Einen toten Hund ihm nach | von Jean Rolin

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Jean Rolin Einen toten Hund ihm nach Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller BERLIN VERLAG

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Eine literarische Reportage über das weltweite Auftreten verwilderter Hunde, dieser »Begleiterscheinung von Niederlage und Verzweiflung«. Von ihnen erzählen heißt von den Rissen einer Gesellschaft erzählen. Und Jean Rolin tut dies so meisterhaft wie brillant.

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Jean RolinEinentoten Hundihm nach

Aus dem Französischen vonHolger Fock und Sabine Müller

Berlin VerlAg

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in seinem Buch Der Mythos vom Menschen fragt Bounce: »Hätte der Mensch, wenn er einen anderen Weg eingeschlagen hätte, nicht mit der Zeit ein ebenso großes Schicksal gekannt wie der Hund?«

Clifford D. Simak, Morgen die Hunde

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Kaum hatten wir im Hotel Kasar unsere Zimmer bezogen, erhielten wir schon Besuch von der Polizei. Zugetragen hat sich dies in den letzten Jahren des zwanzigsten Jahr-hunderts, in Turkmenbaschi – früher Krasnowodsk – an der Küste des Kaspischen Meeres. Wir belegten drei einzelzim-mer auf demselben Flur, die eher gefängnis- als Hotelkom-fort boten. Kurz bevor die Polizei auftauchte, hatte ich die Übersetzerin in ihrem Zimmer aufgesucht, um ihre rech-nung zu begleichen. Die Übersetzerin hatte grüne oder haselnussbraune Augen und langes, tief dunkelrotes Haar, vielleicht von dem Farbton, den man »Mahagoni« nennt. Wir hatten sie einige Tage zuvor in Aschchabad, der Haupt-stadt Turkmenistans, engagiert, wo sie zum mehr oder weniger polyglotten Personal am empfang eines großen Hotels gehörte, das allerdings sehr viel luxuriöser war als das Kasar hier und das bis auf den Mangel an gästen jedem anderen Hotel dieser Klasse in jeder beliebigen Hauptstadt glich. Dieser zumindest scheinbare luxus und die leere, die es mit den meisten Hotels in Aschchabad teilte, weckten bei uns sofort den Verdacht, dass sie nicht oder nicht in erster linie dazu bestimmt waren, gäste zu beherbergen. Was das Personal angeht, so verhielt sich seine Anzahl jedenfalls umgekehrt proportional zu der der gäste. Allein am empfang zählten wir ein knappes Dutzend Hotelange-stellte, unter denen ich kurzerhand die junge Frau mit dem tief dunkelroten Haar als Ansprechpartnerin ausge wählt und ihr gleich vorgeschlagen hatte, uns während unseres

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Aufenthalts als Übersetzerin zu begleiten. Zu meiner größ-ten Verwunderung willigte sie nahezu postwendend ein, ohne sich die Bedenkzeit zu nehmen, die dieses plötzliche Angebot meiner Meinung nach erfordert hätte, das ihr zwei Typen unterbreiteten, von denen sie nur wusste, dass sie von weit her kamen und vorgaben, informationen über die schwankenden Pegelstände des Kaspischen Meeres sam-meln zu wollen.

