Einführung in die Sprachvermittlung 5. Abschluss: Im Zweikampf 6. Das Schriftsystem.

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Einführung in die Sprachvermittlung 5. Abschluss: „Im Zweikampf“ 6. Das Schriftsystem

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Einführung in die Sprachvermittlung

5. Abschluss: „Im Zweikampf“

6. Das Schriftsystem

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1.Ist Schrift ein System?

• Moderne Sprachwissenschaft (seit 20. Jhdt.)

• Vorrang der gesprochenen Sprache: phylogenetisch (Geschichte)ontogenetisch (Spracherwerb)

• Schriftregelungen unsystematisch, normativ, kasuistisch

• Schrift = einfache Wiedergabe von Strukturen des mündlichen

Dependenzthese

• Ältere Sprachwissenschaft (Antike, Frühe Neuzeit, 19. Jhdt.)

• Sprache = Schriftsprache• Grammatik = „Lehre von den

Buchstaben“• Mündliche Sprache =

fehlerhafte Realisierung von Sprache

These der primären Schriftlichkeit von Sprache

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Schriftsprache als System (Graphematik vs. Orthographie)

Dependenzthese:• Primat genuin mündlicher

Strukturen• Ideale Orthographie als

Phonographie: „Laut-treue“ = Fixierung pho-netisch-phonologischer Einheiten

• Grapheme von Phonemen abzuleiten

• Markierung lautlicher Strukturen in der Schrift vorrangig

Autonomiethese• Primat genuin schrift-

sprachlicher Strukturen• Ideale Orthographie als

Logographie = Fixierung grammatischer Einheiten

• Grapheme als kleinste be-deutungsunterscheidende Einheiten in der Schrift nicht auf Phoneme reduzierbar

• Markierung syntaktischer und morphologischer Struk-turen vorrangig

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Das Schriftsystem

• Teil des Sprachsystems• eigenständige Funktionsweise, nicht nur aus

Phonologie abgeleitet• wachsende Bedeutung in modernen

Gesellschaften • Kann man (wenigstens) Schriftsprache lehren?• Frage des Lehrens hier zugespitzt: Erwerb des

Systems nur ein selbst gesteuerter Prozess wie erster Spracherwerb auch?

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2. Schriftsystem = Wörter + Regeln?

[²an] [²a:bait] [bai] [dεǎ] [di:] [fy:sikǎ][meto:də][wεnd-] [want-][-tə]

S NP +VPNP Det + NVP V+PP+NPVPrät Stamm+tePbei NP (Dat)

[dεǎ’fy:sikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

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Vorgehensweise in Abschnitt 3 (Weingarten 2001, S. 140-145):

• Vom Gesprochenen zum Geschriebenen• Interaktion vom sprachlichem Lexikon und

sprachlichen Regeln (gesprochener Input)• Weiterverarbeitung durch graphematische

Regeln• Graphematische Struktur (geschriebener

Output)• Vom Text zum Phonem (von den größten zu den

kleinsten Einheiten)

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1. S NP +VPNP Det + NVP V+PP+NPVPrät Stamm+tePbei NP (Dat)

[dεǎ’fy:sikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

1. {S {W1…Wn}} ( GW1…Wn Pkt)G = Großschreibung, MajuskelPkt = Punkt

<D(R1)εǎ’fy:sikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an.(R1)>

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2.1. Interpunktion: Textstruktur

Graphematisches Regelsystem

Input Output

Regel

{S {W1…Wn}}

(GW1…Wn Pkt)

<GW1><W1…Wn><.>

Beispiel: Subordination (aus Weingarten 2001, S. 141)

Beispiel: Hauptsatz („Ganzsatz“)

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1. S NP +VP2. NP Det + N VP V + PP + NPVPrät Stamm+tePbei NP (Dat)

[dεǎ’fy:sikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

1. S (W1…Wn) <GW1…Wn Pkt>

<D(R1)εǎ (R2)’fy:zikǎ (R2)’wantə (R2)bai (R2)dεǎ’ (R2)²a:bait (R2)di: (R2)me‘to:də (R2)²an.(R1)>

2. (W1, W2, W3) (W1 SP W2 SP W3)SP = Spatium, Leerzeichen

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2.2. Wortsegmentierung

aus Weingarten 2001, S. 141

- Die Segmentierung graphischer Wörter ist nicht willkür-lich, sondern baut auf dem syntaktischen Modul des Sprachsystems auf.

