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Einführung in die Literaturwissenschaft 2: Zeichen und Referenz

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Einführung in die Literaturwissenschaft

2: Zeichen und Referenz

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Themenübersicht

• Literarizität: Was unterscheidet Literatur von anderen sprachlichen Äußerungen?

• Zeichen und Referenz: Wie stellt Literatur den Bezug sprachlicher Äußerungen auf ›Wirklichkeit‹ dar?

• Rhetorik: Was sind sprachliche ›Figuren‹?• Narration: Wie entstehen Geschichten?

• Autorschaft und sprachliches Handeln: Wie greift Schreiben in Wirklichkeit ein?

• Intertextualität und Intermedialität: Wie bezieht sich Literatur auf andere Texte / andere Medien?

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Die Frage nach dem Zeichen

Sofern Jakobsons Konzept der poetischen Funktion die Kluft zwischen Zeichen und Objekten vertieft, stellt sich die Frage, wie Zeichen überhaupt auf Objekte Bezug nehmen.

Wie stellt sich diese Bezugnahme von Zeichen auf Dinge (Referenz) in literarischen Texten dar?

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Ferdinand de Saussure (1857-1913)

Begründer der modernen Sprachwissenschaft

zugleich Begründer des Strukturalismus (⇒Jakobson)

Cours de linguistique générale

(dt.: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft)

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Ferdinand de Saussure

• Unterscheidung von ›langue‹ und ›parole‹: Es gibt einerseits das Sprachsystem mit seinen allgemeinen (z.B. grammatischen) Regeln und Festlegungen, und andererseits die Praxis des Sprechens, in der das Sprachsystem in konkreten sprachlichen Äußerungen umgesetzt wird. - Verfahren der Verfremdung z. B. sind Praktiken der ›parole‹.

• Unterscheidung von ›Synchronie‹ und ›Diachronie‹: Ein Sprachsystem lässt sich einerseits in seiner gleichzeitigen Ordnung, andererseits in seinem historischen Wandel betrachten. - Dies ist in der Literaturwissenschaft für alle Verhältnisse zwischen Texten wichtig (vgl. die Frage nach der ›Intertextualität‹ gegen Ende des Semesters).

• Unterscheidung von Signifikant und Signifikat: Bestimmung der Natur des sprachlichen Zeichens.

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Das Problem der Referenz bei Saussure

»Für manche Leute ist die Sprache im Grunde eine Nomenklatur, d. h. eine Liste von Ausdrücken, die ebensovielen Sachen entsprechen.«

»Diese Ansicht gibt in vieler Beziehung Anlaß zur Kritik. Sie setzt fertige Vorstellungen voraus, die schon vor den Worten vorhanden waren«.

»Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.«

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: Baum

: Pferd

: usw.usw.

Das Nomenklatur-Modell der Sprache: So funktioniert Sprache NICHT!

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Das Nomenklatur-Modell der Sprache: So funktioniert Sprache NICHT!

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Saussure: Die Natur des sprachlichen Zeichens

• Saussure beginnt seine Erörterung der Natur des sprachlichen Zeichens mit dem Problem der Referenz. Das heißt er problematisiert die Beziehungen von ›Worten‹ und ›Dingen‹, von Zeichen und ›Objekt‹.

• Saussure bestreitet, dass eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Sprache von der Annahme ausgehen kann, dass es vor den Worten fertige Vorstellungen gibt, denen man einfach nur Worte zuordnen muss.

• Saussure weist die Annahme zurück, »daß die Verbindung, welche den Namen mit der Sache verknüpft, eine ganz einfache Operation sei, was nicht im entferntesten richtig ist.«

• ›Worte‹ und ›Vorstellungen‹ sind gleichzeitig gegeben, in komplizierten Operationen. Dies ist nicht nur für die Sprach-, sondern auch für die Literaturwissenschaft der wichtigste Grundsatz.

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Saussure: Die Natur des sprachlichen Zeichens

Saussures Ausgangsthese bezieht sich auf die Doppelseitigkeit des sprachlichen Zeichens.Diese Doppelseitigkeit besteht aber NICHT in der Gegenüber-stellung von ›Worten‹ und ›Dingen‹, ›Zeichen‹ und ›Objekten‹.

»Das sprachliche Zeichen vereinigt in sich nicht einen Namen und eine Sache, sondern eine Vorstellung und ein Lautbild.«

die Einheit des sprachlichen Zeichens:

Vorstellung Bezeichnetes signifié Signifikat________________ ______________________ ____________ _______________

Lautbild Bezeichnendes signifiant Signifikant

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Saussure: Die Natur des sprachlichen Zeichens

Das Signifikat, die eine Seite des Zeichens, ist keine ›wirkliche‹ Sache, sondern eine mentale Vorstellung. Diese Vorstellung ist psychisch als ein Bestandteil des Zeichens gegeben.

Der Signifikant, die andere Seite des Zeichens, ist kein tatsächlicher physikalischer Laut, sondern der psychische Eindruck eines solchen Lautes. Saussure: »Der psychische Charakter unserer Lautbilder wird ganz klar, wenn wir uns selbst beobachten. Ohne die Lippen oder die Zunge zu bewegen, können wir mit uns selbst sprechen oder uns im Geist ein Gedicht vorsagen.«

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Saussure: Die Natur des sprachlichen Zeichens

Wenn das Zeichen sich aus zwei Bestandteilen zusammensetzt,die beide ›geistig‹ gegeben sind, wie kann dann noch ›Referenz‹ gedacht werden?