Jetzt waren wir zurück in Turkmenbaschi, unsere reise näherte sich ihrem ende. Als ich ins Zimmer der Über-setzerin trat, bat sie mich, ihr gegenüber Platz zu nehmen, wahrscheinlich fielen ein paar scherzhafte Bemerkungen oder sonstige Höflichkeiten, ich übergab ihr das geld, und statt sofort zu gehen, wie ich es hätte tun sollen, ließ ich mich von der wirklich bemerkenswerten Schönheit ihres Haars mit dem Mahagoni-Schimmer bezaubern und blieb einen Augenblick im Zimmer, um sie anzuschauen. Als ich jedoch in ihren grünen (oder haselnussbraunen) Augen die Verwunde rung über mein Bleiben bemerkte, zog ich mich zurück, noch bevor sie etwas dazu sagen konnte, flüchtig beschämt darüber, dass sie mein Verweilen als Zeichen von Anmaßung auffassen könnte. Und auch enttäuscht, wie man sich denken kann. ich grübelte noch über meinen Frust, als es an meiner Tür klopfte, und beim Öffnen bildete ich mir für den Bruchteil einer Sekunde womöglich ein, die Übersetzerin könnte es sich noch einmal überlegt haben und würde nunmehr einwilligen, ein wenig Zeit mit mir zu verbringen. Als dann die beiden Polizisten eintraten, erschien mir dieser ungebetene Besuch zweifellos wie eine göttliche oder weltliche Strafe für meine anhaltende Unter-stellung. in Anbetracht dessen, was über Turkmenistan und die gepflogenheiten der dortigen Polizei bekannt ist, wurde

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das Verhör mit viel Taktgefühl, beinahe freundlich geführt. Die beiden Polizisten mussten einige Dinge klären, welche, weiß ich noch immer nicht, vielleicht hatten sie es auch nur auf die Überprüfung des Visums in meinem Pass abge-sehen. ich nehme an, dass sie bei der Übersetzerin etwas beharrlicher waren, doch sie konnte ihnen nur bestätigen, was wir von Anfang an immer gesagt hatten, nämlich dass wir nachforschungen zu den schwankenden Pegelständen des Kaspischen Meeres angestellt hatten.

einige Stunden bevor wir unsere Zimmer im Hotel Kasar bezogen, waren wir an Bord des Küstenwachboots Almaz von der insel Kizyl-Su zurückgekommen, deren name auf Turkmenisch so viel bedeutet wie »rotes Wasser«. Das Kas pische Meer zeigte dort mitnichten diese Färbung, doch möglicherweise handelt es sich um ein relikt aus der epoche, in der alles rot war, angefangen bei den Orts-namen, wovon zum Beispiel die Stadt der roten Barri kaden in einem nachbarland zeugt, wo wir uns einige Zeit aufge-halten hatten. Was den Wasserstand anging, so veränderte er sich, das ist unbestreitbar, obwohl ich mich nicht mehr erinnern kann, ob nach oben oder nach unten: er steigt oder fällt ohnehin in unregelmäßigen Zeitabständen, und genau in diesen Schwankungen des Wasserstands liegt eine der hervorstechendsten eigentümlichkeiten des Kaspischen Meeres, vom Standpunkt der Anrainer oder der Ölgesell-schaften aus aber auch ein Anlass zu größter Sorge. (Für letztere liegen die Dinge noch komplizierter, da das Kas-pische Meer im Winter zufriert, jedoch nur in seinem tiefs-ten, dem nördlichen Teil und auf einer Fläche, die je nach Klimaschwankungen unterschiedlich groß ist, so dass heute mit jedem Winter aufs neue fraglich ist, ob die kasachi-schen Wölfe, vorausgesetzt, es gibt noch welche, über das

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eis auf die Tjulenji-inseln ziehen können, um dort robben zu jagen, wie sie es früher immer zu tun pflegten.)

