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Einführung in die Literaturwissenschaft 5: Autorschaft und sprachliches Handeln

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Einführung in die Literaturwissenschaft

5: Autorschaft und sprachliches Handeln

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Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?

• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?

• Intertextualität und Intermedialität: Wie bezieht sich Literatur auf andere Texte / andere Medien?

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›Stimme‹ als Erzählkategorie: Sprechen als Handeln

Edgar Lee Masters’ »Spoon River Anthology« läßt nicht nur ein ›Ich‹ zu Worte kommen, sondern viele. Die Frage Wer spricht? ist für jedes seiner Gedichte anders zu beantworten. Dabei bildet der Name des jeweiligen Ich zugleich den Titel des Gedichts – hier: »Photograph Penniwit«. In einem Anhang zum Gedichtzyklus findet sich ein alphabetischer Index aller Namen, den man nutzen kann wie ein Telefonbuch, um zu erfahren, wie man die einzelnen Stimmen erreichen kann. Jede dieser Stimmen handelt, indem sie spricht.

Im vorliegenden Fall werden die Wirkungen der Worte »Die Klage wird abgewiesen!« auf der Photographie festgehalten. Es wird geradezu sichtbar gemacht, dass das Sprechen hier als Handeln fungiert.

Dabei zitiert das Gedicht zugleich Verhaltensweisen vor Gericht. Ein Gerichtsverfahren besteht im wesentlichen aus sprachlichen Handlungen: anklagen, verteidigen, Einspruch erheben, bezeugen, urteilen...

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Erzählen und Handeln

Genettes Unterscheidung von Geschichte (histoire), Erzählung (discours) und Narration läßt sich dementsprechend folgendermaßen umschreiben:

Geschichte = erzählte Handlung

Erzählung = Erzählen der Handlung

Narration = Erzählen als Handlung

Beispiel für Narration bei Masters:

Photograph Penniwit stellt sprachlich eine Momentaufnahme von seinem Leben her.

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›Kalte‹ und ›heiße‹ ZeichensystemeBezogen auf diese Handlungsdimension nicht nur von Narrationen, sondern von sprachlichen Äusserungen überhaupt unterscheidet Ko-schorke in seiner ›Allgemeinen Erzähltheorie‹ zwischen ›kalten‹ und ›heißen‹ Zeichensystemen. Dabei geht es um die Frage, in welchem Maße sich Zeichen auf bezeichnete Objekte verändernd auswirken.

»Zwei einfache Beispiele mögen das veranschaulichen. Die Mineralo-gie kann als ›kaltes‹ Zeichensystem gelten, weil es Steine unbeein-druckt lässt, wie sie von Menschen genannt werden. Zwar bleibt auch hier das klassifikatorische Raster – wie jede Form von Sprache – konstitutiv für die Ordnung der Gegenstände […]. Aber diesseits dieser […] Grundgegebenheit besteht in der Gesteinskunde keine Interferenz zwischen Zeichen und bezeichneten Objekten.

Ganz anders etwa der Zeichenverkehr an der Börse. Hier wirken sich Beschreibungen unmittelbar oder mit geringer Verzögerung auf die be-schriebenen Phänomene aus. Es ist möglich, die Insolvenz einer Firma zu behaupten und dadurch herbeizuführen, Kursgewinne zu prognos-tizieren und [sie] so zu erzeugen.« (Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S.134f.)

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John L. Austin: »How to do things with words«

Der Philosoph John L. Austin (1911-1960) ist der Begründer der sogenannten Sprechakttheorie.

Austin geht von der Beobachtung aus, dass sprachliche Äußerungen nicht in jedem Fall ›Aussagen‹ oder ›Feststellungen‹ sind, sondern dass sie zu einer anderen Kategorie von Sätzen gehören können, bei der es darum geht, mit Worten Handlungen zu vollziehen.

Entsprechend unterscheidet Austin zwischen konstativen und performativen Äußerungen (von to perform, vollziehen).

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Austin: »How to do things with words«

Als Beispiele für performative Äußerungen führt Austin an (S. 28f.):

a. »Ja (sc. ich nehme die hier anwesende XY zur Frau)« als Äußerung im Laufe der standesamtlichen Trauung.

b. »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen ›Queen Elizabeth‹« als Äußerung beim Wurf der Flasche gegen den Schiffsrumpf.

c. »Ich vermache meine Uhr meinem Bruder« als Teil eines Testamentes.

d. »Ich wette einen Fünfziger, daß es morgen regnet.«

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Austin: »How to do things with words«

»Jeder würde sagen, daß ich mit diesen Äußerungen etwas Bestimmtes tue (natürlich nur unter passenden Umständen); dabei ist klar, daß ich mit ihnen nicht beschreibe, was ich tue, oder feststelle, daß ich es tue; den Satz äußern heißt: es tun. Keine der angeführten Äußerungen ist wahr oder falsch; ich stelle das als offenkundig fest und begründe es nicht. Eine Begründung ist genauso unnötig wie dafür, daß ›verflixt‹ weder wahr noch falsch ist. Möglicherweise dient die Äußerung jemandem zur Information; aber das ist etwas ganz anderes. Das Schiff taufen heißt (unter passenden Umständen) die Worte ›Ich taufe‹ usw. äußern. Wenn ich vor dem Standesbeamten oder am Altar sage ›Ja‹, dann berichte ich nicht, daß ich die Ehe schließe; ich schließe sie.« (S. 29)

