ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10)...

40
Nichtamtliche Übersetzung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE FÜNFTE SEKTION RECHTSSACHE M. ./. DEUTSCHLAND (Individualbeschwerden Nrn. 23280/08 und 2334/10) URTEIL STRASSBURG 6. Oktober 2016

Transcript of ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10)...

Page 1: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

Nichtamtliche Übersetzung des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz

EUROPÄISCHER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE

FÜNFTE SEKTION

RECHTSSACHE M. ./. DEUTSCHLAND

(Individualbeschwerden Nrn. 23280/08 und 2334/10)

URTEIL

STRASSBURG

6. Oktober 2016

Dieses Urteil wird nach Maßgabe des Artikels 44 Absatz 2 der Konvention endgültig. Es wird

gegebenenfalls noch redaktionell überarbeitet.

Page 2: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

2

In der Rechtssache M. ./. Deutschlandhat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Fünfte Sektion) als Kammer mit

den Richterinnen und Richtern

Ganna Yudkivska, Präsidentin,

Angelika Nußberger,

Erik Møse,

André Potocki,

Yonko Grozev,

Carlo Ranzoni,

Mārtiņš Mits,

sowie Milan Blaško, Stellvertretender Sektionskanzler,

nach nicht öffentlicher Beratung am 6. September 2016

das folgende Urteil erlassen, das am selben Tag angenommen wurde.

VERFAHREN

1. Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10)

gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger, M.

(„der Beschwerdeführer“), am 30. April 2008 beziehungsweise am 24. Dezember 2009 nach

Artikel 34 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten („die

Konvention“) beim Gerichtshof eingereicht hatte. Der Beschwerdeführer erhob die zweite

Beschwerde auch im Namen seines Sohnes D.

2. Der Beschwerdeführer wurde von Frau K., Rechtsanwältin in H., vertreten. Die

deutsche Regierung („die Regierung“) wurde durch ihren Verfahrensbevollmächtigten, Herrn

H.-J. Behrens vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, vertreten.

3. Der Beschwerdeführer machte insbesondere geltend, dass die Entscheidungen über

den Umgang mit seinem Sohn sein Recht auf Achtung seines Familienlebens verletzt hätten.

4. Am 21. November 2012 wurden die Beschwerden der Regierung übermittelt.

SACHVERHALT

I. DIE UMSTÄNDE DER RECHTSSACHE

5. Der 19.. geborene Beschwerdeführer, M., ist in K. wohnhaft.

Page 3: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

3

A. Hintergrund der Rechtssache

6. Der Sohn des Beschwerdeführers, D., wurde 1998 geboren. Der Beschwerdeführer

und die Mutter von D., Frau K., trennten sich 1999. D. lebt seither bei seiner Mutter.

7. Seit 1999 streiten die Eltern über den Umgang und das Sorgerecht. Am 18. Mai 1999

gewährte das Amtsgericht Köln - Familiengericht (im Folgenden: das Familiengericht) dem

Beschwerdeführer auf dessen Antrag hin zweimal wöchentlich Umgang. Diese Entscheidung

wurde am 24. März 2000 durch einen Vergleich abgeändert, wonach dem Beschwerdeführer

jeden Samstag für acht Stunden Umgang gewährt wurde. Auf den Antrag des

Beschwerdeführers auf Erweiterung seines Umgangsrechts hin führte das Familiengericht

am 16. Januar 2001 einen Erörterungstermin durch, verband das Verfahren über das

Umgangsrecht mit dem von Frau K. bereits 1999 angestrengten Verfahren über das

Sorgerecht und gab ein Sachverständigengutachten bezüglich des Sorgerechts für D. in

Auftrag. Am 1. Oktober 2001 stellte der Beschwerdeführer beim Familiengericht einen Antrag

auf Verhängung eines Zwangsgeldes gegen Frau K., da diese die Mitwirkung verweigere.

Am 16. November 2001, nachdem die bestellte psychologische Sachverständige dem

Familiengericht mitgeteilt hatte, dass der Umgang mit dem Vater ihrer Auffassung nach dem

Kindeswohl diene, schlossen die Parteien einen gerichtlichen Vergleich, wonach der

Umgang zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Sohn wieder aufgenommen werden

sollte. Bis Ende des Jahres 2001 besuchte der Beschwerdeführer das Kind zweimal im

Kinderhort.

8. Am 7. Januar 2002 stellte der Beschwerdeführer erneut einen Antrag auf Verhängung

eines Zwangsgeldes, da Frau K. die Mitwirkung verweigere. Im Anschluss erließ das

Familiengericht eine einstweilige Verfügung betreffend das Umgangsrecht des

Beschwerdeführers. Daraufhin besuchte der Beschwerdeführer seinen Sohn einmal im

Kinderhort. Am 20. März 2002 forderte das Amtsgericht Frau K. unter Androhung eines

Zwangsgelds in Höhe von 2.000 Euro auf, ihren Verpflichtungen aus dem Vergleich vom 16.

November 2001 nachzukommen.

9. Am 28. Juli 2002 legte die gerichtlich bestellte Sachverständige, Dr. K., ihr Gutachten

zur Frage des Umgangs vor, nachdem sie die Situation beider Elternteile und des Kindes

begutachtet hatte. Sie vertrat die Auffassung, dass das Kind den Umgang mit seinem Vater

positiv erlebe. Jedoch neigten beide Elternteile dazu, bei der Verfolgung ihrer eigenen

Interessen das Kind zu instrumentalisieren. Sie kommunizierten nicht miteinander. Folglich

gebe es keine Grundlage für die gemeinsame Sorge. Eine Übertragung des Sorgerechts auf

den Vater würde das Problem nicht lösen, sondern lediglich verlagern. Am 22. Oktober 2002

übertrug das Familiengericht Frau K. das Sorgerecht und lehnte ihren zuvor gestellten

Page 4: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

4

Antrag auf Umgangsausschluss ab; es gewährte dem Beschwerdeführer einmal wöchentlich

für sechs Stunden Umgang mit seinem Sohn. Darüber hinaus bestellte es einen

Umgangspfleger, der die Umgangskontakte zwischen dem Vater und dem Sohn erleichtern

sollte, lehnte aber die Bestellung eines Verfahrenspflegers mit der Begründung ab, dass das

Kindeswohl durch die gerichtlich bestellte Sachverständige hinreichend gewahrt sei.

10. Am 18. Februar 2003 wies das Oberlandesgericht Köln die entsprechende

Beschwerde von Frau K. zurück. Es stellte fest, dass Frau K. den Umgang des

Beschwerdeführers mit seinem Sohn „vorsätzlich boykottiert“ habe. Wenn sie nicht dafür

sorge, dass das Umgangsrecht des Beschwerdeführers umgesetzt werde, müsse die

Zuordnung der elterlichen Sorge möglicherweise neu überdacht werden.

11. Am 6. August 2003 beantragte der Beschwerdeführer erneut beim Familiengericht die

Verhängung eines Zwangsgeldes gegen Frau K., da diese die Mitwirkung verweigere. Am

12. August 2003 forderte das Familiengericht Frau K. unter Androhung eines Zwangsgelds

auf, das Umgangsrecht des Beschwerdeführers zu gewährleisten. Frau K. legte Beschwerde

ein. Am 2. Dezember 2003 hob das Oberlandesgericht Köln den Beschluss auf. Es stellte

fest, dass das Kind nach den Angaben von Frau K. und dem Bericht der behandelnden

Kinderärztin und Psychotherapeutin Dr. D. nach den Umgangsterminen mit dem

Beschwerdeführer psychische Auffälligkeiten zeige. Nach Auffassung der Ärztin sei dies auf

den Konflikt zwischen den Eltern zurückzuführen. Es bestehe daher kein Zweifel, dass eine

zwangsweise Durchsetzung des Umgangsrechts des Beschwerdeführers zum Schaden des

Kindes wäre.

B.  Das in Rede stehende Verfahren

12. Am 20. Juni 2005 beantragte Frau K., nachdem sie erfahren hatte, dass der

Beschwerdeführer D. in seinem Kinderhort besucht hatte, den Umgang auszusetzen.

13. Am 15. November 2005 hörte das Familiengericht das Kind an, das erklärte, dass es

seinen Vater nicht mehr sehen wolle.

14. Am 18. Januar 2006 beantragte der Beschwerdeführer erneut die Einräumung eines

Umgangsrechts.

15. Am 30. Januar 2006 entschied das Familiengericht, eine eidesstattlich versicherte

schriftliche Zeugenaussage von Dr. D., der Kinderärztin von D., einzuholen.

16. Am 11. März 2006 legte Dr. D. diese Zeugenaussage vor, in der sie erklärte, dass

das Kind durch die Trennungen von der Mutter, die es seit dem Alter von 10 Monaten

aufgrund des erzwungenen Umgangs mit dem Beschwerdeführer erfahren habe, sowie

durch das zunehmend feindselige Verhältnis zwischen seinen Eltern traumatisiert sei. 2003

Page 5: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

5

sei es nach dem Umgang mit seinem Vater zu extrem aggressiven Ausbrüchen gekommen.

D. bedürfe einer Psychotherapie, mit der jedoch aufgrund seines jungen Lebensalters und

seiner mangelnden Reife noch nicht begonnen werden könne.

