweenthe official and the unofficial parts of a performance.The mistake – the thing that apparently goes wrong –as the unofficial, unexpected, unwelcome. Apparentmistake as the intervention of that which the discourseseemed to deny – ineptitude instead of mastery, slip-page, fracture and weakness instead of control, strengthand singularity. The placed mistake, the deployment ofsomething that seems to fail, seems to court failure –like the English comedian Tommy Cooper perhaps – ameans of mastering the stage by apparently fallingapart on it, sculpting time by seeming to lose track ofit, or a Zen model of weakness deployed as a strength.

This text is a short fragment from a longer lecture entitled Doing Time.

The lecture – a mix of speculation, autobiography and material around the

work of Forced Entertainment was first presented as a part of „European

Dramaturgy in the 21st Century“ organised Master-programme in Dra-

maturgy of the University of Frankfurt (Prof. Dr. Hans-Thies Lehmann and

Dr. Patrick Primavesi, Martina Lenhardt and Hannah Stringham) on behalf

of the Hessische Theaterakademie which took place from September 26th

to September 30th 2007 in Frankfurt am Main/Germany.

Tim Etchells is an artist, director and writer best

known for his work as leader of the Sheffield, UK-

based performance ensemble Forced Entertainment.

He has collaborated with a wide range of other

artists, choreographers and writers and has crea-

ted original works in text, photography, video,

performance, installation, and digital media. His

first novel „The Broken World“, will be published

by Heinemann in 2008.

Mistakes, and stopping timevon Tim Etchells

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I often talk about mistakes in performance (or in text), about errors, andabout the liveness and dynamic force (of rupture) that comes from those things;about error’s fecundity. But watching a kids’ pantomime, Aladdin, late lastyear I was suddenly aware of how controlled the work I've done, alone andwith Forced Entertainment is, always, in fact – how very stage managed andon top of the game we like to be.

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Urheberabgabe? Netz und Plafond?Angemessene Vergütung? Tantiemen?Regelsammlung?Vertreter des Verbands Deutscher Bühnen- und Medien-verlage e.V. geben in Einzelgesprächen Auskunft undbeantworten Fragen zum Geschäftsverkehr zwischenBühnen und Bühnenverlagen.

Wen das jetzt an die eher bürokratischen Seiten des Dramaturgenberufs erinnert, sei an die der Regelsamm-lung gewidmete Veranstaltung bei unserer letzten Jah-restagung in Heidelberg erinnert, die nicht nur außer-ordentlich gut besucht war, sondern auch viel Diskus-sionsstoff bot.

Aber Achtung, die Sprechzeiten der Verleger sindbegrenzt! Interessierte KollegInnen und BesucherInnenkönnen und müssen bei den Verlegern Zeitfensterbuchen – bekommen dafür aber die ungeteilte Aufmerk-samkeit desjenigen Verlegers, der gerade den nächstenfreien Termin zu vergeben hat.

Mit: Hans-Jürgen Drescher [Suhrkamp Verlag],Wolfgang Neruda [Vertriebsstelle und Verlag DeutscherBühnenschriftsteller und Bühnenkomponisten],Bernd Schmidt [Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb],Thomas Tietze [Alkor-Edition Kassel], Marion Victor [Ver-lag der Autoren], Dr. Jan Ehrhardt [GeschäftsführenderJustiziar des VDB]

SprechSTUNDE In Zusammenarbeit mit dem Verband Deutscher Bühnen- undMedienverlage e.V.

freitag | samstag | sonntag || vormittag | nachmittag | nachts

Noch auf der Suche nach einer Uraufführung für dienächste Spielzeit? Die heißesten Namen der kommen-den Autorengeneration als Erster erfahren? AlteBekannte treffen oder zum ersten Mal das Gesicht zurStimme aus dem Telefon kennenlernen? Wie in jedem

Jahr laden die im Verband Deutscher Bühnen- undMedienverlage organisierten Verleger im Rahmen derJahrestagung der Dramaturgischen Gesellschaft zuspäter Stunde zu einem Empfang ein.

NACHTSchwärmer Verlegerempfang

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Claudia Grehns Text hat sich bei der Jury gegen eine große Zahlanderer eingesandter Texte durchgesetzt, und es ist mir als Autor,als Kollege eine Freude, die Lobrede auf die junge, noch unbe-kannte, aber hoch verdiente diesjährige Kleist-Förderpreisträgerinzu halten.

Der anfängliche Eindruck beim Lesen der allerersten Seite desStücks: Verwirrung, Überforderung.Da steht – in Blockbuchstaben – oben auf der ersten Seite

„HEIMLICH BESTIALISCH“

Die Überschrift hat es in sich. Man denkt an die Bestie im Mensch.Man könnte an Kleist denken, an sein Stück „Penthesilea“.– dann zwei Leerzeilen darunter ebenso in Blockbuchstaben:

„I CAN WAIT TO LOVE IN HEAVEN“:

I CAN WAIT TO LOVE IN HEAVEN. Das könnte bedeuten: Ich kannmit dem Lieben warten bis im Himmel, oder vielleicht, bewusstetwas falsch übersetzt: Lieben kann ich, wenn ich tot bin.

I CAN WAIT TO LOVE IN HEAVEN: Das könnte aber auch der Titeleines Rock-Songs sein, das klingt nach Radio und nach Mike Pat-ton, nach Faith no More –

Es folgt eine schwarze Trennlinie, darunter ein Dreizeiler, ein Satzohne Punkt und Komma, alles klein geschrieben:

„am ersten tag ist es schwer dann gewöhnt man sich daran wiean alles das träge werden des gehirns und der nerven ist ein teildes abwehrsystems des körpers“

Man denkt: huch – was war das – ein Motto? Ein Prolog?Jetzt: immer noch kein Seitenwechsel, keine Trennlinie, es folgt dasPersonenverzeichnis, und schon geht es weiter mit einer Art Wet-terbericht: Wer spricht hier? Man weiß es nicht, man erfährt esnicht. Der Leser fühlt sich, als drehe da jemand an der Skala einesalten Weltempfängers. Informationsfetzen fliegen einem um dieOhren, Fragmente, und schon reißt uns die Autorin mit ein paarWorten mitten in die Geschichte des schwer krebskranken Heiner.

Vorsicht, hier gibt es kein Tempolimit, hier hat jemand keine Zeitzu verlieren: Die Autorin beschleunigt so schnell sie kann. Wir sindnoch nicht einmal auf Seite 2, trotzdem sind wir schon mitten inder Geschichte, und Claudia Grehn wird dieses Tempo, dieses Hin-

und Herspringen zwischen den Frequenzen des von mir so genann-ten „Weltempfängers“ für den Rest ihres Stückes halten, wennnicht noch steigern.

Heiner ist vierzig und todkrank, er ist zuhause ausgezogen, die Eheist kaputt, die noch kleinen Kinder Irmgard und Hilde plärren, dieEx-Frau hängt mehr oder weniger sediert vor dem Fernseher,immer am Rande des Nervenzusammenbruchs.Das könnte reichen für ein Theaterstück, aber das ist erst derAnfang.

Claudi Grehn spannt in ihrem Stück einen weiten, einen unge-wöhnlich weiten erzählerischen Bogen.

Der Mann mit der Opernkarte, Heiner, wird im Laufe des Stückssterben, er trotzt mit aller Kraft dem Tumor zehn weitere Jahreab, aber gewinnen kann er den Kampf nicht.Die plärrenden Mädchen aus der kaputten Ehe vom Anfang wer-den im Lauf des dreiteiligen Stücks erst zu nervösen suizidalen Teen-agern und dann zu jungen Frauen, sie werden ihren Vater zu Grabetragen, sie werden sich im Ausland sozial engagieren und vor allemwerden sie – wie auch alle anderen Figuren bei Grehn – verzweifeln,sie werden die glückliche Liebe suchen und nicht finden.

Immer wieder dreht die Autorin die Skala ihres Weltempfängersweiter:Es rauscht, es pfeift im Äther:Da kommen im Stück Tagebucheinträge vor, Lebensläufe, Ärztli-che Diagnosen, Dialogfetzen in angerissenen Szenen, und plötzlichtritt die Vergangenheit auf den Plan, WILMA aus Oslo, eine jungeReiseleiterin, schreibt im Jahr 1972 an Heiner, in den sie über beideOhren verliebt ist. Sie schreibt ihm anrührende Briefe, wach, enga-giert, verliebt, sie macht sich Gedanken über den Zustand der Weltund ihren Platz darin. Und Heiner? Der macht lieber in Wiesba-den Karriere, der „verdient lieber gutes Geld“, aber Gunhild wirddas erst viele Briefe später begreifen.

Plötzlich – Heiner ist gerade an Krebs gestorben – wechselt erneutdie Frequenz, wir sind mit einem Mal in New York im Jahr 1880,hier begegnet der Leser staunend niemand geringerem als demkubanischen Dichter und Freiheitskämpfer José Marti, mit demsich Heiners Töchter gerade beschäftigen.

Das sind die Themen dieses Stücks: Der Tod, die Liebe und der Glau-be an eine bessere Welt. Es geht um Verzweiflung, und es geht umIdealismus. Es geht um den Verlust der Ideale.

„HEIMLICH BESTIALISCH – I CAN WAIT TOLOVE IN HEAVEN“ von Claudia GrehnKleist-Förderpreisträgerstück 2007Laudatio von Roland Schimmelpfennig

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Es geht um die Unmöglichkeit der Liebe. Das sind große Themen,Kleist’sche Themen. Das sind die größten Themen, denen man sichals Autor stellen kann.

Dass das Stück HEIMLICH BESTIALISCH seinem Leser andauerndden Kopf verdreht, liegt an diesen Inhalten, denen sich die Auto-rin stellt. Das liegt an der harten Grenze von Leben und Tod, Liebeund Verzweiflung, an der sich die Geschichte, die uns ClaudiaGrehn erzählt, von Anfang an bewegt.