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Bedingungen von Sprechakten

Immer wieder betont Austin, dass der Vollzug von Sprechakten von bestimmten Begleitumständen abhängig ist:

»Das Äußern der Worte ist gewöhnlich [...] ein entscheidendes oder sogar das entscheidende Ereignis im Vollzug der Handlung, um die es in der Äußerung geht (des Wettens zum Beispiel); aber es ist [...] immer nötig, dass die Umstände, unter denen die Worte geäußert werden, in bestimmter Hinsicht oder in mehreren Hinsichten passen, und es ist sehr häufig nötig, daß der Sprecher oder andere Personen zusätzlich gewisse weitere Handlungen vollziehen – ob nun körperliche oder geistige Handlungen oder einfach die, gewisse andere Worte zu äußern. Wenn ich ein Schiff taufen will, ist es zum Beispiel wesentlich, daß ich dazu bestimmt bin. Wenn ich (christlich) heiraten will, ist es wesentlich, daß ich nicht bereits mit einer noch lebenden Frau verheiratet bin, [...] und so weiter.« (S. 31)

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Spielregeln der Performanz

(A.1) Es muß ein übliches konventionales Verfahren mit einem bestimmtenkonventionalen Ergebnis geben; zu dem Verfahren gehört, daß be-stimmte Personen unter bestimmten Umständen bestimmte Worte äußern.

(A.2) Die betroffenen Personen und Umstände müssen im gegebenen Fall für die Berufung auf das besondere Verfahren passen, auf welches man sich beruft.

(B.1) Alle Beteiligten müssen das Verfahren korrekt(B.2) und vollständig durchführen.

(Γ.1) Wenn [...] das Verfahren für Leute gedacht ist, die bestimmte Meinun-gen oder Gefühle haben, oder wenn es der Festlegung eines der Teil-nehmer auf ein bestimmtes späteres Verhalten dient, dann muß, wer am Verfahren teilnimmt und sich so darauf beruft, diese Meinungen und Gefühle wirklich haben, und die Teilnehmer müssen die Absicht haben, sich so und nicht anders zu verhalten,

(Γ.2) und sie müssen sich dann auch so verhalten. (Austin, S. 37)

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›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln

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Über Wiederaufstieg und schnellen Untergang des Grillparzer-Preises

»Wie jede Nation hat auch Österreich seine umworbenen Literaten: Handke, Jelinek, Roth und wie sie auch alle heißen mögen. Und für diese eigentlich auch eine Ehrung, den Grillparzer-Literaturpreis. Nachdem seit 1973 dessen Verleihung durch die österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien mangels Geldern eingeschlafen war, kam es 1990 anläßlich des bevorstehenden 200sten Geburtsjubiläums von Grillparzer zu einer von Beginn an umstrittenen Wiederbelebung. Die Stiftung des Hamburger Mäzens und Ehrensenators Alfred Toepfer stellte 210 000 Schilling für eine jährliche Dotierung bereit. Weder die braune Vergangenheit des Ehrensenators, noch die Tatsache, daß die Gründung seiner Stiftung damals von Nazipropagandaminister Goebbels mitbetrieben worden war, stellte für das Grillparzer-Kuratorium ein Hindernis dar. Über diesen Vorgang setzten heftige Diskussionen ein [...]. Schließlich bildete sich eine Vereinigung von Preiskritikern, die seit 1992 unter dem Label ›Anonyme Aktionisten‹ firmierte.«

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Über Wiederaufstieg und schnellen Untergang des Grillparzer-Preises

»Kurz vor dem Zusammentreten der offiziellen Jury zur Nominierung eines Preisträgers für 1993 erhielten mehrere Tageszeitungen sowie der ORF ein Fax, das adressatenspezifisch einen jeweils unterschiedlichen prominenten Literaten zum Auserwählten erhob und eine kurze Würdigung seines Werkes enthielt. Es war in offiziösem Stil gehalten und mit dem Briefkopf des an der Preisvergabe beteiligten Rektors der Wiener Universität versehen. Gleichzeitig erhielten viele Autoren und Dichter entsprechende Telegramme, die die Bitte um umgehende Bestätigung der Preisannahme enthielten. [...] In den Kulturrubriken fast aller angeschriebenen Zeitungen erschienen entsprechende Meldungen. Jede Region hatte ihren eigenen Preisträger. Aufgrund der Vielzahl der Nominierten, der Bestätigungen einer Preisannahme bzw. der öffentlichen Ablehnung des Preises durch mehrere Autoren, kam es zu einer Vertagung der Preisverleihung. [...] Fortan legte sich ein Mantel des Schweigens um den österreichischen Grillparzer-Preis. Die für Januar geplante Festveranstaltung fiel aus, und nur eine Strafanzeige gegen Unbekannt blieb übrig.«(Aus: Luther Blissett/Sonja Brünzels: Handbuch der Kommunikationsguerilla. Berlin, Hamburg, Göttingen 2001, S. 212-216)

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›Verunglückte‹ Preisverleihung

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›Verunglücktes‹ sprachliches Handeln – ein Akt der Subversion

Das Beispiel zeigt, dass verunglückte sprachliche Handlungen dennoch Wirkungen zeigen können, dass sie dennoch Handlungen sein können.

Was Austin als verunglückte performative Äußerungen bezeichnet, kann sogar als ein planvolles Zuwiderhandeln fungieren, in dem mit Absicht gegen geltende Regeln verstoßen und damit eine bestimmte Wirkung erzielt wird – hier die Verhinderung des Grillparzer-Preises.

