Eine sequenzanalytische Betrachtung zum...

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Goethe Universität Frankfurt am Main Fachbereich 03 - Gesellschaftswissenschaften Institut für Soziologie Wintersemester 2015/16 Modul: SOZ10-MA-5 Seminar: Sequenzanalysen aus Kultur und Politik Dozent: Prof. Dr. habil. Ley „Niemals Gewalt“ (1978) - Eine sequenzanalytische Betrachtung zum Friedensverständnis von Astrid Lindgren. Eingereicht am 14.07.2016 von Ines Birkner Matr.-Nr.: 4240769 Soziologie Master, FS 4 [email protected]

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Goethe Universität Frankfurt am Main

Fachbereich 03 - Gesellschaftswissenschaften

Institut für Soziologie

Wintersemester 2015/16

Modul: SOZ10-MA-5

Seminar: Sequenzanalysen aus Kultur und Politik

Dozent: Prof. Dr. habil. Ley

„Niemals Gewalt“ (1978) -

Eine sequenzanalytische Betrachtung zum

Friedensverständnis von Astrid Lindgren.

Eingereicht am 14.07.2016

von

Ines Birkner

Matr.-Nr.: 4240769

Soziologie Master, FS 4

[email protected]

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ....................................................................................................... 3

2. Methodisches Vorgehen ................................................................................ 4

3. Darstellung erster Erschließungsschritte ........................................................ 5

4. Erweiterung der Fallstrukturhypothese und Kurzüberprüfung ..................... 12

5. Fazit und Ausblick ......................................................................................... 18

6. Literatur ....................................................................................................... 19

7. Anhang ......................................................................................................... 20

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1. Einleitung

Friedensgespräche und -verhandlungen werden geführt, Friedensethik und

Friedensforschung studiert, Friedensbewegungen gegründet, Friedenspreise verliehen.

Angesichts der andauernden politischen Konflikte und Kriege auf der Welt, sowohl auf

nationaler als auch auf regionaler Ebene (vgl. HIIK 2015: 13), erscheint die Frage nach dem

Weg zu Frieden umso dringlicher. In diesem Rahmen wird nicht selten nach dem

Friedensverständnis bekannter Persönlichkeiten gefragt; Kant, Bonhoeffer, Luther und viele

mehr werden zitiert. Wir1 möchten dazu einen Beitrag leisten, indem wir das

Friedensverständnis einer der wohl bekanntesten KinderbuchautorInnen beleuchten.

Astrid Lindgren (1907-2002), schwedische Schriftstellerin und eine der bekanntesten

Kinderbuchautorinnen weltweit, bekommt 1978 den Friedenspreis des Börsenvereins des

Deutschen Buchhandels verliehen. Geehrt werden Persönlichkeiten, „[…] die in

hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur,

Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat. Der

Preisträger wird ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Bekenntnisses gewählt.“ Es

ist der erste Friedenspreis, der an eine Kinderbuchautorin verliehen wird.

Anlässlich ihrer Ehrung hält Astrid Lindgren eine Rede in der Frankfurter Paulskirche mit dem

Titel „Niemals Gewalt“ und appelliert hierin an eine gewaltfreie Erziehung von Kindern. In

seiner Laudatio zur Rede hebt Hans-Christian Kirsch die Einstellung der schwedischen

Kinderbuchautorin gegenüber Kindern hervor: „Astrid Lindgrens persönliche Haltung und ihr

meistergültiges Einfühlungsvermögen in kindliches Bewußtsein sind für mich lebendiger

Beweis dafür, welchen Zuwachs an Friedfertigkeit und menschlichem Glück eine solche

Einstellung gegenüber Kindern erbringen könnte.“2 Als Mutter von zwei Kindern,

Kinderbuchautorin und politisch Aktive vereinen sich in der Person von Astrid Lindgren

vielfältige Perspektiven auf die politischen und sozialen Umstände, unter denen Kinder des

1 Grundlage dieser Arbeit sind die Analysesitzungen, in denen die Rede von Astrid Lindgren gemeinsam mit

Mathias Feil sequenzanalytisch analysiert wurde. Die Seminararbeiten wurden daraufhin eigenständig verfasst.

2 Siehe Anhang

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vergangenen Jahrhunderts aufwuchsen. Vor allem auch auf die in ihre Leb- und

Schriftstellerzeit fallenden Weltkriege und Friedensprozesse.

Nicht nur für Astrid Lindgren, sondern auch für die Kinder- und Jugendliteratur und die

Protagonisten dieser Literatur selbst, Kinder und Jugendliche, kann die Verleihung des

Friedenspreises des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels als ein bedeutsames Ereignis

betrachtet werden. Es erscheint daher soziologisch interessant, die Rede von Astrid Lindgren

sequenzanalytisch zu analysieren. Die vorliegende Arbeit ist geleitet von folgenden

Fragestellungen:

Welches Verständnis von Frieden liegt den Ausführungen der Kinderbuchautorin in ihrer Rede

zugrunde? Welche Bedeutung misst sie Kindern für eine friedvollere Welt bei?

2. Methodisches Vorgehen

An dieser Stelle sei kurz darauf verwiesen, dass wir uns bei der Analyse der Rede der

Sequenzanalyse der Objektiven Hermeneutik bedient haben, wie sie von Ulrich Oevermann3

begründet wurde. Im Rahmen der Objektiven Hermeneutik wird die methodologische

Prämisse verfolgt, „[…] dass ein Text Bedeutungsstrukturen generiert, die jenseits von

Selbstverständnis und Selbstbild einer sozialen Praxis liegen und die sich nicht in den

Meinungen, Intentionen oder Wertorientierungen dieser Praxis erschöpfen“ (Wernet 2000: 18).

Dementsprechend gilt es, diese latenten Sinnstrukturen über die Sequenzanalyse

herauszuarbeiten. Diese Entschlüsselung erfolgt maßgeblich über die Bildung von Lesarten

gemäß fünf leitenden Prinzipien: 1. Kontextfreiheit, 2. Wörtlichkeit, 3. Sequenzialität, 4.

Extensivität und 5. Sparsamkeit (vgl. Wernet 2000: 21-38). Dadurch gewinnt man den Raum

möglicher Bedeutungen an jeder Sequenzstelle. Es geht im weiteren Verlauf um die Bildung

möglicher sinnvoller Anschlussoptionen.

In den selektiven Wahlentscheidungen des Falles hebt sich, durch das Verfahren der

Sequenzanalyse über mehrere Sequenzstellen hinweg, im vorliegenden Fall das individuelle

3 Siehe bspw. Oevermann (1996; 2000; 2002) und Wernet (2000)

5

Friedensverständnis von Astrid Lindgren vor dem Hintergrund seiner latenten Sinnstruktur ab.

Nach einem feinanalytischen Vorgehen zu Beginn der Rede, werden weitere

Sequenzpositionen ausgewählt, um die Hypothese zur Fallstruktur zu überprüfen.

Dementsprechend gliedert sich auch die nachfolgende Darstellung der Analyseergebnisse.

3. Darstellung erster Erschließungsschritte

Grundlage für die vorliegende Sequenzanalyse ist die Dankesrede von Astrid Lindgren, die sie

1978 anlässlich des an sie verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der

Frankfurter Paulskirche hält. Die zu analysierende Rede liegt in Schriftform vor und lässt keine

Rückschlüsse auf ihre mündliche Darstellung zu. Ausgehend von der Frage nach dem

Friedensverständnis der Kinderbuchautorin und der Bedeutung, die sie Kindern für eine

friedvollere Welt beimisst, werden im Folgenden erste Erschließungsschritte dargestellt.

„Dankesrede“ (Z. 1)

Die Rede von Astrid Lindgren wird, zwischen einer Laudatio und einer weiteren Rede, als

„Dankesrede“ gerahmt. Diese Betitelung ist auch in weiteren Reden vorzufinden, sodass

davon ausgegangen werden kann, dass es sich hierbei um eine Festlegung von Seiten des

Deutschen Buchhandels handelt und nicht um eine selbstgewählte Bezeichnung durch Astrid

Lindgren. Dennoch erscheint es lohnenswert, mögliche, damit einhergehende Erwartungen

an eine unter diesem Zeichen stehenden Rede kurz aufzuzeigen. Es kann beispielsweise

angenommen werden, dass in einer Dankesrede vornehmlich die Dankbarkeit für etwas

sprachlich zum Ausdruck gebracht werden soll. In Form einer Reziprozitätserfüllung kann dies

die Benennung der Adressaten der Dankbarkeit sowie des Gegenstandes/der Geste für

den/die sich bedankt wird beinhalten. Insofern man über einen dankenswerten Anlass

informiert ist, erlaubt es eine Vorbereitung der Dankesrede, sodass sie nicht ad hoc gehalten

werden muss. Dies eröffnet den Raum für eine individuell durchdachte Struktur, sowohl auf

inhaltlicher als auch auf sprachlicher Ebene. Des Weiteren kann die Zuhörerschaft in der

Ausformulierung der Dankesrede mitgedacht werden. In welcher Anredeform adressiere ich

sie? In welcher Beziehung stehe ich zu ihnen? Worin bestehen Gemeinsamkeiten, worin

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Differenzen? Was möchte ich den Zuhörenden vermitteln (bspw. eine Botschaft) und wie kann

es mir gelingen? Fragen, die sich erweitern ließen und in den Kontext einer übergeordneten

Fragestellung gestellt werden können: Wer sind die Zuhörer?

„ »Niemals Gewalt« “ (Z. 2)

Die Analyse wird mit der Überschrift der Rede fortgeführt, die ihren Beginn markiert. Unklar

ist, ob sie im Nachhinein von jemandem hinzugefügt oder von der Autorin selbst gewählt

wurde. In Anführungszeichen gesetzt, kann es sich um ein Zitat, um eine wörtliche Rede oder

beides zugleich handeln. Eine eigene Botschaft in solch einer Form hervorzuheben wäre

unüblich, jedoch denkbar. Gleichwohl kann das Zitat die eigene Botschaft ausdrücken. Wir

verfolgen im Weiteren die Lesart, dass es sich um eine selbst gewählte Überschrift handelt,

zumal sie der Rede ihre Rahmung verleiht und bezeichnend für das Gesamtwerk ist.

Wendet man sich nun der inhaltlichen Analyse zu, kann konstatiert werden, dass das Adverb

„niemals“ eine gewisse Ausschließlichkeit und zeitliche Unbegrenztheit verkörpert. Zu keiner

Zeit und unter keinen Umständen „Gewalt“. Der Gewaltbegriff wird nicht näher bestimmt. Als

Oberbegriff für jegliche Formen von Gewalt, wird der Eindruck der Ausschließlichkeit

verstärkt. Da eine Vervollständigung des Satzes um ein Verb ausbleibt, könnte es sich um eine

Antwort auf eine Frage, um einen Lösungsvorschlag oder um einen Appell handeln.

Anschließend an diese Überlegungen und unabhängig von der Art des Satzes, kann

angenommen werden, dass es sich um eine Reaktion auf etwas handelt.

Führt man die formalen und inhaltlichen Aspekte zusammen, so kann die Überschrift als ein

eindringlicher Ausruf der Ablehnung von Gewalt gelesen werden. Als Reaktion auf etwas

müsste es im weiteren Verlauf der Rede zu einer Explikation des dem zugrundeliegenden

Phänomens kommen.

„Liebe Freunde!

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Das erste, was ich zu tun habe, ist Ihnen zu danken, und das tue ich von ganzem

Herzen.“ (Z. 3-5)

In ihrer Anrede und dem nachfolgenden, einleitenden Satz adressiert Astrid Lindgren die

Zuhörerschaft in Form von freundschaftlicher Nähe („Freunde“) und förmlicher Distanz

(„Ihnen“) zugleich. Dem Ausruf „Liebe Freunde!“ kann eine, bereits auf gegenseitiger Bekannt-

und Vertrautheit beruhende Beziehung zugrunde liegen oder aber eine vergemeinschaftende,

Vertrauen stiftende Funktion zugeschrieben werden. Gleichzeitig verortet und präsentiert sich

die Rednerin dadurch selbst als jemand, die als Freundin zur Zuhörerschaft spricht. Eine

respektvolle, wohlgesonnene Begegnung? Hinzu kommt, dass in einer Rede zu Freunden

informelle Wege der Kommunikation, Offenheit und Direktheit möglich erscheinen. Auffällig

ist, dass sie lediglich eine Personengruppe, die „Freunde“, adressiert und dieser ihren Dank

ausspricht.

„Das erste“, wozu sich die Autorin verpflichtet fühlt, ist „zu danken“ und das „von ganzem

Herzen“. Die Rednerin setzt somit zu Beginn der Rede die Priorität auf den Dank und kommt,

wie weiter oben ausgeführt, einer gewissen Reziprozitätserfüllung nach. Eine weitere Lesart

wäre, dass es sich um eine selbst auferlegte Dankesverpflichtung handelt. Man könnte hier

beispielsweise auch von einer Etikette in Dankesreden sprechen. Betrachtet man das Herz

nicht bloß als Organ, sondern sinnbildlich bzw. leiblich als ein Zentrum von Empfindungen, so

ist die Dankesverpflichtung geleitet von einer aus dem Inneren kommenden, emotionalen

Intention (ex- und intrinsisch). Ein Dank aus Verpflichtung, der zu einer Etikette einer

Dankesrede gehört, wäre kein authentischer Dank, wenn ihm kein intrinsisches Motiv

gegenüber steht. Insofern stellt der Dank „von ganzem Herzen“ im Anschluss an „Liebe

Freunde“ eine zweite Ebene der Reziprozität dar. Der Dank dient ihr als Gegengabe.

„Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels strahlt einen solchen Glanz aus

und ist eine so hohe Auszeichnung, daß es einen fast überwältigt, empfängt man

ihn.“ (Z. 5-9)

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Ohne den Dank weiter auszuführen, geht es in der nächsten Sequenz um die Verknüpfung der

Eigenschaften des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels mit dessen Wirkung auf den

Empfänger des Preises. Als einer von vielen internationalen Literaturpreisen, wird ihm eine

innewohnende und nach außen in Erscheinung tretende („solchen Glanz“), weitreichende

(„strahlt […] aus“) Wirkung zugeschrieben. Auch in seiner Funktion, als „hohe Auszeichnung“,

wird ihm eine besondere Wertigkeit beigemessen. Mit einer kleinen Einschränkung („fast“),

stellt der Moment des Empfanges ein krisenhaftes Ereignis für denjenigen dar, der

ausgezeichnet wird. Seiner Wirkung kann sich „fast“ nicht entzogen werden. Die Relativierung

des Überwältigtseins bedarf einer Ausführung im weiteren Verlauf, die die Lücke zur

gänzlichen Überwältigung schließt. Unklar ist weiterhin, ob sich die überwältigende Wirkung

auf den Preis im Allgemeinen oder auf den Friedenspreis im Besonderen, als Ehrung für den

Beitrag zur Verwirklichung des Friedensgedankens, bezieht. Auch fehlt bislang noch der Bezug

zwischen Preis und Person, die subjektive Bedeutung des Preises für den Empfänger. In der

nachfolgenden Sequenz findet, letztere Unklarheit erhellend, eine Selbstverortung im „hier“

und „jetzt“ statt, die die Rednerin gleichzeitig als in einer Reihe von Ausgezeichneten stehend

verortet („wo schon so viele“).

„Und jetzt stehe ich hier, wo schon so viele kluge Männer und Frauen ihre

Gedanken und ihre Hoffnungen für die Zukunft der Menschheit und den von uns

allen ersehnten ewigen Frieden ausgesprochen haben - was könnte ich wohl

sagen, das nicht schon andere vor mir besser gesagt haben?“ (Z. 9-15)

Die Rednerin schließt sich in einen Kreis „kluge[r] Männer und Frauen“ ein, übt jedoch

selbstkritisch Zweifel an dem Beitrag, den sie in Anbetracht der schon ausgesprochenen

Friedensgedanken und -hoffnungen, „wohl“ leisten kann. Über die Rhetorik der Fragstellung

wird deutlich, dass sich die Rednerin ihres Beitrages bewusst ist. Sie stellt sich die Frage vor

dem Hintergrund schon getroffener Aussagen, die sie im Folgenden ausführen wird. Zudem

kann die Rhetorik als Spannung und Neugier beim Zuhörer hervorrufend gedeutet werden.

Inhaltlich klingt ein gewisser Zweifel in ihrer Rede an, diese Sequenz könnte auch wie folgt

gelesen werden: die Reden um und für Frieden haben bislang noch nicht zum ewigen Frieden

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geführt. Ist Frieden überhaupt möglich? „[S]chon so viele“ haben sich für Frieden

ausgesprochen. Dies führt zu der Lesart, dass die Rednerin Frieden nicht als etwas

Naturgegebenes betrachtet, sondern als etwas, das vom Menschen herbeigeführt werden

muss, menschlichen Willen und Handlung voraussetzt. Die Aussprache von „Gedanken“ und

„Hoffnungen“ allein genügt nicht, um die Fragen nach der „Zukunft der Menschheit“ und

„dem ersehnten ewigen Frieden“ zu klären. Diese Deutungen weisen Parallelen zu den

Überlegungen von Immanuel Kant „Zum ewigen Frieden“ (1795) auf. Nach ihm ist Frieden

etwas, das von Menschen geschaffen werden muss. Frieden bedarf einer menschlichen

Stiftung.

Der Frieden wird als ein „von uns allen ersehnte[s]“ Ideal dargestellt und in Verbindung zu der

„Zukunft der Menschheit“ gesetzt. Die „Zukunft der Menschheit“, als vor allem die nächsten

Generationen betreffend, stellt die Friedensfrage zum einen in den Kontext einer globalen

Frage. Sie betrifft die Gesamtheit aller Menschen. Zum anderen werden hier die Fragen der

intergenerationalen Reproduktion und Transformation sowie einer

generationenübergreifenden Verantwortung evident. Die Friedensfrage stellt sich

dementsprechend ebenfalls als Generationenfrage.

In dieser Sequenz, so kann zusammenfassend festgehalten werden, sieht sich die Rednerin vor

die Aufgabe gestellt, über die bisherigen Reden hinaus einen Beitrag zu den Fragen nach der

„Zukunft der Menschheit“ und „dem ersehnten ewigen Frieden“ zu leisten. Es kann

angenommen werden, dass ihre weiteren Ausführungen zum einen von denjenigen

Deutungen geleitet sind, die sie von bisherigen RednerInnen unterscheidet. Sie muss sich zu

den von ihr erwähnten VorrednerInnen positionieren, was Gemeinsamkeit und Differenz

impliziert. Aus der vorliegenden Sequenz geht hervor, dass die Gemeinsamkeit in den

Gedanken und Hoffnungen aller Preisträger für die Zukunft der Menschheit und den ewigen

Frieden liegt. Letzterer verkörpert ein absolutes Ideal, indem hier ein ewiger Zustand und die

gesamte Gattung angesprochen werden. Die Differenz, so die Annahme, könnte darin

bestehen, dass ihr eigener Beitrag einer generationenspezifischen Auseinandersetzung mit

dem Thema zugrunde liegt. Dies eröffnet den Möglichkeitsrau, Antworten auf die

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Friedensfrage entlang generationaler Fragen zu ergründen. Zieht man das Wissen um ihren

Beruf als Kinderbuchautorin heran, für den die Vermittlung zwischen den Generationen bzw.

die Einfühlung in eine „fremde“ Generation konstitutiv ist, so könnte genau darin die

Besonderheit ihres Beitrages liegen.

„Über den Frieden sprechen heißt ja über etwas sprechen, das es nicht gibt.

Wahren Frieden gibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch nie gegeben, es sei

denn als Ziel, das wir offenbar nicht zu erreichen vermögen.“ (Z. 16-20)

Zunächst bedarf es, ihren Ausführungen eigener Gedanken und Hoffnungen vorangestellt,

einer Erläuterung bzw. Klarstellung. Gleichzeitig suggeriert diese eine gewisse Einigkeit über

das Fehlen von realem Frieden („heißt ja“), die als solche nicht vorausgesetzt werden kann

und daher erwähnenswert ist. Eine Definition von Frieden wird nicht vorgenommen, Frieden

bleibt zunächst „etwas“ nicht näher Bestimmbares, „[…] das es nicht gibt“. Jedoch scheint es

eine Vorstellung von Frieden zu geben, denn nur so ist es möglich, seine Abwesenheit zu

konstatieren.

Gleiches gilt für den „wahren Frieden“, der an den „ewigen Frieden“ in der vorherigen

Sequenz erinnert. Die Nennung des „wahren Friedens“ evoziert eine Art Wertigkeit und wirft

die Frage nach seinem Pendant und seiner Realisierbarkeit auf. Was herrscht vor, wenn kein

„wahrer Frieden“ und warum ist der Mensch nicht in der Lage, ihn zu „erreichen“?

Sowohl gegenwärtig als auch bisher wurde der „wahre Frieden“ als Idealzustand („Ziel“) nicht

erreicht. „Nie“, das bedeutet, zu keiner Zeit, nicht ein einziges Mal, unter keinen Umständen.

„[…] [N]icht auf unserer Erde […]“ verstärkt die Nicht-Existenz des „wahren Friedens“. Eine

mögliche religiös-philosophische Lesart bestünde darin, in diesem Satz eine Eröffnung einer

Zweiteilung in ein Diesseits und ein Jenseits zu sehen. Führt man diesen Gedanken weiter aus

und betrachtet man die diesseitige Wirklichkeit als Wirklichkeit der Menschheit und die

jenseitige als göttliche Wirklichkeit, könnte die Ursache für die Nicht-Existenz des Friedens in

der Menschheit bzw. dem Menschen selbst liegen. Die nachfolgende Sequenz verstärkt diese

Lesart.

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„Solange der Mensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der Gewalt und dem Krieg

verschrieben, und der uns vergönnte, zerbrechliche Friede ist ständig bedroht.“ (Z.

20-24)

Dem Menschen wird nicht nur die Unfähigkeit zum „wahren Frieden“ attestiert, wie in der

vorherigen Sequenz („nicht zu erreichen vermögen“), sondern über dies hinaus wird ihm

unterstellt, „sich der Gewalt und dem Krieg verschrieben“, sich in deren Dienst gestellt zu

haben. Im Menschen selbst, als ausführendes, Gewalt und Krieg stiftendes Organ, liegt die

andauernde Bedrohung des „uns vergönnte[n], zerbrechliche[n]“ Friedens. Die Zubilligung des

Friedens durch eine vermutlich höhere, gegebenenfalls göttliche Instanz, um bei einer religiös-

philosophischen Lesart zu bleiben, sowie dessen Fragilität, betonen zum einen seinen hohen

Wert. Zum anderen wird dadurch der rücksichtslose, menschliche Umgang mit dem Frieden

hervorgehoben.

Was bis Zeile 59 folgt, ist eine Bestandsaufnahme der politischen und sozialen Bestrebungen

für Frieden, deren Hoffnungslosigkeit sowie die Fragen nach einem möglichen Ausweg, nach

Veränderung. Die Bestrebungen bestehen im sozialem Aktivismus (Z. 26-29) sowie in

politischen „Gipfelgesprächen“ (Z. 31) und „Abrüstungskonferenz[en]“ (Z. 39). Der Frieden, so

eine Lesart, ist allein auf politischer Ebene nicht erreichbar. Denn gleichzeitig „findet die

irrsinnigste Aufrüstung in der Geschichte der Menschheit statt“ (Z. 40-41), worin eine

Paradoxie des Handelns besteht. Dies führt die Rednerin zu der Frage nach der

Fehlerhaftigkeit des Menschen selbst (Z. 49-52): „Können wir nicht versuchen, eine ganz neue

Art Mensch zu werden? Wie aber soll das geschehen, und wo sollte man anfangen?“ (Z. 55-

59) Hierin drückt sich eine kognitivistische Perspektive auf das Menschwerden aus, „Lernen

durch Einsicht“. Der „Versuch“, „eine ganz neue Art Mensch zu werden“, erfordert das

menschliche, kollektive („wir“) Handeln.

Lindgren schließt damit ihre Erläuterungen und Ausführungen zum Ist-Zustand ab und leitet

mit letztgenannten Fragen (Z. 55-59) über zu ihrem Beitrag, den sie schon zu Beginn

angedeutet hatte: „was könnte ich wohl sagen, das nicht schon andere vor mir besser gesagt

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haben?“ (Z.13-15) Dies soll im Nachfolgenden näher erläutert werden und als Grundlage für

die Beantwortung der dieser Arbeit zugrunde liegenden Fragestellungen dienen.

Als Hypothese zur Fallstruktur kann Folgendes festgehalten werden:

Das Friedensverständnis wird im vorliegenden Text aus einer Perspektive heraus formuliert,

die sich von bisherigen Perspektiven unterscheidet. Der Text steuert eine Logik an, in der diese

Positionierung über eine generationenspezifische Auseinandersetzung stattfindet.

4. Erweiterung der Fallstrukturhypothese und Kurzüberprüfung

Im Folgenden soll die Fallstrukturhypothese, wie sie in unseren Analysesitzungen erarbeitet

wurde, überprüft und gegebenenfalls erweitert werden. Dies geschieht unter Bezugnahme

auf geeignet erscheinende Sequenzen. Es geht einerseits darum, das Friedensverständnis der

Autorin in Erfahrung zu bringen. Andererseits soll ergänzend herausgearbeitet werden,

welche Bedeutung sie Kindern für eine friedvollere Welt beimisst.

„Ich glaube, wir müssen von Grund auf beginnen. Bei den Kindern.“ (Z. 60-61)

Auf die Frage: „[…] wo sollte man anfangen?“ (Z. 59) folgt die subjektive Meinung der

Rednerin. Sie glaubt für ein Kollektiv („wir“) und adressiert dadurch die Zuhörerschaft. „[V]on

Grund auf“ impliziert, um es bildlich auszudrücken, etwas vom Fundament her, sprich

fundamental, neu zu gestalten. Dies schließt die Möglichkeit aus, etwas schon Bestehendes

verändern zu können. In dieser Hinsicht könnte man mit dem Verhältnis von Krise und Routine

argumentieren: In der gegenwärtigen Erwachsenengenerationen hat sich eine den Frieden

ständig bedrohende Krise verstetigt. Die zur Verfügung stehenden Routinen für

Problemlösungen reichen nicht mir aus, um die Krisen zu bewältigen. Die Hoffnung verlagert

sich somit auf die nächste Generation. In Anbetracht der radikalen Forderung nach einer

neuen „Art Mensch“ ist es dementsprechend auch erst der nächsten Generation, „den

Kindern“, möglich, zur dieser Art Mensch zu zählen. Jedoch nicht ohne das Zutun der

Erwachsenengeneration, denn ihnen (im kollektiven „wir“ inbegriffen) wird eine aktive Rolle

zugeschrieben.

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In dieser Sequenz, so konstatieren die Autoren dieser Arbeit, wird den Kindern die Schaffung

von Neuem zugesprochen. Mit ihrer Generation ist ein Neubeginn möglich. Ein Neubeginn in

der Mitte des Lebens erscheint dagegen nicht möglich. Dies lässt darauf schließen, dass die

Kindheit als eine prägende Phase gedeutet wird, in der die Grundlagen für das spätere Leben

gesetzt werden. Diese Deutung wird im weiteren Verlauf der Rede wiederholend aufgegriffen

und erhält dadurch den Charakter eines für den Text typischen Musters. (vgl. z.B. Z. 114 ff.; Z.

133-134; Z. 135-138; Z. 152 ff.)

„Die jetzt Kinder sind, werden ja einst die Geschäfte unserer Welt übernehmen,

sofern dann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es, die über Krieg und Frieden

bestimmen werden und darüber, in was für einer Gesellschaft sie leben wollen. In

einer, wo die Gewalt nur ständig weiter wächst, oder in einer, wo die Menschen in

Frieden und Eintracht miteinander leben.“ (Z. 68-76)

Die Kinder als zukünftige Erwachsene stehen im Zentrum dieser Sequenz (vgl. auch Z. 76-79).

Gegenwart und Zukunft fallen in eins. Dies hebt die Kindheit als prägende Phase erneut

hervor. Die Kinder werden als jetzt Seiende und zukünftig handelnde Akteure betrachtet:

„[J]etzt […] sind“ die Kinder, „einst“ „werden“ sie. Ihnen wird eine zukünftig machtvolle

Position zugesprochen, eine Entscheidungsmacht, denn sie „bestimmen“, „was […] sie […]

wollen“. Dementsprechend sind sie als Kinder nicht gestaltungsfähig. In der Übernahme der

„Geschäfte unserer Welt“ verdeutlicht sich erneut die Generationenfrage. Als quasi

natürlicher Prozess ist diese Übernahme Bestandteil im menschlichen Lebenslauf. Die eine löst

die andere Generation ab. Dabei können die „Geschäfte“ nicht von Grund auf neu geschaffen

werden, sondern sind als übernommene „Geschäfte“ immer schon vorbestimmt. Die

Bedeutung des Generationenverhältnisses sowie der generationenübergreifenden

Verantwortung spiegelt sich zudem sehr deutlich in der Prekarität der Situation wieder. Fast

zynisch klingt der Nebensatz, „sofern dann noch etwas von ihr übrig ist“, schließt er doch ein

Endzeitszenario nicht aus.