Die Form, die die Autorin gewählt hat, mag einen Anteil an die-sem Gelingen haben – sie hilft: Die Autorin springt gekonnt, völ-lig unangestrengt von Dialogen zu erzählenden Textstrukturen,Monologen, Filmeinspielungen. Sie fragmentarisiert ihre Geschich-te und gleichzeitig erzeugt sie durch diese FragmentarisierungKonzentration, Verdichtung, Tempo, Spannung.

Die Form des Textes ist aufregend, sie ist ein offenes Angebot,sie ist eine kluge Reflexion des so genannten Regietheaterbetriebs,und hoffentlich eine willkommene Herausforderung.

Bestechend ist Claudia Grehns Gespür für Sprache.Ihre Sprache kann ebenso karg, knapp sein wie lyrisch kompliziert.

Ihre Sprache bedient keinen „Sound“, sie ist reich, sie ist manch-mal eigen oder eigenartig wie ihre Syntax, neu, von mir aus jung,Gott sei Dank, aber reitet diese Sprache niemals auf irgendeinerepigonalen Welle. Claudia Grehns Sprache ist vor allem nicht„gewollt, angeschafft“.Nein, die Sprache, die die Autorin für ihre Figuren findet, ist au-thentisch, ein Brennglas und gleichzeitig ein Instrument, um in wirk-lich verblüffender Weise sehr unterschiedliche Figuren zu erschaffen.

Wer lässt schon im Jahr 2007 in einem deutschen Theaterstück denkubanischen Freiheitskämpfer und Dichter der Zeilen von „LaGuantanamera“ José Marti auftreten?

Da besteht eine spannende Mischung aus Intelligenz, Wissen undAnarchie, aus Witz und Melancholie, aus Menschenkenntnis undHerzensbildung.

Zu dieser Begabung – und natürlich zum Kleist-Förderpreis – kannich Claudia Grehn nur herzlich beglückwünschen.

Claudia Grehn, geboren 08.01.1982 in Wies-baden, 2001 Abitur in Trier.Russisch- und Philosophie-studium in Hamburg und Ber-lin. Seit 2005 Studium szenisches Schreiben an derUdK Berlin.

HEIMLICH BESTIALISCH – ICAN WAIT TO LOVE IN HEAVENerscheint im Verlag derAutoren.

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SOMMER HITZEWELLE ÜBER EUROPA – alte menschen

sterben, flüsse trocknen aus, rasensprengen

verboten: die SINNflut schafft neue prioritäten

in den städten ist es leicht an das ende der

welt durch ozonvergiftung zu glauben endlich

wieder regen ein mann hat sich in den eingang

der sex-kinokasse gerettet der regen spült den

staub der strasse die hundekacke den abfall an

seinen füssen vorbei in die bordsteinrinne

alles wird sauber die luft kann man wieder

atmen eine frau aus den achtzigern leuchtet ihn

an – sarah young – die zunge zwischen den zäh-

nen er ist kein mann der auf so was reinfällt

er ist auf dem weg in die oper

ausverkauft! seit einem monat der einlass hat

bereits begonnen es werden keine karten mehr

zurückgenommen – aber es ist klar dass er noch

eine organisiert er will es und was er will das

setzt er auch durch der mann geht also in die

oper es ist sein 40. geburtstag 10 jahre vor

seinem tod aber das weiß er nicht die ärzte

gaben ihm nur einen monat

in der pause sieht er eine brünnette an einem

tisch stehen – ALLEIN – noch habe ich mein

gutes aussehen – denkt er noch erinnere ich an

den erfolgreichen mann der ich einmal war:

auf meinem passfoto sehe ich aus wie ein schau-

spieler, das sagen alle, er sieht noch einmal

genau hin: die frau ist zu schön um allein zu

sein wahrscheinlich ist ihr mann vielbeschäf-

tigt wie er einmal

FRAU

ich weiß nicht ob ich vor glück weine oder aus

trauer

es ist seltsam das man sich seine gefühle aus

der oper holen muss

was machen sie hier

MANN

wenn es jemand geschafft hat so schöne musik zu

machen die gleichzeitig die tragik des lebens

begreift muss er die menschheit sehr geliebt

haben

das hatte gereicht die frau hing an seinem arm

als sie die oper verließen

[...]

HÄHNCHENESSEN 1

IRMGARD

fürs hähnchenessen sind meine eltern perfekt

papa mag die keule mama brust und flügel ich

bin wie papa keule schnell fahrn: sausen, läs-

sig aber konzentriert handeln im notfall,

sportler papa klärt mich über die frauen auf:

brünette sind ihm lieber ungeschminkte

blonde müssen sich schminken um zu wirken ich

bin froh dass ich ein kind bin mama macht alles

falsch sie ist blond hysterisch meckert liest

konsaliksimmel kapiert gar nichts von literatur

raucht die alte fümöse und trifft sich mit

freundinnen um dallas zu gucken

macht doch mal etwas rentables, ihr könnt doch

stricken oder töpfern, seidenmalerei, sagt

papa, was dazu verdienen, fähigkeiten ausbilden

meine schwester schreit immer wenn ich die

fusel zwischen ihren fingern rauspule und sie

ihr ins nasenloch stecke – dann muss sie end-

lich mal den schnuller ausspucken

Auszug„HEIMLICH BESTIALISCH – I CAN WAIT TO LOVE IN HEAVEN“ von Claudia Grehn

freitag | samstag | sonntag || vormittag | nachmittag

am ersten tag ist es schwer dann gewöhnt man sich daran wie an

alles das träge werden des gehirns und der nerven ist teil des

abwehrsysthems des körpers

TEIL 1 MANN / PAPA, heisst HEINER

FRAU, heisst URSULA

MAMA

IRMGARD

HILDE

WILMA, schreibt briefe, 1972

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63d ramaturg ie 2/2007

Seit 1996 wird der Kleist-Förderpreis jährlich von der StadtFrankfurt/Oder, der Dramaturgischen Gesellschaft und demFrankfurter Kleist Forum der Messe und Veranstaltungs GmbHausgelobt. Er ist richtungsweisend für die Entwicklung neuerDramatik und Wegbereiter vieler mittlerweile internationalrenommierter Autoren. Die Auszeichnung ist mit 7.500 Eurodotiert und mit einer Uraufführungsgarantie verbunden.

Im Jahr 2007 ging der Preis an Claudia Grehn für „HEIMLICH BESTIALISCH – I CAN WAITTO LOVE IN HEAVEN“.

Eingereicht wurden bis zum 1. März 2007 insgesamt 47 Stücke aus Deutschland, Öster-reich, der Schweiz, Tschechien und den Niederlanden, ein Drittel der Einsendungen kamvon Theaterverlagen.

Der Preis ging in den vergangenen Jahren:

1996 an Guido Koster für „Nachklang“1997 an Marius von Mayenburg für „Feuergesicht“1998 an Katharina Gericke für „Winterkönig“1999 an Dirk Dobbrow für „Legoland“2000 an Andreas Sauter und Bernhard Studlar für „A. ist eine Andere“2001 an Katharina Schlender für „Trutz“2002 an Ulrike Syha für „Autofahren in Deutschland“2003 an Rebekka Kricheldorf für „Kriegerfleisch“2004 an Daniel Mursa für „Dreitagefieber“2005 an Reto Finger für „Kaltes Land“2006 an Dirk Laucke für „alter ford escort dunkelblau“

Für den Kleist-Förderpreis 2008 sucht die DramaturgischeGesellschaft ein Theater, das die Uraufführung des preisge-krönten Stückes übernimmt. Das Theater wird auf der nächstenMitgliederversammlung der Dramaturgischen Gesellschaft imFebruar 2008 aus den vorliegenden Bewerbungen ausgewählt undist dann in der Preisjury mit einer Stimme vertreten.

Interessierte Theater wenden sich bitte an die Dramaturgische Gesellschaft,Schröderstraße 1, 10115 Berlin, [email protected] oder setzen sich mit Tamina Theiß, Projektreferentin Theater am Kleist Forum Frankfurt / Oder in Verbindung ([email protected] oder Tel. 0335 – 40 10 / 202).

Der Kleist-Förderpreis für junge Dramatiker 2007

Bewerbung für den Kleist-Förderpreis 2008

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Die Kulturstiftung des Bundes richtet einen Fonds für internationaleTheaterpartnerschaften ein

Die Theaterlandschaft Deutschlands gilt als einzigartig in der Welt. Ihr Reich-tum zeigt sich im breiten Spektrum der Einrichtungen und Initiativen, diefür eine lebendige Theaterszene in Deutschland sorgen: Stadttheater mit eherregionalem Einzugsbereich und große Häuser mit überregionaler Anziehungskraft,eine große Anzahl von Theaterfestivals und experimentierfreudige Projekte derfreien Theaterszene.

Bisher gibt es aber nur wenige Stadt- und Staatsthea-ter in Deutschland, die regelmäßig und längerfristig mitausländischen Theatern kooperieren. Um sich neben derBetreuung des normalen Spielbetriebs noch zusätzlichum Kooperationen mit Häusern außerhalb Deutschlandskümmern zu können, fehlt es den künstlerischen Mitar-beitern der Theater häufig an zeitlichen und finanziel-len Voraussetzungen, wie sie für den Aufbau und diePflege internationaler Beziehungen notwendig wären.

Mit dem „Fonds Internationale Theaterpartnerschaf-ten“ will die Kulturstiftung des Bundes deutsche Thea-ter in ihrem Bemühen um internationalen Erfahrungs-austausch und gemeinsame Produktionen zwischen

Theatern aus verschiedenen Ländern unterstützen. DieTheater können mit Hilfe des Fonds über mehrereSpielzeiten künstlerisches Personal austauschen, Gast-spiele präsentieren und gemeinsame Produktionenentwickeln.