Mit solchen ›unernsten‹, ›uneigentlichen‹ Formen sprachlichen Handelns tut sich Austin im Rahmen seiner Theorie sehr schwer.

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Sprachliches Handeln und Literatur

Austin schließt bestimmte sprachliche Äußerungsformen aus seinen theoretischen Überlegungen aus:

»[P]erformative[] Äußerungen [sind] als Äußerungen gewissen [...] Übeln ausgesetzt, die alle Äußerungen befallen können. [...] Ich meine zum Beispiel folgendes: In einer ganz besonderen Weise sind performative Äußerungen unernst oder nichtig, wenn ein Schauspieler sie auf der Bühne tut oder wenn sie in einem Gedicht vorkommen oder wenn jemand sie zu sich selbst sagt. Jede Äußerung kann diesen Szenenwechsel in gleicher Weise erleben. Unter solchen Umständen wird die Sprache auf ganz bestimmte, dabei verständliche und durchschaubare Weise unernst gebraucht, und zwar wird der gewöhnliche Gebrauch parasitär ausgenutzt. Das gehört zur Lehre von der Auszehrung [etiolation] der Sprache. All das schließen wir aus unserer Betrachtung aus. Ganz gleich, ob unsere performativen Äußerungen glücken oder nicht, sie sollen immer unter normalen Umständen getan sein.« (S. 43f.)

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Sprachliches Handeln und Literatur

Mit seinem Ausschluss ›etiolierter‹ sprachlicher Formen, mit denen er sich nicht befassen will, impliziert Austin im Grunde eine Theorie der Literatur.

Einerseits ist literarische Rede ohne Zweifel eine performative Äußerung: auf der Bühne wird etwas ›vollzogen‹.

Andererseits ist dieser ›Vollzug‹ seltsam ›unernst‹, uneigentlich. Die literarische Rede funktioniert weniger als sprachliches Handeln denn als Vorführung sprachlichen Handelns. Sie macht die Bedingungen dieses Handelns, seines Glückens und seines Verunglückens, sichtbar.

Diese Sichtbarmachung findet sich beispielhaft in dem Photographen-Gedicht von Masters. Der Photograph ruft unernst: »Die Klage wird abgewiesen!« und der Jurist verzieht wie üblich sein Gesicht, das der Photograph dann ablichtet.

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Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?

Eine erste Antwort auf diese Frage kann lauten, dass Schreiben insofern in Wirklichkeit eingreift, als sprachlichen Äußerungen generell eine Handlungsdimension innewohnt.

Literarisches Schreiben scheint sich dabei aber durch besondere Eigenschaften auszuzeichnen. Literatur vollzieht nicht nur sprachliche Handlungen, sondern sie kann zugleich auf die Bedingungen und die Beschaffenheit von Handlungen aufmerksam machen. Literatur stellt sprachliches Handeln gleichsam zur Betrachtung auf der Bühne aus - »Szenen-wechsel« nennt Austin das. Man könnte in diesem Sinne auch von der theatralen Dimension der Literatur sprechen.

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Parekbase – das Heraustreten aus der Szene

Was Austin »Szenenwechsel« nennt, entspricht tatsächlich einer bestimmten Theater-Praxis. Schon in der antiken Komödie, bei Aristophanes, gibt es ein ›Neben-die-Szene-treten‹, die Parabase: Das ist, wenn der Chor das dramatische Geschehen unterbricht und sich direkt an die Zuschauer wendet – bis hin zu einer direkten Beschimpfung des Publikums.

Um 1800 haben sich insbesondere die deutschen Romantiker sehr für solche Praktiken interessiert. Friedrich Schlegel etwa prägte den Begriff der Parekbase und bezeichnete damit das »Heraustreten« aus der Szene, um den auf diese Weise vollzogenen Bruch noch deutlicher zu machen.

Bei Ludwig Tieck lassen sich solche Verfahren gut beobachten.

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Ludwig Tieck: Der gestiefelte Kater

Erster Akt. Erste Szene

Kleine Bauernstube. Lorenz, Barthel, Gottlieb. Der Kater Hinz liegt auf einem Schemel am Ofen.

Lorenz: Ich glaube, daß nach dem Ableben unsers Vaters unser kleines Vermögen sich bald wird einteilen lassen. Ihr wißt, daß der selige Mann nur drei Stück von Belang zurückgelassen hat: ein Pferd, einen Ochsen und jenen Kater dort. Ich, als der Älteste, nehme das Pferd, Barthel, der nächste nach mir, bekömmt den Ochsen, und so bleibt denn natürlicherweise für unsern jüngsten der Kater übrig.

Leutner, im Parterre: Um Gottes willen! hat man schon eine solche Exposition gesehn! Man sehe doch, wie tief die dramatische Kunst gesunken ist!

Müller: Aber ich habe doch alles recht gut verstanden.

Leutner: Das ist ja eben der Fehler, man muß es dem Zuschauer so verstohlenerweise unter den Fuß geben, ihm aber nicht so geradezu in den Bart werfen.

Lorenz: So wollen wir denn nur gehn, lieber Gottlieb, lebe wohl, laß dir die Zeit nicht lang werden. Gottlieb: Adieu. Die Brüder gehn ab.

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Müller: Aber man weiß doch nun, woran man ist.

Leutner: Das muß man ja durchaus nicht so geschwind wissen; daß man so nach und nach hineinkömmt, ist ja eben der beste Spaß.

