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Ein geheilter Fall yon Polioencephalitis haemorrhagica superior, zugleich als Beitrag zur Symptomatologie dieser Krankheit. (Stiirung der Sprache und Schrift als besondere Form der Adiadokokinesis.) 1) Von Oskar Fischer (Prag). Mit 5 Textfiguren. (Eingegangen am 29. Dezember 1911.) W e r nick e beschrieb unter dem Namen Polioencephalitis haemor- rhagica superior bei 3 Fgllen ein charakteristisehes Krankheitsbild; erst spgter stellte es sich heraus, dab die Krankheit selten vorkommt und iiberdies meistens zum Tode fiihrt. Die Krankheit setzt ohne Fieber mat Benommenheit und deliranter Verwi~theit ein; dazu gesellen sieh Lghmungserscheinungen an den Augenmuskeln meist im Sinne einer mehr oder weinger kompletten Ophthalmoplegia externa; es kommt zu Schwgche der Extremit/~ten, der Gang ist schwankend und taumelnd, die Sprache sehlecht artikuliert und unversti~ndlich. In der bisherigen Literatur sind kaum mehr als 30 F/~l]e erwghnt, beinahe alle betrafen schwere Alkoholiker, und bei den meisten endete die Krankheit mit dem Tode. Alle zur Sektion gelangten Fglle zeigten eine iibereinstimmende Ver- gnderung im Gehirn in Form multipler kleinster Blutungen im Hirn- stamm, die in der Oeulomotoriusgegend am dichtesten liegen. Nach Wernieke und Alzheimer ist der ProzeI~ als eine hgmorrhagische Encephalitis anzusehen, na~ch P. Schroeder 2) sol] es sieh um primiire Hgmorrhagien handeln, um welche die Stiitzsubstanz erst sekundiir wuchert. Jedenfal]s ist die Symptomatologie dieser Erkrankung in erster Linie -- wenn nicht iiberhaupt -- durch die Lokalisation und Verteilung der hgmorrhagischen Herdchen bedingt. Im folgenden sol] auszugsweise die Krankengeschiehte eines FaUes mitgeteilt werden, der in diese Kranldaeitsgruppe eingereiht werden mul~ und maneherlei Besonderheiten aufweist. 1) Nach einem in der ,,Wissenschaftlichen Gesellschaft deutscher Arzte in BShmen" in Prag am 29. November 1911 gehaltenen Vortrage. 2) Nissls histologische und histopathologisehe Arbeiten fiber die Hirnrinde. Bd. 2.

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Ein geheilter Fall yon Polioencephalitis haemorrhagica superior, zugleich als Beitrag zur Symptomatologie dieser Krankheit.

(Stiirung der Sprache und Schrift als besondere Form der Adiadokokinesis.) 1)

Von Oskar Fischer (Prag).

Mit 5 Textfiguren.

(Eingegangen am 29. Dezember 1911.)

W e r n i c k e beschrieb unter dem Namen Polioencephalitis haemor- rhagica superior bei 3 Fgllen ein charakteristisehes Krankheitsbild; erst spgter stellte es sich heraus, dab die Krankheit selten vorkommt und iiberdies meistens zum Tode fiihrt. Die Krankheit setzt ohne Fieber mat Benommenheit und deliranter Verwi~theit ein; dazu gesellen sieh Lghmungserscheinungen an den Augenmuskeln meist im Sinne einer mehr oder weinger kompletten Ophthalmoplegia externa; es kommt zu Schwgche der Extremit/~ten, der Gang ist schwankend und taumelnd, die Sprache sehlecht artikuliert und unversti~ndlich. In der bisherigen Literatur sind kaum mehr als 30 F/~l]e erwghnt, beinahe alle betrafen schwere Alkoholiker, und bei den meisten endete die Krankheit mit dem Tode.