Ausgehend von sprachlichen Äußerungen hat es Saussure immer nur mit Beziehungen zwischen Lautbildern und Vorstellungen zu tun. Über Bezüge auf außersprachliche Sachverhalte, sogenannte Referenzobjekte, läßt sich nichts sagen.

Auch für Jakobson ist die ›referentielle Funktion‹ der Spracheetwas, das innerhalb der Rede beobachtet werden muss; sie iststreng zu unterscheiden von dem ›Kontext‹ als einem äußerenFaktor.

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Wie kommt die Einheit von Signifikat und Signifikant, von Bezeichnetem und Bezeichnendem, zustande?

zwei Grundsätze:

1. Arbitrarität des Zeichens2. Linearität des Zeichens

Saussure: Die Natur des sprachlichen Zeichens

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Saussure: Arbitrarität des Zeichens

Die Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem beruht auf kultureller Gewohnheit, auf Konventionen. Sie ist eine bloße Übereinkunft. Verschiedene Sprachen haben für verschiedene Vorstellungen verschiedene lautliche Ausdrücke. Deshalb kann Saussure sagen: »Das sprachliche Zeichen ist beliebig« (arbiträr).

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Saussure: Arbitrarität des Zeichens

Das bedeutet nicht, das die Zuordnung von Bezeichnendem und Bezeichnetem in das Belieben jedes Einzelnen gestellt ist!

Saussure: »Das Wort ›beliebig‹ erfordert hierbei eine Bemerkung. Es soll nicht die Vorstellung erwecken, als ob die Bezeichnung von der freien Wahl der sprechenden Person abhinge (weiter unten werden wir sehen, daß es nicht in der Macht des Individuums steht, irgend etwas an dem einmal bei einer Sprach-gemeinschaft geltenden Zeichen zu ändern); es soll besagen,

daß es unmotiviert ist, d. h. beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten, mit dem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammen-gehörigkeit hat.«

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Saussure: Linearität des Zeichens

Ebenso wichtig wie die Arbitrarität des Zeichens ist seine Linearität. Es ist jeweils organisiert durch eine Abfolge.Die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem wird nicht nur bestimmt durch die kulturelle Übereinkunft, sondern auch durch das Verhältnis des Zeichens zu den anderen Zeichen, die ihm vorausgehen oder ihm nachfolgen.

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›Bedeutung‹ und ›Wert‹

›Referenz‹ ist immer nur zu denken (1) als zeicheninterne, durch Konventionen begründete Beziehung oder (2) als Beziehung zwischen Zeichen. Saussure unterscheidet hier zwischen(1) Bedeutung(2) Wert.

So wie durch die Konventionen des Marktes festgelegt ist, dass ich für 10 Euro eine bestimmte Ware kaufen kann, so ist auch die Bedeutung eines Zeichens (die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat) konventionell geregelt.So wie der Wert von 10 Euro jedoch durch ein bestimmtes Währungssystem festgelegt ist – durch den Unterschied von 1, 5, 20, 100 Euro usw. sowie durch den Unterschied zu anderen Währungen (10 Dollar sind weniger wert als 10 Euro) – so ist auch der Wert des sprachlichen Zeichens durch Unterschiede zu anderen Zeichen definiert: ›hell‹ im Unterschied zu ›dunkel‹, ›oben‹ im Unterschied zu ›unten‹, ›Mann‹ im Unterschied zu ›Frau‹ usw.

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Sprachlicher Wert und poetische Funktion

Für Saussure wird jegliche Bedeutung durch die differentiellen Verhältnisse zwischen den Zeichen, das heißt durch ihren Wert, überhaupt erst möglich.

Die Vorstellung, die wir mit einem Lautbild verbinden, ist nichts Primäres, sondern existiert nur durch das Verhältnis zu anderen sprachlichen Werten.

Genau hier macht sich auch Jakobsons poetische Funktion bemerkbar: Indem Zeichen durch Ähnlichkeit stärker zu einander ins Verhältnis treten, werden ihre Beziehungen untereinander um so deutlicher spürbar!

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Beispiel: GeschlechterdifferenzWo ist der Unterschied?

Die Geschlechterbezeichnungen funktionieren nur durch ihre differentielle Beziehung zueinander, durch ihren Wert (Saussure).

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Die konventionelle Bedeutung der Geschlechter – einige Stereotype...

männlich

Stärke

Verstand

Tapferkeit

Geist

Kultur

weiblich

Schwäche

Gefühl

Furcht

Schönheit

Natur

Die ›Bedeutung‹ (im Sinne Saussures) der Geschlechter ergibt sich offenbar nur durch ein differentielles System von Begriffen, in dem jedes Zeichen seinen eigenen relationalen Wert hat.

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Geschlechterdifferenz & Literatur

In der Literatur lässt sich diese sprachliche Konstruktion geschlechtlicher Unterscheidungen besonders gut beobachten.

Denn in den literarischen Texten tritt die Beziehung der Zeichen untereinander deutlich hervor (poetische Funktion nach Jakobson).

Das heißt für die Lektüre literarischer Texte: Es geht nicht darum zu beschreiben, wie Männer und Frauen sind oder sein sollen oder welche Bilder von ihnen entworfen werden – sondern es ist vielmehr zu analysieren, durch welche Relationen zwischen sprachlichen Werten Unterschiede zwischen den Geschlechtern Bedeutung erhalten. Durch Verfremdung verliert dabei diese Bedeutung oftmals ihre Selbstverständlichkeit.