Schlosser: Die Illusion leidet darunter, das ist ausgemacht.

Barthel: Ich glaube, Bruder Gottlieb, du wirst auch mit der Einteilung zufrieden sein, du bist leider der jüngste, und da mußt du uns einige Vorrechte lassen.

Gottlieb: Freilich wohl.

Schlosser: Aber warum mischt sich denn das Pupillenkollegium [preuß. Behörde zur Beaufsichtigung von Vormundschaftssachen, von lat. pupillus=Halbwaise] nicht in die Erbschaft? das sind ja Unwahrscheinlichkeiten, die unbegreiflich bleiben!

Lorenz: So wollen wir denn nur gehn, lieber Gottlieb, lebe wohl, laß dir die Zeit nicht lang werden.

Gottlieb: Adieu. Die Brüder gehn ab.

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Die Parekbase bei Tieck

Schon die erste Szene von Tiecks Gestiefeltem Kater ist von einer immer erneuten Durchbrechung der Handlung gekenn-zeichnet, so dass das Geschehen als eine Bühnenhandlung hervorgehoben wird.

Dadurch wird von vornherein die Illusion des dramatischen Geschehens durchkreuzt und die Darstellungsverfahren werden betont.

Die Handlung wird ihrer eindeutigen Zusammenhänge beraubt (es ist von einer Erbschaft die Rede, die aufgeteilt werden soll – doch ›in Wirklichkeit‹ gibt es gar keine Erbschaft usw.).

Zugleich wird eine Äquivalenz hergestellt zwischen Bühne (Darstellern) und Parterre (Zuschauern): Alles ist Theater.

Diese Weise, Äquivalenzen herzustellen und so die poetische Funktion zu realisieren, ist typisch für die Texte der Romantik.

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Etiolierung oderWas hat Literatur mit Spargel zu tun?

Literatur stellt eine ihrer eindeutigen Handlungszusammenhänge beraubte, dekontextualisierte sprachliche Äußerung dar.

Austin umschreibt dies mit einer Metapher aus dem Gartenbau, der »Etiolierung«. Etiolieren heißt: im Dunkeln oder bei zu geringem Licht wachsen und dadurch ein nicht normales Wachstum (z.B. zu lange, dünne, bleiche Stiele) zeigen. Das vielleicht bekannteste Beispiel dafür ist Spargel, dessen lange, bleiche Triebe man durch künstlich angehäufte Erdhügel erzeugt.

In der Literatur »etioliert« die Sprache: Literarische Sprache entsteht gleichsam abgeschirmt vom ›Licht‹ eindeutiger Handlungszusam-menhänge (vgl. auch Šklovskijs Begriff der ›Verfremdung‹).

Die Analogie mit dem Spargel zeigt: Solch ein ›abnormes Wachstum‹ ist nicht einfach nur negativ. Als ästhetische Praxis macht Literatur sprachliches Handeln wahrnehmbar (›genießbar‹).

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Der Fall Oskar Panizza

Aus einer psychiatrischen Krankenakte aus dem Jahre 1904:»Oskar Panizza, Schriftsteller, geboren 12.11.1853 in Bad Kissingen, stammt aus belasteter Familie. Onkel litt an partiellem religiösem Wahnsinn und starb nach 15jährigem Irrenhausaufenthalt […]. Ein anderer Onkel begieng in jugendlichem Alter Selbstmord. […] In der ganzen Familie besteht prävalierende Geistestätigkeit mit Neigung zur Diskussion religiöser Fragen. Mutter und Pazient schriftstellern. Pazient litt an den üblichen Kinderkrankheiten, Masern, Keuchhusten, lernte sehr schwer lesen, zeigte keine Begabung, hatte bei seinen Geschwistern den Beinamen ›der Dumme‹, kam auf dem Gymnasium schwer vorwärts, war bei fruchtbarer Phantasie und steter In-sich-Versunkenheit unfähig, die Notwendigkeit einer geregelten, systematischen Vorbereitung für einen Lebensberuf zu begreifen, wandte sich vorübergehend der Musik zu und absolvierte endlich in vorgerückten Jahren, 24 Jahre alt, das humanistische Gymnasium […]. Wandte sich nach absolviertem Gymnasium mit großer Liebe und Eifer dem medizinischen Studium zu, […] promovierte 1880 mit summa cum laude«.

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Der Fall Oskar Panizza

»Nach Absolvierung seiner militärischen Dienstpflicht als Unterarzt im Militärlazaret […] ging Pazient […] nach Paris, besuchte aber nur wenige Spitäler, sondern wante sich dem Studium der französischen Literatur, besonders der dramatischen, zu«.

[...]

»Am 19. October griff Pazjent zu einem letzten […] Mittel. […] [Er] kleidete sich bis aufs Hemd aus, benutzte die milde Witterung und lief Nachmittag um 5 Uhr im Hemd durch die Sterneck-Maria-Josefa-Straße in die Leopoldstraße, in der Absicht, abgefaßt und auf Geisteskrankheit verdächtig in eine öffentliche Anstalt gebracht und dort von Sachverständigen untersucht zu werden […]. Ergriffen und in ein nächstes Haus geführt, gab er dem herbeieilenden Schendarm einen falschen Namen, Ludwig Fromman, Stenograf aus Würzburg, an. Es wurde ein Sanitätswagen requirirt und Pazjent auf die Polizei gebracht, wo derselbe nach kurzem Examen durch den Herrn Bezirksarzt, auf die Irrenstation des städtischen Krankenhauses I/J überführt wurde.«

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Die ärztliche Rede als konstative und als performative Äußerung

Die zitierte Darstellung ist Teil einer aus psychiatrischer Sicht verfaßten Krankengeschichte. Sprechakttheoretisch betrachtet handelt es sich dabei zunächst um eine konstative Äußerung; es werden Feststellungen getroffen.