Alle zur Sektion gelangten Fglle zeigten eine iibereinstimmende Ver- gnderung im Gehirn in Form multipler kleinster Blutungen im Hirn- stamm, die in der Oeulomotoriusgegend am dichtesten liegen. Nach W e r n i e k e und A l z h e i m e r ist der ProzeI~ als eine hgmorrhagische Encephalitis anzusehen, na~ch P. S c h r o e d e r 2) sol] es sieh um primiire Hgmorrhagien handeln, um welche die Stiitzsubstanz erst sekundiir wuchert. Jedenfal]s ist die Symptomatologie dieser Erkrankung in erster Linie - - wenn nicht iiberhaupt - - durch die Lokalisation und Verteilung der hgmorrhagischen Herdchen bedingt.

Im folgenden sol] auszugsweise die Krankengeschiehte eines FaUes mitgeteilt werden, der in diese Kranldaeitsgruppe eingereiht werden mul~ und maneherlei Besonderheiten aufweist.

1) Nach einem in der ,,Wissenschaftlichen Gesellschaft deutscher Arzte in BShmen" in Prag am 29. November 1911 gehaltenen Vortrage.

2) Nissls histologische und histopathologisehe Arbeiten fiber die Hirnrinde. Bd. 2.

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476 O. Fischer: Ein geheilter Fall yon Polioencephalitis haemorrhagica superior,

42jahriger C?, Obermeister in einem Walzwerk. Anamnese: Immer gesund gewesen; keine Lues, kein Potus, trank sehr selten

Bier, in der Woche manehmal 2 Glas, am Sonntag in Gesellschaft h6chstens - - und dies auch selten - - 2- -4 Glas; war starker Zigarettenraucher, rauchte bis 30 Zi- garetten taglieh.

Etwa 2 Monate vor der Erkrankung klagte er wiederholt fiber Schwindelgeffihl. Die Krankheit begann am 6. Januar 1911 mit einem ohnmaehtsartigen Zustand; er wurde damn desorientiert, schlief wenig, zeigte eine grol3e, zum Tell delirante Unruhe; zu der Zeit entstand eine komplizierte LS~hmung der Augenmuskeln beider Seiten ; aueh der Gang wurde sehlecht, so dal3 Patient in den letzten Tagen gar nicht mehr gehen konnte.

Der Kranke kam am 16. Januar 1911 in meine Behandlung (Sanatorium Weleslawin). Pat. war damals ganzlich benommen, bag stumpf, verschlafen da; zeitweilig walzte er sich im Bette herum, brummte unverstandlich vor sich.

17. Januar. Hat die ganze Nacht geschlafen; tagsfiber liegt er ruhig da, vollkommen interesselos, meist mit geschlossenen Augen. Erst wenn er ange- sprochen wird, wendet er sieh dem Sprecher zu. Versteht alle Fragen, antwortet auch; die Aussprache des Pat. ist sehr auffallig: er spricht langsam, verwasehen, und zwar derart, dab die ersten Silben der Worte noch ziemlich deutlieh, die sparer folgenden aber hastig und recht undeutlich ausgesproehen werden; bei langer dauerndem Spreehen wird die Sprache unbeholfener und schlie/]lieh vollkommen unverstandhch. Es lagt sieh so viel eruieren, dab er persSnlich vollkommen orien- tiert ist; er well], dab er krank war und sich bereits in einem Krankenhause be- funden hatte, well] auch, dab er sich bier in einem Krankenhause befindet, glaubt abe~, es fehle ibm nichts; er hatte nur Sehwindel gehabt; w a n n e r erkrankt ist, ist ibm auch nieht bekannt.

S t a t u s s o m a t i e u s : Sehr grol3er, kr/~ftiger, gut genahrter Mann, yon sehr starkem Knochen- und Muskelbau ; wenn Patient ruhig liegt, so ist das hnke Auge durch das herabhangende Oberlid voUkommen gesehlossen, wogegen die Stellung des rechten Augenlides ganz normal ist. Wird Pat. zum Fixieren eines Gegen- standes aufgefordert, so hebt sich das linke Oberlid ein wenig; zur vollkommenen Hebung des Oberlides kommt es abet nicht; das linke Auge weicht etwas nach augen ab.

