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Ein Hörspiel von René Klammer. Illustriert von Larysa Golik. www.eingeklammert.de (c) 2004. Alle Rechte vorbehalten.

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Ein Hörspiel von René Klammer.

Illustriert von Larysa Golik.

www.eingeklammert.de

(c) 2004. Alle Rechte vorbehalten.

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(Ein fiktives Gespräch aus der

Telefontalkshow „Domian” bildet

die Rahmenhandlung für die Ge-

schichte von Egbert und Alina.)

Domian: Ihr Lieben, da draußen

vor den Radiogeräten! Schön, daß

ihr eingeschaltet habt. Willkommen

bei „Eins Live”, willkommen zur

Telefontalkshow „Domian”. Heute

ist Freitag, wir haben kein festes

Thema – das heißt, ihr könnt anru-

fen und mit mir über alles spre-

chen, was euch bewegt. Die erste

Anruferin ist... Gerda ... und Gerda

ist 35 Jahre alt. Guten Morgen,

Gerda.

Gerda: (mit viel Elan) Gut? Also,

gut ist an diesem Morgen bestimmt

nichts.

Domian: Was ist los?

Gerda: Ich glaube, mein Bruder

ist verrückt geworden. Und mit

„verrückt” meine ich: total durch-

geknallt!

Domian: Wieso glaubst du das?

Was ist passiert?

Gerda: Hach, wo soll ich anfan-

gen? Also, der Elfenspiegel blüht

nur einmal im Jahr...

Domian: Moment! Was ist ein...

Elfenspiegel?

Gerda: Eine Wüstenpflanze. Ich

muß dazu sagen: Mein Bruder ist

Gärtner und er...

Domian: Die heißt wirklich Elfen-

spiegel? Hab ich noch nie gehört.

Was für ein wunderbarer Name für

eine Pflanze!

Gerda: Dieser wunderbare Name

zerfällt gleich in seine Buchstaben

und fügt sich nie mehr zusammen,

wenn du mich nicht ausreden läßt!

Ich bin sowieso schon so nervös!

Domian: Dazu besteht überhaupt

kein Grund. Wir...

Gerda: Jedenfalls hat dieses Ge-

wächs ausgerechnet in der Nacht

geblüht, als der Zirkus in der Stadt

war.

SZENE EINS

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Domian: Aha. (Stille) Und... was

hat das mit deinem Bruder zu tun?

Gerda: Mein Bruder ist in der Zir-

kusvorstellung gewesen. Und weißt

du, was er mir am nächsten Mor-

gen erzählt hat? Da wäre eine Frau

mit Flügeln gewesen.

Domian: (überrascht) Mit Flü-

geln?

Gerda: Sie ist... aus dem Zelt ge-

flattert, mitten in der Ballett-

nummer, einfach so. Hat er gesagt.

Domian: Also, ich fasse mal zu-

sammen: Dein Bruder ist in den

Zirkus gegangen, und in der Vor-

stellung gab’s eine Ballett-

nummer...?

Gerda: (ungeduldig) Jaaa.

Domian: Und in dieser Ballett-

nummer ist eine Frau aufgetreten,

die Flügel auf dem Rücken hatte?

Gerda: Richtig, Domian.

Domian: Nun kann ich daran

noch nichts Ungewöhnliches fin-

den. Beim Zirkus wird ja viel mit

Illusionen gearbeitet. Ist doch mög-

lich, daß dein Bruder da in der Vor-

stellung eine Frau mit Flügeln gese-

hen hat. Deswegen denkst du, er ist

verrückt geworden?

Gerda: Ich bin ja noch nicht fer-

tig! Egbert war...

Domian: Egbert ist dein Bruder?

Gerda: Hm?

Domian: Egbert ist...

Gerda: Jaaa, sicher! Er war ganz

jeck an diesem Morgen, zuerst we-

gen der Sache mit dem Elfen-

spiegel, der ja nur einmal im Jahr

blüht – und dann beim Frühstück

hat er die ganze Zeit von... von ei-

nem Zeichen gefaselt, von einer

(spöttisch) wunderbaren Verände-

rung, die uns bevorsteht.

Domian: Ist dein Bruder ein reli-

giöser Mensch?

Gerda: Religiös – der? Der glaubt

nur an seine Pflanzen.

Domian: Es wäre doch möglich,

daß...

Gerda: Laß mich bitte erstmal zu

Ende erzählen!

Domian: Bitte.

Gerda: Egbert ist also nochmal

hingegangen.

Domian: In den Zirkus?

Gerda: Richtig, Domian.

Domian: Wann?

Gerda: Am nächsten Morgen. Das

war – letzten Dienstag war das. Die

Zirkusleute wollten an diesem Tag

schon weiterziehen und Egbert

meinte...

Domian: Wollte er die Frau mit

den Flügeln treffen?

Gerda: Ich hab zu ihm gesagt, er

soll sich nicht lächerlich machen.

Die Flügel sind bloß ein Requisit,

eine Attrappe, hab ich zu ihm ge-

sagt.

Domian: Was soll es sonst sein.

Gerda: Er meinte, er wollte ja nur

beim Abbau zusehen.

Domian: Aha. Nun mach’s mal

nicht so spannend. Was ist aus der

Geschichte geworden?

Gerda: Am besten ist, ich erzähl

dir mal genau, was er mir erzählt

hat. Dann kannst du dir selbst ein

Bild davon machen, wer von uns

beiden nun verrückt ist...

Domian: Ich höre...

Gerda: Egbert ist also nach dem

Frühstück aus dem Haus gegan-

gen.

Domian: Am Dienstag morgen,

vor vier Tagen...

Gerda: Richtig, Domian. Er hat

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noch ein paar Geranien

eingetopft...

Domian: Erzähl’s mal nicht ganz

so detailliert.

Gerda: ...und dann ist er auf den

Platz gegangen, wo das Zirkuszelt

stand. Hat sich da zwischen den

Wohnwagen rumgetrieben. Und

schließlich hat er diese Flügel-Frau

gesehen. Er hat sie angesprochen,

obwohl er eigentlich ziemlich

schüchtern ist. Sie haben sich un-

terhalten, die beiden... (Fade-Out,

Überblendung zu Szene 2)

SZENE ZWEI

Egbert: (nervös) Hallo. (Pause)

Alina: Wollen Sie irgendwas?

Kann ich Ihnen helfen?

Egbert: Ist ja... inzwischen fast

alles verpackt und verladen...

Alina: Natürlich – morgen abend

treten wir schon in einer anderen

Stadt auf. Weiß jetzt nicht, wo. Fra-

gen Sie mal... mm... Konstantin.

Das ist der da hinten, der die grüne

Plane zusammenlegt. Der hat be-

stimmt ein Tournee-Programm.

Egbert: Von dem Zelt wird man

nur noch den Fleck sehen... den...

den braunen Fleck auf der Wiese,

meine ich... Und Ihr bunter Heiß-

luftballon wird auch weitergeflogen

sein.

Alina: (gähnt ) Ah, ich mag diese

Tageszeit gar nicht. Es ist kalt und

feucht, man sitzt hier im Gras, die

Wagen werden beladen... und kei-

ner spricht.

Egbert: Ich hab die Vorstellung

gesehen. Gestern abend. Ich fand

das toll, wie Sie das gemacht haben.

Wie Sie... mitten in dem Ballett...

einfach davongeschwebt sind... Das

war wunderbar.

Alina: (eher gelangweilt) Danke.

(Alina flattert erschrocken und

schlägt Egbert auf die Finger.) He!

Egbert: Das sind wirklich echte

Federn!

Alina: (verärgert) Wer sind Sie

überhaupt?

Egbert: Egbert heiß ich. Ich bin

Gärtner. Ich – ich hab da ein paar

Gewächshäuser. Oben, auf dem

Hügel. Sehen Sie?

Alina: Und! Was wollen Sie... Eg-

bert?

Egbert: Nichts. Bloß... Ich...

Alina: Sie, das hab ich nicht gern,

wenn man mich so überrumpelt.

Ich bin erst vor zehn Minuten auf-

gestanden, ich sehe aus wie ein

gerupftes Huhn.

Egbert: Nein, überhaupt nicht...

Ich finde...

Alina: Meine Federn sind noch

ganz verknickt – vom Liegen. Sie

hätten sich anmelden sollen. Dann

hätte ich mir einen Pullover über-

gezogen. Das mache ich sowieso

immer, wenn ich weiß, daß Fremde

kommen.

Egbert: Wieso das denn?

Alina: Na, um die Flügel zu ver-

stecken. Hab dann zwar einen klei-

nen Buckel, aber das macht nichts.

Wenigstens werde ich nicht ange-

starrt und ausgefragt.

Egbert: Also sind die Flügel...

echt?

Alina: Und ob! Wissen Sie, was das

juckt – und kratzt – und zwickt?

Immer die ganzen Federn auf dem

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Rücken? Wenn ich ausgehe, steck

ich sie mit einem Einweckglas-

gummi zusammen. Das ist eine

Tortur – noch viel schlimmer, als

wenn man sich die Haare zusam-

menbindet.

Egbert: Ja, das kann ich mir vor-

stellen.

Alina: (lacht) Ach – Sie mit Ihrem

Bürstenhaarschnitt!

Egbert: Na ja, ich...

Alina: Ich weiß immer noch nicht,

was Sie eigentlich wollen. Wollten

Sie was von mir?