All diese Feststellungen gehen jedoch in eine psychiatrische Diagnose ein. Das heißt: Sie haben an einem sprachlichem Handeln teil, durch welches der Patient entweder für gesund erklärt und aus der Anstalt entlassen oder aber für geisteskrank befunden und interniert werden wird. Insofern ist dieser Text zugleich als eine performative Äußerung aufzufassen.

Konstative und performative Beschaffenheiten von Äußerungen schließen einander nicht aus. Gerade die ärztliche Rede ist generell ein Beispiel dafür, wie Feststellen (Symptome beschreiben, eine Krankheit bestimmen etc.) und Handeln (einen Rat geben, etwas verordnen, jemanden krank schreiben etc.) miteinander verbunden sein können.

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Der »Pazjent« als »Psichjater«: ein Fall von Fehlberufung

Bei der vorliegenden sprachlichen Äußerung, der Krankengeschichte des Oskar Panizza, handelt es sich jedoch um ein verunglücktes sprachliches Handeln.

Denn in diesem Fall sind Patient und Psychiater ein und dieselbe Person. Panizza hat als ausgebildeter ›Irrenarzt‹ seine eigene Krankengeschichte selber verfasst. Er bringt seine psychiatrische Kompetenz ins Spiel, um für sich selbst den Nachweis der geistigen Gesundheit zu erbringen. Dafür bedient er sich der üblichen fachspezifischen Terminologie und befolgt die Regeln der ärztlichen Anamnese (Fragen nach familiärer Vorbelastung, früheren Erkrankungen und Auffälligkeiten usw.).

Es handelt sich dabei jedoch um eine Fehlberufung auf Konventionen, weil der Patient niemals gleichzeitig der untersuchende Psychiater sein kann.

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Die Position des Dritten: der Autor

Der Fall Oskar Panizza ist aber nicht einfach nur ein weiteres Beispiel für verunglücktes sprachliches Handeln, sondern er ist noch komplizierter. Neben den einander ausschließenden Positionen des Patienten und des Psychiaters, die Panizza in sich vereinen will, gibt es noch eine dritte Position: die des Dichters.

In der Krankengeschichte des Patienten Panizza macht der Psychiater Panizza sehr ausführliche Angaben über das schriftstellerische Schaffen des Dichters Panizza.

Was wäre, wenn in diesem Text eines Patienten, der als sein eigener Psychiater seine eigene Krankengeschichte protokolliert, tatsächlich niemand anderes als der Dichter Panizza spricht?

Dann würde die sprachliche Äußerung nicht mehr mit den notwendigen Rahmenbedingungen der Konventionen ärztlicher Rede kollidieren. Die sprachliche Äußerung erschiene als dekontextualisiert.

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Patient? Psychiater? Dichter?

»Im November 1903 begannen gegen den Pazjenten, der in absolutester Zurückgezogenheit lebte, eine Reihe von Schikanen, die auf das Zusammenwirken einer größeren Anzahl von Detektivs schließen ließen. […] Die Schikanen […] bestanden im Wesentlichen, unter Umgehung von Kleinigkeiten, wie auslöschen des Herdfeuers, Verstopfung des Kamins, Abschneiden des Wassers, Beschädigung der Wohnungsschlösser (!!) in rafinirten, auf peinlichste Verletzung des Nervensistems berechneten Pfeifereien, Molestirungen mit allen möglichen die Gehörsnerven empfindlichst treffenden Instrumenten, die teils von einem Haus vis-à-vis in der rue des Abesses, teils auf der Straße, ja sogar stellenweise im Wald [...], wohin Pazjent regelmäßig jeden Sonntag sich begab, auf denselben einwirkten. Daß es sich hier um keine Gehörstäuschungen handelte, ergab der einfache Umstand, daß das Pfeifen in dem Augenblick verstummte, in dem Pazjent die Ohren zuhielt, was sicher nicht der Fall gewesen wäre, wenn dasselbe zerebralen Ursprungs gewesen wäre. Auch wurden jene Pfeiferein, die Pazjent als gegen sich gerichtet ansah, […] von einwurfsfreien Zeugen […] bestätigt.«

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Die Position des Dritten: der Autor

Wenn angenommen wird, dass dies alles Äußerungen eines Dichters sind – und nicht die eines Geisteskranken und/oder eines Psychiaters –, dann handelt es sich um eine (in Austins Formulierung) ›unernste‹ Rede.

Es geht dann nicht mehr um ein bestimmtes sprachliches Handeln (darum, Symptome hervorzubringen oder den Gesundheitszustand des Patienten zu attestieren). Statt dessen geht es darum, die Art und Weise eines solchen Handelns und die Bedingungen seines Gelingens oder Scheiterns vorzuführen.

Die Konventionen sprachlichen Handelns – hier: des psychiatrischen Urteilens – werden entautomatisiert (Šklovskij). An die Stelle dieses Handelns tritt das Handeln des Dichters als Autor. Dabei scheint die Instanz des Autors für die ihren Zusammenhängen entkleidete sprachliche Äußerung einen neuen, eigenen Kontext zu bilden: Man unterstellt ihr einen Sinn, allein insofern diese Äußerung auf einen Autor zurückzuführen ist.