Ausgehend von der Frage, „in was für einer Gesellschaft sie leben wollen“, eröffnen sich durch

die Entweder-Oder-Logik, „[i]n einer […] oder in einer […]“, zwei Zukunftsszenarien, die sich

14

entgegenstehen. In dem einen erscheint Gewalt als etwas eigenständig gewordenes,

unaufhaltsames, die „nur ständig weiter wächst“. Die Symbolik des Wachsens impliziert, dass

es einen Nährboden geben muss, auf dem Gewalt überhaupt weiter wachsen kann. Diesen

Nährboden verkörpert die Gesellschaft. In dem zweiten Szenario wird ein Gesellschaftsbild

entworfen, das von einem friedvollen Miteinander unter den Menschen bestimmt ist. Sich

entweder für das eine oder das andere Szenario entscheiden zu können, verstärkt die

Gegensätzlichkeit der Szenarien und schließt eine dazwischenliegende Option aus.

Erweiterung der Fallstrukturhypothese:

Das Friedensverständnis wird im vorliegenden Text aus einer Perspektive heraus formuliert,

die sich von bisherigen Perspektiven unterscheidet. Der Text steuert eine Logik an, in der diese

Positionierung über eine generationenspezifische Auseinandersetzung erfolgt.

Die nächste Generation soll von der jetzigen Erwachsenengeneration zur Lösung von

Problemen befähigt werden, zu deren Bewältigung sie selbst nicht fähig ist. Entsprechend

einer familiensoziologischen Betrachtung4 kann konstatiert werden, dass es eine mit der

wichtigsten Funktionen in der sozialisatorischen Eltern-Kind-Interaktion ist, dass das Erleben

und Aushalten von Gemeinsamkeit und Differenz in der ödipalen Triade erlernt wird. Die (Aus-

) Gestaltung des Generationenverhältnisses in der Kindheit bestimmt somit nachhaltig das

Verhältnis der nächsten Generation im Erwachsenenalter zum Frieden.

„Und warum ist uns dies trotz allen guten Willens so schlecht gelungen?“ (Z. 79-

80)

Im Anschluss an die Eröffnung der Möglichkeitsräume, die sich für die „heutigen Kinder“ (Z.

76) als zukünftige Erwachsenengeneration ergeben, wird die Frage nach den Gründen des

Scheiterns der eigenen Generation aufgeworfen. Dies verweist auf das Bewusstsein, über die

Vergangenheit und den paradox scheinenden Ausgang der Bemühungen zu reflektieren. Der

Prozess des Bemühens, des Handelns, des Einsatzes, wird hier über die Verwendung der

4 vgl. z.B. Allert 1998; Garz-Raven 2015

15

Vergangenheitsform als abgeschlossen dargestellt. Erneut wird das Scheitern der eigenen

Generation deutlich. Während der Kindergeneration eine Veränderung des Zustandes noch

möglich ist, ist dieser Generation lediglich die Reflexion des Zustandes möglich. Dies findet

sich in der Struktur des Textes selbst wieder:

„Blicken wir nun einmal zurück auf die Methoden der Kindererziehung früherer

Zeiten. Ging es nicht allzu häufig darum, den Willen des Kindes mit Gewalt […] zu

brechen?“ (S. 139-143)

Mit Blick auf „die Methoden der Kindererziehung früherer Zeiten“ wird zunächst konstatiert,

dass ein autoritärer, gewaltvoller Erziehungsstil „allzu häufig“ handlungsleitend war. Und das,

durch das Alte Testament (vgl. Z. 149) vorgegeben und unhinterfragt geblieben, „durch die

Jahrhunderte“ (Z. 150) hinweg. Der Rückbezug auf das Alte Testament verdeutlicht die starke

Tradition dieser Erziehungsmethoden und gleichzeitig deren reproduktiven statt

transformativen Charakter. Diese Art transgenerationale Weitergabe drückt sich auch im

weiteren Verlauf des Textes aus: „[…] Kinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt […] von

den eigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dann der nächsten Generation weitergeben!“

(Z. 144-146) Hierin drückt sich die Idee des Rollenlernens, wie sie vor allem von George Herbert

Mead begründet wurde, aus. Vor dem Hintergrund der bisherigen familiensoziologischen bzw.

sozialisationstheoretischen Betrachtung, stellt sich an dieser Stelle die Bedeutung der

sozialisatorischen Interaktion und die in ihr verwendeten „Methoden der Kindererziehung“

wiederholend heraus. Des Weiteren erinnert die Semantik an eine asymmetrischen Lehr-Lern-

Situation, wie sie für den „Unterricht“ typisch ist, und in der das „Wissen“ um Gewalt

vermittelt und angeeignet wird. Gewalt, so wie sie im Verständnis des Textes begriffen wird,

ist dementsprechend nicht genetisch veranlagt, wie auch die folgende Sequenz verdeutlicht.

„Die Intelligenz, die Gaben des Verstandes mögen zum größten Teil angeboren

sein, aber in keinem neugeborenen Kind schlummert ein Samenkorn, aus dem

zwangsläufig Gutes oder Böses sprießt.“ (Z. 110-114)

16

Das Gute bzw. Böse ist nicht im Menschen veranlagt, nicht naturwüchsig. Vor dem

Hintergrund der vorherigen Analyse, bedarf es eines äußeren Einflusses bzw. eines

Aneignungsprozesses. Ausschlaggebend hierfür ist die elterliche Zuwendung, „[…] ob sie ihm

zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nicht tun.“ (Z. 120-122) Hierin verdeutlicht sich die

Bedeutung der Eltern-Kind-Beziehung im Allgemeinen sowie die elterliche Verantwortung für

das Werden des Kindes im Besonderen. Mehr noch: durch die elterliche, liebevolle Zuwendung

zum Kind, entwickelt dieses „[…] ein liebevolles Verhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt

diese Grundeinstellung sein Leben lang.“ (vgl. Z. 125-128) Auf dem sicheren Boden diffuser

Sozialbeziehungen, um die familiensoziologische Argumentation fortzuführen, kann das Kind

im günstigen Fall ein Selbst-Bewusstsein seiner Individualität und eine explorative Haltung

gegenüber der Welt entwickeln. Im Rahmen eines erzieherischen und sozialisatorischen

Prozesses in der Eltern-Kind-Beziehung wird sich ein Verhältnis zur Umwelt angeeignet. Das

Kind erlernt sukzessive die Fähigkeit, verschiedene Formen sozialer Beziehungen einzugehen

und damit Diversität, Ambivalenz, verschiedene Verhältnisse von Vertrautheit und Fremdheit

zu erleben und zu erfahren, was der Haltung zum Frieden vermutlich förderlich sein dürfte.

Erneut wird die Kindheit als die „Grundeinstellung“ prägende Lebensphase hervorgehoben. Es

sei „[…] für uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltung durch Liebe geprägt worden ist und

nicht durch Gewalt“ (Z. 133-134), insbesondere wenn es „zu diesen Mächtigen“ (Z. 132)

gehören sollte, „die das Schicksal der Welt lenken“ (Z. 130). Die retrospektive Betrachtung der

„Kindheit aller dieser wirklich »verdorbenen Knaben«, von denen es zur Zeit so viele auf der

Welt gibt, dieser Diktatoren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Menschenschinder“ (Z. 153-

157) und die Überzeugung Lindgrens, „[…] daß wir bei den meisten von ihnen auf einen

tyrannische Erzieher stoßen würden […]“ (Z. 158-159) verweisen auf und bestätigen zugleich

die Idee des Rollenlernens sowie die Bedeutung der sozialisatorischen Interaktion und der

Lebensphase Kindheit.

An dieser Stelle kann eine Sättigung der Analyse festgestellt werden, Muster treten wiederholt

im Material auf. Es sei daher abschließend noch auf den elliptischen Abschluss der Rede

verwiesen, der uns zur Deutung der Überschrift „»Niemals Gewalt«“ zurückführt.

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Ab Zeile 222 wird in dem Text auf eine Erzählung einer alten Dame verwiesen. Es wird ein

persönliches Erlebnis dieser Dame in jüngeren Jahren geschildert: „[…] eines Tages hatte ihr

kleiner Sohn etwas getan, wofür er ihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdient hatte, die

erste in seinem Leben.“ (Z. 229-232) Sowohl für den Sohn als auch für die Mutter stellt sich

dieses Ereignis als etwas Krisenhaftes heraus und die Mutter, „[…] die plötzlich […] alles mit

den Augen des Kindes […]“ (Z. 240-241) sah, führt ihre erdachte Handlung nicht aus.

Stattdessen blieb der Gegenstand, der zur Ausführung der Prügel dienen sollte, „[…] als

ständige Mahnung an das Versprechen, das sie sich in dieser Stunde selbst gegeben hatte:

»NIEMALS GEWALT«“ (Z. 247-249), liegen.

Diese persönliche Erfahrung aus einer Mutter-Kind-Interaktion erfährt in der vorletzten

Sequenz des Textes eine Generalisierung und wird zum Plädoyer für Gewaltfreiheit.

Symbolisch wird sie allem voran gestellt und zur Überschrift des Textes erhoben.

„Vielleicht wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein auf das Küchenboard

legten als Mahnung für uns und für die Kinder: NIEMALS GEWALT!“ (Z. 267-270)

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5. Fazit und Ausblick

In der vorliegenden Seminararbeit wurde zum einen versucht, das Friedensverständnis von

Astrid Lindgren in ihrer Rede zum Erhalt des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels

mittels sequenzanalytischer Betrachtung zu erhellen. In ersten Erschließungsschritten konnte

herausgearbeitet werden, dass die Positionierung der Rednerin vor allem über die Differenz

zu ihren VorrednerInnen erfolgt und sich schon hier eine Fallspezifität anbahnt. Im weiteren

Verlauf der Analyse konnte diese Fallspezifität näher bestimmt werden. In diesem Fall stellt

sich die Friedensfrage als eine globale sowie als eine Generationenfrage heraus.

Zum anderen ging es um die Klärung der Frage, welche Bedeutung die Autorin Kindern im

Rahmen der Friedensfrage beimisst. Es konnte herausgearbeitet werden, wie konstitutiv die

Eltern-Kind-Beziehung und die Phase Kindheit für das Verhältnis zum Frieden im

Erwachsenenalter aus der Perspektive Astrid Lindgrens sind. Ein historischer Rückblick auf die

„Methoden der Kindererziehung“ führt die Autorin zu dem Schluss, dass Gewalt wieder

Gewalt erzeugt. Es kann somit von einer Reproduktion von Gewalt gesprochen werden. In

dieser Hinsicht geht die Autorin nicht von einer genetischen Veranlagung, sondern von einem

erlernten Verhalten aus. Aufgrund dieser Feststellung erscheint Veränderung möglich, die im

familiären Nahraum und in der Kindheit beginnen muss.

In dem die Autorin ein Erlebnis aus einer familiären Erziehungspraxis schildert und die daraus

resultierende Erkenntnis „Niemals Gewalt“ an den Anfang ihrer Rede stellt, gibt sie eine

Antwort auf die Frage nach dem ewigen Frieden. Diese kann als fallspezifisch festgehalten

werden.

In einem nächsten Schritt wäre es denkbar, weitere Fallrekonstruktionen von Dankesreden

zum Friedenspreis auf ihr Friedensverständnis hin zu analysieren und diese dann mit dem

hiesigen zu vergleichen. Welche gemeinsamen und welche unterschiedlichen Motive werden

aufgegriffen? Auch wäre es spannend weitere Reden von KinderbuchautorInnen

sequenzanalytisch zu betrachten. Die vorliegende Arbeit hat den Anspruch, einen

Ausgangspunkt für vergleichende Analysen zu bieten.

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6. Literatur

Allert, Tilmann (1998): Die Familie. Fallstudien zur Unverwüstlichkeit einer Lebensform

Garz, Detlef/Raven, Uwe (2015): Theorie der Lebenspraxis: Einführung in das Werk Ullrich

Oevermanns. 3. Sozialisation, Sozialisatorische Praxis, Familie. Wiesbaden: Springer, S. 61-

90

Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung (HIIK) (2016): Conflict Barometer

2016. Online unter (Zugriff: 21.03.2016):

http://www.hiik.de/de/konfliktbarometer/pdf/ConflictBarometer_2015.pdf

Kant, Immanuel (1795): Zum ewigen Frieden: ein philosophischer Entwurf. Königsberg:

Nicolovius, 1. Auflage

Oevermann, Ullrich (1996): Beckett’s »Endspiel« als Prüfstein hermeneutischer

Methodologie. Eine Interpretation mit dem Verfahren der objektiven Hermeneutik.

(Oder: Ein objektiv hermeneutisches Exerzitium). In: König, Hans-Dieter (Hg.): Neue

Versuche, Becketts 'Endspiel' zu verstehen. Sozialwissenschaftliches Interpretieren nach

Adorno. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 93-249

ders. (2000): Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der

klinischen und pädagogischen Praxis. In: Kraimer, Klaus (Hg.): Die Fallrekonstruktion.

Sinnverstehen in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp,

S. 58-156

ders. (2002): Klinische Soziologie auf der Basis der Methodologie der objektiven

Hermeneutik - Manifest der objektiv hermeneutischen Sozialforschung

Wernet, Andreas (2000): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven

Hermeneutik. Opladen: Leske + Budrich

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7. Anhang

FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

1978

Astrid Lindgren

FRIEDENSPREISDES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

Biirsenverein des Deutschen Buchhandels

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Hans-Christian Kirsch___________________________________

Laudatio

Die Frage, was mit einer hervorragendenLeistung im Bereich der Kinder- und Jugendlite-ratur für den Frieden getan sei, ist seit Bekannt-werden des Namens der diesjährigen Trägerindes Friedenspreises des Deutschen Buchhandelsgelegentlich zu hören gewesen.