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Novalis: Heinrich von Ofterdingen Zueignung, Teil 1

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Novalis: Heinrich von Ofterdingen Zueignung, Teil 2

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Die Frau und die Dichtung – einige Hinweise zu Novalis

Das Gedicht von Novalis besteht aus zwei Teilen. In welchem Verhältnis stehen diese Teile zueinander?

Im ersten Teil geht es offenbar um die »Geliebte«. Von ihr ist in der zweiten Person die Rede. Sie wird angesprochen.

Im zweiten Teil geht es um die Dichtung (»des Gesangs geheime Macht«). Von ihr ist in der dritten Person die Rede.

Durch die Konstellation der beiden Teile werden zwischen der Geliebten und der Dichtung Äquivalenzen nahegelegt.

Von der Geliebten heißt es: »Du hast in mir den edlen Trieb erregt«, und später: »Ich darf für Dich der edlen Kunst mich weihn«.

Von der ›geheimen Macht der Kunst‹ heißt es: »An ihrem vollen Busen trank ich Leben; / Ich ward durch sie zu allem was ich bin«.

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Die Frau und die Dichtung – einige Hinweise zu Novalis

Die Dichtung erscheint also selbst als eine mütterliche Instanz, als eine Frau. Sie ersetzt die Geliebte der ersten Strophen. Die Frau wird also zur Allegorie der Dichtung.

Einerseits scheint das lyrische Ich der Frau/der Dichtung alles zu verdanken. Andererseits ist dieses Ich selbst Dichter – es spricht in Versen. Es bringt also die Dichtung hervor.

Und am Ende des ersten Teils heißt es: »Du, Geliebte, willst die Muse werden« – sie ist es also noch gar nicht; er, der Dichter, macht sie erst dazu!

Hier wird es also kompliziert. Einerseits ist die Frau die Hervorbringende, andererseits ist der Mann der Schöpfer. Das Gedicht entfaltet ein System von Differenzen (Mann/Frau) und Äquivalenzen (Frau/Dichtung). Dabei werden die Wertverhältnisse zwischen den Zeichen sowohl begründet als auch verwirrt.

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Beispiel 2: Der Fremde

Nach einer Bemerkung des Soziologen Georg Simmel (Exkurs über den Fremden von 1908) ist »der Fremde nicht […] der Wandernde, der heute kommt und morgen geht, sondern […] der, der heute kommt und morgen bleibt – sozusagen der potentiell Wandernde, der, obgleich er nicht weitergezogen ist, die Gelöstheit des Kommens und Gehens nicht ganz überwunden hat. […] [D]as Fremdsein ist natürlich eine ganz positive Beziehung, eine besondere Wechselwirkungsform; die Bewohner des Sirius sind uns nicht eigentlich fremd […], sondern sie existieren überhaupt nicht für uns […]. Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst«.

Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Frankfurt/Main 1992, S. 764f.)

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»Der Fremde ist ein Element der Gruppe selbst«

Das Beispiel zeigt: Selbst die Wahrnehmung dessen, was sich außerhalb befinden soll, folgt dem Spiel von Unterscheidungen innerhalb der eigenen Kultur.

Übertragen auf die Frage von ›Zeichen‹ und ›Referenz‹ heißt das: Die Bedeutung von ›Fremder‹ ist nicht durch eine tatsächlich gegebene völlige ›Andersartigkeit‹ oder durch eine primär bestehende Vorstellung des ›Anderen‹ bestimmt, sondern diese Bedeutung ergibt sich als Effekt von Unterschieden, die zwischen arbiträren Zeichen bestehen.

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Charles S. Peirce: Ikon, Index, Symbol

Kann man die jeweilige Funktionsweise von Zeichen noch näher bestimmen? Der Philosoph Charles S. Peirce hat dazu einen Vorschlag gemacht. Er unterscheidet drei Typen von Zeichen: Ikon, Index und Symbol.

Ikon: Das ikonische Zeichen beruht auf Ähnlichkeit. Es ist nicht darauf angewiesen, das es die Sache wirklich gibt, auf die es verweist.

Beispiel:Ein Straßenverkehrsschild warnt vor Tieren auf der Fahrbahn. Es zeigt das Bild einer Kuh (= Ähnlichkeit mit dem gefährlichen Objekt, auf das verwiesen wird). Es befindet sich aber gar keine Kuh auf der Fahrbahn.

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Charles S. Peirce: Ikon, Index, Symbol

Index: Das indexikalische Zeichen beruht auf Kontiguität (Berührung, Nachbarschaft, kausaler Zusammenhang). Es besagt, daß da wirklich etwas ist oder gewesen sein muß.

Beispiel:Die Spuren am Tatort eines Verbrechens verweisen auf das, was dort geschehen ist. Sie hängen mit dem Tathergang kausal zusammen. Die Spuren beziehen sich auf etwas, was sich tatsächlich ereignet hat.

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Charles S. Peirce: Ikon, Index, Symbol

Symbol: Das symbolische Zeichen funktioniert allein aufgrund der Annahme, daß man davon ausgehen kann, daß es in einer bestimmten Weise als Zeichen aufgefaßt wird.

Beispiel: Alle sprachlichen Zeichen sind symbolische Zeichen, sofern sie nur dann auf etwas verweisen können, als eine Gemeinschaft von Sprechenden sich auf sie als Zeichen bezieht.