- syntaktisch nicht weiter zerlegbare Einheiten von Phra-sen sind „Wörter“ (vgl. die Diskussion bei Pinker S. 31)

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1. S NP +VP2. NP Det + N VP V+PP+NP

3. NP Det + N VPrät Stamm+tePbei NP (Dat)

[dεǎ’fy:zikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

1. S (W1…Wn) <GW1…Wn Pkt>

<[D(R1)εǎ (R2)F(R3)y:zikǎ] (R2)’wantə (R2)bai [(R2)dεǎ’ (R2)A(R3):bait] (R2)[di: (R2)M(R3)e‘to:də] (R2)²an.(R1)>

2. (W1, W2, W3) <W1 SP W2 SP W3>

3. (NP (detW1) (NW2)) <…KW1 GW2…>

K = Kleinschreibung (Minuskel)G = Großschreibung (Majuskel)

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2.3. Wortinitiale Großschreibung

- Syntaktische Herleitung der satzinternen Großschreibung: Der Kopf der Nominalgruppe (N) wird groß geschrieben.

- Die vorangehenden Wörter in der NP werden klein geschrieben, ebenso die Köpfe der VP und der PP.

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1. S NP +VP2. NP Det + N VP V+PP+NP3. NP Det + N

4. VPrät Stamm+tePbei NP (Dat)

[dεǎ’fy:zikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

1. S (W1…Wn) <GW1…Wn Pkt>

<D(R1)εǎ (R2)F(R3)y:zikǎ (R2)vand(R4)tə (R2)bai (R2)dεǎ’ (R2)A(R3):bait (R2)di: (R2)M(R3)e‘to:də (R2)²an.(R1)>

2. (W1, W2, W3) <W1 SP W2 SP W3>

3. (NP (detW1) (NW2)) <…KW1 GW2…>

4. (STwanSutə) (Rfwend-en) (STwandSutə)

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2.4. Wortschreibung

• Bei der Wortschreibung interagieren eine morphologische und eine phonologische Komponente.

• Vorrang hat die Morphologie, da sie Wörter in Einheiten gliedert, die in der Schrift sichtbar bleiben sollen, also z.B. die Stammkonstanz (wandte – wenden)

• Die Anwendung dieser Regel setzt den Bezug zu einer Referenzform voraus, in der die Lautung des Stammes isoliert „hörbar“ ist. (Solche Formen sind meistens zweisilbig!)

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1

2

1 – morphologische Zergliederung des Wortes2 – Suche nach Referenzform mit phonologischer Schreibung3 – phonologische Komponente: Phonem-Graphem-Korrespondenzen (GPK-Regeln) s.u.

3

Weingarten 2001, S. 143

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[dεǎ’fy:zikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

<D(R1)er (R2)F(R3)üsiker (R2)wand(R4)te (R2)bei (R2)der (R2)A(R3)beit (R2)die (R2)M(R3)etode (R2)²an.(R1)>

[²an] [²a:bait] [bai]

[dεǎ] [di:] [fy:zikǎ][meto:də][vεnd-] [vant-][-tə]

GPK-Regeln:ai <ei>ǎ <er, r>ε <e>ə <e>i: <ie>y: <ü>o: <o>z <s>v <w>f <f>t <t> …

Vom Lexikon über das graphematische Regelsystem

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2.5. Phonem-Graphem-Korrespondenzen

• Dieser graphematische Regelteil greift unmittelbar auf das Lexikon zu.