Ich will, wenn ich von dieser Frage ausgehe,mich nicht näher mit der Unterscheidung befas-sen, die in der Bundesrepublik immer noch hinund wieder zwischen sogenannter »großer« Lite-ratur einerseits und Kinder- und Jugendliteraturals etwas a priori Minderem oder Zweitrangigemgemacht wird.

Vorurteile, die eine solche Unterscheidunghervorbringen, sind erfreulicherweise seit einigerZeit im Abnehmen begriffen.

Wenngleich ein genaueres Nachdenken übersie auch in den Kern unseres, wie ich finde, ge-stört-verstörten Verhältnisses zur Kindheit undzum Kind führen würde, will ich dem vorersthier nicht weiter nachspüren. Gegen solche Vor-urteile gewandt, erinnere ich nur an einen Satz,dem sich, wie ich weiß, als Richtschnur vieleKinder- und Jugendbuchautoren des deutschenSprachraums verpflichtet fühlen, und dessenForderung sich gerade im Werk der hier zu eh-renden Autorin in exemplarischer Weise einlöst.

Dieser Satz stammt von Maxim Gorki undlautet: »Für Kinder sollte man schreiben wie fürErwachsene - nur besser.«

Dieser Satz enthält nicht nur die Aufforde-rung, Kinder als Leser ernst zu nehmen. Er weistauch auf die besondere Verantwortung und aufdas besondere Maß an handwerklichem Könnenhin, das von dem verlangt wird, der sich an-schickt, für Kinder zu schreiben.

Dieser Satz erinnert indirekt, nach meinemVerständnis auch daran, daß der Autor, der fürKinder und Jugendliche schreibt, das sozialeVerhalten, die Rollenbilder, Wünsche und Uto-pien der nächsten Generation beeinflußt, ja diesehier und da vielleicht sogar entscheidend prägt.

Es drängt mich an dieser Stelle und bei die-ser Gelegenheit auch, an jenen Mann zu erin-nern, der posthum als erster Autor aus dem Be-

reich der Kinder- und Jugendliteratur mit demFriedenspreis ausgezeichnet worden ist, an Ja-nusz Korczak. Von ihm, der in Verantwortungfür die ihm anvertrauten Kinder den höchstenPreis zahlte, den ein Mensch für ein Ideal derHumanität zu zahlen imstande ist, indem er siebeim Abtransport ins KZ nicht verließ, stammtein anderer Kinder- und Jugendbuchautorenverpflichtender Satz: » Das Kind wird nicht erstein Mensch, es ist schon einer!«

Ich will - dies im Sinn - versuchen, auf dieFrage Antwort zu geben, die lautet: Was hatAstrid Lindgren mit ihrem Werk für den Friedengetan?

Nicht nur, daß die dabei hervortretendenEinsichten vielleicht am besten dazu angetansind, die Autorin zu ehren.

Sie vermögen vielleicht auch einen Finger-zeig darauf zu geben, wie mit einer besondersgearteten Einstellung zu Kindern, die sich fürmich in den Geschichten von Frau Lindgrenabbildet, in einer ganz und gar nicht friedferti-gen, eher von Gewalttaten erschütterten Weltund einer über den von manchen ihrer Töchterund Söhne praktizierten Terrorismus verstörtenGesellschaft, Schritte auf den Frieden hin mög-lich werden könnten. Lassen Sie mich aber auchnoch ganz offen bekennen, daß Autoren, alsderen Repräsentant ich mich in diesem Augen-blick vor allem verstehe, dieser Frau besonderenDank schulden. Sie verkörpert mit ihrem Werkdie Wichtigkeit, die Ausdrucks- und Wirkungs-möglichkeiten von Kinder- und Jugendliteraturaufs Glücklichste. Man denke nur an all jeneEltern und Kinder, die vielleicht über diesenBüchern zum ersten Mal erfahren haben, daßLiteratur kein esoterischer Bereich sein muß,sondern Einsamkeit und Isolierung aufzuhebenvermag.

Seit dem Erscheinen der ersten jener wun-derbaren Geschichten um die Gestalt der PippiLangstrumpf 1945 in Schweden und 1949 inDeutschland haben sich eine große Zahl klugerFrauen und Männer den Kopf darüber zerbro-chen, worin die Eigenart des Erzählens bei

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Astrid Lindgren bestehe, wie es denn komme,daß Kinder diese Geschichten und deren Ge-stalten - und dazu wären nicht nur Pippi, sondernauch Karlsson, Michel (oder, wie er in Schwe-den heißt, Emil), Mio, Rasmus, Kalle Blomquistund die Brüder Löwenherz zu rechnen - als Ab-bilder ihres Seins betrachten?

Aus der Vielzahl der Erklärungsversuchewill ich hier einige, die mich persönlich beson-ders überzeugt haben, wieder ins Gedächtnisrufen.

So spricht Richard Bamberger davon, daßAstrid Lindgren die Welt der Kindheit in ihrerganzen Eigenart und Vielfalt ins Erwachsenen-dasein mit hinübergerettet habe. »Astrid Lind-gren«, fährt er fort, »ließ Träume und Phanta-sien, die Kinder haben und oft hartnäckig ge-genüber den Erwachsenen verteidi-gen,Wirklichkeit werden und sich sogar vor denErwachsenen behaupten.« Bamberger weistschließlich darauf hin, daß viele dieser Ge-schichten ein Tor zum Traum seien, in dem alldas, was in dieserWelt schief geraten ist, wiederins rechte Gleis komme.

Das stimmt wohl, wenn man hinzufügt, daßPhantasie hier eben nicht nur Flucht-, sondernimmer auch Trostcharakter hat, Geborgenheitverbreitet, die Wirklichkeit nie verdrängt wirdund zugleich auch in einer erstaunlich realisti-schen Erzählhaltung Utopien von Freiheit undSelbstbestimmung vorgeführt werden.

Hedi Wyss war es, die vor kurzem Pippi alseine Vorbildgestalt des Emanzipatorischen undbesonders der weiblichen Emanzipation inter-pretiert hat. Sie schreibt: »Pippi Langstrumpf istein Symbol für Emanzipation des Kindes mitseinen Phantasien, seinen Interessen und Be-dürfnissen, für die Emanzipation des weiblichenKindes gegen den besonders schweren (ge-schlechtsspezifischen) Druck... Pippi ist dasVorbild, das nicht Anpassung und Wohlverhal-ten demonstriert, sondern Neugierde und Le-benslust.«

Am genauesten scheint mir Malte Dahren-dorf dem Geheimnis der Wirkung der Lindgren-schen Geschichten nachgespürt zu haben.

In seiner Analyse zeigt er auf, wie derMensch im Verlauf dessen, was die moderneEntwicklungspsychologie den »Sozialisations-prozeß« nennt, in der anfänglichen Vielfalt sei-ner Möglichkeiten beschnitten und begrenztwird, wie das »Realitätsprinzip« über das»Lustprinzip«, die Notwendigkeit über die Frei-

heit siegt. Das nenne man dann »ein nützlichesMitglied der menschlichen Gesellschaft« wer-den.

Könne es nicht sein, so fragt Dahrendorf,daß all das Abgetrennte, Abgedämmte, Unter-drückte irgendwo doch noch lebe, und die Hoff-nung, es verwirklichen zu können, nie ganz auf-gegeben werde, daß also in der Freisetzung die-ses Unterdrückten und in der Verteidigung ebendieser Hoffnung, die Erklärung dafür zu suchensei, daß die Gestalten aus den Geschichten vonAstrid Lindgren - oft sogar gegen den Willenwohlmeinender Erwachsener! -von den Kindernso heiß geliebt werden?

Dies ist der Punkt, an dem wir uns fragenmüssen, wie sich denn die Haltung der Autoringegenüber Kindern von der mancher andererZeitgenossen unterscheidet? Es reicht nicht hin,wenn man sagt, Astrid Lindgren nehme Kindereben ernst.

Es reicht nicht hin, wenn man definiert, siehabe eben nicht, wie so viele andere Menschen,die Brücken zwischen sich und dieser wunder-samen und nicht nur immer angenehm-friedlichoder idyllischen "Welt des Kindseins, in der»einfache Dinge so seltsam und seltsame Dingeoft so einfach sind«, gesprengt.

Ihre Art der Zuwendung zum Kind hat nochandere Dimensionen.

Einmal hat sie selbst der so klugen Welt derErwachsenen einen Satz ins Gesicht geschleu-dert, der uns alle in Hinblick auf unser Verhält-nis zu Kindern in unserer Sicherheit, Selbstge-fälligkeit und Nachlässigkeit erschüttern sollte.

Astrid Lindgren schreibt da von der uner-hörten Dummheit und Phantasielosigkeit, mitder viele Erwachsene die ihnen ausgeliefertenzarten Sprößlinge behandeln. Sie fährt dann eingroßes Buch, nämlich die Bibel, zitierend fort:»>Fordert Eure Kinder nicht zum Zorn heraus!<Behandelt sie mit derselben Rücksicht, die IhrEuren erwachsenen Mitmenschen zwangsläufigzeigen müßt. Gebt den Kindern Liebe, mehrLiebe und noch mehr Liebe, dann kommt dieLebensart von selbst.«

Hier, meine Damen und Herren, ergibt sichbeiläufig, was diese Frau, erzählend für denFrieden getan hat: Durch ihre Fähigkeit, sensibelzu erahnen und konsequent auszudrücken, wie esim Bewußtsein von Kindern aussieht.

Direkt an uns Erwachsene gewandt, hatAstrid Lindgren einmal gesagt:

»Es müßte also ihre (der Erwachsenen) Sa-

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che sein, eine Welt der Geborgenheit, derWärme und Freundlichkeit um den Wicht zuschaffen. Aber tun sie das? Viel zu selten tun siees, so will es mir scheinen. Sie haben wohl keineZeit! Sie sind voll und ganz davon in Anspruchgenommen, den kleinen Wicht zu erziehen. Sieerziehen ihn beharrlich von früh bis spät. Es istihnen so verzweifelt viel daran gelegen, daß erschon von Anfang an genau wie ein Erwachse-ner auftritt, denn dieses >ein Kind sein< ist dochwohl eigentlich ein sehr häßlicher Charakterzug,der mit allen Mitteln weggearbeitet werdenmuß.«

Meine Damen und Herren, ich weiß nicht,inwieweit bei jedem einzelnen von Ihnen dieHoffnung noch besteht oder längst verworfenworden ist, die großen Entwürfe und Systemeseien in der Lage, dem Menschen den Weg ineine friedfertigere Welt zu weisen.

Wie immer die individuelle Antwort aufdiese Frage ausfallen mag, optimistisch oderskeptisch-pessimistisch, verweist sie nicht sooder so auf unseren persönlichen Bereich, aufdie Beziehung zu unseren Kindern ? Hier müß-ten wir doch in der Lage sein, positiv etwas zuändern. Ich finde, wir sollten das Alltägliche alsAnsatz für Veränderungen nicht unterschätzen.

Aber wie sieht es damit in Wirklichkeit aus?

Gibt ein jeder von uns den Kindern, die ihmanvertraut sind, durch Geburt, Sitte oder Berufdieses Soviel und noch mehr an Geborgenheit,Wärme, Liebe und noch einmal Liebe?

Ich behaupte: viel zu oft nehmen wir uns dieZeit zum lebendigen Umgang mit unseren Kin-dern eben nicht oder meinen, sie uns nicht neh-men zu dürfen.

Wir geben uns stattdessen damit ab, Häuserzu bauen, die oft nicht so sehr Heimstätten dennPrunkstätten sind.

Unser Ehrgeiz geht dahin, selbst mächtig,berühmt oder berüchtigt zu werden, um so vorunseren Kindern bestehen zu können, um ihnenzu imponieren.

Wir bilden uns ein, durch die Anhäufungmateriellen Besitzes, durch die Überlieferungeiner im Materiellen und im Besitzdenken wur-zelnden, zuweilen recht zynisch Materialismusund Egoismus propagandierenden Wertordnung,trügen wir zum Schutz unserer Kinder, zu ihrerGeborgenheit und ihrem Ansehen im späterenLeben bei.

Verkrampft streben wir danach, mehr und

noch mehr Geld zu verdienen, damit wir unserenKindern ein Motorrad, ein Auto oder ein ent-sprechendes mechanisches Spielzeug gebenkönnen, Ein Verhältnis zu Dingen soll das Ver-hältnis zwischen Menschen ersetzen. Würdenwir nicht so verfahren, es könnte uns eben ineiner intensiven Begegnung mit Kindern unsereigener Verlust an Lebendigkeit klar werden,und davor haben wir Angst.

Bei alldem entwickeln wir zwar manchmalnoch schlechtes Gewissen darüber, daß wir sosind, wie wir nun einmal sind, machen aber vielzu häufig »die Verhältnisse«, viel zu selten unsals Personen dafür verantwortlich.

Wenn sich dann die Verstörtheit unsererKinder, ihre Einsamkeit und sprachliche Hilflo-sigkeit zu psychischer Krankheit steigert - undals solche will mir auch der Terrorismuserscheinen - sind wir ratlos oder reagierenpharisäerhaft aufgebracht.

Um die Beziehung zum Werk vonAstrid Lindgren herzustellen:

Lesen Sie einmal die Geschichten vonMichel oder Emil nach. In der Fiktion einerGeschichte, noch dazu in einer von und fürKinder, ist ja ein solch aufgewecktes, ein-fallsreiches Bürschchen recht lustig. Überle-gen Sie sich aber: wie würden Sie reagieren,wäre Michel Ihr Sohn, Pippi Ihre Tochter?Liebevoll oder nervös? Schutzgebend oderaufbrausend? Freundlich verständnisvolloder aggressiv?

Man hat Astrid Lindgrens Bücher in diein der Bundesrepublik teilweise recht dog-matisch geführte Auseinandersetzung überautoritäre oder antiautoritäre Erziehung hin-eingezogen.

Diese oder jene Seite hat Zitate aus denBüchern als Beweismittel für die Richtigkeitihres Standpunktes angeführt.