Dabei besteht eine hochgradige StSrung der Beweglichkeit beider Augen; nur die Bewegungen der Augen nach unten sind ungestSrt. Wenn man dem Pat. cines der Augon verdeekt, kann er mit dem anderen Auge fiberhaupt keine andere Bewegung als die Senkung ausffihren. Bei Offenbleiben beider Augen kann er einem nach rechts sich bewegenden Gegenstande mit beiden Augen folgen, aber nur etwa bis zur Halfte der normalen Exkursion, dann bleibt das reehte Auge zurfick und nur das linke bewegt sich welter bis beinahe in die seithche End- stellung. Dem nach links sieh bewegenden Gegenstand folgt nur das linke Auge, aber nut etwa bis zur halben Exkursion unter sehr grobem Zittern; das rechte Auge bleibt dabei in der Mittellinie. Wenn man aber vom Pat. einen festen Punkt fixieren bast und dessen Kopf dann passiv naeh rechts oder links wendet (Untersuchungsmethode yon B i e l s c h o w s k y ) , dann gelangen beide Augen beinahe in 'Endstelhmg. Eine Konvergenzbewegung der Bulbi ist nicht zu erzielen.

Die Pupillen sind vollkommen normal, yon prompter Lichtreaktion, der Augenhintergrund normal.

Der AugenschluB vollzieht sich normal. Die hnke Nas01abialfalte ist etwas in die HShe gezogen, die reehte steiler

und seichter; bei jeglieher wiltkfirlieher Innerwt ion - - aueh v o n d e r gerings~en

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zugieich als Beitrag zur Symptomatologie dieser Kraakheit. 477

Intensit/it - - gleicht sich die Differenz sofort aus; die Zunge weieht eine Spur nach rechts ab.

Sonst sind keinerlei Paresen, auch keine grSbere Sensibilit/s (wegen der Stumpfheit des Pat. eine genauere Untersuehung nieht durchfiihrbar). Es ist aueh keine Ataxie vorhanden, der Kniehackenversueh gelingt, trotzdem Pat, sehr stumpf ist, beinahe tadellos. Pat. kann sieh ohne Unterstiitzung nicht einma! aufsetzen; wenn er dies versucht, so kommt es nur zu einem Anziehen der Beine, der Rumpf bleibt aber liegen (Asynergie eerebelleuse B a b i ns ki); wird der Kranke aufgesetzt, so empfindet er sofort Schwindel, der sich wesentlich beim Aufstellen verst/~rkt. Er kann ohne Unterstiitzung weder gehen noch stehen, er sehwankt, so dab er sofort umzufallen droht. Wenn er yon beiden Seiten gehalten wird und zu gehen versucht, so sieht man die Beine sich hSehst unsicher und unregelm~Big bewegen, sie werden ungeschiekt ausfahrend aufgesetzt und iiberkreuzen sieh h~ufig - - dabei neigt sich der Pat. immer nach der linken Seite. Wenn er sieh setzen

Fig. 1. Erste Schriftprobe. Kleines Abc.

soll, so f/illt er plump mit dem ganzen Gewicht in den Sessel; wenn er aber sitzt, so kann er mit den Beinen alle Bewegungen machen; dabei sind die Bewegungen kr/~ftig, nicht ausfahrend (cerebellare Abasie und Astasie). Die Sehnenreflexe normal, beim Bestreichen der FuBsohle kein B a b i n s ki. H a m normal; Wasser- mann im Blute negativ.

20. Januar. Pat. wurde allm/~hlich klarer; heute ist er bemits vollkommen orientiert; wenn er von seiner Krankheit spricht, wird er immer weinerlieh und kommt in ein explosives Weinen, das er schwer unterdriicken kann.