Egbert: Ich.... Nein. Ach was. Ne,

ne.

Stimme: (flüsternd) Sei vorsichtig,

Alina. Der führt etwas im Schilde.

Egbert: Was war das denn?

Alina: Meine innere Stimme.

Egbert: Ihre innere Stimme?

Alina: Haben Sie keine innere

Stimme? Einen Mann im Ohr?

Egbert: Schon, aber den hört man

nicht.

Alina: Zuerst dachte ich, es wäre

Tinnitus – aber der Ohrenarzt er-

klärte mir, daß Tinnitus nicht redet.

Stimme: Sie droht immer, daß sie

Ohropax benutzt, wenn ich sie

nicht schlafen lasse. Als ob sie mich

damit stoppen könnte! (Kichern)

Egbert: Sie – mit Ihnen stimmt

wirklich was nicht. Erst diese Flügel

und jetzt...

Alina: (ungeduldig) Was ist mit

den Flügeln?

Egbert: Ich kann das einfach

nicht fassen. Menschen mit Flügen

gibt es nicht. Das... das weiß doch

jeder... Eigentlich.

Alina: (demonstratives Flattern)

Und was ist das hier? (Das Flattern

hört auf, Alina fährt wichtigtue-

risch fort:) Angesehene Ärzte ha-

ben mich untersucht!

Egbert: Aha! (neugierig) Und?

Alina: Es ist ein Fehler an meiner

Wirbelsäule. Deswegen darf ich

auch nicht schwer heben. Man

dachte zuerst, es wäre ein Tumor,

aber dann sind die Flügel raus-

gewachsen.

Egbert: Sagen sie... Sind Sie nicht

eigentlich zu schwer zum Fliegen?

Ich meine, als Mensch ist man ja

vom Körperbau her gar nicht zum

Fliegen geeignet, oder?

Alina: (ungeduldig) Sie waren

doch dabei, gestern in der Vorstel-

lung. (jetzt wieder sachlich) Über

kurze Strecken geht das ganz gut.

Am besten fliegt es sich draußen,

bei Wind.

Egbert: Hatten Sie das als Kind

schon?

Stimme: Als Kind – wie meint er

das?

Alina: (irritiert) Wie meinen Sie

das?

Egbert: Sind Sie damit auf die

Welt gekommen? Oder sind Ihnen

die Flügel erst gewachsen, als Sie

größer wurden?

Alina: Ach sooo, das meinen Sie.

(geheimnisvoll) Nein, bei mir geht

das andersrum.

Egbert: Andersrum? Ja, wie?

Stimme: Du mußt ihm das erklä-

ren...

Alina: Meine Entwicklung verläuft

andersrum. Ich bin schon alt gewe-

sen – jetzt werd ich immer jünger.

Egbert: Immer jünger. (Pause)

Also, das ist jetzt... ein bißchen viel

für mich. Was wollen Sie mir noch

erzählen? Erst... erst die Flügel,

dann... dann... dann dieser Mann

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im Ohr, und jetzt noch...

Alina (trotzig): Wenn’s aber doch

wahr ist.

Egbert (aufgeregt): Na-natürlich

ist das wahr. Warum sollte man

das anzweifeln.

Alina: Eben.

Egbert: Sie waren also schon alt

und... und werden immer jünger?

Stimme: Mein Gott, jetzt hat er’s!

Egbert (überlegt): Dann wird Ihr

Leben... in einem Orgasmus en-

den...

Alina: Wenn Sie das unbedingt

darauf reduzieren müssen.

Egbert: Öhm... Es... Es gibt übri-

gens... eine Pflanze, die sich auch...

ähm... rückwärts entwickelt. Ge-

nau wie Sie.

Alina: Schmu! Das haben Sie jetzt

erfunden.

Egbert: Nein.

Alina: Und ob!

Egbert: Es gibt so eine Pflanze.

Alina: Davon hab ich noch nie ge-

hört!

Egbert: Man findet sie auch nur

sehr selten. Aus Chile kommt sie.

Hab den Namen vergessen. Jeden-

falls ist die zuerst völlig verwelkt,

dann werden die Triebe immer zar-

ter, die Blätter kleiner – bis der Bo-

den sie schließlich aufsaugt. (macht

ein schlürfendes Geräusch)

Alina: Sie nehmen mich auf den

Arm.

Egbert: Wenn Sie mir nicht glau-

ben, kann ich ja wieder gehen.

Alina: Von mir aus.

Egbert: Ich wollt ja ohnehin nur...

Alina: Richtig, was wollten Sie

überhaupt...?

Egbert: Ach, nichts.

Alina: Egbert... Ich wollte Sie nicht

kränken – ich glaube Ihnen das

schon, wenn sie’s sagen. Von Blu-

men verstehen Sie schließlich mehr

als ich.

Egbert: Und ich glaube Ihnen ja

auch, daß die Flügel auf Ihrem

Rücken wirklich echt sind.

Alina: Eben.

Egbert: Nein.

Alina: Was nein?

Egbert: Eigentlich glaube ich’s

nicht. Fliegende Menschen – so et-

was gibt es einfach nicht.

Stimme: (spitz) Nicht nur be-

schränkt, sondern auch noch miß-

trauisch.

Egbert: (aufgebracht) Und sagen

Sie ihrem Mann im Ohr mal, er soll

seine Zunge hüten.

Alina: Entschuldigung, dafür kann

ich nichts.

Egbert: Darf ich nochmal fühlen?

Die Flügel?

Alina: Nein, da fingert mir keiner

dran rum.

Egbert: (herausfordernd) Da-

durch, daß Sie sich so zieren, verra-

ten Sie sich. Die sind nicht gewach-

sen, sondern... sondern aufgeklebt!

Wenn Sie in der Vorstellung durch

das Zelt schweben, hängen Sie an

Seilen. Ja.

Alina: (empört) An Seilen?

Egbert: Ganz bestimmt.

Alina: Ich bin also eine Schwindle-

rin?

Egbert: Ich will’s ja gerne glau-

ben, aber...

Alina (warnend): Sie begeben sich

auf ein sehr schmales Brett!

Egbert: Sie haben mich mißtrau-

isch gemacht.

Alina: Egbert, Sie spazieren gerade

mit verbundenen Augen über ein

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Hochseil.

Egbert: Eine innere Stimme,

Rückwärts-Entwicklung... Wer soll

Ihnen sowas abnehmen?

Alina: Ohne Netz und doppelten

Boden, in zehn Metern Höhe!

Egbert: Sie haben eine blühende

Phantasie, das ist alles.

Alina: Jetzt reicht’s! (resolut) Los,

Egbert, rücken Sie näher. Geben Sie

mir Ihre Hand!

Stimme: Alina... was tust du?

Egbert (erschrocken): Meine

Hand?!

Alina: Na los! Zieren Sie sich nicht.

Stimme: Alina – da hab ich ein

Wörtchen mitzureden!

Alina: Hu, haben Sie kalte Finger!

Egbert (sachlich): Ja, das kommt

von der Erde. Ich hab Geranien

eingetopft, bevor ich herkam.

Stimme: So sieht der auch aus...

Alina: Fühlen Sie was?

Egbert: Ich fühle Ihre Wirbelsäu-

le.

Alina: Mm. Und nun fahren wir

langsam mit den Fingern nach

oben. Langsam. (kurze Pause) Na,

was ist das – da, unter den Schul-

terblättern?

Egbert: (ein Laut des Erstaunens)

Alina: Spüren Sie den Flügelan-

satz?

Egbert: Mein Gott!

Alina: Sind die Flügel nun echt –

oder was?

Egbert: Kein Zweifel, das sind...

Um Gottes Willen!

Stimme (triumphierend): Also,

wie war das: Alina ist eine

Schwindlerin? Hmm...?

Egbert: Nein, ich... Entschuldigen

Sie... Ich hätte... nicht zweifeln dür-

fen. Ich... Dann sind Sie also...

(ehrfürchtig) Sind Sie... ein Engel?

Alina: Ach! Keine Spur. Sie müs-

sen das von einem anderen Stand-

punkt sehen. Da ist einfach... gene-

tisch was schiefgelaufen. Die Natur

ist bei dieser... Rückwärts-Entwick-

lung – also, vom Tod zur Geburt –

da ist sie eben durcheinander ge-

kommen. Wenn Sie bedenken, wie

kompliziert diese ganzen

Entwicklungs-Prozesse sind, ist das

nicht verwunderlich, finde ich.

Egbert: Na ja! Ich... Mann, das

muß ich alles erstmal verdauen.

Wie kommen Sie denn damit zu-

recht? Ich meine, man kann doch

nicht rund um die Uhr mit Mantel

und Pullover rumlaufen?

Alina: Hier im Zirkus falle ich

nicht auf – neben unserem Goliath

und der Frau mit Vollbart. Da muß

ich meine Flügel nicht verstecken.

Das mach ich nur, wenn ich ausge-

he.

Egbert: Und wie war das, bevor

Sie zum Zirkus kamen?

Alina: Ich war schon immer beim

Zirkus.

Egbert: Schon immer?

Alina: Mm.

Egbert: Und... hatten Sie nie den

Wunsch... als Sie noch klein waren

– nein, als Sie groß waren... ähm...

Alina: Lassen Sie sich nicht ver-

wirren.

Egbert: Wünschen Sie sich

manchmal ein ganz normales Le-

ben? Viele träumen ja davon, ihre

Siebensachen zu packen und zum

Zirkus zu gehen. Sehnen Sie sich

manchmal danach... was weiß ich,

in einem Büro zu arbeiten?