Die Kulturstiftung des Bundes hat den „Fonds Interna-tionale Theaterpartnerschaften“ bis ins Jahre 2012 mitfünf Millionen Euro ausgestattet. Pro Partnerschaft isteine maximale Förderung in Höhe von 150.000 Euromöglich. Weitere Informationen, Fördergrundsätze und Antragsformulare finden sich auf der Website derKulturstiftung des Bundes unter www.kulturstiftung-bund.de .

freitag | samstag | sonntag || vormittag | nachmittag

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Es diskutieren Frank Baumbauer [Intendant, Münchener Kammerspiele], Rolf Bolwin[Geschäftsführender Direktor des Deutschen Bühnenvereins], Jörg Bochow [Chef-dramaturg, Schauspiel Stuttgart] und Holk Freytag [Intendant, StaatsschauspielDresden / Vorsitzender der Intendantengruppe im Deutschen Bühnenverein], Moderation: Peter Spuhler

Zeitpolitik ist Kulturpolitik Mit immer weniger immer mehr?Konsequenzen und Visionen für „Morgen“Politisches Podium

Welche Konsequenzen sind aus den Ergebnissen derTischgespräche und den Vorträgen der Jahrestagung zuziehen? Wie verbindet sich der Wunsch, mit immer mehrund immer neuen Formaten die Produktivität der Theaterzu erhöhen und ihnen ein spezifisches Gesicht zu geben,mit der Sehnsucht des „Thinktanks“, der Theaterdrama-turgie, nach mehr Zeit für Recherche, konzeptionellesDenken, Fortbildung, zum Lesen und Erleben oder zumintensiveren Einstieg in die Themen der künstlerischenArbeit? Ist Beschleunigung ein zu bekämpfendes Übeloder ein Gebot der Stunde? Ergeben sich aus dem Gehör-ten und Diskutierten konkrete Forderungen für den Dra-maturgen, den Theateralltag, die Kulturpolitik?

Um diese Widersprüche und Fragestellungen soll es indiesem „Politischen Podium“ der Jahrestagung gehen.Im vergangenen Jahr mündete die Aussprache in eineResolution zu Theaterpädagogik und ästhetischer Bil-dung, die seitdem intensiv diskutiert wird. Wir wollenprüfen, ob dies beim Thema „Zeit/Entschleunigung“sinnvoll ist. Erstmals arbeitet die DramaturgischenGesellschaft hier mit dem Deutschen Bühnenvereinzusammen, und wir hoffen, dass dies der Beginn einerkontinuierlichen Kooperation wird.

Der Eintritt zu dieser Veranstaltung frei.

freitag | samstag | sonntag || vormittag | nachmittag

Frank Baumbauer Der 1945 in München geboreneIntendant der Münchener Kam-merspiele studierte Germanis-tik, Soziologie und Theater-wissenschaften. Er leitetedas Bayerische Staatsschau-spiel München, das BaslerTheater, war Intendant desHamburger Schauspielhausesund Verantwortlicher für dasSchauspiel der SalzburgerFestspiele von 1999 – 2001.

Dr. Jörg Bochow 1963 in Budapest geboren,studierte Bochow Theaterwis-senschaften an der HU Ber-lin. Von 2000 – 2005 war erAssistant Professor für

Theater- und VergleichendeLiteraturwissenschaft an derUniversity of Toronto. Seitder Spielzeit 2005/06 ist erChefdramaturg am SchauspielStuttgart.

Rolf BolwinDer Vorstandsvorsitzendeund GeschäftsführendeDirektor des Deutschen Büh-nenvereins, 1950 in Gelsen-kirchen geboren, studierteJura, Politische Wissen-schaft und Geschichte inBonn. Er war zunächst imJustitiariat des Deutsch-landfunks tätig. Bolwin istMitherausgeber des Kommen-tars zum Bühnen- und Tarif-

recht sowie in verschiede-nen Arbeitgeberverbändentätig.

Holk FreytagDer 1943 in Tübingen geboreneIntendant des Staatsschau-spiels Dresden ist seit 2001Vorsitzender der Intendanten-gruppe im Deutschen Bühnen-verein. Zunächst war Freytagin Düsseldorf Lehrbeauftrag-ter für Medienpädagogik undspäter Gründer und Intendantdes Schlosstheaters Moers. Esfolgten die Generalintendanzder Wuppertaler Bühnen undbis 2001 die Intendanz desSchillertheaters Nordrhein-Westfalen.

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Es gehört zu den Geschäftsbedingungen eines Vortragendengegenüber seinem Publikum, dass er zu Beginn seiner Ausführun-gen die zentralen Begriffe seiner Thematik klärt. In meinem Fallelauten diese „Zeit“ und „Kultur“. Was „Zeit“ ist, wissen wir nur,und hier schließe ich mich Augustinus an, wenn wir nicht danachfragen. Oder anders formuliert: Die „Zeit“ ist nicht zu fassen.Weder durch intensive Denkanstrengungen, noch durch gut aus-gebildete Polizeihunde. Erwarten Sie daher von mir bitte keinegenerell gültige Definition von „Zeit“. Gleiches gilt auch für den„Kultur-Begriff“. Auch er entzieht sich einer umfassenden defini-torischen Festlegung. Anbieten kann ich Ihnen für beide Großbe-griffe jedoch eine nicht auf generelle Zustimmung schielende, per-spektivisch eingeschränkte Definition. Nicht aus Bescheidenheit,sondern aus Gründen meiner eingeschränkten Kompetenz, ent-scheide ich mich dabei für eine sozialwissenschaftlich zentriertePerspektive. „Zeit“ ist für Sozialwissenschaftler, zu denen ich michzähle, die „Ordnung des Vergänglichen“. Mit „Zeit“ haben sich dieMenschen ein Orientierungsmittel geschaffen, das sie davorbewahrt, im Prozess des irdischen Werdens und Vergehens halt-und orientierungslos umherirren zu müssen. „Zeit“ existiert alsonur deshalb für die Menschen, weil sie vergeht. Die Erfindung derZeit gehört zweifelsohne zu den größten Kulturleistungen derMenschheit. Mit Rekurs auf diese Charakteristik von „Zeit“ lässtsich Kultur kurz und prägnant als „Unterbrechung“ definieren.Kultur ist Unterbrechung. Sie ist es heute, im Zeitalter der Rund-umgeschäftigkeit, der Nonstopverwertung von Zeit, mehr dennje. Das muss und will ich Ihnen im Folgenden erläutern, um daranschließlich politische Folgerungen festzumachen.

So wie man Zeit und Raum, und hier bediene ich mich eines Bildesvon Nabokov, als altes Ehepaar beschreiben kann, das sich ein Dop-pelbett teilt, so trifft dieses Bild auch für die beiden Phänomene„Kult“ und „Kultur“ zu. Beide, Kult und Kultur, sind zeitlich. Das isttrivial. Nicht trivial hingegen ist der Sachverhalt, dass beide nur imRahmen einer spezifischen Ordnung von Zeit entstehen und exis-tieren können. Die Möglichkeit ihrer Existenz setzt eine spezifischeOrdnung von Zeit voraus. Die für den Kult und die Kultur folgen-reichste Zeit-Entscheidung war die Erfindung der Zeitinstitution der„Woche“. Ohne die Woche, so meine zugegeben etwas steile These,wären wir weitgehend kulturlos, und nach deren heute möglicher-weise absehbaren Abschaffung wären wir viel von unserer Kulturwieder los. Ich weiß, diese Aussage ist eine Provokation. Um sieabzumildern einige Erklärungen. Dazu zuerst ein Blick auf dieGemeinsamkeiten der irdischen Schöpfungsgeschichte der Woche,die weitgehend mit der von Kult und Kultur zusammenfällt.

Die Woche, und die Woche existiert nur, weil es in ihr einen spezi-fischen, einen herausgehobenen Tag gibt, der für die Christen derSonntag ist, ist die einzige kalendarische Zeiteinheit, die keineoffensichtliche Korrespondenz zu kosmischen Abläufen hat. DieWoche ist eine soziale Erfindung, sie ist, so der bekannte franzö-sische Mittelalterforscher Le Goff, „die große menschliche Erfin-dung im Kalender“. Man könnte sie also auch wieder abschaffen,was sich nicht mit den sonstigen kalendarischen Zeitinstitutionen,

dem Tag, dem Monat, oder dem Jahr machen ließe. Die äußerst fol-genreiche und produktive Idee, die Zeitinstitution der Woche ein-zuführen, entstand vor etwa 5000 Jahren im so genanntenZweistromland, dem heutigen Irak. Es waren die Chaldäer, die mitsozial-organisatorischer Absicht der Zeit eine neue Ordnunggaben. „Von Anfang an“, so Le Goff, „bestand ihr Hauptwertdarin, dass sie in den Kalender eine regelmäßige Unterbrechungder Arbeit und des Alltags bringt.“ Plausibel wird diese große undgroßartige „Erfindung“, wenn man sich die damalige Lebenssitua-tion der Bewohner dieser Region vergegenwärtigt. Das Gebiet zwi-schen Euphrat und Tigris bestand aus großflächigen Über-schwemmungsgebieten mit tausenden, mehr oder weniger klei-nen, landwirtschaftlich genutzten Inseln. Auf ihnen lebten dieMenschen relativ isoliert und ohne allzu viel Kontakt mit denBewohnern der Nachbarinseln. Eine, die insularen Lebensgemein-schaften übergreifende Organisation, die die Einwohner vorNaturkatastrophen, vor Nahrungsmittelknappheit und Überfällenhätte schützen können, existierte nicht. Um diesbezüglich Vorsor-ge zu treffen, um sich also gegen die verschiedensten Folgen desUngemachs besser schützen zu können, wurde es notwendig, eineForm von Vergesellschaftung zu etablieren, die über den Horizontder einzelnen Inseln hinausreichte. Die wiederum ließ sich nurdurch konkrete Erfahrung herstellen. Man benötigte dazu einenAnlass für Gemeinsamkeit, ein Ereignis, um miteinander in Kontaktzu treten und dabei festzustellen, dass man viele Interessen teilt.Dies geschah durch die Festlegung eines in regelmäßigen Abstän-den wiederkehrenden Tages des Feierns und des Kultes. DenZyklus von sieben Tagen legitimierte man durch einen konstruier-ten kosmischen Bezug, der ja allen anderen damals gebräuchli-chen Zeiteinteilungen ebenso seine Berechtigung verlieh. DieAnzahl der Wochentage, die sich regelmäßig wiederholten, ent-sprach der damals bekannten Planetenzahl.