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An der Quaimauer unseres Flusses hatte sich eine sehrgroße Menschenmenge gesammelt. In den Fluß gefallen war der Regimentskommandeur Sepunov. Er verschluckte sich in einem fort, sprang bis zum Bauch aus dem Wasser, schrie und versank wieder im Wasser. Er schlug mit den Armen nach allen Seiten und schrie wieder um Hilfe.Die Menge stand am Ufer und schaute mit finsterer Miene zu.- Er geht unter, - sagte Kuzma.- Klar geht er unter, - bestätigte ein Mann mit einer Schirm-Mütze. Und tatsächlich, der Regimentskommandeur ging unter.Die Menge begann sich zu verlaufen.

Daniil Charms: ». . .«

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Daniil Charms: ». . .«Charms‘ Text läßt sich lesen als der Prozeß der Verständigungüber die Natur der Zeichen, die gegeben werden.Sind es ikonische Zeichen? Dann können sie sich auf etwas reinImaginäres beziehen. (Sepunov sieht einem Ertrinkenden ähnlich,aber ertrinkt nicht wirklich.) Sind es symbolische Zeichen? Dann muß der behauptete Sach-verhalt keineswegs zutreffen. (Die Zuschauer denken sich: „Das kann ja jeder sagen.“)Oder sind es indexikalische Zeichen? Dann geschieht da wirklich etwas.»Klar geht er unter.« Also waren es indexikalische Zeichen!

Mit der unverhältnismäßigen Ausrichtung auf die Beschaffenheit der Mitteilung ironisiert der Text die poetische Funktion, das heißt seine eigene literarische Dimension, durch die die Bezugnahme auf ‚Wirk-lichkeit‘ fraglich wird.

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Modellierungen von Referenz (1):Ikon – Index – Symbol nach Peirce (1839-1914)

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Ikon – Index – Symbol nach Peirce

»Ein Zeichen [...] ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende.«

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»... und so fort ohne Ende«:die Kette der Zeichen nach Peirce

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»... und so fort ohne Ende«:die Kette der Zeichen nach Peirce

Zeichen existieren bei Peirce nur – seien sie ikonisch, indexikalisch oder symbolisch –, insofern sich andere Zeichen auf sie beziehen können. Man könnte auch sagen:

Als Zeichen fungieren kann etwas nur, wenn sich ein sprachliches Zeichen darauf bezieht.

Beispiel: ›Fieber‹ ist ein Symptom, ein indexikalisches Zeichen (›da muß etwas sein‹). Es funktioniert als Zeichen aber nur, wenn jemand dieses Symptom feststellt: »Sie haben Fieber.«

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Peirce und Saussure: Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Peirce ist Mathematiker, Logiker, Philosoph. Seine Unterscheidung von Ikon, Index und Symbol bezieht sich auf Zeichen im allgemeinen. Saussure ist Sprachwissenschaftler. Seine Analyse ist beschränkt auf die sprachliche Zeichen.

Peirce und Saussure verfolgen unterschiedliche Ansätze. Sie haben sich nicht aufeinander bezogen. Es gibt aber folgende Überschneidungen:

Alle sprachlichen Zeichen im Sinne Saussures sind symbolisch im Sinne von Peirce (Saussures Grundsatz der Arbitrarität).Die Beziehung von Zeichen zu Zeichen erhält bei Peirce eine ebenso große Relevanz, wie Saussure sie herausgestellt hat (Grundsatz der Linearität der sprachlichen Zeichen). Ikon, Index und Symbol müssen, um als Zeichen zu fungieren, zu Objekten weiterer Zeichen werden können.

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Ikon, Index, Symbol im Zusammenhang der poetischen Funktion

Wenn Literatur auf die Art und Weise der Botschaft ausgerichtet ist (Jakobsons poetische Funktion), dann macht sie nicht zuletzt auf das jeweilige Vorkommen von ikonischen, indexikalischen und symbolischen Zeichen aufmerksam. Hervorgehoben wird auch die Weise, in der die verschiedenen Arten von Zeichen jeweils auf Objekte Bezug nehmen.

Eine literarische Gattung wie der Detektivroman etwa zeichnet sich wesentlich dadurch aus, dass er indexikalische Zeichen ins Spiel bringt.

In diesem Sinne lässt sich fragen: Wie stellen literarische Texte den Bezug sprachlicher Äußerungen auf Wirklichkeit dar?

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Vielfalt der Zeichen

Ein Zeichen ist nicht entweder ikonisch oder indexikalisch oder symbolisch beschaffen, sondern dies können miteinander vereinbare Aspekte von Zeichen sein.

Beispiel 1: Wenn ich in den Spiegel schaue und sehe im Spiegel jemanden hinter mir stehen, dann ist das Bild, das ich sehe, nicht nur jemandem ähnlich (ikonisches Zeichen), sondern da muß auch wirklich jemand hinter mir sein (indexikalisches Zeichen).

Beispiel 2: Wenn der Dichter Arno Schmidt, der für seine vielen Mond-Metaphern berühmt ist, den Mond ein »verschimmeltes Gesicht« nennt, ist das ein ikonisches Zeichen (es beruht auf Ähnlichkeit), aber es ist natürlich auch ein symbolisches (weil sprachliches!) Zeichen.

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Darstellungen von Wirklichkeitsbezügen im Text

Alle – auch die nichtsprachlichen – Zeichen führen, wenn sie tatsächlich zirkulieren (›verwendet‹ werden), notwendig auf das Feld sprachlicher/symbolischer Zeichen. Sie stellen sich dann in der Sprache dar. Wenn ich z.B. sage: »Das sind Spuren im Schnee«, dann bezeichne ich ein indexikalisches Zeichen symbolisch.

