Einflüsse lehrergeführter Schüler-Interviews auf Schülereinschätzung und...

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335 Kerstin Bräuning Einflüsse lehrergeführter Schüler-Interviews auf Schü- lereinschätzung und Unterrichtsunterstützung im Mathe- matikunterricht der Grundschule Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt beim Fachbe- reich Mathematik der Universität Kassel. Gutachter: Prof Dr. Bernd Wollring Prof Dr. Hans-Georg Rück Datum der mündlichen Prüfung: 24. Mai 2006 In Folge der Ergebnisse der PISA und IGLU Studien ist das Thema Diagnose und indi- viduelle Förderung in die öffentliche Diskussion geraten. Vor diesem Hintergrund richtet sich im Herbst 2002 die Aufmerksamkeit der Arbeitsgruppe Wollring auf ein mathe- matikdidaktisches empirisches Forschungsprojekt in Australien: Early Numeracy Re- search Project (ENRP) (Clarke et al. 2002). Eine Besonderheit dieses Projektes besteht in der Eins-zu-eins-Situation zwischen Lehrer und Schüler bei einem Interview über Ma- thematik. Dieses Projekt bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Im ersten Kapitel wird das australische Projekt sowie seine Umsetzung in Deutschland vorgestellt. Ziel des Projektes ist es, die individuellen mathematischen Performanzen von Grund- schulkindern mit Hilfe eines Interviews in einer Eins-zu-eins-Situation des Schülers mit dem Lehrer (Schüler-Interview) zu erheben und damit mathematikdidaktische Orientie- rungshilfen für den Unterricht zu liefern. Das Schüler-Interview bestimmt den Lern- standort eines Kindes, der als Ausgangspunkt für eine Diagnose dienen kann. Daher werden unterschiedlichen Sichtweisen der Disziplinen - Psychologie, Medizin, Pädago- gik, Sonderpädagogik und Fachdidaktik - in Hinblick auf den Begriff "Diagnose" disku- tiert. Die Durchführung von Schüler-Interviews kann neben ihrem diagnostischen Wert auch eine Bedeutung für die Professionalisierung von Lehrern einnehmen, da sie die Lehrer herausfordert, sich mit den Denk- und Lösungswege von Kindern aller Leistungsniveaus intensivauseinanderzusetzen. In einer Studie von Steinberg et al. (2004, p. 238) wird deutlich, dass dieses Wissen des Lehrers sowohl als ein Index der Veränderung als auch als ein Mechanismus zur Veränderung des Unterrichts dient. In dieser Arbeit werden über den Zeitraum eines Jahres der Umgang der Lehrer mit dem Führen von Schüler-Interviews und den von ihnen daraus gewonnenen Erkenntnissen ausgewertet. Dabei werden mit den Lehrern nach einem halben und nach einem Jahr Er- probung mehrerer von ihnen selbst geführter Schüler-Interviews je ein Interview mit der Forscherin geführt, um herauszufinden, in welchen verschiedenen Bereichen das Führen von Schüler-Interviews den einzelnen Lehrern Unterstützung bietet. Die erhobenen Da- ten werden qualitativ mit Hilfe der Grounded Theory ausgewertet. (JMD 28 (2007) H. 3/4, S. 335-336)

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Kerstin Bräuning

Einflüsse lehrergeführter Schüler-Interviews auf Schü­lereinschätzung und Unterrichtsunterstützung im Mathe­matikunterricht der Grundschule

Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Naturwissenschaften, vorgelegt beim Fachbe­reich Mathematik der Universität Kassel.

Gutachter: Prof Dr. Bernd Wollring Prof Dr. Hans-Georg Rück

Datum der mündlichen Prüfung: 24. Mai 2006

In Folge der Ergebnisse der PISA und IGLU Studien ist das Thema Diagnose und indi­viduelle Förderung in die öffentliche Diskussion geraten. Vor diesem Hintergrund richtet sich im Herbst 2002 die Aufmerksamkeit der Arbeitsgruppe Wollring auf ein mathe­matikdidaktisches empirisches Forschungsprojekt in Australien: Early Numeracy Re­search Project (ENRP) (Clarke et al. 2002). Eine Besonderheit dieses Projektes besteht in der Eins-zu-eins-Situation zwischen Lehrer und Schüler bei einem Interview über Ma­thematik. Dieses Projekt bildet den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Im ersten Kapitel wird das australische Projekt sowie seine Umsetzung in Deutschland vorgestellt. Ziel des Projektes ist es, die individuellen mathematischen Performanzen von Grund­schulkindern mit Hilfe eines Interviews in einer Eins-zu-eins-Situation des Schülers mit dem Lehrer (Schüler-Interview) zu erheben und damit mathematikdidaktische Orientie­rungshilfen für den Unterricht zu liefern. Das Schüler-Interview bestimmt den Lern­standort eines Kindes, der als Ausgangspunkt für eine Diagnose dienen kann. Daher werden unterschiedlichen Sichtweisen der Disziplinen - Psychologie, Medizin, Pädago­gik, Sonderpädagogik und Fachdidaktik - in Hinblick auf den Begriff "Diagnose" disku­tiert. Die Durchführung von Schüler-Interviews kann neben ihrem diagnostischen Wert auch eine Bedeutung für die Professionalisierung von Lehrern einnehmen, da sie die Lehrer herausfordert, sich mit den Denk- und Lösungswege von Kindern aller Leistungsniveaus intensivauseinanderzusetzen. In einer Studie von Steinberg et al. (2004, p. 238) wird deutlich, dass dieses Wissen des Lehrers sowohl als ein Index der Veränderung als auch als ein Mechanismus zur Veränderung des Unterrichts dient. In dieser Arbeit werden über den Zeitraum eines Jahres der Umgang der Lehrer mit dem Führen von Schüler-Interviews und den von ihnen daraus gewonnenen Erkenntnissen ausgewertet. Dabei werden mit den Lehrern nach einem halben und nach einem Jahr Er­probung mehrerer von ihnen selbst geführter Schüler-Interviews je ein Interview mit der Forscherin geführt, um herauszufinden, in welchen verschiedenen Bereichen das Führen von Schüler-Interviews den einzelnen Lehrern Unterstützung bietet. Die erhobenen Da­ten werden qualitativ mit Hilfe der Grounded Theory ausgewertet.