Ich möchte damit nicht fortfahren,meine aber, daß sich in Astrid LindgrensDarstellung über ihre Kindheit und ihre El-tern einige in diesem Zusammenhang uner-hört aktuelle Hinweise auf echte Autoritätfinden. So, wenn sie schreibt:

»Unsere Kindheit wurde von Geborgen-heit und Freiheit geprägt. Man fühlte sichgeborgen bei diesen Eltern, die sich sehrmochten und die immer da waren, wenn mansie brauchte... gewiß wurden wir mit christ-lichen Ermahnungen erzogen, der damaligenZeit entsprechend, aber in unseren Spielen

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waren wir herrlich frei und wurden nieüberwacht... ich finde, Hannas Art Kinder zuerziehen, war recht großzügig. Daß mangehorchen mußte, war selbstverständlich,aber sie verlangte nicht immer unnötige undunmögliche Dinge von uns. Sie hat z. B. nichtdarauf bestanden, daß wir pünktlich zu denMahlzeiten erschienen und... ich kann mich auchnicht erinnern, daß sie uns jemals Vorwürfemachte, wenn wir mit zerrissenen oder schmut-zigen Kleidern heimkamen. Sie fand wohl, einKind habe das Recht, sich im Spiel auszutoben.«

Aber es heißt auch:»Wir hatten viel Freiheit, aber das bedeutete

nicht, daß wir nichts zu tun brauchten. Natürlichmußten wir auch lernen zu arbeiten.«

Diese Balance zwischen Freiheit und Ge-borgenheit, zwischen Offenheit und notwendigerAnpassung, scheint mir eine Voraussetzung fürechte, für personale Autorität, die von Kindernnicht nur anerkannt, sondern als Teil der Gebor-genheit auch gewollt und ersehnt wird. Diessetzt aber freilich auf Seiten der ErwachsenenZeit, Souveränität, Absehenkönnen von sichselbst, von eigenen Wünschen und hin und wie-der auch Widerstand gegen scheinbar unver-rückbare Normen der Konsumgesellschaft vor-aus.

Astrid Lindgrens persönliche Haltung undihr meistergültiges Einfühlungsvermögen inkindliches Bewußtsein sind für mich lebendigerBeweis dafür, welchen Zuwachs an Friedfertig-keit und menschlichem Glück eine solche Ein-stellung gegenüber Kindern erbringen könnte.

Meine Damen und Herren: gewiß ist dieKinderfeindlichkeit unserer Gesellschaft einvielstrapaziertes Schlagwort. Seltener ist schondavon die Rede, wie kinderfeindlich wir uns alsIndividuen verhalten, wenn wir von Kindern -und sei es auch nur spaßhaft - als von »kleinenMonstern« reden, wenn wir uns ihrer Existenzganz und gar verweigern, wenn wir ihre Leben-digkeit als lästig empfinden und nur bestrebtsind, sie möglichst rasch in wohlfunktionierende,unbedingt angepaßte, kleine oder größere Er-wachsene zu verwandeln.

In diesem Sinn enthalten die Geschichtenund Szenen von Astrid Lindgren eine Heraus-forderung von großer Aktualität, sofern wir nurbereit sind, hinzusehen oder hinzuhören.

Ich schließe mit einem Vers meines Kolle-gen Hans Manz.

»Jeder muß lernensich anzupassen,aber gleichzeitig aufpassen,daß er nicht verpaßt zu sagen:Das paßt mir nicht.«

Dieser Satz könnte durchaus auch als Mottoüber dem gesamten Werk Astrid Lindgrens ste-hen, aus dem bei aller funkelnden Phantasiedoch auch viel sich in Vernunft gründenderRealitätssinn, tiefe Liebe zum Menschen, ver-bunden mit Respektlosigkeit vor jedem Gehabe,zu uns sprechen.

Der Gedanke, den dieser Vers prägnant faßt,verweist auf jene beiden Pole, zwischen denensich Erziehung in unserer Zeit, die immer auchErziehung zu einem Mehr an Friedfertigkeit undToleranz, aber auch Erziehung zu recht verstan-dener Emanzipation zu sein hat, bewegen sollte.

Lebendige, einprägsame Anregungen dazuliefert das Werk von Astrid Lindgren in reichemMaße.

Dafür gebührt ihr Dank, nicht nur Dank vonKindern, dessen sie gewiß ständig teilhaftigwird, sondern auch unser Dank, als der von El-tern und Mitmenschen.

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Astrid Lindgren_________________________________

Dankesrede

»Niemals Gewalt«

Liebe Freunde!

Das erste, was ich zu tun habe, ist Ihnen zudanken, und das tue ich von ganzem Herzen. DerFriedenspreis des Deutschen Buchhandels strahlteinen solchen Glanz aus und ist eine so hoheAuszeichnung, daß es einen fast überwältigt,empfängt man ihn. Und jetzt stehe ich hier, woschon so viele kluge Männer und Frauen ihreGedanken und ihre Hoffnungen für die Zukunftder Menschheit und den von uns allen ersehntenewigen Frieden ausgesprochen haben - waskönnte ich wohl sagen, das nicht schon anderevor mir besser gesagt haben ?

Über den Frieden sprechen heißt ja über et-was sprechen, das es nicht gibt. Wahren Friedengibt es nicht auf unserer Erde und hat es auch niegegeben, es sei denn als Ziel, das wir offenbarnicht zu erreichen vermögen. Solange derMensch auf dieser Erde lebt, hat er sich der Ge-walt und dem Krieg verschrieben, und der unsvergönnte, zerbrechliche Friede ist ständig be-droht. Gerade heute lebt die ganze Welt in derFurcht vor einem neuen Krieg, der uns alle ver-nichten wird. Angesichts dieser Bedrohung set-zen sich mehr Menschen denn je zuvor für Frie-den und Abrüstung ein - das ist wahr, das könnteeine Hoffnung sein. Doch Hoffnung hegen fälltso schwer. Die Politiker versammeln sich ingroßer Zahl zu immer neuen Gipfelgesprächen,und sie alle sprechen so eindringlich für Ab-rüstung, aber nur für die Abrüstung, die die an-deren vornehmen sollen. Dein Land soll abrü-sten, nicht meines! Keiner will den Anfang ma-chen. Keiner wagt es anzufangen, weil jeder sichfürchtet und so geringes Vertrauen in den Frie-denswillen des anderen setzt. Und während dieeine Abrüstungskonferenz die andere ablöst,findet die irrsinnigste Aufrüstung in der Ge-schichte der Menschheit statt. Kein Wunder, daßwir alle Angst haben, gleichgültig, ob wir einer

Großmacht angehören oder in einem kleinenneutralen Land leben. Wir alle wissen, daß einneuer Weltkrieg keinen von uns verschonenwird, und ob ich unter einem neutralen odernicht-neutralen Trümmerhaufen begraben liege,das dürfte kaum einen Unterschied machen.

Müssen wir uns nach diesen Jahrtausendenständiger Kriege nicht fragen, ob der Menschnicht vielleicht schon in seiner Anlage fehlerhaftist? Und sind wir unserer Aggressionen wegenzum Untergang verurteilt? Wir alle wollen ja denFrieden. Gibt es denn da keine Möglichkeit, unszu ändern, ehe es zu spät ist? Könnten wir esnicht vielleicht lernen, auf Gewalt zu verzichten?Könnten wir nicht versuchen, eine ganz neue ArtMensch zu werden? Wie aber sollte das gesche-hen, und wo sollte man anfangen?

Ich glaube, wir müssen von Grund auf be-ginnen. Bei den Kindern. Sie, meine Freunde,haben Ihren Friedenspreis einer Kinderbuchauto-rin verliehen, und da werden Sie kaum weitepolitische Ausblicke oder Vorschläge zur Lö-sung internationaler Probleme erwarten. Ichmöchte zu Ihnen über die Kinder sprechen. Übermeine Sorge um sie und meine Hoffnungen fürsie. Die jetzt Kinder sind, werden ja einst dieGeschäfte unserer Welt übernehmen, soferndann noch etwas von ihr übrig ist. Sie sind es,die über Krieg und Frieden bestimmen werdenund darüber, in was für einer Gesellschaft sieleben wollen. In einer, wo die Gewalt nur stän-dig weiterwächst, oder in einer, wo die Men-schen in Frieden und Eintracht miteinander le-ben. Gibt es auch nur die geringste Hoffnungdarauf, daß die heutigen Kinder dereinst einefriedlichere Welt aufbauen werden, als wir esvermocht haben ? Und warum ist uns dies trotzallen guten Willens so schlecht gelungen ?

Ich erinnere mich noch sehr gut daran,

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welch ein Schock es für mich gewesen ist, alsmir eines Tages - ich war damals noch sehr jung- klar wurde, daß die Männer, die die Geschickeder Völker und der Welt lenkten, keine höherenWesen mit übernatürlichen Gaben und göttlicherWeisheit waren. Daß sie Menschen waren mitden gleichen menschlichen Schwächen wie ich.Aber sie hatten die Macht und konnten jedenAugenblick schicksalsschwere Entscheidungenfällen, je nach den Antrieben und Kräften, vondenen sie beherrscht wurden. So konnte es, trafes sich besonders unglücklich, zum Krieg kom-men, nur weil ein einziger Mensch von Macht-gier oder Rachsucht besessen war, von Eitelkeitoder Gewinnsucht, oder aber - und das scheintdas häufigste zu sein - von dem blinden Glaubenan die Gewalt als das wirksamste Hilfsmittel inallen Situationen. Entsprechend konnte ein ein-ziger guter und besonnener Mensch hier und daKatastrophen verhindern, eben weil er gut undbesonnen war und auf Gewalt verzichtete.

Daraus konnte ich nur das eine folgern: Essind immer auch einzelne Menschen, die dieGeschicke der Welt bestimmen. Warum aberwaren denn nicht alle gut und besonnen? Warumgibt es so viele, die nur Gewalt wollten und nachMacht strebten ? Waren einige von Natur ausböse ? Das konnte ich damals nicht glauben, undich glaube es auch heute nicht. Die Intelligenz,die Gaben des Verstandes mögen zum größtenTeil angeboren sein, aber in keinem neugebore-nen Kind schlummert ein Samenkorn, aus demzwangsläufig Gutes oder Böses sprießt. Ob einKind zu einem warmherzigen, offenen und ver-trauensvollen Menschen mit Sinn für das Ge-meinwohl heranwächst oder aber zu einem ge-fühlskalten, destruktiven, egoistischen Men-schen, das entscheiden die, denen das Kind indieser Welt anvertraut ist, je nachdem, ob sieihm zeigen, was Liebe ist, oder aber dies nichttun. »Überall lernt man nur von dem, den manliebt«, hat Goethe einmal gesagt, und dann mußes wohl wahr sein. Ein Kind, das von seinenEltern liebevoll behandelt wird und das seineEltern liebt, gewinnt dadurch ein liebevollesVerhältnis zu seiner Umwelt und bewahrt dieseGrundeinstellung sein Leben lang. Und das istauch dann gut, wenn das Kind später nicht zudenen gehört, die das Schicksal der Welt lenken.Sollte das Kind aber wider Erwarten eines Tagesdoch zu diesen Mächtigen gehören, dann ist esfür uns alle ein Glück, wenn seine Grundhaltungdurch Liebe geprägt worden ist und nicht durch

Gewalt. Auch künftige Staatsmänner und Politi-ker werden zu Charakteren geformt, noch bevorsie das fünfte Lebensjahr erreicht haben - das isterschreckend, aber es ist wahr.

Blicken wir nun einmal zurück auf die Me-thoden der Kindererziehung früherer Zeiten.Ging es dabei nicht allzu häufig darum, denWillen des Kindes mit Gewalt, sei sie physischeroder psychischer Art, zu brechen? Wie vieleKinder haben ihren ersten Unterricht in Gewalt»von denen, die man liebt«, nämlich von deneigenen Eltern erhalten und dieses Wissen dannder nächsten Generation weitergegeben! Und soging es fort, »Wer die Rute schont, verdirbt denKnaben«, heißt es schon im Alten Testament,und daran haben durch die Jahrhunderte vieleVäter und Mütter geglaubt. Sie haben fleißig dieRute geschwungen und das Liebe genannt. Wieaber war denn nun die Kindheit aller dieserwirklich »verdorbenen Knaben«, von denen eszur Zeit so viele auf der Welt gibt, dieser Dikta-toren, Tyrannen und Unterdrücker, dieser Men-schenschinder? Dem sollte man einmal nachge-hen. Ich bin überzeugt davon, daß wir bei denmeisten von ihnen auf einen tyrannischen Erzie-her stoßen würden, der mit einer Rute hinterihnen stand, ob sie nun aus Holz war oder imDemütigen, Kränken, Bloßstellen, Angstmachenbestand.

In den vielen von Haß geprägten Kindheits-schilderungen der Literatur wimmelt es vonsolchen häuslichen Tyrannen, die ihre Kinderdurch Furcht und Schrecken zu Gehorsam undUnterwerfung gezwungen und dadurch für dasLeben mehr oder weniger verdorben haben. ZumGlück hat es nicht nur diese Sorte von Erzieherngegeben, denn natürlich haben Eltern ihre Kin-der auch schon von jeher mit Liebe und ohneGewalt erzogen. Aber wohl erst in unseremJahrhundert haben Eltern damit begonnen, ihreKinder als ihresgleichen zu betrachten und ihnendas Recht einzuräumen, ihre Persönlichkeit ineiner Familiendemokratie ohne Unterdrückungund ohne Gewalt frei zu entwickeln.

Muß man da nicht verzweifeln, wenn jetztplötzlich Stimmen laut werden, die die Rückkehrzu dem alten autoritären System fordern? Denngenau das geschieht zur Zeit mancherorts in derWelt. Man ruft jetzt wieder nach »härtererZucht«, nach »strafferen Zügeln« und glaubtdadurch alle jugendlichen Unarten unterbindenzu können, die angeblich auf zuviel Freiheit undzuwenig Strenge in der Erziehung beruhen. Das

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aber hieße den Teufel mit dem Beelzebub aus-treiben und führt auf die Dauer nur zu noch mehrGewalt und zu einer tieferen und gefährlichenKluft zwischen den Generationen. Möglicher-weise konnte diese erwünschte »härtere Zucht«eine äußerliche Wirkung erzielen, die die Be-fürworter dann als Besserung deuten würden.Freilich nur so lange, bis auch sie allmählich zuder Erkenntnis gezwungen werden, daß Gewaltimmer wieder nur Gewalt erzeugt - so wie esvon jeher gewesen ist.

Nun mögen sich viele Eltern beunruhigtdurch diese neuen Signale fragen, ob sie es bis-her falschgemacht haben. Ob eine freie Erzie-hung, in der die Erwachsenen es nicht für selbst-verständlich halten, daß sie das Recht haben zubefehlen und die Kinder die Pflicht haben, sichzu fügen, womöglich nicht doch falsch odergefährlich sei.