Natürlich kann ich auch ein symbolisches Zeichen wiederum symbolisch bezeichnen – in einem Satz des Typus' »A bedeutet B.«

… und so weiter und so fort ohne Ende:

Dies ist die Peirce'sche Kette der Zeichen!

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Darstellungen von Wirklichkeitsbezügen im Text

Unter sprachlichen Bedingungen (an sich willkürliche Beziehungen zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem) stellen sich also gleichwohl verschiedene Referenzverhältnisse dar: Ähnlichkeiten, Kausalitäten, Nachbarschaften, Konventionen …

Wir können demnach Texte auf diese Darstellungen von verschiedenen Wirklichkeitsbezügen hin untersuchen!

Und dies gilt nicht nur für die Art und Weise, wie einzelne Zeichen für sich genommen funktionieren (ihre ›Bedeutung‹) – sondern auch für die Art und Weise, wie sie in ihrem Zusammenhang mit anderen Zeichen funktionieren (ihren ›Wert‹). Dazu das folgende Beispiel aus einer Erzählung Gottfried Kellers.

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Modellierungen von Referenz (2): Beziehungen zwischen Zeichen

Gottfried Keller: Die drei gerechten Kammmacher (1856)

In der Stadt Seldwyla konkurrieren die drei Gesellen eines

Kammmachers darum, den Betrieb ihres Chefs zu

übernehmen: ein Sachse, ein Bayer und ein Schwabe.

Jeder von ihnen hofft, die Jungfrau Züs Bünzlin zu

heiraten, um mit dem Erbe ihres Vaters das Geschäft

kaufen zu können. Der Schwabe macht schließlich das

Rennen, ist dafür aber mit einer unglücklichen Ehe gestraft.

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Keller: Die drei gerechten Kammmacher (1856)

»[Es] wurde […] dem ausspähenden Schwaben nicht schwer, sich den Weg zu einer tugendhaften Jungfrau zu bahnen, welche in derselben Straße wohnte und von der er [...] in Erfahrung gebracht, daß sie einen Gültbrief von siebenhundert Gulden ihr Eigentum nenne. Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von achtundzwanzig Jahren, welche mit ihrer Mutter, der Wäscherin, zusammenlebte, aber über jenes väterliche Erbteil unbeschränkt herrschte. Sie hatte den Brief in einer kleinen lackierten Lade liegen, wo sie auch die Zinsen davon, ihren Taufzettel, ihren Konfirmationsschein und ein bemaltes und vergoldetes Osterei bewahrte; ferner ein halbes Dutzend silberne Teelöffel, ein Vaterunser mit Gold auf einen roten durchsichtigen Glasstoff gedruckt, den sie Menschenhaut nannte, einen Kirschkern, in welchen das Leiden Christi geschnitten war, und eine Büchse aus durchbrochenem und mit rotem Taffet unterlegtem Elfenbein, in welcher ein Spiegelchen war und ein silberner Fingerhut; ferner war darin ein anderer Kirschkern, in welchem ein winziges

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Kegelspiel klapperte, eine Nuß, worin eine kleine Muttergottes hinter Glas lag, wenn man sie öffnete, ein silbernes Herz, worin ein Riechschwämm-chen steckte, und eine Bonbonbüchse aus Zitronenschale, auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war und in welcher eine goldene Stecknadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmeinnicht vorstellte, und ein Medaillon mit einem Monument von Haaren; ferner ein Bündel vergilbter Papiere mit Rezepten und Geheimnissen, ein Fläschchen mit Hoffmannstropfen, ein anderes mit Kölnischem Wasser und eine Büchse mit Moschus; eine andere, worin ein Endchen Marderdreck lag, und ein Körbchen aus wohlriechenden Halmen geflochten sowie eines aus Glasperlen und Gewürznägelein zusammengesetzt; endlich ein kleines Buch, in himmelblaues geripptes Papier gebunden, mit silbernem Schnitt, betitelt: Goldene Lebensregeln für die Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter; und ein Traumbüchlein, ein Briefsteller, fünf oder sechs Liebesbriefe und ein Schnepper zum Aderlassen«.

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Keller: Die drei gerechten Kammmacher

Kellers Novellen werden dem ›poetischen Realismus‹ zugerechnet.

Die gesammelten Dingen erscheinen zunächst als Hinweise zur (gar nicht so eindeutigen!) geschlechtlichen Charakterisierung ihrer Besitzerin, und dies geschieht im Rahmen einer differentiellen Ordnung von Zeichen (s.o. die Analyse des Novalis-Gedichts aus der letzten Vorlesung).

Aber welche Bewandtnis hat es darüber hinaus mit dem Detailreichtum, dem ›Überfluß‹ der Beschreibung??

Die Beschreibung der Schublade der Züs Bünzlin wirft auf exemplarische Weise die Frage nach der Schreibweise des Realismus auf!

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Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt (1968)

Unterscheidung von ›Erzählen‹ und ›Beschreiben‹: Beschrei-bungen können als ›überflüssige‹ Zutat wirken, die die Narration unterbricht und die durch keine Finalität des Handelns oder Kommunizierens begründet ist.