Die Sprache ist etwas verlangsamt und verwaschen. Die n~here Priifung er- gibt, dab Pat. die einzelnen Laute ganz kr/iftig und korrekt aussprechen kann, ebenso ist aueh die Aussprache einzelner auch schwieriger Silben ganz korrekt. Wie er aber ein mehrsilbiges Wort ausspreehen soll, wird die Aussprache zuerst verlangsamt, er versucht dann siehtlich das Sprachtempo zu beschleunigen, wobei die einzelnen Laute und Silben ohne scharfe Abgrenzung ineinanderflieBen. Ein Stoeken oder Tremolieren kommt nicht vor. Beim Beobachten des Kranken hat man den Eindruck, dab ihm beim Sprechen gerade der schnelle Ubergang einer Mundstellnng in die andere Sehwierigkeiten verursaeht,

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Die Zungen-, Gaumen- und Gesichtsmuskulatur wird ganz normal innerviert, zeigt keinen Tremor, kein Flimmern.

Der elektrische Status ergibt normale VerhMtnisse. 23. Januar. Pat. ist jetzt noch viel fi-eier, eine genauere kBrperliche Unter-

suehung dadurch erleichtert; es ergibt sich keine wesentliche Verinderung gegen- fiber friiher, man kann auch jede StBrung des Lagegefiihls ausschlieBen, Stereo- gnose und SensibilitEt sind vollkommen normal. Bei feineren Bewegungen der I1Ende und Finger zeigt sich eine Unsicherheit, indem die :Bewegungen langsam, steif und manchmal ausfahrend werden; besonders deutlieh tritt dies hervor,

Fig. 2. Erste Schriftprobe; Ziffern, die absichtlich groB geschrieben werden sollten.

wenn man schnell hintereinandergehende Bewegungen des Oberarmes, Unter- armes, der H~,nde oder Finger verlangt (Adiadokokinesis). Pat. merkt diese StS- rung selbst und sagt, er babe dabei das Geffihl wie wenn er gegen einen elastisehen Widerstand ankimpfen miiBte, so steif seien die Extremit~ten. Dabei besteht aber keine Spur einer Verminderung der Kraft der Muskeln, auch keine Spur yon Hypertonie oder Hypotonie.

Die Schrift ist hochgradig gestSrt; er kann kaum die einzelnen Schriftzeichen zusammenbringen; kleine Schriftzeichen iiberhaupt nicht (Fig. 1), grSBere sehr ungeschickt (Fig. 2), wobei er langsam, wie malend, die Linien zieht; auch hat er

Fig. 3. Versuch des Patienten bei a) eine gerade Linie, bei b) eine wellenfSrmige Linle zu ziehen.

das Geffihl des elastisehen Widerstandes. Das Nachzeiehnen geht*ebenfalls schlecht ; gerade Linien bringt er ganz gut zustande, bei welligen Linien tritt die StSrung sehr deutlich und prompt hervor (Fig. 3). (Pat. war frfiher guter Zeichner.)

Das Lesen yon Druck und Schrift ist ungestSrt, die SprachstSrung dabei etwas weniger stockend als beim Spontanspreehen.

An den Augen heute insofern eine Besserung, als er den Bliek zur H~lfte der normalen Exkursion heben kann. Doppelbilder in allen Stellungen.

29. Januar. Beginn einer Schmierkur.

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15. Februar. Die Augenst6rung bessert sich: Er kann den Brick vollkommen heben, die Abduktion wird ausgiebiger, die Interni sind aber immer noch un- beweglich, bei Seitw~rtsbewegungen starker horizontaler Nystagmus. Pat. kann sich schon selbst aufsetzen, kann sich schon yore Rande des Bettes erheben, hat im Sitzen einen geringeren Schwindel; im Stehen ist der Schwindel noch sehr qu~lend; er kann schon selbst stehen, schwankt dabei, f~llt aber nicht urn; der Gang nur mit Unterstfitzung m6glich, weniger ataktisch.