Freie und un-autoritäre Erziehung bedeutetnicht, daß man die Kinder sich selber überläßt,daß sie tun und lassen dürfen, was sie wollen. Esbedeutet nicht, daß sie ohne Normen aufwachsensollen, was sie selber übrigens gar nicht wün-schen. Verhaltensnormen brauchen wir alle,Kinder und Erwachsene, und durch das Beispiel

ihrer Eltern lernen die Kinder mehr als durchirgendwelche anderen Methoden. Ganz gewißsollen Kinder Achtung vor ihren Eltern haben,aber ganz gewiß sollen auch Eltern Achtung vorihren Kindern haben, und niemals dürfen sie ihrenatürliche Überlegenheit mißbrauchen. Liebe-volle Achtung voreinander, das möchte manallen Eltern und allen Kindern wünschen.

Jenen aber, die jetzt so vernehmlich nachhärterer Zucht und strafferen Zügeln rufen,möchte ich das erzählen, was mir einmal einealte Dame berichtet hat. Sie war eine jungeMutter zu der Zeit, als man noch an diesen Bi-belspruch glaubte, dieses »Wer die Rute schont,verdirbt den Knaben«. Im Grunde ihres Herzensglaubte sie wohl gar nicht daran, aber eines Ta-ges hatte ihr kleiner Sohn etwas getan, wofür erihrer Meinung nach eine Tracht Prügel verdienthatte, die erste in seinem Leben. Sie trug ihmauf, in den Garten zu gehen und selber nacheinem Stock zu suchen, den er ihr dann bringensollte. Der kleine Junge ging und blieb langefort. Schließlich kam er weinend zurück undsagte: »Ich habe keinen Stock finden können,

aber hier hast du einen Stein, den kannst du janach mir werfen.« Da aber fing auch die Mutteran zu weinen, denn plötzlich sah sie alles mitden Augen des Kindes. Das Kind mußte gedachthaben, »meine Mutter will mir wirklich weh tun,und das kann sie ja auch mit einem Stein.«

Sie nahm ihren kleinen Sohn in die Arme,und beide weinten eine Weile gemeinsam. Dannlegte sie den Stein auf ein Bord in der Küche,und dort blieb er liegen als ständige Mahnung andas Versprechen, das sie sich in dieser Stundeselber gegeben hatte: »NIEMALS GEWALT!«

Ja, aber wenn wir unsere Kinder nun ohneGewalt und ohne irgendwelche straffen Zügelerziehen, entsteht dadurch schon ein neues Men-schengeschlecht, das in ewigem Frieden lebt?Etwas so Einfältiges kann sich wohl nur einKinderbuchautor erhoffen! Ich weiß, daß es eineUtopie ist. Und ganz gewiß gibt es in unsererarmen, kranken Welt noch sehr viel anderes, dasgleichfalls geändert werden muß, soll es Friedengeben. Aber in dieser unserer Gegenwart gibt es- selbst ohne Krieg - so unfaßbar viel Grausam-keit, Gewalt und Unterdrückung auf Erden, unddas bleibt den Kindern keineswegs verborgen.Sie sehen und hören und lesen es täglich, undschließlich glauben sie gar, Gewalt sei ein na-türlicher Zustand. Müssen wir ihnen dann nichtwenigstens daheim durch unser Beispiel zeigen,daß es eine andere Art zu leben gibt? Vielleichtwäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Steinauf das Küchenbord legten als Mahnung für unsund für die Kinder: NIEMALS GEWALT!

Es könnte trotz allem mit der Zeit ein win-ziger Beitrag sein zum Frieden in der Welt.

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Gerold Ummo Becker___________________________________

Auf der Suche nach dem entschwundenen Land

Eines der Bücher von Astrid Lindgren, undzwar eines der wenigen von ihr, das sich nicht anKinder oder Jugendliche, sondern an Erwachseneals Leser wendet, trägt den Titel »Das ent-schwundene Land«. Dieser Band enthält außereinigen streitbaren Aufsätzen über Kinderbücherauch Astrid Lindgrens Erinnerungen an ihre ei-gene Kindheit. Es liegt nahe, daß ich diese Erin-nerungen in den letzten Wochen mehrfach sehrgenau gelesen habe. Dabei ist es mir merkwürdigergangen: Einerseits hat es mich immer wiederverblüfft, mit welcher Genauigkeit Astrid Lind-gren sich an zahllose Einzelheiten ihrer Kinder-zeit erinnert, die sich dann in ihrer Darstellungfast beiläufig und scheinbar naiv zu einprägsa-men Szenen und Bildern verdichten, ich habeimmer wieder vergnügt gleichsam Teile des Roh-materials entdeckt, aus denen dann 40 Jahre spä-ter Bullerbü oder Lönneberga entstanden sind.Andererseits schien es mir, als seien diese knapp70 Seiten, die als Erinnerung daherkommen,durchaus nicht nur rückwärts gewandt, durchausnicht nur Schattenbeschwörung, durchaus nichtnur Elegie auf eine versunkene Kinderwelt, son-dern in dieser Verkleidung so etwas wie einekonkrete Utopie, wie die Beschreibung einerForm von Kindheit, in der Kind zu sein beglük-kend und nützlich, aufregend und sinnvoll unddamit zugleich nach vorn, auf Zukunft weisend,sein könnte.

Da war es naheliegend, zu erproben, ob sichnicht Überlegungen zu Kinder- und Jugendbü-chern und ihren Lesern unter die Überschrift»Auf der Suche nach dem entschwundenenLand« bündeln ließen.

Ich beschränke mich auf Bücher, in denenGeschichten erzählt werden. Das hat etwas Will-kürliches, denn natürlich gehören auch die Sach-bücher, von denen es in den letzten Jahren einigeaufregend gute gegeben hat, seit jeher zur Kin-der- und Jugendliteratur. Und weil sich das Su-chen nach dem entschwundenen Land im Ent-decken und Finden erfüllt, können es natürlich

auch und gerade Sachbücher sein, die dem Kindbeim Aufwachsen helfen.

Die vielbändigen systematischen Sammlun-gen von Märchen verschiedenster Kulturkreisemachen deutlich, daß es nicht die besondere Ei-genart einer Kultur, sondern eine Art Grundbe-dürfnis aller Menschen ist, Geschichten zu hören,aller Menschen, das heißt, Erwachsener ebensowie Kinder. Die Geschichte, die erzählt wird,oder die in einem Buch aufgeschrieben ist, tutauch mit uns Erwachsenen etwas Magisches,Zauberisches: sie macht uns über Zeit und Raumhinweg zu Teilnehmern an fremdem Leben. Sieentführt uns in die andere Zeit, an den anderenOrt. Das Kind sagt, eine Geschichte sei »span-nend«, es will wissen, »wie sie zu Ende geht«,wir Erwachsenen reden vielleicht von Identifika-tion mit der Hauptperson oder anderen Personendes Geschehens. Der Zauber ist wirksam. Mitseiner Hilfe gelingt es uns, mehr als nur ein Le-ben zu führen, mit Lederstrumpf in der Dämme-rung am Rande der Prärie zu stehen, mit JackDawkins und Oliver Twist zum ersten Mal diedunkle Treppe in der Field Lane hinaufzusteigen,mit Nils Holgersson uns in die Schwungfedernder alten Wildgans festzuklammern, währendunter uns die Bauernhäuser von Dalarna kleinwie Kinderspielzeug in der Sonne liegen. Umwieviel ärmer wäre unser Leben, wenn nur dasunsere Gedanken beschäftigen könnte, was vorunseren Augen ist, was wir selbst erleben odererlebt haben.

»Es ist gut«, sagt Ernst Bloch, »auch fabelndzu denken. Denn so vieles eben wird nicht mitsich fertig, wenn es vorfällt, auch wo es schönberichtet wird. Sondern ganz seltsam geht mehrdarin um, der Fall hat es in sich, dieses zeigt oderschlägt er an. Geschichten dieser Art werdennicht nur erzählt, sondern man zählt auch, was esdarin geschlagen hat oder horcht auf: was gingda? Aus Begebenheiten kommt da ein Merke, dassonst nicht so wäre; oder ein Merke, das schonist, nimmt kleine Vorfälle als Spuren und Bei-

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spiele. Sie deuten auf ein Weniger oder Mehr,das erzählend zu bedenken, denkend wieder zuerzählen wäre; das in den Geschichten nichtstimmt, weil es mit uns und allem nicht stimmt.Manches läßt sich nur in solchen Geschichtenfassen, nicht in einem breiteren oder höheren Stil,oder dann nicht so.« (Bloch, Spuren, S. 16)

Astrid Lindgren hat gelegentlich die Zumu-tung abgewehrt, zu definieren, wie denn ein gutesKinderbuch beschaffen sein müsse und den neu-gierigen Frager etwas ironisch beschieden: »fallsdu mich fragst, so könnte ich dir nach reiflicherÜberlegung nur antworten: es muß gut sein. Ichversichere dir, daß ich lange und gründlich dar-über nachgedacht habe, aber keine andere Ant-wort darauf weiß, als: es muß gut sein. Wie mußeine gute Gedichtsammlung sein? Wie ein guterRoman?« (Lindgren, Das entschwundene Land,S. 85). Ja, Rezepte gibt es da wohl nicht.

Dennoch kann man über die Wirkungen re-den, die auch und gerade Kinderbücher im bestenFalle bei ihren Lesern tun. Ich will vier solcherWirkungen zu beschreiben versuchen. Daß ichsie vor allem mit Beispielen aus Astrid LindgrensBüchern oder mit Äußerungen von ihr illustriere,scheint mir dem heutigen Anlaß angemessen, umso mehr, als mit ihr ja auch die anderen Kinder-und Jugendbuchautoren geehrt werden sollten,von deren Büchern Ähnliches gilt. Es gibt geradeunter den in den letzten Jahren neu erschienenenKinder- und Jugendbüchern eine ganze Reihe, beidenen mir scheint, daß sie diese Wirkungen inhöchst beglückender Weise haben. Aber meineKenntnisse sind da beschränkt, meine Auswahlwäre zufällig und damit ungerecht.

Was solche Bücher bei ihren kindlichen undjugendlichen (oder auch erwachsenen) Lesernbewirken, läßt sich, so scheint mir, mit sehr ein-fachen Worten beschreiben.

I.

Sie halten die Neugier wach. Der Leser willwissen, wie es weitergeht.

»Hat jemand im vorigen Jahr am 15. OktoberRadio gehört? Hat jemand gehört, daß man nacheinem verschwundenen Jungen forschte? So etwasagten sie:

>Die Polizei in Stockholm sucht den neun-jährigen Bö Vilhelm Olsson, der seit vorgesternAbend 18 Uhr aus der Wohnung Upplandsgatan13 verschwunden ist. Bö Vilhelm Olsson hathelles Haar und blaue Augen und war mit kurzen

braunen Hosen, einem grauen Pullover und einerkleinen roten Mütze bekleidet. Mitteilungen überden Verschwundenen nimmt jede Polizeidienst-stelle entgegen.«

Ja, so sagten sie. Aber es kamen niemals ir-gendwelche Mitteilungen über Bö Vilhelm Ols-son. Er war fort. Niemand erfuhr jemals, wo ergeblieben ist. Keiner weiß es. Außer mir. Dennich - ich bin Bö Vilhelm Olsson.« (Lind-gren,Mio mein Mio, S. 7}

So beginnt Astrid Lindgren ihre Geschichte»Mio, mein Mio«, deren Ich-Erzähler, ein Wai-senkind, das bei seinen Pflegeeltern unglücklichist, als Prinz Mio in das geheimnisvolle Land derFerne reist, wo er seinen Vater, den König, trifft.Bei dem hat er es gut, aber er muß doch wiederaufbrechen, um mit seiner kleinen Kraft gegenunheimliche, finstere Mächte zu kämpfen.

Oder Michel aus Lönneberga, der kleinewilde und eigensinnige Junge, von dem es heißt:»er wollte über Mutter und Vater bestimmen,über ganz Katthult und am liebsten noch überganz Lönneberga, aber da machten die Lönne-berger nicht mit.

>Sie können einem leid tun, die Svenssonsauf Katthult, die einen solchen Lausejungen zumSohn haben<! sagten sie. >Aus dem wird niemalsetwas.<

So dachten die Lönneberger, ja! Wenn siegewußt hätten, was noch aus Michel werdensollte, dann hätten sie nicht so geredet.« (Lind-gren, Immer dieser Michel, S. 9/10) Und wer esvon uns wissen will, der muß halt die Geschich-ten vom Michel lesen.

Wie neugierig man da werden kann, wiegern man wissen möchte, wie es weitergeht, er-fahren wir aus einer kleinen Begebenheit, dieAstrid Lindgren in einem Aufsatz mit dem Titel»Wo kommen nur die Einfälle her ?« berichtet:»Mein Vater«, schreibt sie, »hat mir viel erzählt,und auch ich habe ihm, als er alt und so schwach-sichtig geworden war, daß er nicht mehr lesenkonnte, mancherlei erzählt. Aus dem letzten Mi-chel-Buch hat er, kurz bevor er von uns ging, nurnoch von Michels Bravourstück auf der Verstei-gerung in Backhorva erfahren. Da er selbst seinLeben lang mit großem Vergnügen Geschäftegetätigt hat, fand er an Michels Gewitztheit gro-ßen Gefallen. Nachdem ich ihm von dieser Ver-steigerung in Backhorva erzählt hatte, vergingenein paar Monate bis zu unserem nächsten Wie-dersehen, und da fragte er gleich als Erstes: »WarMichel wieder mal auf 'ner Auktion?« (Lindgren,

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Wo kommen nur die Einfälle her? S. 99/100)Wenn ein Buch diese Wirkung nicht hat,

wenn es »langweilig« ist, wie die Kinder sagen,dann mag die Botschaft, die es bringen will, nochso wichtig sein, sie wird die kindlichen oder ju-gendlichen Leser nicht erreichen. Woran es ei-gentlich liegt, daß sie ein Buch als langweiligempfinden und ein anderes nicht, ist nicht soleicht zu sagen. Es hat wohl weniger damit zutun, daß besonders großartige, dramatische Er-eignisse berichtet werden. Die Welt der Kinderaus Bullerbü ist sozusagen eine Kinder-Alltags-welt auf einem kleinen Dorf. Kinder im Grund-schulalter, besonders Mädchen, denen ich ausdiesem Buch vorgelesen habe, fanden es »un-heimlich spannend«. (Übrigens ist es nach mei-nem Eindruck auch für viele Eltern oder Pädago-gen »spannender« und zugleich »nützlicher« alsdie meisten Bücher über Entwicklungspsycholo-gie des Grundschulkindes, die ich kenne.)