»Die Besonderheit, die Abgesondertheit der Beschreibung (oder des ›unnützen Details‹) im Erzählgewebe führt zu einer Frage, die [...] von großer Wichtigkeit ist. Diese Frage lautet: Ist in einer Erzählung alles signifikant, und wenn nicht, wenn in einer Erzählung bedeutungslose Flecken bleiben, wie lautet dann letztlich, wenn man so sagen kann, die Bedeutung dieser Bedeutungslosigkeit?«

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Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt (1968)

»Die nicht weiter zerlegbaren Reste der funktionalen Analyse« (die den erzählerischen Nutzen sprachlicher Wendungen untersucht) »haben eines gemein: sie denotieren [benennen], was man gemeinhin als die ›konkrete Wirklichkeit‹ bezeichnet (kleine Gesten, flüchtige Haltungen, unbedeutende Gegenstände, redundante Worte). Die bloße ›Darstellung‹ des ›Wirklichen‹, die nackte Schilderung des ›Seienden‹ (oder Gewesenen) erscheint somit als ein Widerstand gegen den Sinn«.

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Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt (1968)

Definition:»Unter Realismus verstehen wir jeglichen Diskurs, der nur vom Referenten beglaubigte Äußerungen akzeptiert.«

Das was nicht im Sinn eines Erzählzusammenhangs aufgeht, was keine Funktion darin erfüllt, erscheint wie eine Einstreuung von ›Wirklichkeit‹.Bezugnahme auf Saussures Zeichenmodell: Es scheint, als würden die Zeichen in der ›realistischen‹ Schreibweise nicht mehr aus Signifikant und Signifikat bestehen, als gebe es kein Signifikat mehr, kein Bedeutetes, sondern nur noch einen Signifikanten, der sich auf einen außersprachlichen Referenten bezieht.

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Roland Barthes: Der Wirklichkeitseffekt (1968)

»Semiotisch besteht das ›konkrete Detail‹ aus dem direkten

Zusammentreffen zwischen einem Referenten und einem

Signifikanten; das Signifikat wird aus dem Zeichen vertrieben«.

»Dies ließe sich als referentielle Illusion bezeichnen.«

Mit Saussure ließe sich darin eine ironische Wiederkehr des Nomen-

klaturmodells der Sprache erkennen. Die Ironie besteht darin, dass

sich Sprache nur den Anschein gibt, als würde sie wie eine

Nomenklatur funktionieren.

Signifikat

Signifikant Signifikant

Referent

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Barthes: Der Wirklichkeitseffekt

›Wirklichkeit‹ erscheint bei Barthes als ein Resultat

sprachlicher Darstellung, der sich aus dem Wechsel von

der Narration zur Deskription ergibt. Die lineare

Organisation der Zeichen (Saussure), ihr Nacheinander, ist

dabei so beschaffen, daß sich für einzelne Zeichen die

Doppelstruktur Signifikat/Signifikant aufzulösen scheint.

Übrig bleiben einzelne Signifikanten, die sich nun auf einen

Kontext außerhalb der Sequenz, in der sie stehen, zu

gründen scheinen.

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Die Modernität der ›referentiellen Illusion‹

Die Täuschung des ›Wirklichen‹ in literarischen Texten ist

nach Barthes ein historisch relativ junges Phänomen. Er

datiert seine Entfaltung auf das 19. Jahrhundert.

Vor allem vor dem Hintergrund zweier Traditionen wird die

Neuartigkeit des ›Wirklichkeitseffektes‹ deutlich:

1. der Tradition der Ekphrasis (der Bildbeschreibung)

2. der Tradition des ›Wahrscheinlichen‹ als Maßstab des Erzählens

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Ekphrasis

klassisches Beispiel: der Schild des Achill in Homers Ilias

(18. Gesang, Verse 468-608):

»Erst nun formt’ er den Schild, den ungeheuren und starken,

Ganz ausschmückend mit Kunst. Ihn umzog er mit schimmerndem Rande,

Dreifach und blank, und fügte das silberne schöne Gehenk an.

Aus fünf Schichten gedrängt war der Schild selbst; oben darauf nun

Bildet’ er mancherlei Kunst mit erfindungsreichem Verstande.

Drauf nun schuf er die Erd’, und das wogende Meer, und den Himmel,

Auch den vollen Mond, und die rastlos laufende Sonn;

Drauf auch alle Gestirne, die rings den Himmel umleuchten [...]

Drauf zwei Städt’ auch schuf er der vielfach redenden Menschen,

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Blühende: voll war die ein’ hochzeitlicher Fest’ und Gelage.

Junge Bräut’ aus den Kammern, geführt beim Scheine der Fackeln,

Gingen einher durch die Stadt; und hell erhob sich das Brautlied:

Tanzende Jünglinge drehten behende sich unter dem Klange,

Der von Flöten und Harfen ertönete; aber die Weiber

Standen bewunderungsvoll, vor den Wohnungen jene betrachtend.

[...]

Darauf auch schuf er ein Feld tiefwallender Saat, wo die Schnitter

Mäheten, jeder die Hand mit schneidender Sichel bewaffnet.

Längs dem Schwad’ hinsanken die häufigen Griffe zur Erde;

Andere banden die Binder mit strohernen Seilen in Garben;

Denn drei Garbenbinder verfolgeten. Hinter den Mähern

Sammelten Knaben die Griff’; und trugen sie unter den Armen

Rastlos jener daher. Der Herr stillschweigend bei ihnen

Stand, den Stab in den Händen, am Schwad’, und freute sich herzlich.«

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Züs Bünzlins Schublade und Achilles’ Schild – zwei Arten der Beschreibung

Sowohl bei Homer als auch bei Gottfried Keller findet sich eine Aufzählung, die den Fortgang der Handlung unterbricht.