Alina: In einem Büro?

Egbert: Mm.

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Stimme: Das könntest du nicht,

Alina. Dafür bist du viel zu unkon-

zentriert.

Alina: Dazu muß man geboren

sein. Genau wie für den Zirkus.

Nee, ich wüßte auch gar nicht, was

ich da machen soll – so den ganzen

Tag in einem Büro eingesperrt. Ich

würde versteinern, glaub ich.

Würden Sie denn gern mit einem

Zirkus durchs Land ziehen?

Egbert: Oh, das ist nicht so unvor-

stellbar wie Sie in einem Büro, hin-

ter einem Schreibtisch. Mit Ihren

Flügeln, meine ich.

Alina (zustimmend): Mm. Was für

ein Aufsehen das geben würde...

Wie eine Aussätzige würden sie

mich behandeln.

Egbert: Nicht wie eine Aussätzige!

Wie eine Heilige. Für die Öffent-

lichkeit wären Sie genauso eine

Sensation wie die... wie die weinen-

den Madonnen zum Beispiel.

Alina: Ja, genau. (ironisch) Echt

verlockend, der Gedanke.

Egbert: Ich verstehe nicht, daß Sie

so unbehelligt leben können. Daß

keine Wallfahrten zu Ihnen veran-

staltet werden.

Alina: Die meisten Leute denken,

es wäre ein Trick – keiner glaubt

sowas. (vertraulich) Normalerwei-

se gebe ich auch nicht so damit an.

Aber Sie haben mich aus der Reser-

ve gelockt: Mich so geradeheraus

eine Schwindlerin zu nennen!

Egbert: Es tut mir leid. Ich bin...

ehrlich erschüttert... über mein an-

fängliches Mißtrauen. Bitte glauben

Sie mir das.

Alina: (großzügig) Na, schon ver-

gessen.

Egbert: Könnten Sie für mich...

mal flattern?

Alina: Nein.

Egbert: Ein Flügelschlag nur?

Alina: (jetzt energischer) Nein!

(Lautes Gebimmel.) Es gibt Früh-

stück. Haben Sie Hunger? Woll’n

Sie auch was?

Egbert: Och ja, so’n... so’n Toast...

da sag ich nicht Nein.

Alina: Toast haben wir nicht. Es

gibt Rührei und Kaffee.

Egbert: Gut, dann nur eine Tasse

Kaffee.

Alina: Kommen Sie! Ich bin ja kei-

ne Kellnerin.

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Jolande: (entferntes Rufen) Alina!

Alina!!

Alina: Was gibt’s? (Jolande

kommt näher.)

Jolande: Jean-Luc schickt mich...

ich soll fragen, ob du morgen abend

die Bauchredner-Nummer allein

übernehmen kannst.

Alina: Klar – wieso denn? Ist ir-

gendwas mit Martin?

Jolande: Er hat einen Magen-

Darm-Infekt: In seinem Bauch

grummelt es nur, man versteht nix.

Alina: Kein Problem. Hat Jean-

Luc erwähnt, ob es bei unserer Ver-

abredung nachher bleibt?

Jolande: Es tut ihm leid, hat er

gesagt, aber er muß mit Herrn

Königstein den Ablauf nochmal

durchgehen.

Alina: Da kann man nichts ma-

chen.

Jolande: Es ist wirklich furchtbar

viel zu tun.

Alina: Schon gut.

Jolande: Ach ja, da ist noch was:

Dieser Herr dort hinten... Der bei

den Pferden steht...

Alina: Der Mensch im Anzug? Mit

dem Köfferchen?

Jolande: Mm. Du, ich glaube, der

ist von der Stadt.

Alina: Oh je.

Jolande: Ich weiß nicht genau,

SZENE DREI

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was er will, aber...

Alina: (ruft) Können wir Ihnen

helfen? Kommen Sie doch mal her!

Egbert: Hab ich Sie in der Vorstel-

lung gestern auch gesehen?

Jolande: Nee, ich bin nur Prakti-

kantin.

Egbert: Ach. Ich wußte gar nicht,

daß man beim Zirkus eine richtige

Ausbildung machen kann.

Jolande: Ist ja keine Ausbildung,

ist nur für vier Wochen. Ich bin

jetzt in die Oberstufe gekommen,

und da machen wir alle ein Prakti-

kum. Die meisten haben aber nicht

so eine ausgefallene Stelle gekriegt

wie ich.

Alina: Oh, schaut mal – da hinten

kommt Juan. HALLO!

Juan: (rufend) Guten Morrrgen,

Alina!

Alina: (zu Egbert) Juan ist unser

Messerwerfer. (Schritte im Gras –

Juan kommt näher.)

Ich helfe ihm manchmal bei seinen

Proben.

Juan: Ich brrrauche ja ein

läbendes Ziel, auf das ich Messer

werfen kann. Und solange mein

Partner im Krrrankenhaus ist...

Egbert: Im Krankenhaus! Oh

Gott! (erneut Schritte – von dem

Beamten)

Alina: Er hat sich das Bein gebro-

chen. (Egbert atmet auf, Jolande

lacht.)

Mann: Guten Morgen, die Herr-

schaften! Ich unterbreche Sie nur

ungern, aber ich muß dringend den

Direktor dieses Unternehmens spre-

chen.

Alina: (reserviert) Um was geht es

denn?

Mann: Wir haben einen Tip be-

kommen, daß Sie hier Schwarzar-

beiter beschäftigen und...

Alina: Ach, nicht schon wieder!

Mann: ... werden deshalb eine

Zählung ihres Personals durchfüh-

ren.

Juan: Also, därr Dirrektorr ist,

glaube ich, gerade zum... zum Fri-

seur?

Alina: ...zum Einkaufen...

Juan: ...zum Einkaufen gegangen.

Jolande: Ist er denn nicht...

Alina: Schsch!

Mann: Sollte sich der anonyme

Hinweis bezüglich der Schwarzar-

beiter bestätigen, sehen wir uns ge-

zwungen...

Alina: (zuckersüß) Mein Herr!

Warum machen Sie sich’s nicht

dahinten bei den Eseln bequem?

Ich schick den Herrn Direktor

gleich rüber, wenn er wiederkommt

und dann...

Jolande: Aber wir bauen doch

schon ab. Am frühen Nachmittag...

Alina: (Jolande übertönend) ...und

dann können Sie gemeinsam alle

Fragen klären, die auf Ihrem

pflichtbewußten Beamten-Herzen

brennen.

Mann: (mißtrauisch) Ist der Di-

rektor wirklich nicht da? Was ist

mit seinem Stellvertreter?

Alina: Jolande, unsere Praktikan-

tin hier, wird gleich loslaufen und

ihm sagen, daß jemand ihn spre-

chen will.

Mann: (nicht ganz überzeugt)

Also gut. Ich warte dann dort drü-

ben.

Alina: Alles klar.

Juan: Si, si!

Alina: (flüsternd) Bei den Eseln

wird‘s ihm gefallen. (Juan lacht.)

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Egbert: Wieso wundert den das

nicht, daß...? Ich meine, bin ich

denn der einzige hier, der sich über

eine Frau mit Flügeln wundert?

Alina: Der kam von der Stadt, ein

Beamter, die kriegen einfach nichts

mit.

Juan: Das sind Sssnarch...

Sssnarch....

Alina: Schnarchsäcke?

Juan: Si, Sssnarchsäcke!

Jolande: Also, wenn es Sie beru-

higt: Ich wundere mich ohne Ende

über die Flügel. Kann mich einfach

nicht an den Anblick gewöhnen.

Das ist doch... hammerhart, oder?

Alina: Aaach!

Jolande: Hat zwei Wochen gedau-

ert, eh ich’s fertig brachte, Alina zu

duzen.

Alina: Ich will dir mal was sagen:

Wenn zufällig du Flügel hättest und

nicht ich, glaubst du, ich würde

dich deswegen anders behandeln?

Ha! Nicht mal ein müdes Flattern

würde mir der Anblick deiner Flü-

gel entlocken.

Egbert: (verwirrt) Hm? Ja, wie

auch...?

Jolande: Oh je, hört ihr das?

Jean-Luc ruft mich. Mann, er läßt

mir keine Minute Pause. (Seufzen)

Ich muß zu ihm, bis später.

Alina (ruft ihr hinterher): Sag

ihm hallo von mir.

Juan: Habt ihr schon gefrüh-

stückt?

Alina: Wir wollten gerade gehen.

Juan: Es rriecht nach

gebrratänem Schinken, no?

(Fade-Out)

SZENE VIER

Juan: Max – buenos dias!

Alina: Hallo, Max – darf ich dir

Egbert vorstellen? Egbert – das ist

Max, unser Clown.

Max: Lassen sie mich raten: der

kantige Gesichtsausdruck, diese

drahtige Figur – Sie sind Seiltänzer.

Egbert: Ich bin Gärtner.

Max: Wie – Gärtner? Ein seiltan-

zender Gärtner.

Egbert: Nein nein, nur Gärtner.

Ohne Hochseil.

Max: Kapier ich nicht. Was zeigen

Sie den Leuten? Wie Sie Blumen

gießen?

Alina: Neiiin – versteh doch, er...

Juan: Max, ärr ist nurr ein

Besuchärr!

Max: Ah so. Ha ha.