17. Am 19. Mai 2006 gewährte das Familiengericht dem Beschwerdeführer drei von zwei

gerichtlich bestellten psychologischen Sachverständigen beaufsichtigte Umgangskontakte

mit dem Kind.

18. Am 13. September 2006 teilten die Sachverständigen dem Familiengericht mit, die

Beaufsichtigung eines Umgangskontakts sei nicht möglich gewesen, weil ihnen die

Rechtsvertreterin von Frau K. mitgeteilt habe, dass Frau K. und dem Kind geraten worden

sei, aus medizinischen Gründen nicht mit dem Beschwerdeführer zu sprechen.

19. Am 18. Dezember 2006 beschloss das Familiengericht, eine Zeugenaussage der

Leiterin des Kinderhortes von D. bezüglich des Verhaltens des Kindes und seines

Verhältnisses zum Beschwerdeführer und zu seiner Mutter einzuholen.

20. Am 13. März 2007 legte die Leiterin des Kinderhortes eine Zeugenaussage vor. Sie

war der Auffassung, dass der Umgang des Beschwerdeführers mit dem Kind, der im Juni

2005 stattgefunden habe, positiv gewesen sei. Sie empfahl dringend, die Umgangskontakte

fortzusetzen, weil das Kind in einer eingeengten realitätsfremden Welt lebe, wobei es von

seiner Mutter stark kontrolliert werde und es ihm nicht möglich sei, seine Spielkameraden

oder Spiele frei zu wählen. Das Kind reagiere gewalttätig auf diese übermäßige Kontrolle.

Um das Kind in der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu stärken und es die reale Welt

erfahren zu lassen, sei als Gegengewicht eine Autoritätsperson, die nicht aus dem familiären

Umfeld der Mutter stamme, dringend notwendig.

21. Am 30. März 2007 stellte der Beschwerdeführer einen erneuten Antrag auf

Übertragung des Sorgerechts auf ihn.

22. Am 24. April 2007 erließ das Familiengericht eine einstweilige Verfügung und

gewährte dem Beschwerdeführer einmal im Monat für sieben Stunden Umgang mit dem

Kind. Weiterhin wurde der Kindesmutter aufgegeben, D. auf den Umgang vorzubereiten und

es zu unterlassen, das Kind gegen seinen Vater zu beeinflussen. Es stellte fest, dass D. das

Treffen mit seinem Vater positiv erlebt habe. Wenn es den Anschein gehabt habe, dass er

emotional reagiert habe, so sei dies vermutlich von seiner Mutter provoziert worden. Der

Umgang des Beschwerdeführers mit seinem Sohn diene dem Kindeswohl. Das

Familiengericht kündigte ferner an, es werde Frau K. ein Zwangsgeld auferlegen, wenn sie

ihre Mitwirkung verweigere.

23. Bei dem ersten Besuch, der am 2. Juni 2007 vorgesehen war, weigerte sich der

Sohn, mit dem Beschwerdeführer mitzukommen.

Page 6: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

6

24. In seiner Stellungnahme vom 22. Juni 2007 berichtete das Jugendamt über seine

Gespräche mit Frau K., mit der Kinderärztin von D., Dr. D, mit der Klassenlehrerin des

Kindes, mit dem Beschwerdeführer und mit dem Kind. Nach diesem Bericht empfahl Dr. D.

dringend eine Familientherapie, um den Umgang des Kindes mit dem Beschwerdeführer

vorzubereiten. Das Kind erklärte, es wolle seine Ruhe haben und seinen Vater nicht sehen.

Wenn seine Eltern keinen Streit mehr hätten und sein Vater ihn nicht zwinge, zum

Jugendamt zu gehen, könne es sich Besuche vorstellen. Der Klassenlehrerin zufolge

brauche das Kind eine Atempause von der rechtlichen Situation und dem Beschwerdeführer

mangele es an Empathie. Das Jugendamt gelangte zu dem Schluss, dass im Hinblick auf die

Diskrepanz zwischen diesen Stellungnahmen ein Sachverständigengutachten erforderlich

sei.

25. Am 9. Juli 2007 verhängte das Amtsgericht ein Zwangsgeld in Höhe von 3.000 Euro

gegen Frau K., weil sie ihren Verpflichtungen aus der gerichtlichen Anordnung vom 24. April

2007 nicht nachgekommen sei.

26. Am 8. Januar 2008 hörte das Familiengericht das Kind im Sorgerechtsverfahren an;

es erklärte, nicht bei seinem Vater leben zu wollen und nicht mehr zum Gericht gehen zu

wollen. Es fügte hinzu, dass es nur selten zu seiner Kinderärztin gehe.

27. Am 8. Februar 2008 hob das Oberlandesgericht Köln auf eine Beschwerde von Frau

K. hin die Zwangsgeldfestsetzung mit der Begründung auf, es bestünden erhebliche

Bedenken, ob Frau K. in der Lage sei, daran mitzuwirken, D. auf den Umgang mit dem

Beschwerdeführer vorzubereiten. Laut eines ärztlichen Attests eines Psychologen vom 7.

Januar 2008 leide Frau K. unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, die sich bei ihr

in Form eines nicht steuerbaren Erregungsmusters mit Herzrasen, Panikgefühlen, Zittern,

Übelkeit und Gefühlen der Hilflosigkeit und Verzweiflung äußere. Aufgrund dieses

Krankheitsbildes bestünden erhebliche Bedenken, ob sie in der Lage sei, das Kind

angemessen auf Umgangskontakte mit dem Beschwerdeführer einzustellen. Darüber hinaus

habe das Kind im Sorgerechtsverfahren angegeben, derzeit keinen Umgang mit seinem

Vater haben zu wollen. Es sei nicht angemessen, gegen den Kindeswillen zu handeln;

vielmehr seien therapeutische Maßnahmen einzuleiten. Das Gericht war ferner der Ansicht,

dass angesichts der psychischen Probleme von Frau K. auch die Sorgerechtsfrage

geklärt werden müsse und dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens im

parallelen Sorgerechtsverfahren unerlässlich sei.

28. Am 20. März 2008 teilte das Familiengericht den Parteien mit, dass die Durchführung

des Umgangs nicht möglich scheine. Dementsprechend habe es beschlossen, das

Umgangsverfahren einstweilen ruhen zu lassen und das Sorgerechtsverfahren abzuwarten,

Page 7: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

7

in dem ein Sachverständigengutachten eingeholt werde. In Anschluss bestellte das

Familiengericht im Sorgerechtsverfahren einen Sachverständigen zur Klärung der Frage, ob

es dem Kindeswohl diene, wenn die Mutter das Sorgerecht beibehalte.

29. Am 25. November 2008 fand eine mündliche Verhandlung vor dem Familiengericht

statt, bei der der Beschwerdeführer und die Prozessbevollmächtigte der Mutter anwesend

waren.

30. Am 12. Dezember 2008 entschied das Familiengericht, noch vor der Erstattung des

Sachverständigengutachtens das Umgangsrecht des Beschwerdeführers bis zum 31.

Dezember 2011 auszusetzen. Durch die massiven, weiterhin andauernden Konflikte der

Eltern würde das Kind bei einer zwangsweisen Durchsetzung des Umgangs in große

Loyalitätskonflikte gebracht. Diese würden sein Wohl erheblich gefährden. Aufgrund ihrer

eigenen, durch ärztliche Atteste belegten Belastungsstörung sei Frau K. nicht in der Lage,

das Kind angemessen auf Umgangskontakte mit dem Beschwerdeführer vorzubereiten. Wie

bereits von der gerichtlich bestellten Sachverständigen im Jahr 2002 hervorgehoben worden

sei (siehe Rdnrn. 9), würde ein Umgang ohne ein Mindestmaß an Kooperation der Eltern

eine erhebliche Belastung für das Kind darstellen. Dies sollte angesichts seiner noch

andauernden therapeutischen Behandlung vermieden werden. Es müsse davon

ausgegangen werden, dass ein erzwungener Umgang angesichts der fehlenden

Mitwirkungsbereitschaft seitens Frau K. zu einer Retraumatisierung des Kindes führen

würde. Folglich erfordere das Kindeswohl eine Aussetzung des Umgangsrechts des

Beschwerdeführers für die Dauer von drei Jahren, damit das Kind eine Traumatherapie

machen könne.

31. Am 5. Januar 2009 legte der Beschwerdeführer Beschwerde gegen den

Umgangsausschluss durch das Familiengericht ein. Er rügte u. a., dass sich das

Familiengericht auf ein veraltetes Sachverständigengutachten berufen habe, dass es die

tatsächlichen Wünsche des Kindes nicht untersucht habe und dass es von einer

Traumatisierung des Kindes ausgegangen sei, die nie von einem unabhängigen

Sachverständigen bestätigt worden sei.

32. Am 30. Januar 2009 erstattete der Sachverständige ein vorläufiges Gutachten im

Sorgerechtsverfahren, in dem er u. a. ausführte, dass der Umgang mit dem

Beschwerdeführer das Kindeswohl nicht gefährden würde.