Der gemeinsame Tag des Kultes, der Feier, steht also am Anfangdessen, was wir als „Gesellschaft“ und dessen, was wir als „Kul-tur“ bezeichnen.

Kulturpolitik als Zeitpolitik von Karlheinz A. Geißler

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Die Dauerhaftigkeit dieser Zeitinstitution, ihre 5000-jährige leben-dige Geschichte und die gelungene Abwehr der unterschiedlich-sten Angriffe auf sie, zählen zu ihrer Erfolgsgeschichte. Sie basiertauf der geglückten Verknüpfung zweier Vergemeinschaftungsfor-men mit dem Mittel der Zeitorganisation, einer sozialen und einerinhaltlichen. Sozial vergemeinschaftete man sich, indem man sichtraf, miteinander redete und miteinander feierte, also eine gemein-same Kultur entwickelte und pflegte. Inhaltlich vergesellschafteteman sich durch das gemeinsame Anliegen des Kultes und der Hul-digung gemeinsamer Götter. So entstand aus der Gemeinsamkeitdes Kultes an einem gemeinsam geteilten, regelmäßig wiederkeh-renden Tag schließlich eine gemeinsame Kultur. Dass diese kultur-schaffende Unterbrechung des Alltags durch einen herausgeho-benen Tag auch heute noch schützenswert ist, drückt sich u. a. inder Tatsache aus, dass das Grundgesetz unserer Republik im Arti-kel 140 diesem Tag ein besonderes Gewicht verleiht, indem es ihmdie Funktion zuschreibt, zur „seelischen Erhebung“ der Menschenbeizutragen. In einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft, dievon Erlösung auf Erlöse umgestellt hat, vollzieht und realisiert sichdiese „seelische Erhebung“ immer weniger durch Kult und immerhäufiger durch Kultur.

Hält man an der sprichwörtlichen Weisheit fest, dass der Menschnicht nur allein vom Brot, sprich: vom Geld, lebt, sondern auch die„seelische Erhebung“ benötigt, dann brauchen wir Zeiten, Zeiträu-me, Zeitqualitäten und Zeitinstitutionen, in denen das Prinzip ‚Zeitist Geld’ zumindest partiell und auf Zeit außer Kraft gesetzt ist. Solldas kein frommer Wunsch bleiben, muss sich der Gestaltungswilleder Politiker auch im Widerstand gegen die vereinheitlichendenZeitdynamiken der globalisierten Marktwirtschaft seinen Ausdruckverschaffen. Zumindest aber gälte es, der grenzenlosen Ver-Nutzungder Zeit, die mit einer grenzenlosen Ver-Kundung der Subjekte ein-hergeht, Einhalt zu gebieten. In einer sich 24 Stunden am Tag und7 Tage die Woche breit machenden „Zeit ist Geld“ Dynamik wirdjeder vom ökonomischen Kalkül noch nicht infizierter Zeitraum nurmehr als überflüssige Einschränkung der Freiheit begriffen.

Kulturell produktive, ja unverzichtbare Zeitformen, wie die desInnehaltens, des Wartens, der Pause, der Zwischenzeiten und Über-gänge, kommen damit unter Druck. Und Politiker wiederum kommenunter Reformdruck, wenn diese ökonomischer Verwertung partiellentzogenen Zeitinstitutionen, der Sonntag, die Nacht usw., gesetz-lich abgesichert und rechtlich geregelt sind. Rechtlich wird dieBesonderheit des Sonntags in erster Linie durch Verbote konkret:durch die Einschränkung von Arbeit und Konsum hergestellt undabgesichert. Die individuelle Wahl- und Entscheidungsfreiheit, sozumindest sieht es inzwischen ein immer größer werdender Teil derBevölkerung in Deutschland, wird an diesem Tag eingeschränkt.Was

aber dabei gerne ignoriert wird, ist die mit dieser Einschränkungwachsende Zahl der Wahlmöglichkeiten außerhalb der ‚Zeit istGeld’-Logik. Gewonnen, gesichert und geschützt wird durch diegesetzlichen Einschränkungen in erster Linie eine vielfältige, leben-dige und kreativitätsfördernde Zeitkultur. Dass diese gleichermaßenfür die Gesellschaft, als auch für die Subjekte notwendig ist, daraufhat bereits Goethe warnend hingewiesen: „Unbedingte Tätigkeit,von welcher Art sie sei, macht zuletzt bankerott.“ Und Nietzscheprophezeite: „Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eineneue Barbarei aus.“ Lassen Sie mich das an der Zeitform desInnehaltens andeuten.

Der Sonntag ist der Tag des Innehaltens. Die Woche, der Alltag wer-den durch und von ihm abgebremst, und gewinnen damit ihreKontur. Die Woche würde nicht existieren, gäbe es diesen Tag desInnehaltens nicht. Aber auch im Alltag gibt es kleine Sonntage, sobeispielsweise der Feierabend, die Zeitungslektüre, das Vorsich-hindösen, die Pausen. In diesen Oasen der Zeit hat die Kultur ihreChance. Kultur nämlich ist Unterbrechung.

Ohne Zwischenräume, ohne Zeitoasen gelingt es weder den Sub-jekten noch den sozialen Gemeinschaften, Kultur und Profil zu ent-wickeln. Fernando Pessoa hat, wie kein anderer, die „Zeiträumedes Dazwischen“ als eine notwendige Bedingung eigener Kultu-ralisierung und kultureller Produktivkraft beschrieben: „Ich bin derZwischenraum zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich nichtbin, zwischen dem, was ich träume, und dem, was das Leben ausmir gemacht hat [...] Ich bin die Brücke des Übergangs zwischendem, was ich nicht habe, und dem, was ich nicht will.“

„Meine besten Einfälle“, gesteht ein erfolgreicher Wissenschafts-kollege, „habe ich auf dem Heimweg und am Sonntag.“ Denn insolchen Zwischenzeiten und Zwischenräumen, in den Halbschat-ten der Lebenswelt ist die Erkenntnis zuhause, dass das, was ist,nicht alles ist. Kunst und Kultur konfrontieren, überzeichnen undverändern unsere Vorstellung und unsere Wahrnehmungsweise vonZeit. Kultur und Kunst machen die Menschen utopiefähig, sie ent-wickeln den subjektiven und den sozialen Möglichkeitssinn undmachen uns hoffen, dass es auch anders sein könnte. Kunst undKultur brauchen wir, um die Realität des Zeitlichen und die selbstgeschaffenen Zeitordnungen überhaupt ertragen zu können.

Die Kultur, wie auch das mit ihr eng verbundene Soziale, entwickeltsich nicht auf den Schnellstraßen der Ökonomie, und auch nicht inden betriebswirtschaftlichten Zeitarealen. Ihr Königsweg ist derUmweg, ihr Medium das Intervall, die Unterbrechung. Die Entwick-lung der Kultur benötigt Zeiten, Zeitqualitäten und Zeitformen,deren Produktivität sich jenseits der stromlinienförmigen Verwer-tungs- und Beschleunigungsimperative und des konsumistischen

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Sofortismus entfalten. Nur abseits des Nützlichen, in der Sphäredes „Übernützlichen“, wird der Mensch zum Kulturmenschen, under bleibt es auch nur, wenn er diesen Zeiten eine Chance gibt. Die„Zeit ist Geld“-Logik, die unsere Gesellschaft maßgeblich prägt,hat unbestritten viele vorzeigbare Vorteile und Verdienste. Dazugehören eine Menge Freiheiten, speziell Wahlfreiheiten, die früherenGenerationen verschlossen waren. Aber sie hat ein gravierendesDefizit: Sie belohnt nämlich nicht jene Menschen und deren Akti-vitäten, die sich Zeit lassen, die fürsorglich mit sich, ihren Mitmen-schen und der Natur umgehen, nicht jene, die Liebe und Freund-schaft für wichtiger halten als das Geldverdienen und das Zeitspa-ren. Und auch die, die sich kulturell engagieren, werden nur allzuselten für ihr Engagement unterstützt und belohnt.

Zum Abschluss drei Handlungsempfehlungen an die bildungspoli-tisch Einflussreichen unter Ihnen. Ich kann mich dabei auf Zuspitz-ungen beschränken, da die Konsequenzen meiner Ausführungen jaauf der Hand liegen.1.) Zeit ist die Bedingung jeder kulturellen Produktion. Dasbedeutet, dass Kulturpolitik immer auch als Zeitpolitik begriffenund betrieben werden muss.2.) Heutzutage bedeutet das Einmischung in die von den Globa-lisierungsdynamiken in Gange gesetzten zeitpolitisch relevantenEntscheidungen. Einmischung in die gesetzlichen Regelungen derArbeitszeiten, der Ladenschlusszeiten. Ganz besonders wichtig aberist ein politisches Engagement im Hinblick auf die schleichende Ero-sion, die man auch schleichende Privatisierung nennen kann, desvom Grundgesetz abgesicherten Sonntagsschutzes. Würde derSonntag zu einem den Werktagen vergleichbaren Tag, würde nichtnur der Kalender, sondern auch die Kultur erheblich grauer werden.Dann droht nicht mehr nur das Unbehagen in der Kultur, dann drohtSchlimmeres, das Behagen in der Unkultur.3.) Und schließlich noch eine Empfehlung an die weniger poli-tisch Einflussreichen unter Ihnen. Konzentrieren Sie Ihr Engagementnicht nur auf die Erhaltung von Pflanzensorten und Schweineras-sen und Biotope. Kümmern Sie sich auch um das zunehmende Ver-schwinden kulturell schöpferischer Zeitformen, Zeitqualitäten undChronotope. Gemeint sind in erster Linie die unter Druck stehen-den, nicht oder nur geringfügig beschleunigbaren Zeiten, da, soHerder, „die beste Kultur eines Volkes [...] nicht schnell ist.“

Vortrag gehalten am 08.11.2007 beim Symposion „Kulturpolitik im

Kontext von Zentrum und Peripherie“ im Sprengel Museum Hannover.