Egbert: Ist bestimmt eine lustige

Arbeit. So als Clown.

Max: Hart ist es. Hab da keine Il-

lusionen mehr. Die Welt ertrinkt in

Pointen. Das Fernsehen schmiert

den Leuten Comedy in alle Körper-

öffnungen. Politische Witze? Zynis-

mus? Nix für mich – ich bin nicht

zynisch. Ich spiele solide Pantomi-

me. Darüber können auch die Kin-

der lachen. Und Sie – Sie sind

glücklich mit Ihrem Grünzeug?

Egbert: Pflanzen sind loyal. Wenn

man sie pflegt, dann wachsen sie

und blühen schließlich. Bei Men-

schen ist das nicht immer so.

Max: Stimmt. Ich hab noch nie

geblüht.

Egbert: Haben Sie eigentlich auch

Tiere hier?

Alina: Klar. Wir haben Pferde,

Esel, ein Lama, ein Dromedar...

Juan: Und Löwen.

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Egbert: Natürlich.

Alina: Fürchten Sie sich vor Lö-

wen?

Egbert: Nein... Naja... Nur –

wenn sie mir Angst einjagen.

Juan: Sind jetzt alle in ihrrän Käfi-

gen. Werrden auch strreng be-

wacht. Da kann nix passierren.

Max: Zirkusleute sind sture Ro-

mantiker. Der Umgang mit den

Raubtieren – das ist nur einer der

vielen, vielen Beweise dafür. Ro-

mantiker, ja... Ewig sind wir unter-

wegs, und nirgendwo lassen wir

etwas zurück.

Alina: (flüsternd) Der gute Max ist

um diese Uhrzeit immer fürchter-

lich melancholisch.

Max: Nein, meine Liebe. Morgens

liegt bloß das wahre Gesicht von

diesem Zirkus frei. Hörst du jetzt

Gelächter? Applaus? Ohne die klei-

nen und großen Shows, in der Kup-

pel oder in unseren Wagen, bleibt

da nur ein Gerüst. Genau wie die

Zeltstangen, wenn keine Plane drü-

ber liegt. Nur nicht so stabil.

Alina: Lassen sie sich von dem

nichts erzählen, Egbert.

Max: Alles wirkt so kraftvoll und

urwüchsig. Und im Grunde ist es so

fragil. Wer garantiert, daß morgen

genug Leute zur Vorstellung kom-

men, um unsere Ausgaben zu dek-

ken? Warum kommen die Leute

heutzutage in den Zirkus? Nur aus

Nostalgie. Oder weil sie die Glotze

nicht mehr aushalten.

Alina: (resolut) Nicht aus Nostal-

gie, sondern weil es ihnen gefällt.

Max: Meine Liebe, Diskussionen

mit dir führen zu nichts.

Egbert: Sind Sie eigentlich... ganz

normal zur Schule gegangen,

Alina? Oder hatten Sie als Kind hier

im Zirkus einen Privatlehrer?

Alina: Nein, ich... Ähm... Ich hab’s

Ihnen doch schon zu erklären ver-

sucht: Mein Lebenszyklus läuft an-

dersherum ab. Ich war schon eine

Zeitlang im Altenheim... und...

ähm... naja, bis zur Schule hab ich

noch ein bißchen Zeit. Die Arthritis

bin ich seit einigen Jahren völlig

los, jetzt mach ich solange weiter,

bis... Na, wenn ich mich zum

Schminken auf eine Fußbank stel-

len muß, weil ich sonst den Spiegel

nicht sehen kann, dann weiß ich,

daß ich zu klein bin, um noch wei-

terzumachen. Aber bis dahin...

Max: ... trägt deine Kreativität und

Phantasie die prächtigsten Blüten.

Alina: (schwärmerisch) Jean-Luc

– der ist zur Schule gegangen. Bis

er 16 war.

Max: Er hat allerdings keinen Ab-

schluß.

Alina: Früher war er mal Jon-

gleur, jetzt ist er Löwenbändiger

und die rechte Hand vom Chef.

Schade, daß er immer so im Streß

ist, er könnte Ihnen ein paar er-

staunliche Sachen zeigen.

Egbert: Können Sie auch jonglie-

ren?

Alina: Nein. Ich versuch’s manch-

mal. Nur so zum Zeitvertrieb. Aber

mehr als fünf Bälle auf einmal

schaff ich einfach nicht. Im Ver-

gleich zu Jean-Luc ist das ziemlich

mickrig. Er schafft neun Bälle! Ist

das nicht irre: Neun Bälle auf ein-

mal!

Juan: Därr Höhepunkt seinerr

Nummärr warr das Jonglierren mit

sechs Autorreifen. Aberr das

brraucht eine enorrmä

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Konzentrrassion.

Alina: Mm. Wenn man das zehn

Jahre gemacht hat, ist man völlig

(Pfeifgeräusch).

Egbert: Wie?

Alina: (wiederholt das Pfeif-

geräusch) Durch den Wind.

Egbert: Ach so. Aber man braucht

zu allem hier viel Konzentration,

oder?

Alina: Schon.

Max: Meistens ist es eine Sache des

Körpers, verstehen Sie nicht den

Unterschied? Ein Jongleur braucht

nur seine Arme, seine Beine und

seine Augen. Der Rest passiert im

Kopf. Wenn Sie aber... zum Beispiel

auf dem Seil stehen, dann denken

Sie mit Ihrem ganzen Körper. Sie

brauchen jeden einzelnen Muskel.

Das Gehirn kommt einem dabei

eher in die Quere.

Alina: Soll ich Ihnen dazu eine

Geschichte erzählen? Eine Freun-

din von mir hat sich mal bei einer

Trapeznummer einen doppelten

Beckenbruch geholt – aus lauter

Nervosität.

Egbert (skeptisch): Aus Nervosi-

tät?

Alina: Ja, wirklich!

Juan: Oh, du meinst Maria. Aber

sie hat sich nicht Becken gebro-

chen. La clavícula!

Alina: No, Juan! La pelvis!

Juan: Pero Maria...

Alina: Visitabamos a Maria en el

hospital. No te acuerdes?

Juan (überlegend): Ah, si... Si,

tienes razón!

Alina: Ist ja auch egal. Jedenfalls

hängt Maria in dieser Nummer mit

den Zähnen an einem Ring. Hoch

oben in der Kuppel! Ihr Partner soll

sie an einer Schleife am Handge-

lenk herumwirbeln. Und vorher

fragt er immer, ob sie fertig ist – als

Zeichen schlägt sie sich dann auf

den Oberschenkel. Na, und was

denken Sie, Egbert: In der

Premierenvorstellung war Maria so

nervös, daß sie ihm tatsächlich ant-

wortete. Sie ließ mit den Zähnen

den Ring los und fiel in die Manege.

Juan: Und kein Netz!

Alina: Ja... Sie hat Glück gehabt,

daß es nur ein Beckenbruch war.

Juan: Qué suerte!

Egbert: Sind Sie eigentlich kran-

kenversichert?

Alina: Klar.

Juan: Da kommt man heute garr

nicht drran vorrbei.

(Schritte – jemand nähert sich.)

Mertje: (schwungvoll) Hallo, ihr

alle! Wie fühlt ihr euch heute mor-

gen?

Alina: Morgen!

Juan: Hola, Mertje!

Mertje: (übertrieben höflich) Gu-

ten Morgen, Max. Auch bei dir alles

frisch?

Max: Manchmal finde ich deine

chronisch gute Laune echt pervers.

Juan: Mertje, warst du heute mor-

gen schon im Büro? Ich warte auf

Post von...

Mertje: Ja, da ist was für dich ge-

kommen. Eine...

Alina: Für mich auch was?

Mertje: Glaub nicht. Aber für

Juan lag da eine...

Juan: Ich warrrte auf eine... Mei-

ne Tante wollte mirrr eine... Ah,

como se llama „tarjeta postal”?

Alina: Ein Luftpostbrief? Ein Ein-

schreiben? Eine Büchersendung?

Max: Eine Blindensendung?

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Juan: No, no, no. Eine...

Mertje: Eine Postkarte! Laßt mich

doch ausreden!

Alina: Wann seid ihr mit dem Ab-

bau fertig gewesen, Mertje? Hast du

überhaupt geschlafen heute nacht?

Mertje: Zum Schlafen war keine

Zeit. Um halb vier hatten wir das

Chapiteau abgebaut, mit allem

Drum und Dran, das Gestänge, die

ganzen Planen, die Bänke, ihr wißt

ja, dann haben wir eine kurze Pau-

se gemacht – Boris hatte ja Ge-

burtstag, deswegen hatte der Typ

aus der Küche – ich vergeß immer

den Namen – einen Kuchen gebak-

ken und Krapfen, waaahnsinnig

leckere Krapfen – es sind sogar

noch welche übrig, glaube ich...

Max: Luftholen nicht vergessen.

Mertje: Dann haben wir die Tiere

transportfertig gemacht – und heu-

te morgen um sieben waren wir

durch mit allem. Da war ich aber

viel zu aufgekratzt, um mich schla-

fen zu legen, wie immer, deswegen

hab ich deinen Tip befolgt, Alina:

heiße Milch mit Honig...

Alina: Und?

Juan: Heiße Milch mit Honig??

Uuähh!

Alina: Meine Oma hat darauf ge-

schworen.

Mertje: Eine Schnapsidee: Nach-

dem ich das Zeug getrunken hatte,

war ich noch aufgekratzter als vor-

her.