Vielleicht liegt es daran, daß hier - übrigenssehr behutsam und zugleich farbig und facetten-reich - eine Kinderwelt beschrieben ist, in derKind zu sein beglückend und nützlich, aufregendund sinnvoll zugleich ist. Sie wird dem Leser alsGegenwart geschildert; von Astrid Lindgrenselbst wissen wir, daß sie in vielen Einzelzügendie Beschreibung der vergangenen Welt ihrereigenen Kindheit, ja der Kindheit ihres Vaters ist:»Es war nur ein kleiner, ganz normaler Pachthofder Pfarrei, und wenn ich sage, daß ich als Kind>viele< Menschen um mich hatte, so meine ichdas im Vergleich zu heutigen Kindern, egal obauf dem Lande oder in der Stadt. Für ein Kindwar es lehrreich und interessant, mit Menschenunterschiedlicher Art und Eigenheiten und Al-tersgruppen aufzuwachsen. Von ihnen lernte ich -ohne daß sie oder ich es gewußt hätten -, daß dasLeben Bedingungen unterworfen ist und wieschwierig es manchmal ist, Mensch zu sein. Aberauch andere Dinge lernte ich von diesen Men-schen, denn nur weil vielleicht zufällig ein Kindin der Nähe war, nahm man damals kein Blatt vorden Mund. Und meine Geschwister und ich, wirwaren in der Nähe, denn wir mußten ihnen ja denKaffee aufs Feld bringen. An diese Kaffeepausenerinnere ich mich am besten, daran, wie sie alleam Feldrain saßen, Kaffee tranken, ihre Butter-brote hineintunkten und über so mancherlei ihreGedanken austauschten.« (Lindgren, Das ent-schwundene Land, S. 46)

Oder an anderer Stelle: »Im übrigen [ließenunsere Eltern uns] aber frei und unbeschwert auf

dem wunderbaren Spielplatz, den wir in dem Näsunserer Kindheit besaßen, herumtollen. [...]

Und wir spielten und spielten und spielten,so daß es das reine Wunder ist, daß wir uns nichttotgespielt haben. Wir kletterten wie die Affenauf Bäume und Dächer, wir sprangen von Bret-terstapeln und Heuhaufen, daß unsere Einge-weide nur so wimmerten, wir krochen quer durchriesige Sägemehlhaufen, lebensgefährliche, un-terirdische Gänge entlang, und wir schwammenim Fluß, lange bevor wir überhaupt schwimmenkonnten. Keinen Augenblick dachten wir an dasGebot unserer Mutter >aber nicht weiter raus alsbis zum Nabel!<. Überlebt haben wir alle vier.Unsere Kindheit war ungewöhnlich frei von Rü-gen und Schelte. [...] Daß man zu gehorchenhatte, war selbstverständlich, aber [unsere Mut-ter] stellte nie unnötige und unerfüllbare Forde-rungen. [...] Sie zeterte nicht über Mißgeschicke,für die man nichts konnte. Wie zum Beispieldamals, als unsere jüngste Schwester auf denKüchentisch krabbelte und dabei die großeSchüssel voll Blutgrütze umkippte. Kein Wortverlor Hanna darüber, sie wusch ihr blutver-schmiertes Töchterchen, zog ihm saubere Sachenan und gab uns zum Mittagessen statt Blutgrützeetwas anderes.

Diese Freiheit zu haben hieß aber keines-wegs, ständig frei zu haben. Daß wir zur Arbeitangehalten wurden, war die natürlichste Sachevon der Welt.« (Lindgren, Samuel August vonSevedstorp und Hanna in Hult, S. 34/35)

Ich habe das so ausführlich zitiert, weil es(wie mir scheint) einen Hinweis enthält, warumauch die Alltagsgeschichten von ihren Lesern alsspannend empfunden werden: aus den Elementenkonkreter Erfahrungen einer solchen Kindheit hatdie Dichterin Astrid Lindgren das entworfen, wasich vorhin eine konkrete Utopie genannt habe.

So könnte es sein; sollte es nicht so sein ?Vielleicht nicht immer auf einem »ganz normalenPachthof der Pfarrei«, aber doch so, daß es einWunder ist, daß man sich nicht totgespielt, dochso, daß die Erwachsenen eine nützliche und fürdas Kind verständliche Arbeit tun, doch so, daßjunge und Alte und Uralte bei vielen Gelegen-heiten etwas miteinander zu tun haben, doch so,daß es für Kinder etwas Handfestes zu tun gibt,durch das sie erfahren können, daß sie wirklichgebraucht werden, doch so, daß die Erwachsenennicht unnötige und unerfüllbare Forderungen andie Kinder stellen und über Mißgeschicke nichtdie Nerven verlieren.

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Ich glaube, dieses Gefühl von Sehnsuchtnach dem, was sein könnte, sein sollte, ist es, dasAstrid Lindgren bei ihren Lesern zu wecken ver-steht; diese Beschreibungen sind es, die auch dieunter ihren Büchern für ihre Leser »spannend«machen, die nicht - wie zum Beispiel »KalteBlomquist« oder »Rasmus, Pontus und derSchwertschlucker« - eine handfeste Kriminalge-schichte voller Überraschungen als Gerüst haben.

Am atemlosesten, oft »in einem Zuge«,habeich selbst und haben Kinder und Jugendliche,denen ich das Buch geliehen habe, »Die BrüderLöwenherz« gelesen. Wenn das Wort Spannunghier überhaupt angebracht ist, dann kommt beidiesem Buch die Spannung wohl aus der Be-troffenheit des Lesers über die Kühnheit der Fa-bel und die Selbstverständlichkeit, mit der siesich in Bildern und Episoden entfaltet, die reali-stisch und mythisch zugleich sind. Es ist daseinzige Kinderbuch, das ich kenne, dessenThema der Tod und die Überwindung von To-desangst ist. »Es geht darin«, schreibt BettinaHürlimann, »in elementarer, nur im Märchenerlaubter Weise um Leben und Tod, um Gut undBöse, um Freiheit und Tyrannei. Der Kampf ge-gen das Böse, in den die Brüder unentrinnbarverflochten sind und der die ganze Handlungbestimmt, wendet sich gegen Gewalten, wie wirsie in unserem Jahrhundert erlebt haben, beziehtseine Motive von dort, ja selbst manche äußerenMerkmale, obgleich alles in mythologische Ver-gangenheit verlegt und dadurch verfremdetwird.« (Hürlimann, Ein Totenmärchen ?, S. 150)

Bruno Bettelheim, der große Kinderthera-peut, geht in seiner eindrucksvollen Untersu-chung Über den Nutzen der Märchen von einerscheinbar schlichten Wahrheit aus: »Heute liegtwie in früheren Zeiten die wichtigste und schwie-rigste Aufgabe der Erziehung darin, dem Kinddabei zu helfen, einen Sinn im Leben zu finden.Dazu sind viele Wachstumserfahrungen nötig.Das Kind muß in seiner Entwicklung lernen, sichselbst immer besser zu verstehen, dann vermag esauch andere zu verstehen und schließlich befrie-digende und sinnvolle Beziehungen mit ihnenherzustellen.« (Bettelheim, Kinder brauchenMärchen, S. 9)

Und die Sätze, mit denen Bettelheim den,wie er sagt, »unschätzbaren Wert« begründet,den Märchen für diese Entwicklung des Kindeshaben, könnten wohl auch für Bücher wie »Mio,mein Mio« oder »Die Brüder Löwenherz« gelten:Das Kind »formt unbewußte Inhalte zu bewußten

Phantasien, die es ihm ermöglichen, sich mitdiesem Inhalt auseinanderzusetzen. In dieserHinsicht haben die Märchen einen unschätzbarenWert, weil sie der Phantasie des Kindes neueDimensionen eröffnen, die es selbst nicht er-schließen könnte. Was noch wichtiger ist: Formund Gestalt der Märchen bieten dem Kind Bilderan, nach denen es seine Tagträume ausbilden undseinem Leben eine bessere Orientierung gebenkann.« (Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, S.12)

Zu den aufregendsten Abenteuern, die wirbestehen können, gehört es sicher, im Umgangmit uns selbst Erfahrungen mit dem zu machen,»was vom Menschen nicht gewußt oder nichtbedacht, durch das Labyrinth der Brust wandeltin der Nacht.« Ist es da verwunderlich, daß Kin-der und Jugendliche nicht nur mit Betroffenheitoder mit dem Gefühl der Befreiung, sondern auchmit Spannung Geschichten lesen, die ihnen sol-che Erfahrungen erschließen ?

II.

Damit waren wir schon bei der Beschreibungder zweiten Wirkung, die Kinder- und Jugendbü-cher auf ihre Leser haben. Sie regen die Vorstel-lungskraft an, verführen zum Nachdenken. AstridLindgren spricht von der »Zusammenarbeit zwi-schen Worten und Kindern«, um aus den Buch-staben »zwischen zwei Buchdeckeln Bilder voneiner Deutlichkeit zu machen, wie sie nur diePhantasie eines Kindes malen kann. Die Kinderschufen Bilder - von dunklen Märchenwäldernund grünen Indianerpfaden, von längst erlosche-nen Lagerfeuern und längst versunkenen Piraten-schiffen, Bilder von bekannten Welten und vonunbekannten, von nahen Dingen und von fernenWunderwerken - und es war in diesen Bilderneine Stärke, eine Intensität, die alles Übertraf,was es > in Wirklichkeit < gab.

Solche Bilder braucht der Mensch. An demTag, da die Phantasie der Kinder nicht mehr dieKraft besitzt, sie zu schaffen, an diesem Tag ver-armt die Menschheit. Alles, was an Großem inder Welt geschah, vollzog sich zuerst in derPhantasie eines Menschen, und wie die Welt vonmorgen aussehen wird, hängt in großem Maß vonder Einbildungskraft jener ab, die gerade lesenlernen. »Deshalb«, fährt Astrid Lindgren fort,»brauchen Kinder Bücher, an denen ihre Phanta-sie wachsen kann. Es gibt nichts, was das Buchals Nährboden der Phantasie ersetzen kann. Die

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Kinder von heute sehen Filme, hören Radio, sit-zen vor dem Fernsehschirm, lesen Comics - alldas ist gewiß lustig und appelliert wohl auch andie Phantasie, aber es sind oberflächliche Erleb-nisse. Ein Kind, allein mit seinem Buch, schafftsich irgendwo tief in den geheimen Kammern derSeele eigene Bilder, die alles andere übertreffen.«(Lindgren, Deshalb brauchen Kinder Bücher, S.14/15)

Wer die Anregung und Entfaltung der Phan-tasie fordert, muß sich zumindest drei Einwändenstellen:

Besteht nicht die Gefahr, daß ein Kind oderein junger Mensch sich in einer Phantasieweltverliert und dadurch ungeschickt oder untauglichfür die sogenannte wirkliche Welt wird? Und: IstPhantasiereichtum nicht eine sehr äußerliche,sozusagen formale Kategorie? Gibt es nicht auchzerstörerische, böse Phantasien ? Ist es nicht so,daß nicht nur die großen und guten Taten sichzuerst in der Phantasie vollzogen haben, sondernauch die mörderischen, haßerfüllten oder men-schenverachtenden ? Und schließlich: Ist es ineiner Zeit, in der die Erwachsenen nicht mehr angute Feen und wunderbare Begebenheiten glau-ben, überhaupt zulässig, den Kindern Geschich-ten zu erzählen, in denen »der beste Karlsson derWelt« in einem kleinen Häuschen auf dem Dachwohnt und mit seinem Propeller auf dem Rückendurch die abendlichen Straßen des Vasa-Viertelsfliegt, in denen man durch einen Gang unter demFuchsstein direkt vom Kapelahof ins Reich derUnterirdischen kommt, in denen ein kleinesMädchen mühelos ein Pferd auf die Verandaheben kann, in denen Katla und Karm, zwei Un-geheuer aus der Urzeit, miteinander kämpfen undsich gegenseitig vernichten?

Dieser letzte Einwand berührt einen Streit,der alt ist, aber vor etwa 20 Jahren eine Neuauf-lage in Gestalt einer radikalen Märchenkritikerlebt hat. Mir scheint, daß die gründliche Dis-kussion diese Auseinandersetzung inzwischen alsStreit um ein Scheinproblem entlarvt hat. DasMagische, Phantastische und das Realistischesind im Kinderbuch kein Gegensatz, sondernergänzen und bedingen einander. Wenn etwasunrealistisch ist, muß es darum nicht unwahrsein.

Den zweiten Einwand wird man ernst neh-men müssen. Ich meine, es ist in der Tat nichtgleichgültig, mit welchen Bildern die Phantasieder Kinder von heute angefüllt ist. Doch darf manes sich nicht zu einfach machen. Denn was Bet-

telheim und andere so überzeugend als eineFunktion der Märchen nachgewiesen haben, giltmit einigen Veränderungen wohl doch auch fürdas phantastische Kinderbuch:

»Die Verächter des traditionellen Volksmär-chens beschlossen, wenn schon Ungeheuer ineiner Geschichte auftreten müßten, sollten sie allegutmütig sein - dabei übersahen sie das Unge-heuer, das dem Kind selbst am besten bekannt ist,und das ihm am meisten Sorge bereitet: das Un-geheuer, das es in sich selbst fühlt und das esauch manchmal verfolgt. Wenn die Erwachsenenvon diesem Ungeheuer im Kind nicht sprechen,wenn sie es im Unbewußten versteckt haltenwollen und dem Kind nicht erlauben, es mit Hilfeder Bilderwelt des Märchens in seiner Phantasiezu bedenken, lernt das Kind das eigene Unge-heuer nicht besser kennen und erhält auch keinenHinweis, wie es gebändigt werden kann. DieFolge davon ist, daß das Kind seinen schlimm-sten Ängsten hilflos gegenübersteht - viel mehr,als wenn man ihm Märchen erzählt hätte, diediesen Ängsten Gestalt verleihen und Wege auf-zeigen, wie das Ungeheuer überwunden werdenkann.« (Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, S.115)

Die Psychoanalyse hat in vielen Bilderndeutlich gemacht, wie im strengsten Sinne leben-sentscheidend es ist, daß ein Mensch, aufwach-send, lernt, in einem entspannten aber nicht span-nungslosen Gleichgewicht zwischen den Ansprü-chen seiner Triebe und den Ansprüchen der Rea-lität zu leben, ja, daß der einzelne sich mit seinerTriebwelt geradezu befreunden muß, wenn seinIch nicht durch die Angriffe aus dem Hinterhaltdes Verdrängten ständig gefährdet sein soll.