Prof. Dr. Karlheinz A. Geißler denkt, schreibt und forscht

über Zeit und den manchmal seltsamen Umgang mit ihr.

Bücher u. a.: „Wart mal schnell.“ Herder Taschenbuch,

Freiburg 2006 „Alles Espresso – Kleine Helden der Alltags-

beschleunigung.“ Hirzel Verlag, Stuttgart 2007

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Die Zeit-Revoltevon John Holloway

Die Existenz von Herrschaft ist ohne Widerstand nicht darstellbar.Die Abstraktion der Arbeit ist ohne die Revolte des Tuns nicht vor-stellbar. Die Abstraktion der Zeit stellt sich ständig der konkretenZeit entgegen. In diesem Sinne ist die Krise des Kapitals, derArbeit, der Zeit eine permanente Krise: Wir sind diese Krise. Aberfindet da nicht noch mehr statt? Gibt es eine verschärfte Krise derUhrzeit, gibt es eine Zersetzung der Uhr-Zeit, an der wir aktivbeteiligt sind?

In der fordistischen Fabrik, in Chaplins treffend betiteltem Film„Moderne Zeiten“ karikiert, gelangten die Herrschaft der Uhrzeitund die Abstraktion des Tuns in Arbeit zu ihrem direktesten Aus-druck. Die vollständige Trennung der Arbeit von der sie aus-führenden Person ist offensichtlich; ebenso offensichtlich ist dieHerrschaft der Uhr-Zeit, verkörpert in der tayloristischen Messungjeder Körperbewegung der Arbeiter. In den letzten dreißig Jahrenentwickelte sich die Zeit offensichtlich zu einem Thema im Klas-senkampf. Es kommt zu einem plötzlichen Anwachsen der Revol-te der konkreten Zeit gegen die abstrakte Zeit. Die Bedeutung derZeit ist ein zweiseitiger Konflikt. Das Einreißen von Grenzen zwi-schen Arbeit und Leben kann auf zwei Arten aufgefasst werden:entweder als Prozess der Aufhebung der Entfremdung der Arbeit,deren Verwandlung in ein Tun, welches wir kontrollieren, dessenRhythmus wir wählen, oder als Ausbreitung der Fabrikdisziplinauf die ganze Gesellschaft (um die „gesellschaftliche Fabrik“ zukonstituieren).

Natürlich gibt es derzeit einen Kampf seitens des Kapitals zur ver-tieften Ausdehnung seiner Herrschaft auf jeden Aspekt des Lebens,aber gleichfalls gibt es einen Kampf um den Bruch mit der Zeit, umdas Untergraben der Zeit, um die Schaffung von Rissen in der Uhr-Zeit. Was ist diese Zeit ohne Namen (konkrete Zeit, gelebte Zeit),die wir der Uhr-Zeit entgegenstellen? Wenn das Kapital durchAbstraktion der Zeit vom Tun herrscht, dann dreht sich unserKampf darum, die zentrale Bedeutung des Tuns wiederzuerlan-gen, die zentrale Bedeutung, die wir als Tuende, als aktive Subjekteeinnehmen. Aber wie geschieht dies und wie setzen wir es um?Hier dazu einige Überlegungen.

Die Dauerhaftigkeit angreifen: Die Reproduktion des Kapitalismus hängt von seiner Dauerhaftigkeitab. Unter Dauerhaftigkeit verstehe ich die Annahme, dass bloß weiletwas gestern existierte, es heute existiert und weiterhin morgenandauernd existieren wird. In einer Welt der Dauerhaftigkeit spieltdas Subjekt keine Rolle, die Dinge haben Autonomie erlangt, ihreExistenz hat sich von ihrer Erschaffung getrennt. Die Dinge selbstnegieren ihren eigenen Ursprung in menschlichem Tun. Aus dieserPerspektive heraus lässt sich die Revolution oder radikaler gesell-schaftlicher Wandel nur als Abschaffung des Kapitalismus denken.

Der Kapitalismus ist die Herrschaft der Sachen, die Negation dermenschlichen Kreativität (oder deren Gefangennahme innerhalbdes Käfigs der Dinge, dargestellt durch das Geld). Und dennochhängen die Sachen, die herrschen, in Wirklichkeit von den Tuenden,die sie herstellen, ab. Die scheinbare Autonomie der Dinge ist eineAutonomie, die wir ständig reproduzieren. Die Dauerhaftigkeitexistiert nur in dem Maße, in dem wir sie schaffen und wiedererschaffen. Der Kapitalismus existiert nicht, weil wir ihn vor zwei-oder dreihundert Jahren erschaffen haben, sondern weil wir ihnheute produzieren: Wenn wir ihn morgen nicht produzieren, wirder zu existieren aufhören. Das Problem der Revolution bestehtnicht darin, wie wir den Kapitalismus abschaffen, sondern darin,ihn nicht weiter zu produzieren.

Der Kampf um menschliche Würde (anders ausgedrückt, der Kom-munismus) ist ein Kampf um die Wiedererlangung unserer kreati-ven Macht, unserer kreativen Fähigkeit, folglich ein Kampf, ummit der Dauerhaftigkeit und allen Formen der Herrschaft der Ver-gangenheit über die Gegenwart zu brechen. In der konkreten Zeitist die Vergangenheit nicht determinierende Geschichte, sondernein bereicherndes Gedächtnis. Unsere Zeit ist keine Zeit der Sub-stantive, sondern der Verben, eine Zeit, in der das zu Tuende nichtin seinen Ergebnissen zum Erstarren kommt, sondern für Verän-derung offen bleibt. Können wir die Vergangenheit einfach soleicht abwerfen? Selbstverständlich nicht, aber der Kampf bewegtsich in diese Richtung, als Kampf gegen die abstrakte Zeit undgegen die Geschichte. Da die Menschheit zunehmend von der völ-ligen Zerstörung bedroht ist, ist es klar, dass die Revolution nichtlänger als Höhepunkt der Geschichte aufgefasst werden kann,sondern nur als ein Bruch mit ihr.

Den Moment öffnen:Mit der Dauerhaftigkeit zu brechen, bedeutet jeden Moment alseinen Moment der Möglichkeit zu öffnen, zu versuchen, jedenMoment aus dem allgemeinen Fluss der Zeit zu heben und ihnüber seine Beschränkungen hinaus zu drängen. In der abstraktenZeit entspricht jeder Moment genau dem nächsten und dem vor-hergehenden; in der Tun-Zeit, der konkreten Zeit, ist jeder Momentanders. Carpe diem wird zu einem revolutionären Prinzip, abernicht im Sinne eines Sicherheitsventils in Form einer Wochen-endsause, die die abstrakte Zeit während des Restes der Wochebestätigt, sondern als Öffnung, die jeden Moment der Woche aufseine Möglichkeiten hin erkundet. Dies ist die Zeit des Kindes, eineZeit, in der sich jeder Moment von dem vorhergehenden unter-scheidet, in der jeder Moment von Verwunderung, Erstaunen undMöglichkeit erfüllt ist. Jeden Moment zu öffnen, bedeutet, gegendie Institutionen anzugehen. Institutionen streben danach, denMoment erstarren zu lassen, einer Vereinbarung oder einer Errun-genschaft Dauerhaftigkeit zu verleihen, das Heute durch die

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Regeln des Gestern zu binden. Selbst dort, wo Institutionen dazugeschaffen wurden, wirklichen Errungenschaften vergangenerKämpfe Substanz zu verleihen, werden sie schnell zu Instrumentender Unterdrückung, solange sie nicht ständig neu geschaffen (unddamit entinstitutionalisiert) werden.

Momente des Überschusses schaffen: Jeden Moment zu öffnen, bedeutet, jeden Moment zu einem„Moment des Überschusses“ zu machen, einen Moment, in demwir gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse und Regulierungendes Kapitalismus überfließen. Diese Form der Rebellion spiegeltsich zum Beispiel in einer Politik, bei der Ereignisse im Mittel-punkt stehen. Die großen politischen Ereignisse der globalisie-rungskritischen Bewegung (Seattle, Genua, Gleneagles und soweiter) oder die großen Aufstände in Frankreich in den Jahren2005 und 2006 dürfen nicht instrumentell verstanden werden (istseit Gleneagles die Armut nur noch Geschichte? Natürlich nicht),sondern in Begriffen des Bruchs mit der Zeit selbst. Es sind Ereig-nisse, in denen die Welt auf den Kopf gestellt wird, in denen allesmöglich wird, in denen unsere Beziehungen zu denen um unsherum verändert werden. Dass die Ereignisse nur kurz sein mögen,wirkt sich nicht auf die Tatsache aus, dass ein Moment der Zeitgeöffnet wird und in unsere Zeit verwandelt wird.