Max: Du liebe Zeit – noch aufge-

kratzter als ohnehin schon?! Ich

wage gar nicht, mir das vorzustel-

len!

Mertje: Der Max – mal wieder

einen Clown gefrühstückt, was?

Egbert: Haben Sie schon

Johanniskrautextrakt gegen Ihre

Einschlafschwierigkeiten auspro-

biert?

Mertje: Na sicher. Und auch Ka-

millentee und autogenes Training.

(mißtrauisch) Sagen Sie, kennen

wir uns eigentlich?

Egbert: Nein, ich...

Mertje: Wieso hab ich Sie heute

nacht nicht gesehen? War’s Ihnen

zu dunkel draußen?

Egbert: Wieso? Ich... äh...

Alina: Er ist nur ein Besucher.

Mertje: Ach sooo! Tut mir leid.

Wir haben so viele Zeitarbeiter, vor

allem beim Auf- und Abbau, daß

man schnell den Überblick verliert.

Ich hab gedacht, Sie wären einer

von uns – ich dachte schon, Sie

hätten sich gedrückt.

Alina: Setz dich doch.

Juan: Wirr haben dirr was

Schwarrzbrrot aufgehobän.

Mertje: Schwarzbrot...? Warte –

mm... El pan negro, richtig?

Juan: (begeistert) Rrichtig!!

Mertje: Ah!

Alina: Egbert, das ist übrigens

Mertje.

Egbert: Schön, Sie kennenzuler-

nen. Sind Sie auch Artistin?

Mertje: Nee, ich bin Requi.

Max: Requisiteur.

Alina: Requisiteuse, wenn schon.

Max: Quark!

Mertje: Ich mach alles, was sonst

niemand macht. Seit zwei Jahren

ungefähr. Angefangen hab ich im

Kassenhäuschen. Dieses stinkende,

dreckige Ding, wo die Gäste ihre

Eintrittskarten kaufen.

Juan: Biittä! Wirr haben einen

Gast, wirr sind nicht untärr uns...

Mertje: Inzwischen hab ich mich

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aus dem Kassenhäuschen zur

Platzanweiserin vorgearbeitet. Muß

aber immer noch um neun aufste-

hen und mit den anderen Requis

den Platz fegen.

Max: Es schwingt Unmut in ihrer

Stimme mit, weil die Artisten län-

ger schlafen dürfen.

Mertje: Eben. Ich halte das für...

Max: Wobei die Frau

„Requisiteuse” übersieht, daß wir

wegen unseres harten Trainings

unsere sieben bis acht Stunden

Schlaf brauchen. Und außerdem:

Ihr Requis seid doch hier, um hart

rangenommen zu werden!

Mertje: Also, Max, wenn ich so

einen Mist höre, könnte ich glatt...

Juan: (besänftigend) Merrtje kocht

übrrigens fantastisch! Lacón con

grelos. Fantástico!

Mertje: Schweineschulter mit

Weißkohl.

Egbert: Ach.

Mertje: Aber wissen Sie, was mein

Traum ist? Mal als Clown aufzutre-

ten.

(Max stöhnt.)

Mertje: Ich arbeite da an einer

Nummer. Kann aber noch nicht

genau sagen, worum es geht. Die

Ideen sind da, mir fehlt nur noch

das Handwerk.

Max: Dir fehlt nicht das Hand-

werk, dir fehlen die Pointen.

Alina: Du tust ihr Unrecht.

Max: Stimmt. In Wahrheit fehlt

ihr beides.

Egbert: Ich find das klasse, daß Sie

diese Ambitionen haben. Und so

eisern daran arbeiten.

Mertje: Die Begeisterung kommt

automatisch, wenn man länger da-

bei ist. Der Anfang ist hart, aber

wenn man sich hier erstmal zu

Hause fühlt...

Alina: Ach, übrigens, da war vor-

hin wieder so ein Typ da und hat

nach Schwarzarbeitern gefragt.

Juan: Sah sssiemlich offisssiell aus.

Mertje: Bestimmt einer von der

Stadt. Zum dritten Mal in dieser

Saison haben wir die auf dem Hals!

Irgendein anderer Zirkus ist wahr-

scheinlich sauer auf uns.

Egbert: Sauer? Wieso?

Alina: Es gibt in den großen Städ-

ten nicht unendlich viele freie Plät-

ze, wo man spielen kann. Und

wenn ein anderer Zirkus einen

Platz immer dann bekommt, wenn

wir grad vorher dagewesen sind –

kann ich schon verstehen, daß die

das fuchst.

Egbert: Aber deswegen müssen die

doch nicht gleich die Behörden ru-

fen.

Mertje: Ach, regt euch nicht auf!

Ich sag immer: Solange die Brücke

steht...

Alle zusammen (außer Eg-

bert): ...und der Brückenkopf über

Wasser ist, besteht kein Grund zur

Panik... Egbert: Hä?!

Alina: Mertje ist nicht nur Requi,

sondern auch Rettungsschwimme-

rin.

Egbert: Ach so.

Mertje: Genau! Bei den Rettungs-

schwimmern war ich schon, lang

bevor ich zum Zirkus kam. Ich

brauch das einfach: Jedes Jahr im

Sommer nehm ich mir eine Auszeit

und fahre an die Nordsee.

Max: Es gibt Leute, die müssen

sogar aus ihrem Aussteigerleben

manchmal aussteigen.

Egbert: Haben Sie hier ein Privat-

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leben? Einen richtigen Feierabend

gibt es ja eigentlich nicht...

Alina: Man kann nicht viel ver-

heimlichen – wenn Sie das meinen.

Mertje: Mal angenommen, unsere

fliegende Bauchrednerin hätte zum

Beispiel eine Affäre mit einem un-

serer Dompteure. Das könnte man

nicht verheimlichen, nein.

Alina: Oder mal angenommen,

unsere Requis wären unerträgliche

Tratschnasen – auch das wäre all-

gemein bekannt.

Juan: Trratsch... nasen?

Mertje: Und daß wir unterbezahlt

sind...

Max:...weil ihr weniger leistet als

die Artisten.

Mertje: Richtig ist, daß die Herren

und Damen Artisten sich vor jeder

unangenehmen Arbeit drücken.

Zum Beispiel, wenn’s darum geht,

abends die Zuschauer zu begrüßen

und sie zu ihren Plätzen zu beglei-

ten. Daran sollen nach Wunsch des

Direktors alle beteiligt sein – aber

schau dich mal vor der Vorstellung

um, wer wirklich da ist, dann wirst

du sehen, wo der Frosch die Locken

hat: Nur die Requis kommen ihrer

Verpflichtung nach.

Max: (empört) Meine Liebe! Was

nimmst du dir hier raus? Du bist dir

wohl im Klaren darüber, daß...

Mertje: Ich weise nur auf ein

paar...

Alina: Schscht, jetzt ist Frieden!

Sonst mach ich ein paar kräftige

Flügelschläge und wirbele die gan-

zen Sägespäne auf. Die könnt ihr

dann aus eurem Kaffee fischen.

Juan: Wo wir gerade von Kaffee

sprechen – ich werde den Senor

von der Stadt mal fragen, ob er ei-

nen Kaffee will.

Alina: Mm, gute Idee, das hält ihn

bei Laune.

Max: Und wißt ihr, wie ich mich

bei Laune halte? Indem ich mich

jetzt von euch fern halte. Einen

produktiven Tag wünsche ich noch!

(Max entfernt sich.)

Egbert (flüsternd) Ist der immer

so?

Alina: Ist nicht sein Tag heute.

Mertje: Es ist nie sein Tag. Das ist

nicht sein Leben, glaube ich.

Alina: Ach, manchmal tut er mir

leid. Er ist immer so fertig mit der

Welt... Er war Zeitsoldat bei der

Bundeswehr, bevor er zum Zirkus

kam.

Egbert: Ach ja?

Stimme: Wobei die Bundeswehr ja

auch ein einziger Zirkus ist.

Egbert: Huch, da war sie wieder,

Ihre...

Mertje (verzückt): Ich liebe es,

wenn Alina das tut!

Alina: Wußtet ihr, daß er beim

Bund unehrenhaft entlassen wer-

de?

Mertje: Nee. Wieso denn? Erzähl

mal!

Alina: Er mag’s nicht, wenn man

darüber spricht.

Stimme: Eine ganz wilde Ge-

schichte mit...

Alina: Schscht! Wir haben ver-

sprochen, nichts zu verraten.

Stimme: Er hat einen Panzer ge-

klaut und ist...

Alina: He! Wirst du wohl!

Stimme: Er hatte das Scheitern

seiner ersten Ehe damals noch

nicht verwunden.

Mertje: Er war verheiratet?

Alina: Bis seine Frau in die Politik

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gegangen ist. Sie hat eine eigene

Partei gegründet.

Stimme: Wenn ihr den Namen

dieser Partei hört, werdet ihr Max‘

Entsetzen verstehen...

Mertje: (lachend) Also, darüber

mußt du mir unbedingt mehr er-

zählen – bei Gelegenheit.

Alina: Bleib noch sitzen.

Mertje: Ich muß den Ballon start-

klar machen...

Alina: Das ist doch gar nicht dein

Job. Das macht doch...

Mertje: Konstantin, ja. Dieser

Schlumpf hat mir das aufge-

brummt, weil er bei den Giraffen

bleiben muß. Paula hat sich ja auf

der letzten Fahrt das Knie verletzt.