25. Februar. Die St5rung der Augen wieder insofern gebessert, als sich jetzt die Interni sowohl im Sinne der Konvergenz als anch der Seitw~rtsbewegungen, obzwar nur in kurzen Exkursionen, aktionsf~hig erweisen. Das Zwangsweinen sehr deutlich ausgesprochen und quilt den Kranken sehr.

3. M~rz. Es f~llt jetzt eine Differenz in der Aktionsf~higkeit der rechten und linken Seite auf. Pat. fiihlt n~m]ich selbst seine rinke' Seite viel geschickter als die rechte, obzwar er immer Rechtser war.

Rechts wie links ist die motorische Kraft ungest6rt. Mit der linken Hand kann Pat. feinere Bewegungen bereits ganz prompt ausffihren, die Adiadokokinesis ist links beinahe ganz geschwunden, wogegen die feineren Bewegungen der rechten Hand und deren Finger sich kaum gegenfiber frfiher ge~ndert haben. Das- selbe gilt aber auch ffir die Beine; mit dem ]inken Bein kann Pat. schnellere, kompliziertere Bewegungen, auch in rascher Wiederholung ganz prompt aus- ffihren, rechts sind dieselben verlangsamt und steif wie fl'fiher. Ebenso merkt Pat. auch bei willkiirlichen Verziehungen der Gesichtsmuskulatur, dal~ die rinke Gesichtsh~lfte viel besser und prompter folgt als die rechte. Schnelles sich wieder- holendes Heben und Senken des Mundwinkels gelingt reehts viel schlechter als links. Die seitliche Beweglichkeit der Zunge zeigt keine Differenz. Die Sprache und Schrift noch in gleicher Weise gestSrt.

Beim Durchspfilen der Ohren mit kilhlem Wasser naeh B ~ r g n y entstebt keine Verst~rkung des Nystagmus.

22. April. Durchfiihrung yon 6 Schmiertouren mit zeitweise eingeschalteter Jodmedikation. Pat. kann schon gehen, wenn auch nur mit Stock, klagt aber immer fiber Sch~indel, der zum Tell auch yon den Doppelbildern herrtihrt; der Gang ~hnelt dem eines Betrunkenen.

Jetzt kann Pat. mit den Augen schon alle Bewegungen ausfiihren; die Augen folgen bis in die ~uBersten Stellungen, nur die Interni bleiben bei Seitw~rtswendung noch immer etwas zurfick. Dabei kommt es jetzt immer zu feinschliigigem Ny- stagmus, der die Richtung der gerade durchgeffihrten Bewegungen einh~lt. HShen- differente, schiefstehende, gekreuzte Doppelbilder.

Beim Durchspfilen der Ohren mit kfihlemWasser verst~rkt sich der Nystag- nms wesentrich.

Die Schrift und Sprache besserte sich allm:~hlich (Fig. 4). 24. Marl Besserung im Fortschreit~n; Augenbeweglichkeit und Doppelbilder

unver~ndert; Pat. kann schon ohne Unterstfitzung gehen, Schwindelgefiihl ge- ringer, keine Differenz der Beweglichkeit der Arme und der Beine; die Adia- dokokinesis vollkommen geschwunden, nur das rechte Bein ermfidet etwas leichter als das linke. Das Schreiben wesentlich besser, die Sprache ganz ungest5rt, doch hat Pat. - - rein subjektiv - - noch das Gefiihl einer Erschwerung der Aus- sprache.