1. Unterschied: Gegenstände der Beschreibung

Bei Homer macht die Beschreibung einen spezifischen Sinn. Dargestellt findet sich nicht weniger als die kosmische Ordnung: die Welt der Götter, Himmel und Erde, Meer und Land, Städter und Bauern, Hochzeit und Tod, Krieg und Frieden usw.

Bei Keller liefert die Beschreibung eine zufällige Ansammlung von Dingen, aus denen sich keine kohärente Ordnung ergibt. Objekte aus der Sphäre des Rechts und der Ökonomie (das Wertpapier) oder aus der Späre der Religion (Vaterunser) finden sich neben Schmuck, Kosmetikartikeln und Andenken unbekannter Herkunft.

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Züs Bünzlins Schublade und Achilles’ Schild – zwei Arten der Beschreibung

2. Unterschied: Verfahren der Beschreibung

Bei Homer tendiert die Beschreibung, die den Fortgang der Handlung unterbricht, selbst wiederum zur Narration. Zum einen wird erzählt, wie Hephaistos den Schild schmiedet und die Verzierungen anbringt, zum anderen lösen die einzelnen Darstellungen Geschichten aus (Verfahren des anschaulichen Vor-Augen-Stellens, ›Hypotypose‹). Darin spiegelt sich das Prinzip des homerischen Epos, das aus der mythischen Ordnung seine Erzählungen entspinnt.Bei Keller werden die einzelnen Gegenstände der Beschreibung zum Anlaß noch detaillierterer Beschreibungen: Gegenstände, die nichts bedeuten, sind Behälter für andere Gegenstände, die wiederum nichts bedeuten. Darin spiegelt sich der moderne Anspruch des ›Realismus‹: Kirschkerne, die innen hohl sind und ein kleines Kegelspiel enthalten, mit dem man aufgrund seiner Kleinheit gar nicht spielen kann, scheinen das Prinzip des von seinem Signifikat entleerten Zeichens anzudeuten.

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Wahrscheinlichkeit

Aristoteles, Poetik, 9. Kapitel

»Es ist nicht Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich [...] dadurch voneinander, [...] daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut – eben hierauf zielt die Dichtung, obwohl sie den Personen Eigennamen gibt. Das Besondere besteht in Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm zugestoßen.«

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Von der Fiktion des ›Wahrscheinlichen‹ zur Fiktion des ›Wirklichen‹

Nach Barthes orientiert sich die moderne Literatur nicht

mehr einfach an der aristotelischen Norm des

Wahrscheinlichen, sondern sie hat sich eine neue Norm

geschaffen: das ›Wirkliche‹, »das die Ästhetik aller

gängigen Werke der Moderne bildet«.

Die Fiktionalität literarischer Erzähltexte ist damit nicht

angetastet. Seit dem 19. Jahrhundert bildet das ›Wirkliche‹

vielmehr einen grundlegenden Modus von Fiktion.

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Fiktion des ›Wirklichen‹ - Roman einer Zeitreise:James Finney, Time and Again (1970)

»Der kleine Holzbus hatte am Gehweg angehalten, seine Laterne war vom Schneematsch verschmiert. Als wir auf ihn zugingen, bekam ich scharfen Ölgeruch in die Nase. Die Tür befand sich hinten, über einem hölzernen Trittbrett. Ich öffnete [...] die Tür und blickte nach vorne zum Fahrer – eine bewegungslose, in Decken gewickelte Figur draußen auf dem Vordersitz, unter einem gewaltigen Schirm. […] [D]as Geschirr scheuerte am Rumpf der Pferde, der Bus ruckelte, und wir fuhren los. […]

Ich bemerkte, dass wir angehalten hatten und die Tür aufging. Ein Mann kletterte herein, warf sein Fahrgeld in den Blechkasten, setzte sich uns gegenüber und streifte uns mit einem gleichgültigen Blick. Dann, die Zügel knallten, und wir hatten uns wieder in Bewegung gesetzt, schlug er die Beine übereinander und sah ebenfalls aus dem Fenster. Ich beobachtete ihn aus den Augenwinkel [...]; zum ersten Mal betrachtete ich wirklich ein lebendes menschliches Wesen aus dem Jahr 1882.«

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James Finney, Time and Again (1970)

»Auf gewisse Weise war der Anblick dieses einfachen Mannes, den ich nie wieder in meinem Leben gesehen habe, die intensivste Erfahrung meines Lebens. Dort saß er, starrte gedankenverloren aus dem Fenster, trug eine seltsame hohe Melone und eine abgetragene schwarze Jacke. Sein grün-weiß gestreiftes Hemd besaß keinen Kragen und wurde am Hals mit einer Messingspange zugehalten [...].

Während ich ihn beobachtete, berührte die rosafarbene Zunge die aufgesprungenen Lippen, die Augen zwinkerten, während hinter ihm die Ziegel- und Steinbauten vorbeizogen. […] Sein Haar unter der Hutkrempe war schwarz mit grauen Strähnen, seine Augen waren blau und durchdringend, seine Ohren, die Nase und das frisch rasierte Kinn waren gerötet von der Winterkälte; seine zerfurchte Stirn fahl und bleich. Es gab nichts Bemerkenswertes an ihm«.

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Kontexte des ›Realismus‹

Barthes nennt folgende kulturelle Entsprechungen des ›Realismus‹ im 19. Jh.:

• die Erfindung der Fotografie• die Entwicklung der Presseberichterstattung (Entstehung

neuer Gattungen wie Reportage etc.)• die Herausbildung einer wissenschaftlichen

Geschichtsschreibung• die Austellung alter Gegenstände• der Tourismus der Denkmäler und historischen Stätten.