Alina: Mm. Ist schon blöd, wenn

man so groß ist. Können Sie sich

vorstellen, Egbert, Sie wären fünf-

einhalb Meter groß?

Egbert: Hab ich... eigentlich...

noch nie so drüber nachgedacht.

Alina: Wann fahren wir denn los?

Mertje: Sobald die Wagen ange-

koppelt sind.

Alina: (seufzend) In meinem

Wohnwagen wird wieder alles

durcheinander purzeln. Die Bücher

könnt ich im Regal festnageln,

beim ersten Schlagloch fallen sie

trotzdem raus.

Mertje: Ich kenn das!

Alina: Ach, ich hab auch viel zu

viel Kleinkram.

Egbert: Das ist komisch – ich

dachte immer... Ich habe gerade

Zirkusleute immer dafür bewun-

dert, daß sie sich auf das Wesent-

lichste beschränken müssen. Weil

sie ja ihr ganzes Eigentum immer

mit sich führen.

Stimme: Nicht jeder hier hat so

einen Sammeltrieb wie Alina.

Alina: Mein Sammeltrieb geht dich

gar nichts an. Du kannst ja auszie-

hen, wenn du willst.

Stimme: Würd ich gerne. Aber

vorher müßte ich mal einen Weg

aus dir rausfinden, es ist so dunkel

hier drin. Alina, ich will die Schei-

dung! (Mertje lacht.)

Alina: Hört mal, mir kommt gera-

de eine ganz großartige Idee!

Mertje, könntest du nicht Egbert im

Ballon mitnehmen?

Egbert: Im Ballon? Ich? Ach,

nein...

Alina: Sind Sie schonmal in einem

Ballon geflogen? Na also, das ist

eine tolle Gelegenheit!

Egbert: Tja, ich... Ich weiß nicht...

Mertje: Wenn er nicht will...

Alina: Klaar will er!

Egbert: Kommen Sie denn auch

mit, Alina?

Alina: Ich bin leider nicht schwin-

delfrei.

Egbert: (erstaunt) Sie sind...?

Alina: Nur ein Scherz.

Mertje: Alina, entweder beide oder

keiner: Wenn er mitkommt, mußt

du auch mitkommen. Er ist

schließlich dein Gast.

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Gerda: Egbert hat sich also breit-

schlagen lassen. Er ist mit den bei-

den in den Ballon geklettert und sie

sind aufgestiegen. Wobei ich mich

ja frage, wozu eine Frau mit Flü-

geln ’nen Heißluftballon braucht.

Na ja... Von da oben konnte Egbert

sogar seine Gewächshäuser sehen,

hat er mir erzählt. Und unser Dorf.

Und natürlich die Wiese mit dem

braunen Fleck in der Mitte – vom

Zirkuszelt... Genau, wie er sich’s

am Morgen vorgestellt hatte.

Der letzte, der in seinem Auto da-

vonfuhr, war übrigens der städti-

sche Beamte. Alle Zirkuswagen sind

da schon längst weggewesen. Die

drei haben ihm freundlich zuge-

winkt, vom Ballon aus, aber der

Mann hat bloß seine geballte Faust

gezeigt und wutentbrannt die Auto-

tür zugeknallt.

Das muß man sich mal vorstellen:

Mein Bruder in einem Heißluftbal-

lon! Dabei ist er gar nicht schwin-

delfrei. Die Hängekörbe vor unserer

Haustür muß immer ich gießen,

weil der liebe Egbert sich nicht

traut, auf einen Hocker zu steigen...

Alina: Alles in Ordnung, Egbert?

Sie sehen ein bißchen käsig aus. Ist

Ihnen nicht gut?

Egbert: Doch, doch. Äh... Wie

hoch sind wir inzwischen?

Alina: Ach, nicht hoch.

Mertje: So in etwa... 500 Meter,

schätze ich.

Alina: Sehen Sie – nur ein halber

Kilometer, nicht der Rede wert.

Egbert: Da bin ich ja beruhigt.

Mertje: Wenn Ihnen schlecht wird

– wenn Sie sich übergeben müssen,

warten Sie bitte, bis wir auf freiem

Feld sind.

Egbert: Danke, es geht schon.

Mertje: Und achten Sie auf die

Windrichtung!

Egbert: Mir ist nicht schlecht –

wirklich!! Nur die Höhe irritiert

mich.

Was ist das hier eigentlich alles, in

dem Korb?

Alina: Worauf Sie sitzen, das ist

der Gaszylinder mit dem

Brennstoffvorrat...

Mertje: Im Allgemeinen sollte

man sich da nicht draufsetzen.

Egbert: Oh, Entschuldigung.

Mertje: Und in der kleinen Kiste

sind Feuerlöscher und Löschdecke.

Alina: Natürlich nur für den Not-

fall.

Egbert: Verstehe.

Mertje: Kennt ihr euch schon lan-

ge, ihr beiden?

Egbert: Ach nein, erst seit heute

morgen.

Alina: Wußten Sie, Egbert, daß das

bei den meisten Zirkusleuten so an-

fängt?

Egbert: Was?

Alina: Na ja, sie schließen zufällig

SZENE FÜNF

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Bekanntschaft mit Artisten, lernen

von denen ein paar Tricks und

Kunststücke und entdecken da-

durch eine verborgene Begabung.

Mertje: Felsina zum Beispiel.

Alina: Ganz genau.

Egbert: Wer?

Alina: Felsina – ein unscheinbares

Bauernmädchen. Eine todesmutige

Varieténummer übernachtete auf

dem Hof ihrer Eltern. Die

sechzehnjährige Felsina kam mit

ihnen ins Gespräch. Sie lernte, wie

man sich auf dem Trapez bewegt.

Schließlich konnte sie kopfüber an

der Zimmerdecke spazierengehen –

und dabei Mandoline spielen. In

zwanzig Metern Höhe, ohne Siche-

rung. Glauben Sie, ihre Eltern hät-

ten vor dem Besuch der Artisten

etwas von dieser Begabung ge-

spürt?

Mertje: Die sind fast gestorben, als

sie eine Vorstellung ihrer Tochter

besucht haben.

Alina: Schade, daß Sie zu einer Zir-

kus-Karriere so kategorisch nein

sagen, Egbert. Wir könnten be-

stimmt irgendeine Begabung aus

Ihnen rauskitzeln.

Egbert: Ich habe keine Begabung.

Und ich... Ich spüre auch nicht die-

se Unrast, dieses Ruhelose. Dieses

Bedürfnis, immerzu unterwegs zu

sein. Das braucht man für dieses

Leben, oder?

Alina: Ich weiß nicht. Braucht

man das?

Mertje: Das gehört wohl dazu.

Egbert: Ich bin auf eine vertraute

Umgebung angewiesen, in die ich

mich zurückziehen kann. Ich reise

nicht gern. Eine mobile Zirkusstadt

wäre nichts für mich.

Mertje: Immerhin – eine Freund-

schaft haben Sie hier schon ge-

schlossen.

Egbert: Alina meinen Sie? Ach,

wir haben uns nur nett unterhal-

ten.

Mertje: Sie sind nicht auf ihre Ma-

sche mit der inneren Stimme rein-

gefallen, oder? (Alina lacht.)

Egbert: Nein, ich... Na ja... Wieso?

Mertje: In Wirklichkeit ist das nur

ihre Katze – sie hat ihrer Katze das

Bauchreden beigebracht. Bei unse-

ren Löwen hat sie’s auch mal ver-

sucht. Aber die haben alle gelispelt.

Egbert: Jetzt nehmen Sie mich

auf den Arm.

Mertje: (lacht) Und wenn schon...

Alina: Sehen Sie mal runter, Eg-

bert. Die ganzen Zirkuswagen, Rei-

he in Reihe, das ist ein schönes Bild.

Egbert: Ja, ich kann’s mir lebhaft

vorstellen...

Mertje: Mal im Ernst, Egbert, Sie

werden aber mit der Geschichte

von Alinas Flügeln nicht gleich zu

einer Zeitung rennen, oder?

Egbert: Ich wollte es höchstens

meiner Schwester erzählen. Und

die wird es eh nicht glauben.

Mertje: Publicity ist zwar eine

schöne Sache, aber so etwas gerät

schnell außer Kontrolle. Ist viel bes-

ser, wenn die Leute glauben, das

mit den Flügeln wäre nur ein Trick.

Egbert: Das verstehe ich.

Mertje: Deswegen kündigen wir

Alina auch nicht auf unseren Pla-

katen an.

Egbert: Wenn man nicht weiß,

daß sie am Ende der Nummer da-

vonfliegen wird, ist es um so impo-

santer, wenn es dann passiert. Ein

einzigartiger Moment.

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Mertje: Dadurch hat Alina ja auch

einen gewissen Sonderstatus bei

uns. Zum Beispiel, was ihr Verhält-

nis mit... Pardon: ihr Verhältnis zu

Jean-Luc angeht.

Alina: Mertje!!

Mertje: (genußvoll) Normalerwei-

se werden Affären zwischen den

Artisten vom Direktor nämlich

nicht geduldet.

Alina: Zum letzten Mal: Auf der

Fahrt von Krefeld nach Hamburg

haben Jean-Luc und ich Monopoly

gespielt. Sonst nichts!

Mertje: (ironisch) Sicher. Enrico

und ich spielen auch immer Mono-

poly. Es gibt ja sehr interessante

Varianten dieses Spiels.