Nach Entlassung aus dem Sanatorium machte Pat. noch eine Kur in Bad Hall durch. Jetzt (29. November 1911) hat sich der Zustand noch wesentrich gebessert. Die Motiliti~tsstSrung ist ganz geschwunden, die Schrift ist beinahe so wie vor der Erkrankung (Fig. 5), die Aussprache ganz normal; Pat. hat auch nicht mehr das Geffihl des Widerstandes beim Sprechen; aber eine Differenz gegeniiber friiher

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. O. VIII. 32

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besteht dennoch, vor der Erkran- kung konnte er ,,von selbst sprechen, jetzt muI3 er darauf acht geben", ein ~hnliches Geffihl habe er auch beim Schreiben und Gehen.

Doppelbilder bestehen noch, sind aber auf Grund des bereits er- lernten Exkludierens .nicht mehr stSrend.

Status der Augenmuskeln: Rechtes Auge: Steht leicht

divergent. Die Abduktion erfolgt so weit,

dab der Eu~ere ttomhautrand vom EuBeren Lidwinkel 1 mm entfernt bleibt, bei Adduktion erreicht der innere Hornhautrand die Tr~nen- punktlinie.

L inkes Auge: Bei Abduktion bleibt der ~uBere Hornhautrand 2 mm vom Lidwinkel entfernt, bei Adduktion geht der innere Hom- hautrand 1 mm fiber die Tr~nen- punktlinie.

Wenn Pat. fixiert und sein Kopf dabei passiv gewendet wird, so er- reichen die Augen racist die normale Entstellnng.

Der Blick nach unten ist ganz normal, bei der Bliekhebung bleiben beide Augen eine Spur zurfick.

Die gekreuzten Doppelbilder sind derart, da6 sic fiir eine leichte Pa- rese des Musculus obliquus inferior und rectus inferior der rechten Seite sprechen.

Bei Konvergenz bleibt das rechte Auge )ram, das linke 2 mm vor der Trgnenpunktlinie stehen.

Die Beur te i lung der kl ini-

sehen Stel lung unseres Falles ist n icht leicht. I n erster Linie

ist zu betonen, dab sich auch bier

die Grundsymptome der Polio-

encephali t is haemorrhagica supe-

rior : Ophthalmoplegie , Kle in- h i rna taxie u n d Delir ien ent -

wickelt haben. W e n n auch der Ausgang in Genesung bei der W e r n i e k e s e h e n E r k r a n k u n g

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(besonders bei den schwereren F~llen) zu den Ausnahmen gehSrt, so ist dies differentialdiagnostiseh bedeutungslos; als anatomisehes Substrat der Erkrankung kann in unserem Falle auch kaum etwas anderes als mehrfaehe ldeinste Destruktionsherde in der Oculomotoriusgegend angenommen werden; da die Krankheit beinahe restlos abheflte, sind ldeinste Blutungen am wahrseheinliehsten. Also aueh darin finden wir eine Ubereinstimmung. Nur in der Atiologie finder sieh eine weitgehende Differenz, denn die Werniekesehe Polioencephalitis haemorrhagica betrifft wohl ausnahmslos sehwere Alkoholiker, in unserem Falle ist aber Alkoholismus ganz ausgesehlossen. Es fehlten auch sonst alle als eventuelle s Momente anzusehenden Faktoren. Die Atio-

Fig. 5. Schriftprobe veto 20. November 1911.

logie bleibt unklarl). Wenn ich aber den Fall dennoch znr Polio- encephalitis haemorrhagica superior W e r n i c k e rechne, so tue ich dies trotz der s Differenzen nur wegen der so vollkommen iibereinstimmenden Symptomatologie.

Bei dieser t~bereinstimmung diirfte auch eine s Lokalisation der Hs anzunehmen sein wie in den anderen obduzierten Fs

Die Ophthalmoplegie wird also in unserem Falle auch bedingt ge- wesen sein durch Herde in der Kernregion des Oculomotorius und die St6rung der Lokomotion, eine typische Kleinhirnataxie, durch Herd- chen in den Bindearmen, wie dies z. B. auch der Sehroedersche 2) Fall erwiesen hat.