Uns selbst Zeit für die geduldige Erschaf-fung gesellschaftlicher Verhältnisse geben: Momente des Überschusses können nicht alles sein. Eine Politikder Ereignisse ist im Hinblick auf den Bruch mit der im Kapitalis-mus erschaffenen Wahrnehmung der Dauerhaftigkeit wichtig, aberwenn wir anfangen damit aufzuhören, den Kapitalismus zuerschaffen, dann müssen wir stattdessen etwas anderes tun. DieErschaffung dieses Anderen kann nur in den Zwischenräumen desKapitalismus stattfinden, und dies erfordert eine lange und gedul-dige Praxis der Erschaffung anderer Formen des Tuns, anderergesellschaftlicher Verhältnisse. Die Leeds Group folgt Deleuze undGuattari, wenn sie von der Zeit als Refrain spricht: Beispielsweiseformuliert der an den intensiven Schaffungsprozess einer Jazz-improvisation anschließende Refrain die Grundmelodie um undentwickelt sie weiter. Der Kampf um die konkrete Zeit kann sichnicht nur um Intensitäten drehen oder nur darum, von einemEreignis zum anderen zu rennen, sondern muss auch Zeiten derentspannten und nachdenklichen Erschaffung beinhalten. Diesezwei Zeitlichkeiten sind notwendig, aber an erster Stelle steht dieUngeduld und dann erst die Geduld (und nicht andersherum, wiees in der traditionellen revolutionären Theorie üblich ist). Die Revo-lution kann nur jetzt sein: Die Vorstellung einer in der Zukunftstattfindenden Revolution ist ein Widerspruch in sich, eben genaudeswegen, weil sie der Uhrzeit verhaftet bleibt.

Die Tagesordnung bestimmen: Der Klassenkampf (oder einfacher ausgedrückt, ein menschlichesLeben in – gegen – und – jenseits einer Gesellschaft, die unsereMenschlichkeit negiert, zu führen) ist ein Kampf, bei dem es darum

geht, die Tagesordnung zu bestimmen, die Prioritäten und die Zeit-lichkeiten zu setzen. In Thompsons Worten ist ein Kampf um dieZeit, der nicht gleichzeitig auch ein Kampf gegen die Zeit ist,bereits verloren, denn obgleich er das Kräfteverhältnis zwischender Arbeit und seinem Zwilling, der Muße, verändern mag, trägter überhaupt nichts zur Schaffung von Freiheit, zur Schwächungder Abstraktion, die unser Leben der Bedeutung und der Mensch-lichkeit beraubt, bei. Die Existenz der Menschheit hängt jetzt vonunserer Fähigkeit ab, mit dem Raum und der Zeit des Kapitalis-mus zu brechen, damit aufzuhören, den Kapitalismus zu produ-zieren, und etwas anderes zu tun, eine Gesellschaft, die auf unse-rer kreativen Macht aufbaut und die deshalb eine Gesellschaftmit einer neuen Vorstellung von Raum und Zeit ist.

Stark gekürzter Auszug aus: John Holloway. „Thompson und

die Zersetzung der abstrakten Zeit“ (2006) in: John Hol-

loway, Edward P. Thompson: Blauer Montag. Hamburg: Nauti-

lus; 2007.

John Holloway, geb. 1947 in Dublin, lehrt seit 1993 als Professor

für Politikwissenschaft am Instituto de Ciencias Sociales y

Humanidades der Universidad Autónoma de Puebla in Mexiko. Zahl-

reiche Veröffentlichungen zur marxistischen Theorie.

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Uwe SchmidtAusbildungsberuf und zurZeit tätig als Logistik-kaufmann.Seit 1986 koreanische

Kampfkunst TAE KWON DO –heute 4.Dan und Trainer inder Schule seines Meisters.Seit 2001 Dharma-Lehrer inder Kwan Um Zen Schule

Deutschland e. V. und Leiterder Hamburger Gruppe. 2004 – 2006 Ausbildung zumHeilpraktiker mit Abschlussim Dezemeber 2006

Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Meinung ist Zeit für micheine subjektive Angelegenheit. Natürlich können wir Zeit mes-sen, und die Uhr in Deutschland läuft genau so schnell wiedie in China, aber erst unser Geist „bewertet“ die Zeit.

An Zeit „mit dem Kopf“ heran zu gehen ist so, als würde man über den Geschmackeiner Banane diskutieren. So lange wir nur darüber reden, werden wir ihren Geschmacknie erfassen. Das einzige was hilft ist: selber Zeit „erleben“.

Hierzu werden wir eine bestimmte Form der Ki Gong (chin. Chi Gung) Meditation prak-tizieren, die sowohl unsere feinstofflichen Energien neu auftankt und erneuert, als auchhoffentlich eine neue Einsicht in den Begriff Zeit vermitteln wird.

Das Symposion meditiertAusklang mit Uwe Schmidt

72 d ramaturg ie 2/2007

freitag | samstag | sonntag || vormittag | nachmittag

Impressum ISSN Nr. 1432–3966

Dramaturgische Gesellschaft [dg]neue Geschäftsstelle:

Schröderstraße 1 | 10115 Berlin

Tel: 030 / 779 089 34 | Fax: 030/ 280 938 34

E-mail: [email protected]

www.dramaturgische-gesellschaft.de

Vorstand:Peter Spuhler [Vorsitzender]

Birgit Lengers [stellvertretende Vorsitzende]

Hans-Peter Frings | Uwe Gössel | Christian Holtzhauer |

Jan Linders | Amelie Mallmann

Geschäftsführung:Elke Weber

Redaktion:Vorstand / Elke Weber

Redaktionsassistenz:Aminata Oelßner / Susanne Cordula Welsch

Gestaltung:Ute Freitag – Büro für kleinteilige Lösungen

Fotografien: S. 2 + 3: Eadweard Muybridge:

horse in motion. 1878; S. 7 + 8: E. Muybridge: Animal

Locomotion plate. 1887; S. 6: B. Waldenfels © Uwe Dett-

mar; S. 11: © Irina Polin; S. 15: Wirtschaftspläne; S. 20:

Großstadt-Zifferblätter; S. 21 + 22: © Jens Heilmeyer; S.

23 + 72: E. Muybridge: headspring. 1885; S. 24: Étienne-

Jules Marey: gebeugter Lauf; S. 25: J. von Düffel © Katja

von Düffel; S. 25: É.-J. Marey: gebeugter Lauf 2; S.28/29:

© SIGNA; S. 31: É.-J. Marey: Platte 99; S. 37: Zieleinlauf;

S. 39: Jean Pierre Bovay: Läufer und Radfahrer (Le sens

du temps, Bienne 1988); S. 40: É.-J. Marey: Analyse ciné-

matique de la marche. 1884; S. 42: E. Muybridge: Getting

into bed; S. 46: © Schädel; S. 47: © Begrich/ Preußler; S.

49: S. Baumgarten © Thomas Aurin; S. 50: Uhrensynchro-

nisation; S. 51: Wagner-Feigl; S. 52 + 53: geheimagentur;

S. 57: É.-J. Marey: Le vols des oiseaux. 1890; S. 59: E. Muy-

bridge: nude; S. 61: C. Grehn © Tobias Tanzyna; S. 65: É.-

J. Marey: Springer; S. 67 – 69: E. Muybridge: galopping

horse; S. 76: Plan © Thalia; Daumenkino: E. Muybridge:

horse in motion. 1878; [Es konnten nicht alle Urheber

ermittelt werden, die Urheber melden sich bitte gegebe-

nenfalls in der Redaktion.]

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73d ramaturg ie 2/2007

Hier wird ein Zeitvertreib mit dem Thema Zeitvertreib getrieben. Mit einem Gedankenspaziergangauf dem Feld des Zeitvertreibs entsteht ein weitläufiges Schweifen. Hier soll kein spezifi-sches Thema vertieft, keine einzelne Frage genauer in den Blick, unter die Lupe, in den Fokusgenommen und verfolgt, kein spezieller Gedanke untersucht, zu einer Pointe weiterentwickeltund zugespitzt werden. Es gibt viele Themen, Fragen und Gedanken zum Zeitvertreib, die gefun-den, gesammelt und sortiert oder an Ort und Stelle wieder fallen gelassen werden können. Ver-streut dahintreibende Assoziationen und literarische Fundstücke werden geknüpft, verschraubtoder verspielt. Aus ihnen entsteht in diesem Vor-Bei-Trag vielleicht eine flächige Weite vontragender Leichtigkeit – vielleicht aber auch Zeitvertreib fordernde Langeweile.

Nach hause kommen

und endlich mal daheim sein

sich umziehen

Kleider wechseln

Beschäftigung wechseln

sozialen Umgang wechseln

Umgebung wechseln

rausgehen

spazieren gehen

flanieren, rumstromern

rausfahren, Ausflug machen

weg vom Hier ein Da entdecken

nur nicht zuhause bleiben

nur nicht bei sich sein

endlich mal zu sich kommen

endlich mal zuhause sein

und endlich mal aufräumen

endlich mal Ordnung machen

und selber sauber machen

selber einkaufen

endlich mal wieder selber backen

selber den Garten pflegen

selber Obst anbauen

selber Marmelade kochen

selber die Heizung reparieren

selber das Haus ausbauen

selber Kleider nähen

sich selbst die Haare färben

sich selbst um den Hund kümmern

sich mal wieder selbst um die Kinder kümmern

Ausgleichen, sich ententfremden

Arbeitsteilung zurücknehmen

einseitige Notwendigkeiten ausgleichen

mit andersseitigen Notwendigkeiten

Sport für Sitzer

Lümmeln für Sportler

Kochen für Denker

Lesen für, ich weiß auch nicht

Buchhalter?

Abgeschiedenheit für Sozialkontaktler

Kontakte für Einzelkämpfer

Extremsport für Extremarbeiter?