Alina: Oh, du...! Hab ich etwa das

mit Enrico rumerzählt? Hm? Hab

ich? Nein! Sowas würde ich nie

tun. Aber ihr anderen, ihr...

Egbert: Mertje wollte sicher nichts

Böses.

Alina: Halten Sie sich da raus!

Mertje: Also, Alina, jetzt plusterst

du dich aber auf!

Alina: Na, was erwartest du

denn... Erst unterstellst du mir...

Mertje: Du willst doch was von

Jean-Luc. Hab ich Recht?

Alina: Das hat wohl inzwischen

jeder hier mitgekriegt.

Mertje: Jeder – außer Jean-Luc.

(Alina knurrt.)

Mertje: Mensch, Alina... Ich will

dich doch nur ein bißchen ärgern.

Wenn wirklich was zwischen euch

laufen würde, wäre ich ganz dis-

kret. Kannst dich drauf verlassen.

Alina: Ja, aber...

Mertje: Gerade weil nichts ist,

macht es so einen Spaß, dich aufzu-

ziehen.

Egbert: Ähm... Da das nun geklärt

ist... dürfte ich... ich würde gerne

wissen...

Alina: Das ist verdammt mies von

dir, Mertje.

Mertje: Sei nicht so empfindlich.

Du bist doch viel zu schade für

Jean-Luc!

Alina: (trotzig) Bin überhaupt

nicht empfindlich!

Mertje: Ja, das hab ich gemerkt.

Egbert: (räuspert sich) Entschul-

digen Sie, ich... ähm...

Alina: Was ist denn?

Egbert: Ich wollte nur fragen...

Alina: (erschrocken) Mein Gott,

Egbert, Sie sind ja kalkweiß!

Egbert: Wie werden wir... Ich

meine, der Ballon steigt immer hö-

her. Und höher. Und... höher...

Wie... wie werden Sie es anstellen,

daß...

Mertje: Wie wir runterkommen?

Ach, machen Sie sich darüber mal

keinen Kopf...

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Jean-Luc: Ein Glück, daß du das

Handy mitgenommen hattest!

Mertje: Wart ihr schon am Ziel?

Jean-Luc: Fast, ein paar Kilome-

ter noch. Wo ist es passiert?

Mertje: Im Wald. Nur fünfzig Me-

ter von hier.

Herrje, Jean-Luc! Ich hab die Höhe

der Baumspitzen total unterschätzt!

Jetzt sitzen Alina und der Gärtner

im Baum fest. Mich hat es beim

Aufprall rausgeschleudert. Ein

Wunder, daß ich mir nichts gebro-

chen habe.

Jean-Luc: Die beiden hatten

nichts in dem Korb zu suchen! Und

du hättest dieses Ding auch gar

nicht fahren dürfen. Das ist die

Aufgabe von Konstantin!

Mertje: Jaa, ich weiß, ich weiß...

Wäre es nicht besser, die Feuerwehr

zu rufen?

Jean-Luc: Die kämen da nicht hin

mit ihrer Leiter. Der Wald ist ziem-

lich dicht.

Mertje: Haben wir keine Leiter?

Jean-Luc: Keine, die hoch genug

ist.

Mertje: Könnte Alina nicht... flie-

gen? Den Gärtner huckepack neh-

men und...

Jean-Luc: Was, wenn der Typ zu

schwer für sie ist? Wenn sie

runterfällt?

Mertje: Es ist schön, daß du dich

um sie sorgst.

Jean-Luc: Ich sorge mich um die

SZENE SECHS

Versicherung!

Mertje: Bitte, was?

Jean-Luc: Darf gar nicht dran

denken, wie der Bericht aussehen

würde... Wie erklären wir denen,

daß...

Mertje: (übertönt ihn) Ich finde,

wir sollten Enrico holen.

Jean-Luc: (überfordert) Wieso

Enrico?

Mertje: Wir könnten uns die Ka-

none aus seiner Zwergen-Nummer

leihen – und...

Jean-Luc: Ist das ein Witz?

Mertje: ...dich auf den Baum

schießen. Dann könntest du vor Ort

über eine Lösung nachdenken.

Jean-Luc: Sehr komisch!

Mertje: Dahinten ist es.

Jean-Luc: Sie wird fliegen müs-

sen. Einen anderen Ausweg seh ich

nicht. Das Gelände ist völlig unzu-

gänglich.

Mertje: Aber du hast eben gesagt...

Jean-Luc: Wenn wir sie anseilen,

könnte es gehen.

Mertje: Denk mal bitte nach: Vom

Boden aus macht das Anseilen we-

nig Sinn, oder?

Jean-Luc: Das ist nicht der Punkt.

Mertje: Du läßt doch keinen Dra-

chen steigen! Sie fällt auf dich

drauf, wenn du das Seil stramm

ziehst...

Jean-Luc: Die Versicherung wird

danach fragen, ob sie angeleint

war. Ob von oben oder von unten,

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ist denen egal.

Mertje: Jean-Luc, hör mit diesem

Versicherungs-Scheiß auf!

Jean-Luc: Vielleicht schafft sie‘s.

Vorausgesetzt – der Typ ist nicht

viel schwerer als sie...

Mertje: Na, phantastisch...

Alina: Egbert?

Egbert: Mm?

Alina: Wieviel wiegen Sie?

Egbert: 65 Kilo.

Alina: Also mehr als ich. Uh, das

wird anstrengend!

Egbert: Wollen Sie etwa fliegen?

Ach nein! Ihre Flügel sehen so zart

aus. Können Sie damit zwei Perso-

nen in der Luft halten?

Alina: Wird schon hinhauen. Hal-

ten Sie sich an mir fest!

Egbert: Können wir bitte... erst

noch was... hier sitzenbleiben? Ein-

fach hier sitzen?

Alina: Klar – wenn Sie wollen. So-

lange der Ast nicht abbricht. (kräf-

tiges Rütteln)

Egbert: (panisch) Alina, bitte!

Alina: Ist dick genug, glaube ich –

der hält noch eine Weile.

Wartet Zuhause jemand auf Sie?

Egbert: Nein.

Alina: Keine Familie? Eine Frau,

Kinder?

Egbert: Nein, nein.

Alina: Dann leben Sie also allein?

Egbert: Mit meiner Schwester.

Alina: Und? Kommen Sie gut mit-

einander klar?

Egbert: Warum wollen Sie das

alles wissen?

Alina: Einfach so, aus Neugier...

Warum gucken Sie denn plötzlich

so düster?

Egbert: Ach, es ist nichts...

Alina: Ist es, weil wir in diesem

Baum festhängen? Schauen Sie

einfach nicht nach unten! Nehmen

Sie meine Hand – dann fühlen Sie

sich bestimmt sicherer. Ich verspre-

che Ihnen, wir werden heil unten

ankommen. Vertrauen Sie mir.

Egbert: Das ist es nicht.

Alina: Was dann?

Egbert: Ach, ich sollte Sie nicht

damit belasten.

Alina: Na gut, wie Sie meinen.

Egbert: (zögerlich) Wenn wir wie-

der... unten sind... (Pause)

Alina: Ja?

Egbert: ...dann wird das schon das

Ende unserer Begegnung sein.

Alina: Sie können gerne noch zum

Abendessen bleiben. Sagen Sie Ihrer

Schwester Bescheid, damit sie sich

keine Sorgen macht, und...

Egbert: Danke. Aber das meinte

ich nicht.

Alina: (einfühlsam) Es geht dar-

um, daß ich mit Max und Juan und

den anderen weiterziehen werde,

während Sie allein zurückbleiben.

Ist es das, was Sie beschäftigt?

Egbert: (zögerlich) Ja.

Alina: Sie sind aber nicht allein. Sie

haben Ihre Pflanzen. Und Ihre

Schwester – haben Sie vorhin selbst

gesagt.

Egbert: Sie verstehen das nicht.

Alina: Doch, ich versteh‘s.

Egbert: Nein, das können Sie nicht

verstehen.

Alina: (ungeduldig) Aber ja!

Egbert: Als der Elfenspiegel blüh-

te, hatte ich gehofft, das wäre ein

Zeichen.

Alina: Der... Elfenspiegel?

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Egbert: Aber wenn ich gewußt

hätte, daß es nur einen Tag dau-

ert... Was meinen Sie, wie das sein

wird, wenn ich morgen aufwache

und alles ist schon wieder vorbei?

Es wird sein, als hätte ich diese Be-

gegnung mit Ihnen nur geträumt...

Alina: Ist doch egal. Ob’s nur ein

Traum war oder nicht.

Egbert: Nein, egal ist das nicht.

(überlegt) Na, oder vielleicht

doch... Es wird mich auf jeden Fall

traurig machen, daß es vorbei ist,

so oder so.

Alina: Aber Sie brauchen doch

nicht jetzt schon Trübsal zu blasen,

weil Sie vielleicht morgen schlecht

drauf sind. Herrje, Egbert – Sie sind

mir vielleicht einer...

(Unvermittelt ist ganz nahes Vogel-

gezwitscher zu hören.) Hören Sie

das...?

Egbert: Was?

Alina: Ich glaube, das ist ein Rot-

kehlchen.

Egbert: Wo?

Alina: Na, da oben – genau über

Ihnen.

Egbert: Tatsächlich.

Alina: Was für herrlich bunte Fe-

dern!

Egbert: Ich finde Ihre weißen Fe-

dern aber auch sehr schön.