War der Meeresspiegel im Begriff zu steigen – wie ich trotz allem vermute, da wir am gegenüberliegenden Ufer vom Wasser zerstörte oder überschwemmte Straßen, Häfen und andere Bauwerke gesehen hatten –, würde die insel Kizyl-Su innerhalb eines recht kurzen Zeitraums zu ver-sinken drohen, denn sie besitzt keine Anhöhen, ich glaube, es gibt nicht einmal einen Hügel oder eine Kuppe, wo die Bevölkerung bei einer Überschwemmung Zuflucht finden und auf die über kurz oder lang eintreffende Hilfe warten könnte. in meiner erinnerung weist die insel die Form einer Sichel auf, wobei sich auf der einen Spitze ein turkme-nisches Dorf befindet, auf der anderen ein leuchtturm, den eine russische Familie in Beschlag genommen hat. Wahr-scheinlich lebte diese russische Familie, die mindestens ein geistig zurückgebliebenes Kind hatte, das damals um die zehn Jahre alt war, einen Drillich in Tarnfarben trug und gewöhnlich von einer Mole aus angelte, wahrscheinlich lebte diese russische Familie in der mehr oder weniger be-gründeten Angst, eines Tages von den Turkmenen über-fallen zu werden, wenngleich man sich im leuchtturm gut verschanzen konnte, zumal er an die ruinen einer kleinen Militäranlage grenzte, anscheinend eine Batterie von luft-abwehrraketen mit ihrem lenkwaffenradar, die nicht mehr in Betrieb war und bald unter Staub verschwinden würde.

eine sandige ebene von etlichen Kilometern, die an man-chen Stellen grün, an anderen Stellen sumpfig war, trennte den russischen leuchtturm von dem turkmeni schen Dorf. in dieser ebene lebten einige verwilderte Kamele, die selbst aus der entfernung einen widerwärtigen ge-stank verbreiteten. Das turkmenische Dorf, selbst auf Sand

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gebaut oder vielmehr in diesen hineingepflanzt, be-stand – grob geschätzt – aus etwa hundert Häusern, von denen die meisten auf Pfählen standen. in der noch nicht lange zurück liegenden sozialistischen Zeit musste das Dorf teils von der Metallverarbeitung, teils vom industriellen Fischfang gelebt haben, wie die vielen eisenwracks von Trawlern und die ruinen einer Werft bezeugten. Seither schienen die Männer des Dorfs den größten Teil ihrer Zeit zwischen diesen ruinen zu verbringen, Zeugen glorrei-cher Tage, die ihnen ein wenig Schatten spendeten. Sie waren häufig betrunken und fast immer schlecht gelaunt. Ausnahmsweise fischten sie mit dem netz vom Ufer aus, aber als würden sie sich dabei verstecken, und wenn man sie fragte, beteuer ten sie unumwunden, nichts zu tun. Dasselbe galt für die Frauen, die in unregelmäßigen Ab-ständen mit Säcken von getrocknetem Fisch an Bord des Küstenwachboots Almaz gingen. Ob sie die Fische auf dem Markt von Turkmen baschi verkauften oder tauschten? Mit einem »nein« kehrten sie einem den rücken zu. Dieses leugnen war sicher im Charakter des regimes begrün-det – unter dem alles vom Willen oder der Fantasie eines einzi gen Mannes abhing, der überdies halb schwachsinnig war, denn er begnügte sich nicht damit, ein epos, das er zum eigenen ruhm verfasst hatte, zur Pflichtlektüre in den Schulen zu erheben, vor kurzem ließ er auch ein exemplar mit einer russischen rakete in den Weltraum bringen –, eines regimes also, in dem jede nicht den Behörden ge-meldete Beschäftigung, das heißt jede Tätig keit, die nicht den räuberischen Absichten der Staatsdiener oder ihres Chefs persönlich diente, von vornherein verboten war. Trotz des Schweigens der inselbewohner und des offen-kundigen Wirrwarrs in ihren Unternehmungen, womit sie

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jenen Verdammten im Film ähnelten, die aufs geratewohl durch eine Welt bar jeder Hoffnung irren, konnte man in ermangelung einer besseren erklärung mutmaßen, dass der Zusammenbruch der industriellen Produktion, in der die Männer das Sagen hatten, und deren fortschreitende ersetzung durch eine Ökonomie des Tauschhandels oder der Handarbeit, in der sich die Frauen am besten schlugen, zu einer parallelen, nicht weniger katastrophalen entwick-lung in den Familien- und Sozialstrukturen geführt hatte: Soweit man es beurteilen konnte, büßten die um ihre lohn-arbeit gebrachten Männer im Wesentlichen die Macht ein, während die Frauen diese an sich rissen. Sogar die relative körperliche Überlegenheit der Männer, ganz zu schweigen von ihrem ruf, schwand auf die Dauer mangels Übung und wegen ihrer Trunksucht.