Auf all diese kulturellen Praktiken bezieht sich der Roman von Finney! Er verwendet Fotografien, zitiert Zeitungsartikel usw.

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›Realismus‹ und ›Verfremdung‹

Schreibweisen des Realismus lassen sich durchaus in gewissem Maße als Verfahren der Verfremdung bestimmen:

• sofern sie in Beschreibungen den Erzählfluß unterbrechen• sofern sie den Anspruch auf ›Allgemeinheit‹ relativieren• sofern sie mit ›Bedeutungslosigkeit‹ arbeiten• sofern sie Prozesse der Wahrnehmung gegen Automatismen

des Verstehens stärken.

Andererseits wirkt ein Roman wir der von Finney heute konventionell. ›Realistische‹ Schreibweisen sind längst ihrerseits zu einer Konvention geworden, die neue Automa-tismen erzeugt und die ihrerseits in der modernen Literatur durch andere Verfahren der Verfremdung in Frage gestellt wird.

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›Realismus‹ und das ästhetische Regime der Kunst

›Realismus‹ ist ein wesentlicher Bestandteil dessen, was Rancière als ästhetisches Regime der Kunst bezeichnet.

›Realismus‹ im Sinne Barthes' unterliegt nicht dem Maßstab ›wahr/falsch‹ (ethisches Regime der Kunst): Niemand wird Kellers Beschreibung von Züs Bünzlins Schublade der Lüge bezichtigen, weil sich in einem Kirschkern nicht noch ein Kegelspiel befinden kann.

›Realismus‹ unterliegt nicht den Vorschriften der aristotelischen Poetik (etwa hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit) (poetisches Regime der Künste)

›Realismus‹ behauptet vielmehr einen eigenständigen ästhetischen Bereich des ›Wirklichen‹ (abgelöst von dem, was wir die Wirklichkeit nennen).

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»Wissenschaftliche Entdeckung: Jesus immer ver-fressener« (taz vom 24.3.2010) – ein Missverständnis

»Amerikanische Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Menschheit immer gefräßiger wird. Über die vergangenen eintausend Jahre sind die Abbildungen des ›letzten Abendmahls‹ von Jesus Christus immer kalorienhaltiger geworden. Zeitgenössische Maler seit dem Jahr 1000 nach Christus hätten in ihren Bildern immer auch die Essgewohnheiten ihrer eigenen Zeit abgebildet, schreiben US-Forscher in einer Studie im britischen Fachblatt International Journal of Obesity am Dienstag. So habe die Größe des Hauptgerichts im Verlauf von tausend Jahren um 69 Prozent zugenommen, das abgebildete Brot um 23 Prozent und die Tellergröße um fast 66 Prozent. Die Forscher analysierten für ihre Studie die 52 populärsten Bilder zum ›letzten Abendmahl‹ seit dem Jahr 1000. In den ausgewerteten Gemälden wurde als häufigstes Gericht Fisch gezeigt (18 Prozent), gefolgt von Lamm (14 Prozent) und Schwein (7 Prozent).«

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Ein Missverständnis

Der Bericht endet ironisch mit den Worten: »Auf den Abendmahl-Darstellungen kommender Generationen dürfen wir dann mit Familienpizza, Döner, Pommes Schranke, Obazda und literweise Weizenbier rechnen.«

Offenbar unterliegen die Forscher einem doppelten Missverständnis. (1) Sie begreifen die Bilder des Abendmahls als Spuren historischer Eßgewohnheiten, das heißt als indexikalische Zeichen (vgl. Peirce). (2) Sie tragen an die Malerei des letzten Jahrtausends den modernen Maßstab realistischer Darstellung heran (vgl. Barthes' ›Wirklichkeitseffekt‹).

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Referenz – Bedeutung – Wert:ein Resümee

Die Fehllektüre der Abendmahldarstellungen ergibt sich demnach in zweierlei Hinsicht: 1. im Hinblick auf die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem (Bedeutung) und 2. im Hinblick auf die Beziehungen zwischen Zeichen (Wert).

1. Die Gemälde stellen Ähnlichkeiten mit einem Geschehen her, das so nicht stattgefunden haben muss (ikonische Zeichen); und sie funktionieren zudem durch konventionell begründete Darstellungen (symbolische Zeichen).

2. Die Gemälde rufen spezifische Differenzen zwischen einzelnen Zeichen auf – zum Beispiel: das Brot / der Leib Christi; nur so ergibt sich, worum es geht – die Verwandlung des einen in das andere (Tanssubstantiation).

Auf der Ebene der Zeichen werden spezifische Referenz-verhältnisse stets durch Bedeutung und Wert begründet.

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Zeichen und Referenz: Übersicht der Grundbegriffe

langue/parole

Synchronie/Diachronie

Saussures Kritik am Sprachmodell der ›Nomenklatur‹

Einheit des sprachlichen Zeichens

Vorstellung – Lautbild / Bezeichnetes – Bezeichnendes / signifié – signifiant / Signifikat –Signifikant

Referenzobjekt/Referent

Arbitrarität des Zeichens

Linearität des Zeichens

Bedeutung/Wert

Wert des sprachlichen Zeichens und Geschlechterdifferenz

ikonisches Zeichen

indexikalisches Zeichen

symbolisches Zeichen

die Kette der Zeichen nach Peirce

›Realismus‹ nach Barthes

Wirklichkeitseffekt

›referentielle Illusion‹ nach Barthes

Ekphrasis

Hypotypose

Wahrscheinlichkeit