Alina: Wirklich? Ich wollte sie

schonmal färben – hab mich dann

aber nicht getraut. Der Vorteil ist,

daß man zu weiß alles anziehen

kann. Stellen Sie sich die bunten

Federn von dem Rotkehlchen mal

zu der roten Hose und dem Pull-

over vor, den ich trage. Da sieht

man ja aus wie im Karneval!

Egbert: Wie nah dieser Vogel an

uns rankommt. Hat gar keine

Angst.

Alina: Warum sollte er?

Egbert: Ich fürchte mich oft. Vor

allen möglichen Dingen.

Alina: Also, nun reicht’s aber! Ehr-

lich, Egbert! Schauen Sie, jetzt ha-

ben Sie ihn vertrieben mit Ihrem

Selbstmitleid.

Egbert: Ich wollte nicht...

Alina: Halten Sie sich an mir fest,

wir fliegen jetzt los.

Egbert: Die Bäume stehen hier so

dicht. Werden Sie sich nicht in den

Zweigen verfangen?

Alina: Ich fliege über die Bäume

hinweg. Wir kehren nicht gleich zu

den anderen zurück, wir werden

erst noch einen kleinen Ausflug

machen. Haben Sie Lust?

Egbert: Einen Ausflug? Wohin?

Alina: Weiß nicht. Dahinten hin –

wo’s glitzert? Vielleicht ist das ein

Waldsee. Na, mal schauen, wie

weit ich mit Ihnen im Schlepptau

komme.

Egbert: Aber...

Alina: Nein, ich hab noch eine bes-

sere Idee – ich stelle Ihnen meine

Eltern und meine Geschwister vor.

Egbert: Ach, Eltern haben Sie

auch? Und Geschwister?

Alina: Klar, wieso nicht?

Egbert: Weil Sie ja... verkehrt her-

um sind.

Alina: Was bin ich?

Egbert: Sie erzählten doch vor-

hin...

Alina: Oh, ich verstehe. Ja, aber

Eltern hab ich trotzdem.

Egbert: Wohnen die weit von

hier?

Alina: Wir... mmm... wir müssen

einfach solange fliegen, bis wir ei-

nen Regenbogen sehen. Und dem

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folgen wir dann bis zu seinem Ur-

sprung. Dort, wo er die Erde be-

rührt...

Egbert: Ist das Ihr Ernst?!

Alina: Lassen Sie sich überra-

schen!

Egbert: Können Ihre Geschwister

auch fliegen?

Alina: (geheimnisvoll) Die können

noch viel mehr als ich. Sie werden

ja sehen.

Egbert: Na gut, ich vertraue Ih-

nen... Oh Mann, oh Mann! Wird

man Sie im Zirkus nicht vermissen?

Alina: Ist mir egal, heut ist keine

Vorstellung mehr. Und außerdem:

Sie und ich – wir brauchen beide

mal eine Auszeit, glaube ich. Wenn

ich Sie so reden höre... Und meine

Verabredung mit Jean-Luc ist ja

sowieso geplatzt.

Egbert: Na gut. Ähm... Wie soll

ich mich denn an Ihnen festhalten?

Alina: Stellen Sie sich vor, ich wür-

de Sie huckepack nehmen – nur

seitlich. Ja, genau so. Ich muß Sie

warnen: Kann sein, daß wir erstmal

einen kleinen Sturzflug hinlegen,

aber ich versuche, das aufzufangen,

bevor wir unten ankommen. Okay?

Egbert: Meinen Sie wirklich...

Alina: Klar, Egbert – ich fliege

schon, seit ich alt bin. Vertrauen Sie

mir.

Egbert: Mir fällt gerade etwas ein.

Alina: Was denn?

Egbert: Lachen Sie aber bitte

nicht.

Alina: Versprochen.

Egbert: Ich überlege mir gerade:

Müßte nicht... Eigentlich müßten

wir doch... Wenn Sie immer jünger

werden, und ich immer älter,

dann... Müßte dann nicht die Zeit –

während wir zusammen sind –

stillstehen?

Alina: Eine beflügelnde Idee. Aber

ich glaube nicht, daß das so einfach

ist... (kurze Pause, dann – zwei-

felnd:) Wollen Sie das überhaupt?

Die Zeit anhalten, meine ich?

Egbert: Meistens wär’s mir lieber,

die Tage würden schneller rum-

gehen. Aber jetzt im Moment...

also, jetzt hätte ich nichts dagegen,

wenn die Zeit ruhen würde.

Alina: Das ist lieb von Ihnen. Da-

bei muß ich an etwas denken, was

mein Papa mal erzählt hat: Er hat

gesagt, daß... jeder Mensch einen

Flügel hat und... und wenn die

Menschen fliegen wollen, dann...

geht das nur, wenn sie sich umar-

men.

Egbert: Lasse ich Ihnen genug

Platz zum Flattern?

Alina: Glaub schon. Wir werden

sehn. (tiefes Durchatmen) Bereit?

Egbert: Bereit.

Alina: Dann los!

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Domian: Und? Jetzt ist dein Bru-

der wieder Zuhause?

Gerda: Körperlich ja. Aber das ist

nicht mehr mein Bruder. Der hat

einen Schatten, sag ich dir. Diese

Flügel-Frau hat ihn verhext.

Domian: Sie ist jetzt wieder beim

Zirkus, nehme ich an?

Gerda: Richtig. Heut kam eine

Postkarte von ihr. Soll ich die mal

vorlesen?

Domian: Wenn sie nicht zu lang

ist...

Gerda: Also. Hier steht: „Lieber

Egbert, zur Erinnerung an unseren

gemeinsamen Ausflug möchte ich

dir etwas schenken: einen Elefan-

ten. Ich hab ihn schon auf die Reise

geschickt, er wird in den nächsten

Tagen ankommen. Gib ihm einen

Zuckersack zur Begrüßung, dann

schließt er gleich Freundschaft mit

dir... Du solltest jetzt schon das Fut-

ter für die erste Woche bestellen:

210 Pfund Quetschhafer, 175 Pfund

Kleie, 70 Pfund Brot, 210 Pfund

Stroh, 70 Pfund Zuckerrüben und 7

Zentner Heu. Wenn du zum ersten

Mal sein Trompeten hörst, wirst du

wissen, daß du nicht geträumt

hast... Alles Gute, deine Alina.“

Domian: Das ist doch nur ein

Scherz.

Gerda: Ich will’s hoffen.

Domian: Natürlich ist das ein

Scherz! Diese Frau hat viel Sinn für

Humor.

Gerda: Na ja, was diese Zirkus-

leute für witzig halten...

Domian: Nun interessiert uns alle

natürlich brennend: Was haben

dein Bruder und diese Alina zusam-

men gemacht?

Gerda: Tja, keine Ahnung!

Domian: Dein Bruder will nichts

davon erzählen?

Gerda: Kein Sterbenswörtchen. Er

sagt sowieso kaum was, seit er zu-

rück ist. Er ist völlig von der Rolle!

Also, Domian, jetzt mal unter uns:

Glaubst du wirklich, daß...

Domian: Ich glaube nicht, daß

dein Bruder verrückt ist. Ich hab

schon so viele unglaubliche Dinge

in dieser Sendung gehört, von de-

nen ich nie gedacht hätte, daß es

sowas geben kann... Ich glaube

auch jetzt nicht, daß es Menschen

gibt, die fliegen können – auch

nicht, nachdem du mir diese Ge-

schichte erzählt hast. Das ist wirk-

lich zu schrill. Aber...

Gerda: Kannst du dir das vorstel-

len, mit so ‘nem Kerl unter einem

Dach zu leben? Der...

Domian: Jaaa. Ich weiß, das ist

bestimmt nicht immer einfach.

Aber für ihn auch nicht.

Gerda: Hm. (Stille)

Domian: Weißt du, was ein Ding

wäre? Wenn ihm jetzt auch noch

Flügel wachsen würden.

SZENE SIEBEN

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Gerda: (abfällig) Der schwebt so-

wieso schon etliche Meter über’m

Erdboden...

Domian: (lacht) Bei so einer ver-

rückten Geschichte – da weiß man

nie, was noch kommt...

Gerda: Na, ich danke dir für’s Zu-

hören, Domian.

Domian: Alles Gute! Auch an dei-

nen Bruder.

Gerda: Werd ich ausrichten...

(Fade-Out, anschließend Schluß-

musik. Nachdem die Musik ver-

stummt ist, sind Schritte zu hören,

gefolgt von einer Türklingel. Die

Tür wird geöffnet. Eine Stimme

sagt:)

Schönen guten Tag! Ich bringe ein

Paket. Für einen gewissen... Egbert.

Steht nur der Vorname auf dem

Lieferschein. (lautes Elefanten-

trompeten) Das mit den Geranien

tut mir echt leid. Ihre Zufahrt ist

nicht breit genug für das Tier.

(erneutes Trompeten)

Ein Hörspiel von René Klammer.

Gesprochen von: Thomas Erdenberger (Egbert), Daniela Panteleit (Alina),Jens Ennen (Juan), Daniel Ersch (Max), Sophia N. Schlömann (Mertje),

Johanna Schmidt (Jolande)sowie Jürgen Domian und Hella von Sinnen.

Inszeniert von Regine Wiedmann. Musik von Uli Ackermann.(c) 2004 René Klammer.www.eingeklammert.de

Illustrationen von Larysa Golik.