• Es gibt trotzdem enge Bezüge zum sprachlichen Regelteil, da dieser ja auch die Phonologie umfasst. Der Status eines Lauts als Phonem ergibt sich aus dem phonologischen System

• Die reine Anwendung der GPK-Regeln führt nicht in allen Fällen zu korrekten Schreibungen

• Der Schreiber muss daher auch auf spezielle Einträge in seinem „orthographischen“ bzw. graphematischen Lexikon zurückgreifen!

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[dεǎ’fy:sikǎ’wantəbaidεǎ’²a:baitdi:me‘to:də ²an]

<D(R1)er (R2)P(R3)hy(Lex)siker (R2)wand(R4)te (R2)bei (R2)der (R2)Ar(Lex)(R3)beit (R2)die (R2)M(R3)eth(Lex)ode (R2)²an.(R1)>

[²an] [²a:bait] [bai]

[dεǎ] [di:] [fy:zikǎ][meto:də][vεnd-] [vant-][-tə]

GPK-Regeln:ai <ei>ǎ <er, r>ε <e>ə <e>i: <ie> y: <ü>o: <o>z <s>v <w> f <f> t <t> …

Vom Lexikon über das graphematische Lexikon: Blockierung der GPK!

<Physiker><Methode><Arbeit>…

Blockierung

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3. Das Dual Route Cascaded Model (Coltheart et al.)

= kaskadenförmiges Zwei-Wege-Modell (der Verarbeitung geschriebener Wörter)

- Umgekehrter Weg: vom Geschriebenen zum Erkennen und lauten Lesen von Wörtern

- Bezieht sich nur auf die phonologische Komponente des Schriftsystems

- Ineinandergreifen von Lexikon und regelbasierter Sprachverarbeitung (GPK)

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Semantisches System

Graphem-Phonem-Regelsystem

Orthographisches Input-Lexikon

Phonologisches Output-Lexikon

Phonetisches System

Buchstaben-Einheiten

Gedruckter Text:Visuelle Merkmalseinheiten

Gesprochene Sprache

Dual Route Cascaded Model (Coltheart et al. 2001)

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Besonderheiten des Modells• Keine Schwellenwerte Jeder Weg wird auch bei

schwachen Impulsen aktiviert; die Verarbeitung läuft auf beiden Wegen parallel weiter (wie bei Kaskaden z.B. eines Springbrunnens)

• Den Ausschlag gibt nicht einfach das Lexikon. Vielmehr kann es passieren, dass regelbasierte Information früher eintrifft als lexikalische. Der Konflikt löst Verzögerungen beim Lesen aus.

• Semantische Information wird mit genutzt. So wird ein Pseudowort wie „louch“ als [lautsch] analysiert, wenn vorher das Wort „sofa“ aktiv war, dagegen als [latsch], wenn vorher „touch“ aktiv war. (S. 147)

• Die Phonem-Graphem-Analyse erhält also parallel assoziative Informationen aus dem semantischen über das lexikalische System.

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Anwendbarkeit auf das Deutsche?

• Die Ausgangswörter sind nur einsilbig. Im Deutschen sind prototypische Wörter zweisilbig.

• Die GPK-Analyse ist nur segmental (im Englischen: 164 Regeln!); im Deutschen intervenieren auch silbische und weitere grammatische Prinzipien.

• Der Zwischenschritt über die morphologische Analyse (Referenzform) fehlt. (S. 149)

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Zusammenfassung• Das deutsche Schriftsystem basiert aus linguistischer

Sicht auf einem Zusammenspiel syntaktischer, morphologischer, phonologischer (in Teilen auch semantischer und pragmatischer) Strukturen.

• Diese werden von dem graphematischen Regelmechanismus aus dem generierten sprachlichen Strukturformat abgerufen.

• Der graphematische Regelmechanismus definiert also seinen eigenen Input, den er dann in die spezifisch graphematischen Ausdrucksmittel übersetzt.

• die verbleibenden, im Rahmen dieses Modells als irregulär erscheinenden Ausdrücke können dem graphematischen Lexikon zugeschlagen werden.

• Nach Ökonomieprinzipien wird dabei versucht, den regelbasierten Anteil so groß wie möglich und den lexikalischen so gering wie möglich zu gestalten.