33. Am 12. Mai 2009 lehnte das Familiengericht den Antrag des Beschwerdeführers auf

Übertragung des Sorgerechts auf ihn ab, unter Berücksichtigung, dass aufgrund der

Verweigerung von Frau K. weder der bestellte Verfahrenspfleger noch die Sachverständige

in der Lage gewesen seien, Frau K. und das Kind zu begutachten. Es stützte sich auf das

Page 8: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

8

vorläufige Gutachten des Sachverständigen, wonach eine Übertragung des Sorgerechts dem

Kindeswohl nicht entspreche, obwohl es keine Hinweise darauf gebe, dass der Umgang mit

dem Beschwerdeführer das Wohl des Kindes gefährden würde. Auf der anderen Seite gebe

es Hinweise darauf, dass die Verweigerungshaltung von Frau K., was den Umgang des

Beschwerdeführers mit dem Kind angehe, das Kindeswohl gefährde. Am 30. Juni 2009 wies

das Oberlandesgericht Köln die entsprechende Beschwerde des Beschwerdeführers zurück.

34. Am 30. Juni 2009 traf das Oberlandesgericht Köln seine Entscheidung nach

Aktenlage und bestätigte die Entscheidung des Familiengerichts, den Umgang

auszuschließen (siehe Rdnr. 30), auch wenn diese Entscheidung bedeute, dass Frau K., die

– aus welchen Gründen auch immer – den Umgang mit dem Beschwerdeführer verhindern

wolle, ihr Ziel erreicht habe. Es stellte fest, dass das Kind bei seiner Anhörung vor dem

Familiengericht am 8. Januar 2008 im Sorgerechtsverfahren klar geäußert habe, dass es

seinen Vater derzeit nicht sehen wolle. In einem Brief an den Verfahrenspfleger aus dem

Jahr 2008 habe das Kind erklärt, dass es nicht mehr über dieses Thema sprechen wolle,

nachdem es seine Meinung bereits fünfmal geäußert habe. Das Jugendamt habe am 22.

Juni 2007 bestätigt, dass D. in Ruhe gelassen werden wolle und er seinen Vater nicht habe

sehen wollen, weil dieser mache, „dass ich immer zum Jugendamt muss“. Dies entspreche

dem, was D. 2007 gegenüber seiner Kinderärztin geäußert habe. Diese Äußerungen zeigten,

dass D. eine Verknüpfung zwischen seinem Vater und den Anhörungsterminen bei Gericht,

die er nicht möge, hergestellt habe. Nur durch eine Ruhephase könne D. das Gefühl

vermittelt werden, dass er allein entscheiden könne, ob er den Vater sehen wolle. Durch

diese Zeitspanne habe zudem auch Frau K. die Gelegenheit, ihre Verhaltensweisen zu

überdenken. Sie sollte sich bewusst machen, dass D. als Heranwachsender seinen Vater als

ausgleichende Autoritätsperson dringend benötigen würde. Die Darlegungen des

Beschwerdeführers würden zu keiner anderen Beurteilung führen. Die Ursachen für den

Loyalitätskonflikt, in dem sich D. befinde, seien sicherlich nicht allein Frau K. zuzurechnen.

Ferner sei die von dem Beschwerdeführer angedeutete Möglichkeit, ihn von beiden

Elternteilen zu trennen und in einem Internat aufwachsen zu lassen, ohne Zweifel nicht mit

dem Wohl des Kindes vereinbar. Unter Verweis auf seinen Beschluss zum Sorgerecht vom

selben Tag stellte das Oberlandesgericht abschließend fest, dass sich D. positiv entwickele.

35. Am 10. August 2009 lehnte es das Bundesverfassungsgericht ohne Angabe von

Gründen ab, die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers betreffend das

Umgangsrecht und das Sorgerecht zur Entscheidung anzunehmen (1 BvR 1831/09).

Page 9: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

9

II. DAS EINSCHLÄGIGE INNERSTAATLICHE RECHT

36. Hinsichtlich der einschlägigen Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts verweist

der Gerichtshof auf sein Urteil in der Rechtssache K. ./. Deutschland (Individualbeschwerde

Nr. 62198/11, Rdnrn. 81-86, 15. Januar 2015).

RECHTLICHE WÜRDIGUNG

I.   VERBINDUNG DER BESCHWERDEN

37. Aufgrund ihres ähnlichen tatsächlichen und rechtlichen Hintergrunds entscheidet der

Gerichtshof, die beiden Individualbeschwerden nach Artikel 42 Abs. 1 der

Verfahrensordnung des Gerichtshofs zu verbinden.

II. DER UMFANG DER BESCHWERDEN

38. Im Hinblick auf das Verfahren vor den innerstaatlichen Gerichten sieht es der

Gerichtshof als erforderlich an, eingangs klarzustellen, dass der Umfang der vorliegenden

Rechtssache auf die von dem Beschwerdeführer in seinen ursprünglichen Beschwerden an

den Gerichtshof erhobenen Rügen beschränkt ist. Der Gerichtshof weist insoweit darauf hin,

dass der Beschwerdeführer in seinen Beschwerden und Schriftsätzen nicht nur zum

Umgangsverfahren, sondern auch zum Sorgerechtsverfahren Tatsachen vorgetragen hat.

Darüber hinaus hat er Tatsachen vorgetragen, die sich auf vor 2005 ergangene

Entscheidungen der Familiengerichte beziehen, aber keine Rügen im Zusammenhang mit

der Übertragung des Sorgerechts in seine Beschwerdeformulare aufgenommen. Auch hat er

in diese Formulare keine Rügen in Bezug auf vor 2005 ergangene Entscheidungen

aufgenommen. Der Gerichtshof kommt daher zu dem Schluss, dass nicht davon

ausgegangen werden kann, dass der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer bezüglich der

Ablehnung der Sorgerechtsübertragung durch die innerstaatlichen Gerichte und bezüglich

der vor 2005 geführten Gerichtsverfahren wirksam Rügen erhoben hat.

III. DIE BEFUGNIS DES BESCHWERDEFÜHRERS, IM NAMEN SEINES SOHNES ZU

HANDELN

39. Die Regierung bestritt, dass der Beschwerdeführer in dem Verfahren vor dem

Gerichtshof im Namen seines Sohnes D. handeln kann.

Page 10: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

10

40. Der Beschwerdeführer trat dieser Auffassung entgegen. Auch wenn die Kindesmutter

das alleinige Sorgerecht habe, bestehe die Gefahr, dass einige Belange des Kindes dem

Gerichtshof nicht zur Kenntnis gelängen, wenn dem Beschwerdeführer nicht gestattet werde,

das Kind im Falle eines Konflikts mit seiner Mutter zu vertreten. Der Beschwerdeführer

verwies auf die Rechtssachen P. ./. Deutschland ((Entsch.), Individualbeschwerde Nr.

31178/96, 6. Dezember 2001) und Iosub Caras ./. Rumänien (Individualbeschwerde Nr.

7198/04, 27. Juli 2006).

41. Der Gerichtshof weist erneut darauf hin, dass in Fällen, die aus Streitigkeiten

zwischen den Eltern erwachsen, dem sorgeberechtigten Elternteil die Wahrung der

Interessen der Kinder anvertraut ist. In diesen Situationen kann die Stellung als leiblicher

Elternteil nicht als ausreichende Grundlage dafür angesehen werden, eine

Individualbeschwerde auch im Namen eines Kindes zu erheben (siehe S. ./. Deutschland

(Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 30943/96, 10. Dezember 2000, und Eberhard und M. ./.

Slowenien, Individualbeschwerden Nrn. 8673/05 und 9733/05, Rdnr. 88, 1. Dezember 2009;

und Z. ./. Slowenien, Individualbeschwerde Nr. 43155/05, Rdnr. 115, 30. November 2010).

42. Der Gerichtshof stellt fest, dass die vorliegende Rechtssache einen Streit über das

Umgangsrecht zwischen dem Beschwerdeführer und der Kindesmutter, der das alleinige

Sorgerecht für das Kind zusteht, betrifft. Dementsprechend ist der Beschwerdeführer nicht

befugt, im vorliegenden Verfahren im Namen seines Kindes zu handeln. Der Gerichtshof

beschränkt seine Prüfung der Rechtssache daher auf den Teil, der den Beschwerdeführer

betrifft (vgl. Eberhard und M., a. a. O., Rdnr. 90).

IV. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 8 DER KONVENTION

43. In seiner ersten Beschwerde, die er am 30. April 2008 erhob (Nr. 23280/08), rügte der

Beschwerdeführer zum einen die Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln vom 8. Februar

2008, mit der die Verhängung eines Zwangsgeldes aufgehoben wurde, und zum anderen,

dass die Familiengerichte ihm den Umgang mit seinem Sohn nicht ermöglicht hätten. Ferner

rügte er, dass Frau K. durch die überlange Dauer des Umgangsverfahrens die Möglichkeit

gehabt habe, seine Beziehung zu seinem Sohn zu zerstören. In seiner zweiten Beschwerde,

die er am 24. Dezember 2009 erhob (Nr. 2334/10), rügte der Beschwerdeführer die

Entscheidung des Familiengerichts Köln vom 12. Dezember 2008, sein Umgangsrecht

auszusetzen, sowie die entsprechende Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichts

Köln vom 30. Juni 2009. Zudem rügte er, dass die Familiengerichte nicht rechtzeitig einen

Verfahrenspfleger zur Wahrnehmung der Interessen des Kindes bestellt und ein

Page 11: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

11

Sachverständigengutachten beauftragt hätten. Der Beschwerdeführer berief sich auf Artikel 8

der Konvention, der, soweit entscheidungserheblich, bestimmt:

„1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres [...] Familienlebens [...]2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der

Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“

A. Zulässigkeit

44. Die Regierung führte aus, der Beschwerdeführer habe aus formaler Sicht den

innerstaatlichen Rechtsweg in Bezug auf die Entscheidungen der Familiengerichte aus den

Jahren 2008 und 2009 erschöpft. Um Umgang gewährt zu bekommen, habe der

Beschwerdeführer jedoch seit dem 1. Januar 2012 die Gelegenheit gehabt, ein neues

Umgangsverfahren vor dem Familiengericht anzustrengen, da die Aussetzung des Umgangs

am 31. Dezember 2011 ausgelaufen sei. Aus praktischer Sicht hätte ihm also ein wirksamer

Rechtsbehelf zur Verfügung gestanden.