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Michel Foucault: »Was ist ein Autor?« (1969)

Der französische Philosoph Michel Foucault (1926-1984) hat diesen Zusammenhang, dass einem Text besondere Sinnhaftigkeit beigemessen wird, weil er einen Autor hat, als Autorfunktion bezeichnet.

»[D]er Autorname hat die Funktion, eine bestimmte Seinsweise des Diskurses zu kennzeichnen. Hat ein Diskurs einen Autornamen, kann man sagen, ›das da ist von dem da geschrieben worden‹ oder ›ein gewisser ist der Autor von...‹, so besagt dies, daß dieser Diskurs nicht aus alltäglichen, gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die vergehen, vorbeitreiben, vorüberziehen, nicht aus unmittelbar konsumierbaren Worten, sondern aus Worten, die in bestimmter Weise rezipiert werden und in einer gegebenen Kultur ein bestimmtes Statut erhalten müssen.« (S. 17)

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Foucault: »Was ist ein Autor?«

Nach Foucault tritt die Autorfunktion nur bei bestimmten Gattungen sprachlicher Äußerungen in Kraft.

»[M]an [könnte] sagen, daß es in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Anzahl von Diskursen gibt, die die Funktion ›Autor‹ haben, während andere sie nicht haben. Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweisen bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.« (S. 17f.)

Dadurch, dass ein Text einen Autornamen trägt, wird der kulturelle Status dieses Textes verändert. Der Text erhält damit eine über konkrete Verwendungszusammenhänge hinausgehende Bedeutung.

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»Der Griffel Gottes«: Die Funktion des Autors

Wenn in Kleists Anekdote davon erzählt wird, dass nach dem Einschlag eines Blitzes von dem Grabmal der Gräfin von P. eine Anzahl von Buchstaben übriggeblieben ist, so könnte man diese Überreste einfach für einen bloßen Zufall halten.

Man könnte diese Überreste aber auch dem Wirken Gottes zuschreiben. Man versieht dann gewissermaßen diese Buchstaben mit dem Autornamen ›Gott‹, ›liest‹ sie ›zusammen‹ (»sie ist gerichtet!«) und erkennt darin einen tieferen Sinn.

Genau dies ist die ›Funktion des Autors‹ im Sinne Foucaults: Der Autorname verleiht dem Text einen Bedeutungsindex (unabhängig davon, auf welche Weise und durch wen er tatsächlich zustandegekommen ist).

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Autorschaft und Literatur

Zu jenen Gattungen sprachlicher Äußerungen (»Diskurse«), die über die Funktion Autor verfügen, gehören literarische Texte.

»›[L]iterarische‹ Diskurse können nur [...] rezipiert werden, wenn sie mit der Funktion Autor versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktionstext befragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung, die man ihm zugesteht, und der Status oder der Wert, den man ihm beimißt, hängen davon ab, wie man diese Fragen beantwortet. Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des ausdrücklichen Autorwillens uns der Text anonym erreicht, spielt man sofort das Spiel der Autorsuche. Literarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel. Die Funktion Autor hat heutzutage ihren vollen Spielraum in den literarischen Werken.« (S. 19)

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Autorschaft und ›Einfache Form‹

Die enge Verbindung von Literatur und Autorschaft ist nicht in jeder Kultur und zu allen Zeiten gegeben. In unserer Kultur ist sie erst im 17./18. Jahrhundert entstanden. Urheberrechte von Autoren etwa existieren erst seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.

Zu früheren Zeiten hatten literarische Texte bestimmte Verwendungszusammenhänge. Sie waren als sprachliches Handeln nicht dekontextualisiert.

Ein Beispiel dafür sind Einfache Formen (Jolles) wie die Legende.

Legenden sind performative Äußerungen, insofern sie die Figur eines oder einer Heiligen hervorbringen. Legenden haben keine Autorfunktion.

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Der Patient als Dichter/Autor? – Eine weitere Fehlberufung

Die vorliegende Krankengeschichte als Äußerung eines Dichters, eines Autors zu lesen, ist nur im Nachhinein möglich. Es handelt sich um eine Zuschreibung, die wir nachträglich vornehmen.

Denn im Jahre 1904, zur Zeit seiner Entstehung, ist der Text nicht so gelesen worden. Der Text ist nicht veröffentlicht worden, sondern man hat ihn als Dokument einer Geisteskrankheit aufgefasst und ihn zum Teil einer psychiatrischen Krankenakte gemacht.

Das ›Werk‹ eines ›Autors‹ ist ein Sprechakt, dessen Gelingen paradoxerweise nicht von demjenigen abhängt, der die sprachliche Äußerung tätigt. Das Glücken dieses Sprechaktes ist darauf angewiesen, dass jemandem der Status des Autors zugeschrieben bzw. zugebilligt wird.

Dies war für das vorliegende Beispiel nicht der Fall. Denn die Konvention um 1900 lautete, dass ein Patient, der als geisteskrank gelten muss, nicht Autor sein kann.

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Der Autor und der Heilige – ein VergleichDas ›Werk‹ als Sprechakt glückt nur unter der Bedingung, dass nachträglich eine Zuschreibung von Autorschaft stattfindet.

Für diesen paradoxen Vorgang gibt es eine anschauliche Analogie: die Art und Weise, wie nach Jolles der Heilige im Zusammenhang der Legende hergestellt wird.