Spielen für Ernsthafte

Rückzug oder Öffnung

auf jeden Fall versus

versus Pflicht

versus Notwendigkeit

versus Ritual

keine Entscheidung

keine Verantwortung

keine Angst

kein Warten

keine Langeweile

keinen Druck

keine Qual der Wahl

das Nächstbeste

das Entlegenste

aktiv werden

bloß nicht nichts machen

weben

stricken

sticken

knüpfen

häkeln

Seidenmalerei

Hinterglasmalerei

Bauernmalerei

Malen nach Zahlen

Kreuzworträtsel lösen

Puzzeln

Patiencen legen

Mau Mau spielen

Kniffel spielen

Mensch ärgere dich nicht

Da habe ich mich wiederum auf weitschwei-fige und kleinliche Einzelheiten eingelassen.Ich höre, lieber Leser, schon dein Murren,allein ich trotze ihm. Ich kann es nicht übermich gewinnen, deiner Ungeduld den nütz-lichsten Teil dieses Buches zum Opfer zubringen. Fasse deinen Entschluß, wie du dichmeiner Weitschweifigkeit gegenüber zu ver-halten gedenkst, denn was mich anlangt, sohabe ich den meinigen hinsichtlich deinerKlagen schon gefaßt. [Rousseau]

Basteln

Töpfern

Papier schöpfen

Origami falten

Haikus dichten

japanische Kampfkunst

afrikanisches Trommeln

indischer Tempeltanz

finnischer Tango

Hobbys eben und endlich mal zuhause sein

endlich mal zuhause sein

und endlich mal Ordnung machen

mal alles ordnen

sortieren

sammeln

verwalten

archivieren:

Musik, Bilder, Bücher, Texte, Wörter

Wörterbücher-Wörter wie

Zeitvertreib

Zeitverderb

Zeitverspiel

Zeitverbrauch

Zeitverbringung

Zeitvergeudung

Assoziationen Zeitvertreib. Ein Vor-Bei-Tragvon Heike Oehlschlägel

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Zeitverschleuderung

Zeitverschwendung

Zeitverkürzung

Zeitverlieren

Zeitvernichtung

Zeitvertrieb

oder Zeitvertreib

im Reim auf Weib

im Reim auf schreib

wohl nicht im Reim auf bleib

Der Dilettant scheut allemal das Gründliche,überspringt die Erlernung nothwendigerKenntnisse, um zur Ausübung zu gelangen …Dilettanten erklären sich oft für Mosaik undWachsmahlerei, weil sie die Dauer des Werksan die Stelle der Kunst setzen … Man trifftviele Dilettanten mit großen Sammlungenan, ja man könnte behaupten, alle großenSammlungen sind vom Dilettantism entstan-den … der Künstler, der ächte Kenner hat einunbedingtes ganzes Interesse und Ernst derKunst und am Kunstwerk. Der Dilettantimmer nur ein halbes, er treibt alles als einSpiel, als Zeitvertreib, hat meist noch einenNebenzweck, eine Neigung zu stillen, derLaune nachzugehen … [Goethe (Schiller)]

Sachen sammeln

sinnlose Sachen sammeln

sinnlos viele Sachen sammeln

sinnlos viele sinnlose Sachen sammeln

sinnlose Ordnungen herstellen

geordnete Sinnlosigkeiten kultivieren

zwanghafte Tätigkeiten ausführen

und Sisyphos verstehen lernen

Oder einfach nur Fernseh gucken

den Fernseher ein- und umschalten

einfach mal abschalten

rumspinnen

fantasieren

Pläne machen

Leute die Geschichten gern hören oder sie gernerzählen und ihre Tage sonst mit beliebigemZeitvertreib verbringen, nennt man gedanken-los, aber ausgelassen nennt man sie nicht …[Aristoteles]

Geschichten erzählen und Zeit damit

vernichten

Geschichten erzählen und sich aus

der Gegenwart ablösen

Geschichten erzählen und die Zwangs-

läufigkeit von Chronologie auflösen

Als ich noch ein Knabe war,Sperrte man mich ein;Und so saß ich manches JahrÜber mir allein,Wie in Mutterleib.Doch du warst mein ZeitvertreibGoldne Phantasie,Und ich ward ein warmer Held,Wie der Prinz Pipi,Und durchzog die Welt.u.s.w. [Goethe]

Freiheitsentzug und Zeitvertreib

zuhause

im Urlaub

im Stau

im Wartezimmer

im Alltag

bei der Arbeit

in der Arbeitslosigkeit

in Rente

im Alter

in der Krankheit

im Krankenhaus

unter Arrest

im Gefängnis

in Geiselhaft

Langeweilecharakter des Gefängnisses

Gefängnischarakter der Langeweile

Also Zeitvertreib

sich Treiben lassen

Vertreibung

Getriebensein

Arbeit

Beschäftigung

Müßiggang

Neugier

Fantasie

Unterhaltung

Verschwendung

Überfluss

Sättigung

Freizügigkeit

Freizeit

Freiheit

Kultur

Hobby

Spiel

Sport

Fort-Bewegung

Rückzug

Ersatzhandlung

Zerstreuung

Abschweifung

Feld

Flucht

Suizid

Tot

Trieb

Vertrieb

Fluchtchance

Sexfantasie

Frauenverschwendung

Sportunterhaltung

Beschäftigungsdrogen

Arbeitsablenkung

Konsumfreiheit

Überflusssuizid

Kulturvertrieb

Freizeitrausch

Unterhaltungsindustrie

Zigaretten-Industrie

Sex-Industrie

Automobil-Industrie

Spielzeugindustrie

Tourismus-Industrie

Freizeit-Industrie

Ich. Was die Weltleute so delicat in ihremZeitvertreib macht, das ist ihr tiefer Müßig-gang … Da sie niemals müde werden, soerholen sie sich niemals … Das Vergnügenist immer ein Geschäft für sie, niemals einBedürfniß … Alles nutzen sie ab. Ihre Seelestumpft sich, und die Langeweile wird Herr.Wer ihnen mitten in dem erdrückendenÜberfluß das Leben nähme, würde ihneneinen Dienst leisten, eben weil sie vom Glücknur den Theil kennen, der sich am schnellstenabstumpft. [Diderot]

Flucht vor der Monotonie

Flucht vor der Langeweile

Flucht vor der langen Weile

die lange Weile verkürzen

die Dauer bekämpfen

das Warten ausfüllen;

sich derweil beschäftigen

Vertreiben der Unzeit

74 d ramaturg ie 2/2007

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75d ramaturg ie 2/2007

der falschen Zeit

der leeren Zeit

Der Zeitvertreib ist ganz eigentlich eine leereZeit, welche zwischen die durch ernsthafteBeschäftigungen ausgefüllte Zeit in der Mittegesetzt wird. [Fichte]

Vertreiben der Zwischenzeit

der Wartezeit

der freien Zeit

der Freizeit

der Zeit der Freiheit

Freizeit-Vertreib

also arbeiten

arbeiten, arbeiten, arbeiten

Beschäftigung und arbeiten

Zeit im Angebot zu Schleuderpreisen?

Also jetzt arbeiten:

Zeitvertreib ist nach Grimm seit dem

Mittelalter bekannt.

Im 17. und 18. Jh. wird er zum

beliebten Buchtitel

(z. B. adeliger, geistlicher, lustiger

und nützlicher oder schlicht Zeitvertreib)

3 mal bei Giordano Bruno gefunden:

zum Thema Pedanterie und Philosophie

Durch solche falschen Freunde und Söhne istdie Philosophie so weit heruntergebracht wor-den, dass bei der Menge ein Philosoph so vielheisst als ein unnützer Mensch, ein Pedant,ein Gaukler, ein Marktschreier, ein Charlatan,gut genug, um als Zeitvertreib im Hause undals Vogelscheuche auf dem Felde zu dienen.[Bruno]

bei Diderot: Überfluß und Abstumpfungbei Schopenhauer: der „deklarierteBankrott an alle Gedanken“und grausame Willkür der Natur

4 mal bei Kierkegaard: die Zauberflöteals gedankenvertreibender Zeitverderbbei Herder: Verderben in Babelaber auch Araber, Ritterspiele und

schöne Damen

61 mal bei Goethe:

9 mal im Faust: einmal studentisch-

naiv, achtmal mephistophelisch

alles zu den Themen Fantasie und Frauen

Schiller hat ihn von Goethe

bei Pascal: Lebensendlichkeit und Frauen

bei Nestroy: Hausarrest und Frauen

bei Nietzsche nur 4 mal Zeitvertreib,

zu Frauen

aber allein 18 mal Müßiggang in

„Götzendämmerung“, ehemals „Müßiggang

eines Psychologen“ genannt:

das Gebiet: Sonntage, Frauen, Teufel und Arbeitwar es Gott selber, der sich als Schlange amEnde seines Tagewerks unter den Baum derErkenntnis legte: Er erholte sich so davon, Gottzu sein ... Er hatte alles zu schön gemacht ...Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes anjedem siebenten Tage ... [Nietzsche]

Das vollkommene Weib jeder Zeit ist derMüßiggang des Schöpfers an jedem siebentenTage der Kultur, das Ausruhen des Künstlersin seinem Werke. [Nietzsche]

Für Kafka gänzlich unbekannt oder er-

schreckend, sogar der Müßiggang nur

als Zwang vorstellbar:

Auch Not hatten wir noch keine zu fürchten,alle Schuldner hatten uns gezahlt, dieAbschlüsse waren vorteilhaft gewesen, wasuns an Lebensmitteln fehlte, darin halfen unsim geheimen Verwandte aus, es war leicht,es war ja in der Erntezeit, allerdings Felderhatten wir keine, und mitarbeiten ließ manuns nirgends, wir waren zum erstenmal imLeben fast zum Müßiggang verurteilt.[Kafka]

Büchner vielleicht auf der Flucht vor

diesem Zustand gestorben

in Leance und Lena: Es grassiert einentsetzlicher Müßiggang.