45. Was die Verfahrensdauer angeht, wies die Regierung darauf hin, dass der

Beschwerdeführer keinen Entschädigungsanspruch nach dem Gesetz über den

Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren

(Rechtsschutzgesetz) geltend gemacht habe und dass diese Rüge wegen Nichterschöpfung

des innerstaatlichen Rechtswegs für unzulässig zu erklären sei.

46. Ferner habe der Beschwerdeführer vor den innerstaatlichen Gerichten keine

Beschwerde gegen das behauptete Versäumnis, einen Verfahrenspfleger zu bestellen,

erhoben.

47. Der Beschwerdeführer erwiderte, er habe zwei Anträge auf Umgang gestellt, die

letztlich erfolglos geblieben seien. Seiner Ansicht nach könne ihm nicht zugemutet werden,

ein gerichtliches Umgangsverfahren weiter zu betreiben, bis D. volljährig sei.

48. Was den ersten Punkt der Regierung angeht, stellt der Gerichtshof fest, dass einer

Umgangsaussetzung für die Dauer von drei Jahren nicht durch ein Recht, im Anschluss

daran ein neues Umgangsverfahren anzustrengen, abgeholfen werden kann. Folglich ist

dieser Einwand der Regierung zurückzuweisen.

49. Was das weitere Vorbringen der Regierung angeht, wonach der Beschwerdeführer es

versäumt habe, einen Entschädigungsanspruch nach dem Rechtsschutzgesetz geltend zu

machen, verweist der Gerichtshof auf sein Urteil in der Rechtssache K. (a. a. O., Rdnrn. 139-

141), in dem festgestellt wurde, dass in Verfahren, in denen sich die Verfahrensdauer

Page 12: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

12

eindeutig auf das Familienleben des Beschwerdeführers auswirkt, die Bestimmungen des

Rechtsschutzgesetzes kein wirksames Mittel darstellen. Daher hat der Beschwerdeführer

den innerstaatlichen Rechtsweg insoweit erschöpft.

50. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer nicht dargelegt hat,

dass er in Bezug auf das behauptete Versäumnis der Familiengerichte, bereits in einem

früheren Verfahrensstadium einen Verfahrenspfleger zu bestellen, von den innerstaatlichen

Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht hat. Daraus folgt, dass diese Rüge nach Artikel 35

Abs. 1 und 4 der Konvention wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs

zurückzuweisen ist.

51. Der Gerichtshof stellt fest, dass die verbleibenden Rügen nach Artikel 8 der

Konvention nicht im Sinne von Artikel 35 Abs. 3 Buchst. a der Konvention offensichtlich

unbegründet und auch nicht aus anderen Gründen unzulässig sind. Folglich sind sie für

zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

52. Der Gerichtshof stellt fest, dass sich die Fragen der vorliegenden Rechtssache

erstens auf die Durchsetzung der Umgangsentscheidung vom 24. April 2007 (siehe Rdnrn.

64-83), zweitens auf die Aussetzung des Umgangs (siehe Rdnrn. 64-83) und schließlich auf

die Verfahrensführung (siehe Rdnrn. 84-91) beziehen. Es ist die Aufgabe des Gerichtshofs

zu prüfen, ob das Familienleben des Beschwerdeführers im Hinblick auf diese drei Fragen

missachtet wurde.

53. Der Gerichtshof weist darauf hin, dass der Staat in Fällen, in denen nachweislich

Familienbande bestehen, grundsätzlich so handeln muss, dass diese Bande aufrecht

erhalten werden können. Für einen Elternteil und sein Kind stellt das Zusammensein einen

grundlegenden Bestandteil des Familienlebens dar, und innerstaatliche Maßnahmen, die die

Betroffenen an diesem Zusammensein hindern, bedeuten einen Eingriff in das durch Artikel

8 der Konvention geschützte Recht (siehe u. a. Monory ./. Rumänien und Ungarn,

Individualbeschwerde Nr. 71099/01, Rdnr. 70, 5. April 2005, und K. und T. ./. Finnland,

Individualbeschwerde Nr. 25702/94, Rdnr. 151, 27. April 2000).

54. Auch wenn das Hauptziel des Artikels 8 im Schutz des Einzelnen vor willkürlichen

Maßnahmen von staatlicher Seite besteht, so sind mit einer wirksamen „Achtung“ des

Familienlebens zusätzlich auch positive Schutzpflichten verbunden. Diese Pflichten können

Maßnahmen beinhalten, die zur Sicherstellung der Achtung des Privatlebens auch im

Verhältnis von einzelnen Personen untereinander ergriffen werden; dies umfasst sowohl die

Schaffung eines rechtlichen Rahmens, der ein Gerichtswesen und Vollstreckungsmittel zum

Page 13: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

13

Schutz der Rechte des Einzelnen bietet, als auch gegebenenfalls die Umsetzung konkreter

Schritte (siehe mit weiteren Nachweisen Nazarenko ./. Russland, Individualbeschwerde Nr.

39438/13, Rdnr. 61, ECHR 2015 (Auszüge)).

1. Aufhebung der Zwangsgeldfestsetzung gegen die Mutter durch Entscheidung des

Oberlandesgerichts Köln vom 8. Februar 2008

55. Der Gerichtshof muss zunächst prüfen, ob die Entscheidung des Oberlandesgerichts

Köln vom 8. Februar 2008, mit der die Zwangsgeldfestsetzung gegen die Kindesmutter

aufgehoben wurde, die Achtung des Familienlebens des Beschwerdeführers, so wie sie in

Artikel 8 der Konvention niedergelegt ist, nicht berücksichtigt hat.

(a) Die Stellungnahmen der Parteien

56. Der Beschwerdeführer rügte, dass durch die Entscheidung des Oberlandesgerichts

Köln vom 8. Februar 2008, kein Zwangsgeld gegen Frau K. zu verhängen, sein

Umgangsrecht faktisch unterbunden worden sei. Des Weiteren sei die behauptete

Belastungsstörung von Frau K. nie durch einen unabhängigen ärztlichen Sachverständigen

festgestellt worden. Er bestritt, dass Frau K. jemals an Traumata gelitten habe, die zu einer

posttraumatischen Belastungsstörung hätten führen können.

57. Die Regierung vertrat die Ansicht, dass die Entscheidung des Oberlandesgerichts

vom 8. Februar 2008 zum Schutz der Gesundheit von Frau K. erforderlich gewesen sei.

Durch ein ärztliches Attest vom 7. Januar 2008 sei bestätigt worden, dass Frau K. an einer

posttraumatischen Belastungsstörung leide und sie daher nicht in der Lage gewesen sei, D.

entsprechend auf den Umgang mit dem Beschwerdeführer vorzubereiten. Zudem habe D.

den Umgang mit seinem Vater wiederholt und vehement abgelehnt. Es sei zu erwarten, dass

ein erzwungener Umgang die Ablehnung seitens des Kindes nur verstärken würde.

(b) Würdigung durch den Gerichtshof

58. Was die Entscheidung des Oberlandesgerichts Köln betrifft, die

Zwangsgeldfestsetzung gegen die Kindesmutter aufzuheben, muss der Gerichtshof darüber

entscheiden, ob die innerstaatlichen Behörden alle notwendigen Schritte unternommen

haben, die unter den besonderen Umständen dieses Falls vernünftigerweise von ihnen

erwartet werden konnten, um die Vollstreckung der Umgangsentscheidung vom 24. April

2007 zu fördern.

Page 14: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

14

59. Er weist erneut darauf hin, dass im Hinblick auf die Verpflichtung des Staates,

positive Maßnahmen zu ergreifen, Artikel 8 das Recht der Eltern beinhaltet, dass

Maßnahmen zur Wiederzusammenführung mit ihren Kindern getroffen werden, und die

innerstaatlichen Behörden verpflichtet, eine solche Zusammenführung zu fördern (siehe u. a.

Ignaccolo-Zenide ./. Rumänien, Individualbeschwerde Nr. 31679/96, Rdnr. 94, ECHR 2000-

I). In Fällen, die die Durchsetzung von Entscheidungen in Familiensachen betreffen, hat der

Gerichtshof wiederholt die Auffassung vertreten, dass entscheidend ist, ob die

innerstaatlichen Behörden alle für die Förderung der Vollstreckung erforderlichen Schritte

unternommen haben, die unter den besonderen Umständen des Einzelfalles

vernünftigerweise von ihnen erwartet werden konnten (siehe sinngemäß Hokkanen ./.