1) Trotz der Jodquecksilberkur; dieselbe mul~te ja in einem solchen Falle durchgefiihrt werden, der Erfolg derselben ist aber in keiner Weise als ein Beweis fiir die luetische Ursache der Erkrankung anzusehen.

2) 1. c.

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Zeichen fiir eine Lasion der Pyramidenbahn fehlten vollends. Die auf eine Kleinhirnst6rung zu beziehenden Symptome waren der

Schwindel, die typische Astasie und Abasie Und die susgesproehene Adiadokokinesis. Dsbei waren such die feineren Bewegungen nsment- lieh der Hande erschwert, ohne dab - - was ich wieder betonen m6chte - - auch ein einziges Symptom fiir eine Mitbeteiligung der Pyramidenb~hn oder eine Erkrankung des GroBhirns gesprochen h~tte. Die Erkrankung der Bindearme war doppelseitig, doch muB sic suf der einen Seite in- tensiver gewesen sein, ds die Motilit~tsst6rung der linken Extremitaten friiher verschwsnd. Dsbei ist aber eines besonderen Symptomes zu gedenken; - - nachdem in der l~ekonvaleszenz die linke Seite bereits eine normale Motilit~t erlsngt hatte und dem Pstienten st/s eine Kontrolle zur Verfiigung stand, merkte er - - wss such objektiv nach- weisbar war - - dab nieht nur die rechten Extremit~ten, sondern such die reehte Gesichtsh~lfte langsamer der willkfirlichen Innervation folgten. Eine derartige A b h ~ n g i g k e i t de r G e s i e h t s m u s k u l s t u r y o n d e r K l e i n h i - r n t a t i g k e i t g a n z im S i n n e d e r A d i a d o k o k i - nes i s ist in der Literatur meines Wissens nicht erwahnt.

Aul3er den genannten Motilit~tsst6rungen war in unserem Fslle such eine ganz e i g e n t f i m l i c h e V e r / ~ n d e r u n g d e r S p r a e h e vor- hsnden, d ie s ich y o n d e n g e w S h n t i e h e n S p r s c h s t S r u n g e n w e s e n t l i e h u n t e r s c h i e d .

Beinshe in allen Fallen von Polioencephalitis haemorrhagics wird von einer StSrung der Sprache, die als lsllend und schwer verstandlich bezeichnet wird, gesprochen, ohne dab sber die Frsge nsch der Pstho- genese derselben beriihrt wurde. Man ware geneigt, die SpraehstSrung bei diesen Fallen, bei denen multiple Blutungen in der Nahe der die Sprachmuskeln innervierenden Zellgruppen anzunehmen sind, mit einer Affektion dieser Zellgruppen zu erklaren. Wir hs t ten nun in unserem Falle Gelegenheit, die SprachstSrung durch die lsnge Zeit der Rekonvaleszenz zu beobaehten, und es zeigte sich hiebei, dsB d s s C h s r a k t e r i s t i s c h e de r S t S r u n g d s r i n b e s t s n d , d a$ d ie s c h n e l l e u n d a b w e e h s e l n d e B e w e g u n g d e r e i n z e l n e n S p r s c h - m u s k e l n u n d d s s g e o r d n e t e Z u s a m m e n w i r k e n ( D i a d o k o - k ines i s ) in i h r e m A b l s u f g e h e m m t w a r e n . Eine Khnliche St6- rung zeigt sich aber auch in der gesamten K6rpermuskulatur in Form der Adiadokokinesis B a b i n s k i s . Diese ist ein ausgesprochenes Kleinhirnsymptom und deshslb miissen wir such d ie S p r s c h s t S r u n g als e i n e F o l g e d e r S t S r u n g d e r K l e i n h i r n f u n k t i o n snsehen. Uber St6rungen der Sprsche infolge von Kleinhirnerkrankungen finden sich aber in der Literatur recht wenige Angaben. Wiederholt wird von Kleinhirnerkrsnkungen, besonders strophiseher Art, beriehtet, in deren Ver]suf es zu einer Verlangsamung und Verschlechterung der