9 mal in Rousseaus Emil: Kinder,Erziehung und Frauen

Plato erzieht in seiner Republik,

deren Bestimmungen man gewöhnlich für

so hart und streng hält, die Kinder

unter lauter Festlichkeiten, Spielen,

Gesängen und Zeitvertreib. Man könnte

sagen, daß er alles getan zu haben

glaubt, wenn er sie in der Kunst,

sich zu belustigen, unterrichtet hat;

und Seneca sagt an der Stelle, wo er

von der alten römischen Jugend redet:

„Sie war unaufhörlich auf den Beinen, manlehrte sie nichts, was sie hätte sitzend ler-nen müssen.“ … Hegt also keine Furchtwegen dieses sogenannten Müßiggangs.Was würdet ihr wohl von einem Mannsagen, der, um das Leben völlig auszunützen,niemals schlafen wollte? Ihr würdet sagen:„Dieser Mann ist ein Tor; er gewinnt dadurchnicht an Zeit, sondern beraubt sich derselbenvielmehr; um dem Schlaf zu entfliehen, läufter dem Tod entgegen.“ [Rousseau]

Jetzt aber doch Arbeiten

und Texte schreiben

Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.[Fassbinder]

Nein, keinen Text schreiben

keinen Brief schreiben

keinen Zettel schreiben

Patiencen legen

keine Mails schreiben

nichts schreiben

Erst mal Kaffee kochen

ne Zigarette rauchen

Kühlschrank plündern

Spaß haben

Leute treffen

saufen

rauchen

Drogen nehmen

rauschen

flirten

Nachbarn schikanieren

Dates haben

Sex haben

Tanzen

Witze reißen

ablästern

jemanden fertig machen

jemanden zusammenschlagen

Auszug aus einem Vortrag von Heike Öhlschlägel für

die Konferenz Zum Zeitvertreib 2003, im Rahmen des

Graduiertenkollegs Zeiterfahrung und ästhetische Wahr-

nehmung in Frankfurt/M.

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Tagungsort Thalia in der GaußstraßeGaußstraße 190 | 22765 HamburgTelefon: +49 (0) 40 / 328 140

Die jeweiligen Räume werden, sofern nichtim Programmheft angekündigt, kurzfristigvor Ort bekannt gegeben.

So kommen Sie zur TagungÖffentlicher Nahverkehr:S 1 | 2 | 3 | 11 | 31 bis Bahnhof AltonaBuslinie 2 bis Gaußstraße

Informationen rund um die TagungTagungsort, Hotels, Gastronomie

76 d ramaturg ie 2/2007

Thalia in der Gaußstraße

Theater in der Basilika

Fabrik

Monsun Theater

Zeise Kinos

Umgebungsplan Thalia in der Gaußstraße

So kommen Sie ins TheaterThalia Theater Alstertor | 20095 HamburgÖffentlicher Nahverkehr:U 1 | 2 bis JungfernstiegU 3 bis MönckebergstraßeS 1 | 2 | 3 bis Jungfernstieg

Deutsches SchauspielhausKirchenallee 39 | 20099 HamburgÖffentlicher Nahverkehr:S 1 | 2 | 3 | 11 | 21 | 31 | A1 bis HauptbahnhofU 1 | 3 bis Hauptbahnhof SüdU 2 bis Hauptbahnhof NordMetrobus 6 bis Kirchenallee

Kampnagel FabrikJarrestraße 20 | 22303 HamburgÖffentlicher Nahverkehr:U 2 bis MundsburgBuslinie 172 | 173 bis JarrestraßeU 3 bis Borgweg | 10 min Fußweg

GastronomieÜber das Angebot des „Fo“, Bar & Restau-rant auf dem Hof der Gaußstraße 190 unddas Tagungscafé im Foyer des Thalia Gauß-straße hinaus gibt es in direkter Umgebungzahlreiche Cafés und Restaurants.

HotelsUnter www.hrs.de finden Sie eine großeAuswahl verfügbarer Hotels in Hamburg.Auch hier empfehlen wir Ihnen, frühzeitigzu buchen.

AnmeldungAufgrund der begrenzten Teilnehmerzahlbei den Tischrunden, Workshops und Pro-jektpräsentationen bitten wir um Anmel-dung bis zum 25.01.2008 unter:[email protected].

TagungsgebührFür Mitglieder der Dramturgischen Gesell-schaft ist der Eintritt kostenfrei, von Nicht-Mitgliedern erheben wir eine Tagungsge-bühr von 35,- / 20 ,- Euro für die gesamteTagung bzw. 15,- / 10,- Euro für Tageskar-ten. Der Eintritt für das politische Podiumam Sonntag ist kostenfrei.

Die Anmeldung für Nicht-Mitglieder wirdnach Überweisung des Tagungsbeitrageswirksam. Für Kurzentschlossene ist einespontane Anmeldung sowie der Beitritt zurDramaturgischen Gesellschaft am Tagungs-ort möglich.

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77d ramaturg ie 2/2007

Der im Februar 2007 gewählte Vorstand:

Hans-Peter Frings, geboren 1962, Dramaturg am schau-

spielfrankfurt. 2000–2005 Schauspieldramaturg (seit

2003/2004 Chefdramaturg) am Nationaltheater Mann-

heim. 1990–2000 Dramaturg (seit 1995 Chefdramaturg)

an den Freien Kammerspielen Magdeburg.

Uwe Gössel, geboren 1966, Theaterwissenschaftler,

Dramaturg und Autor. Leiter des Internationalen Fo-

rums, Theatertreffen/Berliner Festspiele, 2002–2004

Dramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin, 1999 – 2002

Schauspieldramaturg am Volkstheater Rostock.

Christian Holtzhauer, geboren 1974, Schauspiel-

dramaturg am Staatstheater Stuttgart, von 2001–2004

Dramaturgie/Künstlerisches Programm Sophiensaele

Berlin.

Birgit Lengers, geboren 1970, ist Theaterwissenschaft-

lerin (Universität Hildesheim, UdK Berlin), Dramaturgin

(German Theater Abroad, Berlin/New York) und Moderato-

rin („Stückemarkt“ und „Talentetreffen“, Theatertref-

fen/Berliner Festspiele.) Publikationen u. a. in „Text

+ Kritik“, „Theater der Zeit“, „Die Deutsche Bühne“.

Jan Linders, geboren 1963, lebt als freier Dramaturg,

Regisseur & Autor in Berlin. Stück- und Projektentwick-

lungen, u. a. „Das neue Wunderhorn“ in Heidelberg, u. a.

mit der Gruppe „lunatiks produktion“. Zur Zeit Arbei-

ten am HAU, Maxim Gorki Theater, schauspielfrankfurt.

Ab Herbst 2009 Schauspieldirektor des Theaters und

Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidelberg.

Amelie Mallmann, geboren 1975, Theaterpädagogin und

Dramaturgin am THEATER AN DER PARKAUE, Kinder- und

Jugendtheater des Landes Berlin, 2002 – 2005 Drama-

turgin am u\hof:, Theater für junges Publikum am

Landestheater Linz.

Peter Spuhler, geboren 1965, Intendant des Theaters

und Philharmonischen Orchesters der Stadt Heidel-

berg, 2002 – 2005 Intendant des Landestheaters Würt-

temberg-Hohenzollern Tübingen Reutlingen (LTT),

1998 – 2002 Leitender & geschäftsführender Drama-

turg & Schauspieldirektor am Volkstheater Rostock.

Die Geschäfte führt:

Elke Weber, Literaturwissenschaftlerin, Journalis-

tin und Projektmanagerin der Performancegruppe

She She Pop.

Die Dramaturgische Gesellschaft[dg]vereinigt Theatermacher mehrheitlich aus Deutsch-land, Österreich und der Schweiz. Zu ihren Mitgliedernzählen außer Dramaturgen auch Regisseure, Intendan-ten, Verleger und Journalisten. Das zentrale Interesseder Dramaturgischen Gesellschaft gilt der Auseinan-dersetzung mit Themen und Stoffen, die im engerenoder weiteren Sinn dramaturgische Fragestellungenaufwerfen. Ziel ihrer Arbeit ist es, aktuelle künstleri-sche und gesellschaftspolitische Fragen und Positionenaufzugreifen, zu diskutieren und zu formulieren. DieDramaturgische Gesellschaft versteht sich als ein offe-nes Gesprächs- und Diskussionsnetzwerk und Forumdes Erfahrungsaustauschs zwischen Theatermachern.Neue Mitglieder und Impulse sind herzlich willkom-men.

Werden Sie Mitglied der dgMitglieder der dg sind Teil eines umfassenden Netzwerk-es, haben freien Eintritt bei unseren Jahrestagungen,erhalten unsere Publikation „dramaturgie“ kostenlosfrei Haus und bekommen regelmäßig den Newsletterder Dramaturgischen Gesellschaft.

Der Jahresbeitragliegt bei 62,– € / 143,– SFr [22,– € / 50,– SFr ermäßigt],der Förderbeitrag bei 210,– € / 494,– SFr.Für den Beitrag stellen wir auf Wunsch gerne eineSpendenbescheinigung aus.

Antrag auf Mitgliedschaft:Füllen Sie bequem unser Online-Formular aus unterwww.dramaturgische-gesellschaft.de oder wenden Siesich an unsere Geschäftstelle in der Schröderstraße 1,10 115 Berlin, Tel. 030 / 779 089 34,E-mail: [email protected]

Veranstaltungen und Aktivitäten derletzten Jahre:

2007: Symposion „Dem „Wahren, Guten, Schö-nen“ – Bildung auf der Bühne?“ im Theater und Phil-harmonischen Orchester der Stadt Heidelberg.2006: Symposion „Radikal Sozial – Wahrnehmungund Beschreibung von Realität im Theater“ im Haus derBerliner Festspiele;

seit 1996: Verleihung des Kleist-Förderpreises fürjunge Dramatiker zusammen mit der Stadt Frank-furt/Oder und dem Kleist Forum Frankfurt.

Die Dramaturgische Gesellschaft

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