Finnland, 23. September 1994, Rdnr. 58, Serie A Nr. 299-A; und Nuutinen ./. Finnland,

Individualbeschwerde Nr. 32842/96, Rdnr. 128, ECHR 2000-VIII).

60. Im Hinblick auf die Umstände der vorliegenden Rechtssache stellt der Gerichtshof

fest, dass das Familiengericht Köln im Wege einer einstweiligen Anordnung vom 24. April

2007 dem Beschwerdeführer ein Recht auf Umgang einmal im Monat einräumte und Frau K.

aufgab, das Kind entsprechend vorzubereiten. Am 9. Juli 2007 verhängte das

Familiengericht ein Zwangsgeld gegen Frau K. wegen Nichtbefolgung dieser Entscheidung.

Auf die Beschwerde von Frau K. hin hob das Oberlandesgericht diese Entscheidung mit der

Begründung auf, es bestünden erhebliche Bedenken, ob Frau K. zu einer Mitwirkung in der

Lage sei. Das Oberlandesgericht berücksichtigte, dass Frau K. laut eines privaten ärztlichen

Attests eines Psychologen an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide. Ferner hob

es hervor, dass die psychischen Probleme von Frau K. geklärt werden müssten und die

Einholung eines Sachverständigengutachtens im parallel geführten Sorgerechtsverfahren

unerlässlich sei.

61. Der Gerichtshof stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die Entscheidung, die

Zwangsgeldfestsetzung aufzuheben, vor allem auf die Annahme gestützt wurde, dass ein

solches Zwangsgeld negative Auswirkungen auf Frau K. und somit auf das Kind haben

könnte. Sie stütze sich also auf das Kindeswohl betreffende Erwägungen. In Anbetracht der

Gefährdung seines Wohlergehens akzeptiert der Gerichtshof, dass das Oberlandesgericht

Köln in diesem Verfahrensstadium angesichts der Tatsache, dass es sich nicht um die

endgültige Entscheidung über den Umgang handelte, innerhalb seines

Beurteilungsspielraums blieb, als es zu dem Schluss kam, dass die Beweisgrundlage

ausreiche, um zur Abwendung einer potentiellen Kindeswohlgefährdung die Vollstreckung

der Umgangsentscheidung vorübergehend auszusetzen.

Page 15: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

15

62. Was die Zügigkeit des Vollstreckungsverfahrens angeht, nimmt der Gerichtshof zur

Kenntnis, dass das Amtsgericht das Zwangsgeld am 9. Juli 2007 anordnete, also etwa einen

Monat, nachdem der erste geplante Besuchskontakt am 2. Juni 2007 gescheitert war. Am 8.

Februar 2008 entschied das Oberlandesgericht über das von Frau K. eingelegte

Rechtsmittel. Das Vollstreckungsverfahren dauerte somit insgesamt sieben Monate und

erstreckte sich über zwei Instanzen. Unter Berücksichtigung aller ihm zur Verfügung

stehenden Unterlagen kann der Gerichtshof nicht feststellen, dass das

Vollstreckungsverfahren nicht mit besonderer Zügigkeit geführt wurde.

63. Folglich ist Artikel 8 der Konvention im Hinblick auf die Nichtdurchsetzung der

Umgangsentscheidung vom 24. April 2007 nicht verletzt worden.

2. Aussetzung des Umgangsrechts

64. Der Gerichtshof muss als nächstes prüfen, ob bei der Aussetzung des Umgangs des

Beschwerdeführers mit seinem Sohn das Recht des Beschwerdeführers auf Achtung seines

Familienlebens, so wie es in Artikel 8 der Konvention niedergelegt ist, geachtet wurde.

(a) Die Stellungnahmen der Parteien

65. Der Beschwerdeführer behauptete, die Familiengerichte hätten sein Recht auf

Achtung seines Familienlebens verletzt, weil sie ihn daran gehindert hätten, Umgang mit

seinem Sohn zu haben, obwohl seine Fähigkeit und Bereitschaft, ihn zu betreuen, nie

bestritten worden sei. Sie hätten es versäumt, ein unabhängiges Sachverständigengutachten

zum Kindeswohl und zu der Frage einzuholen, ob seine Ablehnung, den Vater zu sehen,

echt gewesen sei. Unter Bezugnahme auf seine Rügen bezüglich der Entscheidung des

Oberlandesgerichts (siehe Rdnr. 56) wies der Beschwerdeführer ferner darauf hin, dass die

Familiengerichte die von Frau K. vorgelegten privaten ärztlichen Atteste nie in Frage gestellt

hätten, obwohl es dafür genügend Gründe gegeben hätte; auch hätten sie den

behandelnden Psychologen von Frau K. nicht persönlich vernommen.

66. Die Regierung erkannte an, dass die angegriffenen Entscheidungen in das Recht des

Beschwerdeführers auf Achtung seines Privatlebens eingriffen. Sie seien jedoch im Sinne

von Artikel 8 gerechtfertigt gewesen, weil sie in einer demokratischen Gesellschaft

notwendig gewesen seien. Die Aussetzung des Umgangsrechts sei unter den besonderen

Umständen des vorliegendes Falls gerechtfertigt gewesen, um dem Kind die Möglichkeit zu

geben, zur Ruhe zu kommen, und um zu erreichen, dass das Bild, das es von dem

Beschwerdeführer habe, nicht mehr von den ständigen gerichtlichen Auseinandersetzungen

Page 16: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

16

überlagert sei. Es sei zulässig gewesen, dass das Oberlandesgericht D. nicht persönlich

vernommen habe, bevor es über die Umgangsaussetzung entschieden habe, denn es hätten

keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass sich die Auffassung von D. seit seiner Aussage

vor dem Familiengericht im Jahr 2008 geändert habe. Darüber hinaus wäre mit einem

erzwungenen Umgang die Gefahr einer nicht zu verantwortenden Retraumatisierung sowohl

der Mutter als auch des Kindes verbunden gewesen.

(b) Würdigung durch den Gerichtshof

67. Der Gerichtshof stellt zunächst fest, dass die Parteien darin übereinstimmen, dass die

angegriffenen Entscheidungen einen Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf

Achtung des Familienlebens darstellten. Der Gerichtshof sieht keinen Grund, von dieser

Schlussfolgerung abzuweichen.

68. Der vorstehend erwähnte Eingriff stellt eine Verletzung von Artikel 8 dar, es sei denn,

er ist „gesetzlich vorgesehen“, verfolgt ein oder mehrere Ziele, die nach Abs. 2 dieser

Bestimmung legitim sind, und kann als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“

angesehen werden.

(i) „Gesetzlich vorgesehen“

69. Es war vor dem Gerichtshof nicht strittig, dass die betreffenden Entscheidungen auf

innerstaatlichem Recht beruhten, nämlich § 1384 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs

(BGB) in der zur maßgeblichen Zeit geltenden Fassung (siehe Rdnr. 36).

(ii) Legitimes Ziel

70. Nach Auffassung des Gerichtshofs zielten die von dem Beschwerdeführer gerügten

Gerichtsentscheidungen auf den Schutz „der Gesundheit oder der Moral“ und „der Rechte

und Freiheiten“ des Kindes ab. Sie verfolgten also legitime Ziele im Sinne von Artikel 8 Abs.

2.

(iii)  „In einer demokratischen Gesellschaft notwendig“

71. Nun muss der Frage nachgegangen werden, ob im Lichte der einschlägigen

Grundsätze der Rechtsprechung des Gerichtshofs, u. a. in der Rechtssache E. ./.

Deutschland ([GK] Individualbeschwerde Nr. 25735/94, Rdnrn. 48-50, ECHR 2000-VIII), die

Aussetzung des Umgangs des Beschwerdeführers mit seinem Sohn „in einer

demokratischen Gesellschaft notwendig war“.

Page 17: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

17

72. Bei der Entscheidung über diese Frage prüft der Gerichtshof, ob im vorliegenden Fall

die innerstaatlichen Gerichte im Lichte der Gesamtumstände und in Ausübung ihres

Beurteilungsspielraums ihre Entscheidung, den Umgang des Beschwerdeführer für die

Dauer von drei Jahren auszusetzen, auf zutreffende und hinreichende Gründe gestützt

haben (siehe mit weiteren Nachweisen S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde

Nr. 31871/96, Rdnr. 62, ECHR 2003-VIII (Auszüge)).

73. Der Gerichtshof stellt fest, dass das Familiengericht bei seiner Entscheidung vom 12.

Dezember 2008 (siehe Rdnr. 30) der Auffassung war, dass ein erzwungener Umgang das

Kindeswohl ernsthaft gefährden würde, was es mit der mangelnden Kooperation zwischen

den Eltern und der Tatsache, dass Frau K. aufgrund ihrer Belastungsstörung nicht in der

Lage sei, das Kind auf Umgangskontakte vorzubereiten, begründete. Vor diesem

Hintergrund sah es das Familiengericht als erforderlich an, den Umgang für die Dauer von

drei Jahren auszusetzen, um dem Kind zu ermöglichen, eine Traumatherapie zu machen.