Das Haus, in dem wir untergekommen waren, bot ein Beispiel für diesen Wandel. An zwei aufeinanderfolgenden Abenden hatten die Frauen im Haus, Mutter und Töchter, dem Vater unter dem Vorwand seiner im Übrigen unbe-streitbaren Trunkenheit den Zutritt verwehrt und ihn ge-zwungen, die nacht im Freien zu verbringen, im nassen und kalten Sand, im Müll und bei den Hunden. Denn die Herrschaft der Hunde erstreckte sich, so weit der Sand reichte, bis unter die Häuser. Auch wenn die starke Ver-mehrung streunender Hunde nicht als eine unmittelbare Folge des Matriarchats angesehen werden kann, so war sie doch mit dem Zusammenbruch der alten Ordnung und dem tastenden Beginn der neuen einhergegangen. Oben-drein waren diese Hunde, wahrscheinlich Überbleibsel oder Abkömmlinge eines Hirtenlebens, das ebenso wenig über-dauert hatte wie alle anderen erwerbszweige, von beträcht-licher  größe. entsprechend ihrer wachsenden Zahl waren

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auch ihre Selbstsicherheit und Anmaßung gewachsen, so dass die leute sich nun, zumindest nachts, fürchteten, sich von ihren Behausungen zu entfernen und in den Sand hinauszuwagen. Selbst am helllichten Tag und mitten auf der unbefestigten Hauptstraße des turkmenischen Dorfs mussten die Kinder, wenn sie in die Schule gingen – kein Mensch weiß, worin sie noch unterrichtet wurden außer im Wiederkäuen des Runahma, des auf eine Umlaufbahn geschickten Versepos von Saparmurat nijasow –, auf Um-wegen mehrere Hundenester umgehen, die beinahe so aus-sahen wie Albatrosnester, winzigen Vulkanen ähnlich und mit schäumenden Kreaturen bestückt. Doch diese Hunde waren noch gefährlicher, wenn sie abseits des Dorfs irgend-wo in der natur oder in jener Art von Brachland lebten, das die natur ersetzt hatte und in dem, wie schon berichtet, stinkende verwilderte Kamele umherzogen.

Als ich mich einmal von den Häusern entfernte und am Ufer entlangging im Bemühen, eine Bestandsaufnahme all dessen zu machen, worauf ich bei jedem Schritt stieß – tote Krabben, Wasserschlangen, eisenteile, dünne Vogel-knochen, Federbüschel –, wurde ich selbst von einem der Hunde angefallen. ich kann dazu nicht mehr sagen, als dass es sich um ein großes Tier mit spitzen Ohren handelte. ich hatte ihn weder kommen gesehen noch hatte ich ihn ge-hört, als er sich aus einer entfernung von fünfzig Metern auf mich stürzte, als hätte ich ihm oder seiner Sippe irgend-etwas getan. Zum glück lag direkt vor meinen Füßen eine vom Schiffsbau stammende eisenstange, die ich rechtzeitig ergreifen und schwenken konnte. Die Stange war außer-ordentlich schwer, doch die Angst, von einem Hund zer-fleischt am Ufer des Kaspischen Meeres zu sterben, zählt, wenn sie einen nicht lähmt, genau zu den Dingen, die un-

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geahnte Kräfte freisetzen. Und hier endet der Film für mich, als ob die Spule gerissen oder im Projektor hängen geblie-ben wäre, mit dieser einstellung, in der man sieht, wie ich, das gesicht entstellt von dem gebrüll, das ich ausstoße, eine schwere eisenstange vor dem Hund schwinge, der mit dumpfem Knurren angreift.