Die Weise, wie ein Heiliger zustande kommt, zeichnet sich dadurch aus, »daß er selbst so wenig daran beteiligt ist« (Jolles). Zu einem Heiligen wird jemand, wenn nach seinem Tode Legenden über ihn zirkulieren und er in einem komplizierten rechtlichen Verfahren der Kanonisation von der Kirche zunächst selig und dann heilig gesprochen wird.

Etwas Vergleichbares vollzieht sich bei der Zuschreibung von Autorschaft (nach dem Muster »dieser Text ist von Shakespeare, Goethe, Schiller« etc.). Diese Zuschreibung verleiht dem Text zwar keinen Heiligenschein, aber gleichsam eine Aura von Sinn.

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Protagonist – Erzähler – Autor

Bemerkenswert ist, dass gerade jene Texte über eine Autorfunktion verfügen, die mehrere Subjektpositionen, mehrere ›Ich‹-Instanzen ins Spiel bringen.

Zum Beispiel ist in einem Roman der Held, der ›ich‹ sagt, zu unterscheiden von dem Erzähler, der ›ich‹ sagt, und weder Held noch Erzähler sind mit dem Autor gleichzusetzen.

Auch die Krankengeschichte von Oskar Panizza ist für diese Vielheit von Subjektpositionen ein Beispiel. Es gibt in dieser Krankengeschichte, die Panizza selbst verfasst hat, das Ich des Kranken und das Ich des Psychiaters; aber es gibt darüber hinaus, wenn man den Text als einen literarischen Text liest, eine weitere Stimme, die sich auf keine dieser beiden Positionen festlegen läßt, sondern sie wiederholt und ›unernst‹ werden lässt, und die nicht mehr an den konkreten Kontext der psychiatrischen Anstalt gebunden ist.

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»Ego-Pluralität«

Foucault: »Was ist ein Autor?«, S. 22f.:

»Es ist bekannt, daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht eines Erzählers, das Personalpronomen in der ersten Person, das Präsens Indikativ, die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf einen Schriftsteller verweisen, weder auf den Augenblick, in dem er schreibt, noch auf die Schreibgeste; sondern auf ein alter ego, dessen Distanz zum Schriftsteller verschieden groß sein und im selben Werk auch variieren kann. Es wäre also ebenso falsch, wollte man den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher suchen; die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz. […] Alle Diskurse mit der Funktion Autor haben diese Ego-Pluralität. […] Die Funktion Autor wird nicht durch eines dieser Egos […] gewährleistet auf Kosten der […] anderen, die dann ja nichts weiter wären als dessen fiktive Verdoppelung. Im Gegenteil muß gesagt werden, daß in solchen Diskursen die Funktion Autor die Zersplitterung dieser […] simultanen Egos bewirkt.«

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Edgar Lee Masters: »Theodore, the Poet«Als Knabe, Theodore, saßest Du viele StundenAm Ufer des schlammigen Spoon; Versunkenen Blicks starrtest du auf denEingang der Flußkrebshöhle,Wartetest, ob er sich zeige,Die schwankenden Fühler voraus,Die strohhalmdünnen,Und dann sein Körper, dunkel wie Saponit,Mit Jettaugen besetzt.Und Du fragtest dich in diesem traumhaften Sinnen,Was er wohl wußte, was er wünschte und warum er überhaupt lebe.Später dann prüfte dein Blick die Männer und Frauen,Die sich in den Schicksalshöhlen inmitten der Städte verstecken,Ob ihre Seelen sich zeigten,So daß du sie sehen könntest – Wie sie wohl lebten, wofür,Und warum sie so geschäftig krochenÜber den sandigen Weg ohne Feuchte,Wenn der Sommer vergeht.

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»Theodore, the Poet«: das GottesgeschenkVon allen Gedichten der Spoon River Anthology ist »Theodore, the Poet« das einzige, das nicht in der ersten Person geschrieben ist.

Der Dichter erscheint hier als der, der sich spaltet und sich selbst anredet.

Das Gedicht widmet sich der Existenz des Dichters genau so, wie dieser selbst wiederum in (allegorische) Betrachtungen des Daseins der Flußkrebse und der Menschen versunken gewesen ist.

Der Grund des Dichter-Daseins ist rätselhaft, undurchschaubar; es verdankt sich einem Anderen – es ist, wie das Dasein aller Wesen, ein Gottesgeschenk (theos (griech.) = Gott; doron (griech.) = Geschenk).

Zugleich erscheint Theodore als Sprechinstanz selbst wie die Stimme Gottes. In der Figur der Prosopopoiia spricht er sich selbst Leben zu.

Masters' Gedicht stellt eine Konvention des Sprechaktes ›Dichtung‹ heraus: die »Ego-Pluralität« (Foucault).

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Die Frage nach der ›Intention des Autors‹ als Komplexitätsreduktion

Wenn die Autorfunktion immer mit der Streuung verschiedener Ich-Instanzen einhergeht, dann ist die Vorstellung einer einheitlichen begründenden Instanz namens ›Autor‹ imaginär. Sie ist eine Konstruktion, beruht auf Zuschreibungen, die die Komplexität eines Textes zu vereinfachen suchen.

In diesem Sinne ist die berühmte Frage »Was will der Autor uns damit sagen?« eine Komplexitätsreduktion. Sie führt die komplexe Vielheit von Instanzen, die sich in einem Text beobachten lassen, auf die Identität eines Autors zurück. Die Suche nach einer ›Intention des Autors‹ versteift sich darauf, ein ›eigentliches‹ Ich finden zu können, von dem die anderen, die im Text angezeigt werden, nur Spiegelungen sein sollen. Ein solches ›eigentliches‹ Ich zu finden ist jedoch unmöglich.