Das Oberlandesgericht hob hervor, dass D. klar und nachdrücklich geäußert habe, seinen

Vater nicht sehen zu wollen.

74. Unter diesen Umständen stellt der Gerichtshof fest, dass davon ausgegangen werden

kann, dass die innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen, mit denen der Umgang des

Beschwerdeführers mit seinem Kind ausgesetzt wurde, zum Wohl des Kindes ergangen

sind, das aufgrund seiner erheblichen Bedeutung den Interessen des Beschwerdeführers

vorgehen muss. Der Gerichtshof ist folglich überzeugt, dass die deutschen Gerichte

zutreffende Gründe für ihre Entscheidungen angeführt haben.

75. Bei der Beurteilung der Frage, ob diese Gründe auch im Sinne von Artikel 8 Abs. 2

hinreichend waren, prüft der Gerichtshof, ob der Entscheidungsprozess insgesamt dem

Beschwerdeführer den erforderlichen Schutz seiner Interessen zuteil werden ließ (siehe u. a.

T. P. und K. M. ./. Vereinigtes Königreich [GK], Individualbeschwerde Nr. 28945/95, Rdnr.

72, ECHR 2001-V (Auszüge); und S. ./. Deutschland, Individualbeschwerde Nr. 40324/98,

Rdnr. 89, 10. November 2005). Hierbei kommt es auf den konkreten Hintergrund der

Rechtssache an. Der Beschwerdeführer muss insbesondere in der Lage gewesen sein, alle

Argumente vorzubringen, die für einen Umgang mit seinem Kind sprechen (siehe S., a. a. O.,

Rdnr. 68-69).

76. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass dem Beschwerdeführer in dem Verfahren

vor dem Familiengericht reichlich Gelegenheit gegeben wurde, sich persönlich oder über

seinen Anwalt mündlich vor Gericht zu äußern. Er konnte seine Sache in der Verhandlung

vom 25. November 2008, an der er teilnahm, vortragen (siehe Rdnr. 29); ferner hatte er

Page 18: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

18

Zugang zu allen relevanten Informationen, auf die sich die Gerichte stützten (siehe S., a. a.

O., Rdnr. 69).

77. Der Gerichtshof erinnert ferner daran, dass die von den innerstaatlichen Gerichten

angeführten Gründe für eine Verweigerung des Umgangsrechts nur dann hinreichend sind,

wenn außerdem die Verfahrensweise des innerstaatlichen Gerichts als angemessen

angesehen werden kann und genügend Material erbracht hat, um zu einer begründeten

Entscheidung über die Frage des Umgangs in dem betreffenden Fall zu gelangen (siehe u.

a. S., a. a. O., Rdnr. 94). Er stellt fest, dass sich der Beschwerdeführer in der vorliegenden

Rechtssache in erster Linie gegen die Einschätzung der Gerichte in Bezug auf das

Kindeswohl sowie gegen die fehlende Beweisgrundlage für diese Einschätzung,

insbesondere eines Sachverständigengutachtens, wendete.

78. In diesem Zusammenhang nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass das

Familiengericht im Sorgerechtsverfahren die Einholung eines Sachverständigengutachtens

angeordnet hatte und das Umgangsverfahren am 20. März 2008 aussetzte, um dieses

Gutachten abzuwarten (siehe Rdnr. 28). Allerdings wartete es die Fertigstellung dieses

Gutachtens nicht ab, sondern traf stattdessen am 12. Dezember 2008 eine Entscheidung,

bei der er sich auf das Sachverständigengutachten aus dem Jahr 2002 stützte. Wie der

Gerichtshof in der Rechtssache S. (a. a. O., Rdnr. 71) festgestellt hat, ginge es zu weit zu

sagen, dass innerstaatliche Gerichte in der Frage des Umgangsrechts eines nicht

sorgeberechtigten Elternteils stets einen psychologischen Sachverständigen hinzuziehen

müssen; ausschlaggebend hierfür sind vielmehr die besonderen Umstände des jeweiligen

Falls. Im vorliegenden Fall führt die Berücksichtigung des Alters des Gutachtens, auf das

sich das Familiengericht stützte - ca. sieben Jahre –, die Stellungnahme der Leiterin des

Kinderhortes, wonach ein weiterer Umgang mit dem Beschwerdeführer für das Kind positiv

gewesen wäre (siehe Rdnr. 20), und der Tatsache, dass das Jugendamt aufgrund der

widersprüchlichen Darstellungen zur Situation des Kindes bereits 2007 die Einholung eines

Sachverständigengutachtens empfohlen hatte (siehe Rdnr. 24) dazu, dass der Gerichtshof

nicht überzeugt ist, dass eine ausreichende Beweisgrundlage vorhanden war, um ohne die

Einholung eines solchen Gutachtens zu beurteilen, ob die Aussetzung des Umgangs dem

Kindeswohl entsprach.

79. Soweit sich das Familiengericht auf die von Frau K. selbst vorgelegten privaten

ärztlichen Atteste stützte, um nachzuweisen, dass sie nicht in der Lage sei, das Kind auf den

Umgang vorzubereiten, stellt der Gerichtshof fest, dass Frau K. an der Verhandlung vom 25.

November 2008 nicht teilgenommen hatte. Unter Berücksichtigung der Verhaltens von Frau

K. während des Verfahrens insgesamt und im Hinblick auf die Bedeutung der Sache hätte

Page 19: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

19

das Familiengericht unter den gegebenen Umständen die Feststellung, dass Frau K. an

einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, aufgrund derer sie das Kind nicht auf

einen Umgang mit dem Beschwerdeführer vorbereiten könne, nicht auf Grundlage dieses

privaten ärztlichen Gutachten treffen sollen, ohne ein Sachverständigengutachten oder

jedenfalls den Vorteil des unmittelbaren Kontakts zu Frau K. gehabt zu haben. Der

Gerichtshof stellt insoweit fest, dass das Oberlandesgericht in seiner Entscheidung vom 8.

Februar 2008 festgestellt hat, dass die Einholung eines Sachverständigengutachtens zum

psychischen Zustand von Frau K. unerlässlich sei (siehe Rdnr. 27).

80. Was die Tatsache angeht, dass das Familiengericht zur Begründung der

Umgangsaussetzung auf die laufende therapeutische Behandlung des Kindes sowie auf

seine Einschätzung, dass das Kind eine Ruhepause und eine Traumatherapie brauche,

verwies, stellt der Gerichtshof fest, dass diese Feststellungen nicht auf Beweise gestützt zu

sein scheinen. Die Äußerung des Kindes bei der Anhörung vom 8. Januar 2008 (siehe Rdnr.

26), dass es nur selten zu seiner Kinderärztin gehe, kann keine Bestätigung dafür sein, dass

es sich im Dezember 2008 in einer laufenden Behandlung befand. In der Stellungnahme der

Kinderärztin vom 11. März 2006, wonach das Kind einer Psychotherapie bedürfe, dafür aber

noch zu jung sei (siehe Rdnr. 16), war von einer Traumatherapie überhaupt nicht die Rede.

Vor allem aber lag die Stellungnahme zum Zeitpunkt der Entscheidung bereits zwei Jahre

und neun Monate zurück.

81. Was das Beschwerdeverfahren angeht, nimmt der Gerichtshof zur Kenntnis, dass der

Beschwerdeführer mit seiner Beschwerde die Entscheidung des Familiengerichts, u. a. in

Bezug auf die Beweisgrundlage, auf die es seine Entscheidung stützte (siehe Rdnr. 31), und

die Tatsache, dass das Oberlandesgericht seine Entscheidung nach Aktenlage traf (siehe

Rdnr. 34), rügte. Das Oberlandesgericht stützte sich insbesondere auf einen Brief des

Kindes an seinen Verfahrenspfleger aus dem Jahr 2008, die Stellungnahme des Jugendamts

vom 22. Juni 2007 und die Stellungnahme der Kinderärztin aus dem Jahr 2007, auf

Stellungnahmen also, die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung zwischen 18 und 24 Monate

zurücklagen. Darüber hinaus stützte es sich auf die Äußerung des Kindes in seiner

Anhörung vor dem Familiengericht im Januar 2008. Zur Frage der Anhörung des Kindes vor

Gericht stellt der Gerichtshof fest, dass es generell Sache der nationalen Gerichte ist, das

ihnen vorliegende Beweismaterial zu würdigen; dies gilt auch für die eingesetzten Mittel zur

Feststellung des erheblichen Sachverhalts (siehe Vidal ./. Belgien, Urteil vom 22. April 1992,

Serie A Bd. 235-B, S. 32-33, Rdnr. 33; und S. ./. Deutschland [GK], Individualbeschwerde

Nr. 30943/96, Rdnr. 73, ECHR 2003-VIII). In diesem Zusammenhang war das Kind zum

letzten Mal 16 Monate zuvor durch das Familiengericht zur Frage des Sorgerechts angehört

Page 20: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

20

worden. In der Zwischenzeit hatte der Sachverständige am 30. Januar 2009 geäußert, dass

ein Umgang mit dem Beschwerdeführer das Kindeswohl nicht gefährden würde. Unter

Berücksichtigung der Tatsache, dass das Kind 16 Monate zuvor geäußert hatte, nicht mehr

zum Gericht gehen zu wollen (vgl. Rdnr. 26), ist der Gerichtshof nicht überzeugt, dass die

Anhörung des Kindes oder die Einholung neuer Erklärungen des Verfahrenspflegers, des

Jugendamts oder der Kinderärztin keine relevanten Informationen über die gegenwärtige

Haltung des Kindes ergeben hätten. Er ist daher der Auffassung, dass das

Oberlandesgericht seinen Beurteilungsspielraum überschritt, als es seine Entscheidung traf,

ohne neue Erklärungen der Beteiligten zu einzuholen.