(JMD 28 (2007) H. 3/4, S. 335-336)

336 Habilitationen/Dissertationen

Im empirischen Teil der Arbeit werden drei, der am Projekt beteiligten, Lehrerinnen in Form von Fallstudien vorgestellt und ausgewertet. Bei der Lehrerin, die Mathematik nicht als Fach studiert hat, besteht vor allem ein eigener Lernzuwachs in der Sicht auf Mathematik. Zu Beginn der Untersuchung hatte sie laut ihrer eigenen Aussagen eine e­her ergebnis orientierte Sicht auf die Mathematik. Die Aussagen der drei Lehrerinnen be­ruhen auf einzelnen Schülern und ihren Besonderheiten. Im Laufe der Studie verallge­meinern sie ihre Erkenntnisse und beginnen Konsequenzen tUr ihren Unterricht aus den Schüler-Interviews zu folgern, wie sie in den abschließenden Interviews berichten. Das Schüler-Interview scheint dem Lehrer einen geschützten Raum zu bieten, um die Reflex­ion über die mathematischen Performanzen seiner Schüler und seinen eigenen Unterricht anzuregen, ohne ihn bloßzustellen und ohne ihm Vorschriften zu machen. Nach der ein­jährigen Erprobung von Schüler-Interviews betonen alle drei Lehrerinnen größeren Wert auf prozessorientiertes Mathematiklernen zu legen. Sie berichten, dass sie die Perfor­manzen der Kinder stärker kompetenzorientiert wahrnehmen. Jedoch haben sie Schwie­rigkeiten, die tUr sich selbst gewonnene Transparenz über die mathematischen Perfor­manzen des interviewten Kindes, den Schülern mitzuteilen und ihnen ermutigende Rückmeldungen zu geben. Außerdem können die Lehrer die problematischen mathema­tischen Bereiche der Schüler zwar beschreiben, sehen sich laut ihrer eigenen Aussage aber nicht in der Lage mit den Schülern daran zu arbeiten und sie angemessen zu för­dern. Selbst nach den austUhrlichen Analysen der ausgewählten Lehrerinnen bleibt un­klar, ob und in welcher Weise sie die Erkenntnisse aus dem Führen der Schüler­Interviews tUr ihren Unterricht nutzen. Laut der Aussage zweier beteiligter Lehrerinnen sollten Lehrer offen und interessiert sein und sich bereitwillig mit ihren eigenen Kompetenzen auseinandersetzen, damit das Führen von Schüler-Interviews tUr die Lehrer selbst und tUr die Schüler einen besonde­ren Nutzen besitzt. Um diese Auseinandersetzung stärker anzuregen und zu vermeiden, dass sich im Schüler-Interview mit dem Kind nicht die Einstellungen des Lehrers gegen­über den Leistungen des Schülers widerspiegeln, könnten sie vor Beginn des Führens von Schüler-Interviews verstärkt in der Ausbildung ihrer Interviewkompetenzen unter­stützt und geschult werden. Obwohl sich die Lehrer zuerst Freiräume schaffen mussten, in denen sie trotz ihres Zeitmangels Schüler interviewen konnten, bietet das Führen von Schüler-Interviews die Chance, den Ist-Zustand der Schülerperformanzen in den mathe­matischen Bereichen Zahlen, Größen und Raum zu erfassen.

Literatur: Clarke et al. (2002). ENRP, Final Report, Project Team Doug Clarke et al., Australien Steinberg, R. M., Empson, S. B., & Carpenter, T. P. (2004). Inquiry into children's mathematical thinking as a menas to teacher change. Journal of Mathematics Teacher Education, 7,237-267.

Die Dissertation ist unter gleichem Namen beim Shaker Verlag online veröffentlicht: .. http://www.shaker.de/OnlineAutoren/Katalog/Detai Is.asp?DID=208&AID=22 7".

Kerstin Bräuning Universität Duisburg-Essen, Campus Essen, Fachbereich Mathematik 45117 Essen Email: [email protected]