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»Wen kümmert‘s, wer spricht?«

Der ›Unernst‹, der ›spielerische‹ Charakter literarischer Texte, der Austin so sehr irritiert, weil hier die eindeutigen Handlungsbezüge fehlen, beruht gerade auf der Vielheit verschiedener Instanzen.

Es ist eine Besonderheit moderner literarischer Texte, die Illusion einer einheitlichen Autorinstanz zu hintertreiben. Foucault zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz von Samuel Beckett: »Wen kümmert‘s, wer spricht?«

Ein berühmter Aufsatz von Roland Barthes aus den 1960er Jahren trägt den Titel: »Der Tod des Autors«. Damit ist natürlich nicht die reale Existenz eines Schriftstellers in Frage gestellt, der einen Text zu Papier bringt. Gemeint ist der Umstand, dass in den spielerischen Verfahren neuerer Literatur die Instanz einer vermeintlich den Text kontrollierenden Autorinstanz immer unkenntlicher wird.

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Felicitas Hoppe: »Hoppe« (2012)Der Roman Hoppe von Felicitas Hoppe ist dafür ein jüngstes Beispiel.

Erzählt wird darin das Leben der Schriftstellerin Hoppe, die damit selbst zu einer Romanfigur wird.

Es wird zitiert aus ihren veröffentlichten Arbeiten und ihren unveröffentlichten Texten, aus Tagebüchern und Briefen; aus Aufzeichnungen von Familienangehörigen, Freunden, Menschen, die sie gekannt haben, schließlich auch aus den Rezensionen zu ihren Büchern und aus wissenschaftlichen Arbeiten über sie.

Dabei werden Zitate immer wieder von Anmerkungen unterbrochen, die mit »fh« gekennzeichnet sind, was wiederum auf Hoppe verweist.

Alle Nachrichten aus dem Leben Hoppes werden damit unzuverlässig und ungewiss. Zwischen Fakt und Fiktion lässt sich nicht mehr sicher unterscheiden.

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Felicitas Hoppe: »Hoppe« (2012)

»Es ist nicht die erste Station in Hoppes Lebensgeschichte, in der Fiktion und Wirklichkeit eins werden. Wer sich aufmacht, Hoppes phantastischen Wegen zu folgen, wird immer wieder ähnliche Entdeckungen machen, nicht zuletzt deshalb, weil die Autorin sich kaum die Mühe macht, ihre Anspielungen künstlerisch anspruchsvoll zu verstecken, sondern in der Regel dazu neigt, sie dem Text auf unbedarfte Weise aufzupfropfen. Hoppe ist eine so unbekümmerte wie produktive Ausbeuterin und Plagiatorin des literarischen Fundus und hat daraus niemals ein Hehl gemacht: ›Nichts‹, schreibt sie in ihrem kurzen Aufsatz Abschreiben (2008), ›ist langweiliger als der ständige Versuch, originell zu sein, weil er auf einem grundsätzlichen Irrtum beruht, dem Glauben nämlich, in diesem ganzen Gewirr und Gewimmel von allem, was da ist, der Erste zu

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sein. Wer auf das Neue aus ist, hat schon verloren und kommt bestenfalls bei der Zeitung unter‹. Es ist mehr als offenkundig, dass die spätere Schriftstellerin […] nicht aufschreibt, was sie erlebt, sondern lediglich erlebt, was längst geschrieben steht, wie ein Reisebericht mit dem Titel Auf dass die Schrift sich erfülle (1987) bestätigt, in dem Hoppe ausführt:›Seit ich Fox und Cater getroffen habe, stoße ich überall auf Bekannte. Nur der, den ich wirklich suche (gemeint ist offenbar ihr Vater, Karl Hoppe / fh), bleibt unauffindbar, weil ihn bis heute niemand verschriftlicht hat. Soll das etwa heißen, dass es ihn gar nicht gibt?‹« (S. 234f.)

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»Hoppe«: Schreiben als Abschreiben

In Hoppes Spiel mit Hoppes Biographie werden die Ursprünge unkenntlich oder lösen sich auf.

Autorschaft ist nicht mehr Urheberschaft. Sie ist eine Vorstel-lung, die erst aus dem Geschriebenen entsteht.

Die Spurensuche nach Hoppes Biographie persifliert die phan-tasmatischen Zuschreibungen von Autorschaft – Zuschreibun-gen, in denen das Spätere als das Frühere erscheint (die aus dem Geschriebenen abgeleitete Autorschaft als der Ursprung des Geschriebenen gilt).

Ironischerweise stößt diese Spurensuche auf eine Autorin, in deren Äußerungen das Schreiben als Abschreiben und das Leben selbst als Plagiat verstanden wird.

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Autorschaft und sprachliches Handeln: Resümee der Grundbegriffe

›kalte‹ und ›heiße‹ Zeichensysteme

Sprechakttheorie

konstative / performative Äußerungen

verunglückte Äußerungen: Fehlberufung / Fehlausführung / Missbrauch

Theatralität

Parekbase

Etiolierung

Literatur als ›dekontextualisierte‹ Äußerung

Autorfunktion

Protagonist – Erzähler – Autor

Ego-Pluralität

›Tod des Autors‹