82. Angesichts der vorgenannten Erwägungen und unter Berücksichtigung der bei

Einschränkungen des Umgangsrechts gebotenen genauen Kontrolle und des engen

Beurteilungsspielraums, der den innerstaatlichen Gerichten in Angelegenheiten zusteht, die

das Recht eines Elternteils auf Umgang mit seinem noch nicht volljährigen Kind betreffen

(siehe u. a. S., a. a. O., Rdnr. 63) haben nach Auffassung des Gerichtshofs die

innerstaatlichen Gerichte nicht einwandfrei festgestellt, dass die Aussetzung des Umgangs

des Beschwerdeführers für die Dauer von drei Jahren nach Artikel 8 Abs. 2 der Konvention

gerechtfertigt war.

83. Folglich ist Artikel 8 der Konvention hinsichtlich der Entscheidung, das Umgangsrecht

des Beschwerdeführers für die Dauer von drei Jahren auszusetzen, verletzt worden.

3. Die Durchführung des Umgangsverfahrens

84. Der Gerichtshof prüft schließlich, ob das Umgangsverfahren unter Wahrung des

Rechts des Beschwerdeführers auf Achtung seines Familienlebens geführt wurde.

(a) Die Stellungnahmen der Parteien

85. Der Beschwerdeführer brachte vor, dass ihm aufgrund der Ineffektivität des

innerstaatlichen Verfahrens seit 1999 der Umgang mit seinem Sohn nicht möglich gewesen

sei. Er vertrat die Ansicht, dass die innerstaatlichen Gerichte in dem Umgangsverfahren ihrer

Pflicht zu außergewöhnlich zügigem Vorgehen nicht nachgekommen seien, wodurch seinem

Familienleben ein irreparabler Schaden zugefügt worden sei, denn er habe keine stabile

Beziehung zu seinem Sohn aufbauen können.

86. Die Regierung war der Ansicht, dass das Verfahren zügig geführt worden sei.

Page 21: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

21

(b) Würdigung durch den Gerichtshof

87. In Bezug auf die positiven Pflichten des Staates nach Artikel 8 der Konvention (siehe

Rdnr. 59) hat der Gerichtshof in früheren Rechtssachen bereits die Auffassung vertreten,

dass die ineffektive und insbesondere verzögerte Durchführung von Sorgerechtsverfahren

einen Verstoß gegen Artikel 8 der Konvention begründen kann (siehe Z. ./. Slowenien,

Individualbeschwerde Nr. 43155/05, Rdnr. 142, 30. November 2010; und V.A.M. ./. Serbien,

Individualbeschwerde Nr. 39177/05, Rdnr. 146, 13. März 2007).

88. Was die vorliegende Rechtssache angeht, nimmt der Gerichtshof zunächst zur

Kenntnis, dass das Umgangsverfahren nach Meinung des Beschwerdeführers 1999 begann

(siehe Rdnr. 85). Der Gerichtshof kann sich dieser Auffassung jedoch nicht anschließen.

Zwar wurde das erste Umgangsverfahren 1999 eingeleitet (siehe Rdnr. 7), allerdings wurde

es am 22. Oktober mit der Entscheidung des Familiengerichts Köln zur Frage des Umgangs

abgeschlossen (siehe Rdnrn. 9 und 10). Das in Rede stehende Verfahren begann mit dem

Antrag der Kindesmutter vom 20. Juni 2005, das Umgangsrecht des Beschwerdeführers

auszusetzen (siehe Rdnr. 12). Im Rahmen dieses Verfahrens beantragte der

Beschwerdeführer am 18. Januar 2006 eine neue Umgangsregelung. Da das

Umgangsverfahren am 10. August 2009 mit der Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde

des Beschwerdeführers durch das Bundesverfassungsgericht endete (Rdnr. 35), dauerte es

folglich durchschnittlich vier Jahre und zwei Monate in drei Instanzen. Während dieses

Zeitraums erließ das Familiengericht zwei einstweilige Verfügungen, mit denen dem

Beschwerdeführer Umgang gewährt wurde, der im Anschluss jedoch nicht stattfand.

89. Ferner ist der Gerichtshof angesichts der Tatsache, dass der Antrag der

Kindesmutter auf die Aussetzung des Umgangs des Beschwerdeführers mit seinem Sohn

abzielte, der Auffassung, dass das in Rede stehende Verfahren eine erhebliche Auswirkung

auf das Familienleben des Beschwerdeführers hatte. Daher hatten die innerstaatlichen

Behörden eine positive Verpflichtung zu außergewöhnlich zügigem Vorgehen bei der

Verfahrensführung (vgl. Prodělalová ./. Tschechische Republik, Individualbeschwerde Nr.

40094/08, Rdnr. 62, 20. Dezember 2011).

90. Der Gerichtshof stellt insoweit fest, dass das Familiengericht für erhebliche

Verfahrensverzögerungen verantwortlich war, insbesondere die fünf Monate von der

Einleitung des neuen Verfahrens bis es einen Termin abhielt (siehe Rdnrn. 12 und 13), die

drei Monate von der Mitteilung im September 2006, dass Umgangskontakte nicht hergestellt

werden könnten, bis zu der Entscheidung, eine weitere Zeugenaussage einzuholen (siehe

Rdnrn. 18 und 19), und eine achtmonatige Verzögerung, als das Familiengericht im März

2008 das Umgangsverfahren aussetzte (siehe Rdnr. 28). Der Gerichtshof ist der Auffassung,

Page 22: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

22

dass die sehr lange Verfahrensaussetzung zur Einholung eines Sachverständigengutachtens

nur hätte gerechtfertigt sein können, wenn das Familiengericht im Rahmen der Prüfung der

für seine Entscheidung erheblichen Tatsachen dieses Gutachten abgewartet und seinen

Inhalt berücksichtigt hätte.

91. Der Gerichtshof stellt ferner fest, dass der Beschwerdeführer während des gesamten

Verfahrens trotz der beiden einstweiligen Verfügungen des Familiengerichts keinen Umgang

mit seinem Sohn hatte.

92. Im Lichte der vorstehenden Ausführungen und im Hinblick auf die erhebliche

Auswirkung auf das Familienleben des Beschwerdeführers gelangt der Gerichtshof zu dem

Ergebnis, dass die deutschen Behörden ihren positiven Verpflichtungen aus Artikel 8 der

Konvention nicht nachgekommen sind, was zur Folge hatte, dass der Umgang des

Beschwerdeführers mit seinem Sohn mehr als vier Jahre lang eingeschränkt war.

93. Folglich ist Artikel 8 der Konvention in dem Umgangsverfahren verletzt worden.

V. BEHAUPTETE VERLETZUNG VON ARTIKEL 6 DER KONVENTION

A. Rüge der mangelnden Fairness in dem Verfahren vor den Familiengerichten

94. Der Beschwerdeführer rügte darüber hinaus, das Verfahren vor den

Familiengerichten sei unfair gewesen. Insbesondere rügte er, dass das Oberlandesgericht

das Kind nicht persönlich angehört habe. Er berief sich auf Artikel 6 der Konvention, der wie

folgt lautet:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche [...] von einem [...] Gericht in einem fairen Verfahren [...] verhandelt wird.“

95. Der Gerichtshof stellt fest, dass diese Rüge mit der vorstehend geprüften Rüge

verbunden ist und ebenfalls für zulässig zu erklären ist.

96. Im Hinblick auf die Feststellung zum verfahrensrechtlichen Aspekt von Artikel 8 ist der

Gerichtshof der Auffassung, dass die vorliegende Rüge keine eigene Frage nach Artikel 6 in

Bezug auf die Fairness des Verfahrens vor den Familiengerichten aufwirft.

B. Rüge der Verfahrensdauer

Page 23: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

23

97. Der Beschwerdeführer rügte auch, dass die Dauer des Verfahrens unter Verletzung

von Artikel 6 Abs. 1 der Konvention über eine angemessene Frist hinausgegangen sei; diese

Bestimmung lautet, soweit maßgeblich, wie folgt:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen [...] von einem [...] Gericht [...] innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“

98. Die Regierung trug vor, dass der Beschwerdeführer den innerstaatlichen Rechtsweg

im Sinne von Artikel 35 Abs. 1 der Konvention nicht erschöpft habe, weil er keinen

Entschädigungsanspruch nach dem Rechtsschutzgesetz geltend gemacht habe.

99. Der Beschwerdeführer erwiderte, ein Entschädigungsanspruch hätte keine Aussicht

auf Erfolg gehabt, wenn man berücksichtige, dass selbst die Regierung eine überlange

Verfahrensdauer abstreite.