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Sprache kam, von manchen wurde auch die SprachstOrung als eine Art yon Kleinhirnataxie erkliirt [MenzeP) , ThomasZ) , Swi ta I sk i3 ) , S t r s Mit besonderem Nachdruck hat erst B o n h o e f f e r 5) auf die cerebellare SprachstSrung hingewiesen, zu deren Studium ihm ein Fall mit einem postoperativen Kleinhirndefekt Gelegenheit geboten hat. Die Sprache war verlangsamt und besonders ungeschickt, wenn es zu schnellerem Sprechen kam, es war, wie sich Bo n h o e f f e r ausdrfickt, ,,die Spraehgeschwindigkeit herabgesetzt, und zwar liegt das offenbar daran, dag der Ubergang von einer Mundstellung zur anderen, wie ihn das fortfahrende Sprechen erfordert, dem Kranken Mfihe macht" ; B o n h o e f f e r fas t diese St6rung als eine Art yon Adiadokokinesis auf, die aber in seinem Falle gefehlt hatte. Weiter beschrieb L i e b s c h e r 6) einen Fall yon Kleinhirntumor, bei dem such eine iihnliche StSrung der Sprache beobachtet wurde.

Bei einer Motalits yon der Art der Kleinhirnataxie und Adiadokokinesis sollte man nun von von~herein such eine Beeintr/~eh- tigung der Schrift erwarten, da doeh die Schrift das Resultat feinst koordinierter und genau modulierter Bewegungen ist. Diese Prage wurde abet meines Wissens in der Literatur noeh nieht erwi~hnt und aueh in der allerneuesten Bearbeitung der Kleinhirnerkrankungen von M i n g a z z i n i (Ergebnisse der Neurol. u. Psych. 1. 1911) wird nut yon einer St6rung der Sehrift als Folge eines bei Kleinhirngeschwiilsten vorkommenden groben Tremors gesproehen. In unserem Falle fehlte aber der Tremor und die S c h r e i b s t S r u n g hat te einen g a n z be- s o n d e r e n C h a r a k t e r : G r o g e B u e h s t a b e n k o n n t e P a t i e n t r e e h t g u t s e h r e i b e n , bei k l e i n e n B u c h s t a b e n , b e s o n d e r s a b e t w e n n er s e h n e l l s e h r e i b e n s o l l t e , w u r d e d ie S c h r i f t u n - l e s e r l i e h , b e i n a h e wie d ie e i n e s v o l l k o m m e n A g r a p h i s c h e n . Besonders instruktiv zeigt sich die Art der St6rung in Fig. 3; hier beweist gerade die miggliiekte Wellenlinie, daS die S c h r i f t s t S r u n g als e i n e U n t e r a r t d e r e e r e b e l l a r e n A d i a d o k o k i n e s i s a u f - z u f a s s e n ist .

Ein absolut zwingender Beweis fiir die Richtigkeit der bier ge- gebenen Auffassung der Pathogenese der genannten St6rungen kann, da es zur Sektion nicht kam, natiirlieh such nicht gegeben werden; als ein wesentliehes und nicht zu unterschs Beweismoment m6chte ieh aber noch erw~ihnen, dab sieh die Kleinhirnataxie und die Sprach- und Schriftst6rung in ziemlieh gleiehem Tempo zuriiekgebildet haben.

1) Archly f. Psych. ~2. 2) Le cervelet, 6rude anatomique, elinique et physiologique. Paris 1897. 3) Nouvelle Ieonographie de la Salp~tribre, T. 14. 4) Jahrb. f. Psych. u. Nenrol. 2~'. 5) Monatsschr. f. Psych. u. Neurol. 24. 8) Wiener reed. Wochensehr.. 1910, Nr. 8.