Astrid Lindgren, die mir gesagt hat, daß sieihre Geschichten und Gestalten nie als Illustra-tion zu irgendeiner psychologischen Theorieverstanden habe, hat zum Beispiel den Karlssonvom Dach erfunden, jenen egoistischen, gefräßi-gen, rücksichtslosen, sich überall geschickt aus-redenden - und dennoch liebenswerten Karlsson,das alter ego des siebenjährigen Lillebror, unddazu eine Fülle lustiger und spannender Ge-schichten, in denen Lillebror, aber auch seineEltern und Geschwister, mit diesem kleinen Ko-bold umgehen lernen und Freundschaft schließen.Aber ob nun Karlsson vom Dach oder Herr Lili-enstengel, der den kranken Göran in das geheim-nisvolle Land der Dämmerung entführt, oder dieallerliebste Schwester, die die kleine Babro inihrem Kummer tröstet, daß nun ein neugeborener

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kleiner Bruder die Liebe und Aufmerksamkeitder Mutter beansprucht, immer sind es Gestalten,an denen das Kind erfahren kann, daß seinePhantasien und Ängste ernstgenommen und zu-gleich gebannt werden.

Hier, scheint mir, wäre ein Maßstab zu ge-winnen, mit welchen Bildern und Gestalten wiruns bemühen sollten, die Phantasie der Kinderreicher zu machen: Sie müssen daran gemessenwerden, ob sie dem Kind helfen, mit seinen Äng-sten fertig zu werden, sich geborgen zu fühlen,Zuversicht zu gewinnen. Sie müssen das durcheine Bilderwelt tun, die dem Kind in einer un-mittelbaren Weise zugänglich ist, dem Kind, dassich in einer Situation befindet, in der rationaleArgumente es gerade nicht erreichen, sondern esnur in seiner Hilflosigkeit und seinem Ausgelie-fertsein bestätigen.

Das führt zum ersten Einwand zurück: ZurGefahr des Sich-Verlierens in der Phantasiewelt,des Untauglichwerdens für die sogenannte Rea-lität. »Aus der Tatsache, daß manche Menschensich von der Welt zurückziehen und den größtenTeil ihrer Zeit im Reich ihrer Vorstellungen zu-bringen, hat man den irrigen Schluß gezogen, einüberreiches Phantasieleben mache es unmöglich,erfolgreich die Realität zu bewältigen. Das Ge-genteil ist jedoch richtig:«, schreibt Bettelheim,»Diejenigen, die völlig in ihren Phantasien leben,werden von zwanghaften

Gedankengängen befallen, die sich ewig umeinige, eng begrenzte, stereotype Gegenständedrehen. Diese Menschen haben keineswegs einreiches Phantasieleben; sie sind vielmehr in ei-nem angsterfüllten oder sehnsüchtigen Wunsch-traum eingeschlossen und können nicht ausbre-chen. Die [...] Phantasie dagegen, die in der Vor-stellung eine breite Vielfalt von Gegenständenauch aus der Realität umfaßt, gibt dem Ich eineÜberfülle an Material zu verarbeiten.« (Bettel-heim, Kinder brauchen Märchen, S. 117)

Ja, genaugenommen ist es wohl der Reich-tum an inneren Bildern, aus dem wir, auch wennunsere Erfahrungen entmutigend, demütigendoder verletzend sind, Hoffnung und Zuversichtgewinnen können. »Wie groß die Zurücksetzung,Enttäuschung und Verzweiflung des Kindes inAugenblicken völlig hoffnungsloser Niederlageist, erkennt man aus seinen Wutausbrüchen; siesind der sichtbare Ausdruck seiner Überzeugung,es könne nichts unternehmen, um seine »uner-träglichen« Lebensverhältnisse zu verbessern.Sobald ein Kind aber in der Lage ist, einen Aus-

weg aus seinem derzeitigen Dilemma zu ersinnen(d. h.: in der Phantasie auszudenken), verschwin-den die Zornanfälle, denn wenn Hoffnung auf dieZukunft vorhanden ist, sind die gegenwärtigenSchwierigkeiten nicht mehr unerträglich. An dieStelle ungezügelten körperlichen Austobens mitBoxen und Schreien tritt Nachdenken oder Tätig-keit, die darauf gerichtet ist, ein gewünschtes Zielzu erreichen, entweder jetzt oder irgendwannspäter. So kann das Kind mit den Problemen, diees nicht augenblicklich lösen kann, dennoch le-ben, weil die Enttäuschung in der Gegenwart vonVisionen zukünftiger Siege gemildert wird.«(Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, S.119)

III.

Damit sind wir schon bei einer dritten Wir-kung, die zumindest das Buch für Kinder undJugendliche haben kann: Es tröstet und ermutigtseinen Leser. Hier ist wohl mehr oder wenigerdeutlich nach einer Grundentscheidung des Au-tors gefragt. Ganz sicher will er unterhalten, dassoll er auch - und wenn er es erfolgreich tut, umso besser; vielleicht will er aufklären, den Leserkritisch machen, zum "Weiterfragen, Zweifelnveranlassen, auch das kann seine Aufgabe sein -und wenn er sie erfolgreich wahrnimmt, um sobesser. Aber was will er noch? "Was hat er mitseinem kindlichen oder jugendlichen Leser ei-gentlich im Sinn? Trösten und Ermutigen heißtnicht belügen. Mit dem, was wir zu Recht einen»billigen Trost« nennen, ist nichts gewonnen,höchstens etwas beschwichtigt. Ermutigung, dienicht aus Hoffnung und Zuversicht für die Zu-kunft kommt, ist ebenso kränkend wie das »Nunreiß dich mal zusammen«. Mit dem moralischenUnterton bedrängen wir das mutlose Kind nur,wir helfen ihm in seiner Verzweiflung geradenicht.

Aber daß, wie in so vielen Geschichten vonAstrid Lindgren (oder auch in vielen Märchen)das Kleine, Verzagte, scheinbar Ohnmächtigenicht unterliegen muß, sondern durch List undGeduld oder durch die Unbeirrbarkeit seinesGlaubens das Große und Gewalttätige überwin-det, kann trösten und Mut machen, so daß darausdie Kraft zum "Weiterleben und eine neue Tap-ferkeit gegenüber den eigenen Ängsten undSchwierigkeiten kommt. Dazu ist es nötig, daßdie Angst und Verzagtheit erst einmal so ernstge-nommen wird, wie bei dem kleinen Karl

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Löwe, der von sich sagt: »Ich kenne keinen,der sich so schnell fürchtet wie ich.« Und derdoch seine Angst immer wieder überwindet, sodaß er seinem neuen Namen Löwenherz alle Ehremacht. Am Ende soll er mit seinem Bruder Jo-nathan den Sprung in die unheimliche Tiefe tun,um vielleicht in das neue Land der Verheißung,Nangilima, zu kommen:

»Krümel Löwenherz«, sagte Jonathan, »hastdu Angst?« »Nein..., doch, ich habe Angst! Aberich tue es trotzdem, Jonathan, ich tue es jetzt...jetzt... Und dann werde ich nie wieder Angsthaben. Nie wieder Angst...«

Der Trost und die Ermutigung, die das Kin-derbuch im besten Falle seinen Lesern gebenkann, muß sie in ihren Nöten trösten, in ihrenÄngsten und ihrer Verzweiflung ermutigen, ih-nen Hoffnung machen, daß sie die Problemeihrer Welt werden lösen können. Das setzt vor-aus, daß der Autor diese Welt, ihre Ängste undNöte, ihre Verzweiflung, aber auch ihr Glück undihre Schönheit kennt. Dann kann er, auch undgerade, eine Geschichte schreiben, die unter zau-bernden Müllerburschen in einer unheimlichenMühle vor 300 Jahren spielt, oder eine Ge-schichte, die von der Flucht eines Jungen auseinem KZ handelt. Aber es setzt wohl auch vor-aus, daß der Autor selbst an den Trost und dieErmutigung glaubt, die er in einer GeschichteGestalt werden läßt. Das heißt nicht, die Weltdurch eine rosarote Brille sehen. Im Gegenteil, eskann sein, daß aus dieser Überzeugung erst derMut kommt, die Welt ohne Scheuklappen zusehen. Wer sich allerdings selbst belügen müßte,wenn er seine kindlichen oder jugendlichen Lesertrösten, ermutigen und ihnen Hoffnungen machenwollte, der sollte wohl nicht für Kinder und Ju-gendliche schreiben.

IV.

Von einer letzten Wirkung soll noch dieRede sein, die Bücher für Kinder und Jugendli-che auf ihre Leser haben: Sie klären auf über dieWelt. Sie machen Zusammenhänge deutlich, diein meinem Alltag vielleicht verborgen sind.

Sie benennen das Schöne als schön, das Guteals gut, das Furchtbare und Unerträgliche alsfurchtbar und unerträglich, sie zeigen, wasFreundschaft ist, aber auch, worin Gewalt undTyrannei bestehen und was sie den Ausgeliefer-ten ebenso wie den Schergen antun. Sie erzählenvon Treue und Mut zum Widerstand, aber auch

von Verrat und Feigheit und machen dies allesdamit deutlicher erfahrbar, leichter zu bewältigenals das in der ungeklärten Realität meines Alltagsgeschehen kann. Sie sagen mir einen Teil derWahrheit über andere Menschen und über michselbst, und vielleicht gerade den Teil, den ich inmeinem Alltag nicht oder nur sehr undeutlicherfahren würde. Sie haben, deutlicher die einen,undeutlicher die anderen, eine Botschaft an mich,zum Beispiel, warum es sich trotz allen Unheilsin dieser Welt zu leben lohnt, oder daß es Dingegibt, die man tun muß, selbst wenn sie lebensge-fährlich sind, »weil man sonst kein Mensch ist,sondern nur ein Häuflein Dreck«, wie Jonathandem Krümel Löwenherz antwortet, der den ge-liebten Bruder verzweifelt fragt, warum er sich ineine solche Gefahr begeben müsse.

Die Kinder- und Jugendbücher, die Ge-schichten erzählen, müssen wahr sein, auch wennsie vielleicht voller Magie und Zauberei, vollspielerischer Phantasie und erfindungsreicherFabulierkunst stecken. Daß das möglich ist, ha-ben Astrid Lindgren und manche andere Autorenin den letzten Jahren immer wieder bewiesen undnicht nur den Kindern, sondern auch uns Erwach-senen dadurch ein kostbares Geschenk gemacht.Wahrheit kann nicht nur in der Darstellung vonWirklichkeit zur Sprache kommen, sondern auchim Ausgedachten, Phantastischen. Das Gegenteilvon Wahrheit ist Verlogenheit. Lügen und Be-trügen kann man auch mit höchst realistischenMitteln.

Man hat Astrid Lindgren (ebenso wie ande-ren großen Kinderbuchautoren) vorgeworfen,ihre Bücher schilderten und verklärten eine»heile Welt«. Abgesehen davon, daß, wie ichmeine, ein solcher Vorwurf nur aus blanker Un-kenntnis der Bücher selbst kommen kann - esgibt kaum ein Buch von ihr, in dem nicht auchdas Unheilvolle bedrängende Realität ist - mußhier wohl zurückgefragt werden: Gehört es nichtauch zur Wahrheit, daß wir in einer unheilenWelt nicht vergessen, ja nicht vergessen dürfen,daß es eine heile Welt geben könnte, und daß wirdeshalb weniger Unheil ertragen und wohl auchanrichten sollen? Daß wir in einer friedlosenWelt nicht vergessen, ja nicht vergessen dürfen,daß wir eine Welt des Friedens wollen?

Woher sollten wir sonst den Mut nehmen,nicht zu resignieren, uns nicht zu bescheiden und»so ist es und so bleib es« zu sagen?

Wir ehren heute Astrid Lindgren - zugleichstellvertretend für viele -, weil sie das ihre dazu

FRIEDENSPREIS DES DEUTSCHEN BUCHHANDELS

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beigetragen hat, diesen Mut bei den Kindern undvielleicht bei manchen von uns zu wecken und zustärken. Aber wir würden zuwenig tun, wenn wires angesichts der Herausforderung, die solcheBücher in Wahrheit sind, bei Ehrung und Dank-barkeit beließen, wenn uns die Arbeit und dasWerk einzelner zum Alibi für unsere eigene Un-tätigkeit gerieten. Etwas an den Lebensverhält-nissen der Kinder jetzt und an ihren Lebensmög-lichkeiten für die Zukunft zu ändern, der kon-kreten Utopie ein paar Schritte näher zu kommen,das ist nicht eine Sache, die man an ein paar Kin-derbuchautoren oder auch an viele Berufspäd-agogen delegieren kann, sondern das ist eine

Aufgabe, die uns allen gestellt ist, eine politischeAufgabe auch in dem Sinn, daß sie langfristigesund weiträumiges Planen und Handeln ebensoerfordert, wie den Mut, mit den kleinen Dingenjetzt schon anzufangen.

Wir danken Astrid Lindgren, daß sie nichtnur für die Kinder da ist, sondern auch uns Er-wachsene in eine heilsame Unruhe versetzt.

Verzeichnis der zitierten Literatur

BRUNO BETTELHEIM: Kinder brauchen Märchen, Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt 1977

ERNST BLOCH: Spuren (= Bibliothek Suhrkamp, Bd. 54), Frankfurt/M., Suhrkamp 1969

BETTINA HÜRLIMANN: Ein Totenmärchen? in: Neue Zürcher Zeitung vom 7.11.1974, zitiert nach Oetinger-Almanach Nr. 13, Hamburg, Oetinger 1975, S. 150ff.

ASTRID LINDGREN: Immer dieser Michel, Hamburg, Oetinger- Mio, mein Mio, Hamburg, Oetinger 1975- Die Brüder Löwenherz, Hamburg, Oetinger 1975- Das entschwundene Land, Hamburg, Oetinger 1977 darin: Samuel August von Sevedstorp und Hanna in Hult / Das entschwundene Land / Kleines Zwiegespräch mit einem künftigen Kinderbuch-Autor / Wo kommen nur die Einfälle her?- Deshalb brauchen Kinder Bücher, in: Oetinger-Almanach Nr. 15, Hamburg, Oetinger 1977, S. 14 f.

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