100. Der Gerichtshof weist zunächst darauf hin, dass er die Durchführung des

Umgangsverfahrens, ihre Auswirkung auf den Ausgang dieses Verfahrens und die

Auswirkung auf das Familienleben des Beschwerdeführers im Rahmen von Artikel 8 der

Konvention geprüft hat. Hinsichtlich der Rüge der Verfahrensdauer nach Artikel 6 der

Konvention stellt der Gerichtshof fest, dass dem Beschwerdeführer seit Inkrafttreten der

Übergangsvorschrift des Rechtsschutzgesetzes am 3. Dezember 2011 die Möglichkeit

offenstand, einen Anspruch auf gerechte Entschädigung geltend zu machen. Der Gerichtshof

hat bereits festgestellt, dass das Rechtsschutzgesetz grundsätzlich geeignet ist,

angemessene Wiedergutmachung für eine Verletzung des Rechts auf ein Verfahren

innerhalb angemessener Frist zu leisten, und dass von einem Beschwerdeführer erwartet

werden kann, von diesem Rechtsbehelf Gebrauch zu machen, auch wenn er erst verfügbar

wurde, nachdem er seine Individualbeschwerde beim Gerichtshof erhoben hat (siehe T.

./. Deutschland (Entsch.), Individualbeschwerde Nr. 53126/07, Rdnrn. 40-43, 19. Mai 2012).

Nach Auffassung des Gerichtshof hat der Beschwerdeführer keine Gründe vorgebracht, die

die Schlussfolgerung nahelegen würden, dass ein Anspruch auf gerechte Entschädigung

keine Aussicht auf Erfolg gehabt hätte, wenn er diesen im Hinblick auf die angeblich

unangemessene Dauer des gerichtlichen Verfahrens geltend gemacht hätte. Die Tatsache

allein, dass die Regierung eine überlange Verfahrensdauer bestritt, reicht nicht aus, um die

Wirksamkeit dieses Rechtsbehelfs in Frage zu stellen.

101. Folglich ist dieser Teil der Beschwerde nach Artikel 35 Abs. 1 und 4 der Konvention

wegen Nichterschöpfung des innerstaatlichen Rechtswegs zurückzuweisen.

Page 24: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

24

VI. ANWENDUNG VON ARTIKEL 41 DER KONVENTION

102. Artikel 41 der Konvention lautet:

„Stellt der Gerichtshof fest, dass diese Konvention oder die Protokolle dazu verletzt worden sind, und gestattet das innerstaatliche Recht der Hohen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen dieser Verletzung, so spricht der Gerichtshof der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zu, wenn dies notwendig ist.“

A. Schaden

103. Der Beschwerdeführer forderte insgesamt 156.314,08 Euro in Bezug auf den

materiellen Schaden. Er trug vor, dass die Nichtdurchsetzung seines Umgangsrechts durch

das Gericht bei ihm zu erheblichen Symptomen von Stress und Depression geführt hätte, die

ihn schließlich dazu gezwungen hätten, durch die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses im

März 2002 eine vielversprechende berufliche Karriere aufzugeben. Die geforderte Summe

entspreche dem Verdienstausfall in den Jahren 2003-2005, einschließlich Zinsen und

entgangenen Betriebsrentenansprüchen.

104. Die Regierung bestritt, dass ein Kausalzusammenhang zwischen der Beendigung

des Beschäftigungsverhältnisses des Beschwerdeführers im Jahr 2002 und den in dem in

Rede stehenden Verfahren gerügten Entscheidungen bestehe.

105. Der Gerichtshof kann keinen Kausalzusammenhang zwischen dem festgestellten

Verstoß und dem behaupteten materiellen Schaden erkennen und weist diese Forderung

daher zurück.

106. Der Beschwerdeführer machte ferner einen durch den Verlust des Umgangs mit

seinem Sohn verursachten immateriellen Schaden geltend, dessen Bemessung er in das

Ermessen des Gerichtshofs stellte.

107. Die Regierung stellt die Bemessung einer etwaigen Entschädigung für immateriellen

Schaden in das Ermessen des Gerichtshofs.

108. Der Gerichtshof entscheidet nach Billigkeit und spricht dem Beschwerdeführer

hinsichtlich der Verletzung seiner Rechte aus Artikel 8 der Konvention 10.000 Euro für den

immateriellen Schaden zu.

Page 25: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

25

B. Kosten und Auslagen

109. Der Beschwerdeführer machte ferner 18.934,65 Euro nebst Zinsen in Höhe von

3.709,04 Euro für die vor den innerstaatlichen Gerichten entstandenen Kosten und Auslagen

sowie 2.748,42 Euro für Kosten und Auslagen vor dem Gerichtshof geltend.

110. Die Regierung trug vor, dass sich die in Bezug auf das Verfahren vor den

innerstaatlichen Gerichten geltend gemachte Summe zum großen Teil aus Beträgen

zusammensetze, die lange vor den Gerichtsbeschlüssen, die Gegenstand des vorliegenden

Verfahrens gewesen seien, entstanden seien. Die Regierung trug ferner vor, der

Beschwerdeführer habe nicht plausibel dargelegt, welche Kosten ihm tatsächlich entstanden

seien, und er habe auch nicht nachgewiesen, dass er die geltend gemachten Kosten

beglichen habe.

111. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs hat ein Beschwerdeführer nur insoweit

Anspruch auf Ersatz von Kosten und Auslagen, als nachgewiesen wurde, dass diese

tatsächlich und notwendigerweise entstanden sind, um einer Verletzung von

Konventionsrechten abzuhelfen, und wenn sie der Höhe nach angemessen sind. Der

Gerichtshof stellt fest, dass er einen Verstoß gegen Artikel 8 der Konvention in Bezug auf die

Aussetzung des Umgangsrechts und der Verfahrensführung festgestellt hat. Vor diesem

Hintergrund hält es der Gerichtshof für angemessen, 4.000 Euro für Kosten und Auslagen

vor den innerstaatlichen Gerichten und 2.748,42 Euro für das Verfahren vor dem Gerichtshof

zuzusprechen.

C. Verzugszinsen

112. Der Gerichtshof hält es für angemessen, für die Berechnung der Verzugszinsen den

Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank zuzüglich

drei Prozentpunkten zugrunde zu legen.

AUS DIESEN GRÜNDEN ENTSCHEIDET DER GERICHTSHOF EINSTIMMIG:

1. Die Individualbeschwerden werden verbunden;

2. der Beschwerdeführer ist nicht befugt, im Namen von D. zu handeln;

Page 26: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

26

3. die Rügen des Beschwerdeführers nach Artikel 6 (hinsichtlich der Behauptung, dass das

Verfahren vor den Familiengerichten unfair gewesen sei) und Artikel 8 der Konvention

werden für zulässig und die Rügen nach Artikel 6 der Konvention bezüglich der

überlangen Verfahrensdauer sowie die Rüge bezüglich der unterbliebenen Bestellung

eines Verfahrenspflegers für unzulässig erklärt;

4. Artikel 8 der Konvention ist hinsichtlich der Nichtdurchsetzung der Umgangsentscheidung

vom 24. April 2007 nicht verletzt worden;

5. Artikel 8 der Konvention ist in Bezug auf die Entscheidung, den Umgang des

Beschwerdeführers für die Dauer von drei Jahren auszusetzen, und in Bezug auf die

Führung des Umgangsverfahrens nicht verletzt worden;

6. es besteht keine Notwendigkeit, die Rüge bezüglich der Behauptung, dass das Verfahren

vor den Familiengerichten unfair gewesen sei, im Hinblick auf Artikel 6 Abs. 1 der

Konvention zu prüfen;

7.

(a) der beschwerdegegnerische Staat hat dem Beschwerdeführer binnen drei Monaten

nach dem Tag, an dem das Urteil nach Artikel 44 Abs. 2 der Konvention endgültig wird,

folgende Beträge zu zahlen:

(i) 10.000 EUR (zehntausend Euro) für immateriellen Schaden, zuzüglich

gegebenenfalls zu berechnender Steuern;

(ii)  6.748,42 Euro (sechstausendsiebenhundertachtundvierzig Euro und

zweiundvierzig Cent) für Kosten und Auslagen, zuzüglich der dem Beschwerdeführer

gegebenenfalls zu berechnenden Steuern;

(b) nach Ablauf der vorgenannten Frist von drei Monaten fallen für die oben genannten

Beträge bis zur Auszahlung einfache Zinsen in Höhe eines Zinssatzes an, der dem

Spitzenrefinanzierungssatz (marginal lending rate) der Europäischen Zentralbank im

Verzugszeitraum zuzüglich drei Prozentpunkten entspricht;

8. im Übrigen wird die Forderung des Beschwerdeführers nach gerechter Entschädigung

zurückgewiesen.

Page 27: ECHR · Web view1.Der Rechtssache lagen zwei Individualbeschwerden (Nrn. 23280/08 und 2334/10) gegen die Bundesrepublik Deutschland zugrunde, die ein deutscher Staatsangehöriger,

27

Ausgefertigt in Englisch und schriftlich zugestellt am 6. Oktober 2016 nach Artikel 77

Abs. 2 und 3 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs.

Milan Blaško Ganna Yudkivska

Stellvertretender Sektionskanzler Präsidentin