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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

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Einleitung in das Neue Testament I

Paulus und seine BriefeWintersemester 2009/2010

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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

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Übersicht§1 Einleitung

I. Leben und Wirken des Paulus§2 Voraussetzungen:

Christliche Gemeinden vor Paulus §3 Die Quellenlage:

Urchristliche Zeugnisse vor Paulus§4 Der „vorchristliche“ Paulus§5 Die Wende im Leben des Paulus:

Berufung zum Apostel§6 Der weitere Lebensgang des Apostels

– Versuch einer paulinischen Chronologie

II. Zur Besonderheit der Briefliteratur §7 Die literarische Gattung des Briefes §8 Die Briefe des Paulus und ihre Sammlung §9 Zum Problem der Pseudepigraphie

III. Die authentischen Paulus-Briefe §10 Der 1. Thessalonicherbrief §11 Der 1. Korintherbrief

§12 Der 2. Korintherbrief§13 Der Philipperbrief§14 Der Galaterbrief§15 Der Philemonbrief§16 Der Römerbrief

IV. Die deutero- und tritopaulinischen Briefe§17 Der Kolosserbrief§18 Der Epheserbrief§19 Der 2. Thessalonicherbrief§20 Die Pastoralbriefe

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1 Kor 15,3-5

Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen

habe:

a Christus ist für unsere Sünden gestorben,

b gemäß den Schriften,

c und ist begraben worden.

a Er ist am dritten Tag auferweckt worden,

b gemäß den Schriften,

c und erschien dem Kephas, dann den Zwölf.

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Personen und Funktionen in der Urgemeinde

Petrus und die „Zwölf“

• Sie hatten leitende Funktion, die sich nicht näher bestimmen lässt• Die Zwölf repräsentieren das Gottesvolk, das endzeitlich wiederhergestellt

werden sollte. • In der Apg verliert sich die Spur der „Zwölf“. Die besondere Bedeutung dieses

Kreises hat wahrscheinlich nicht allzu lang bestanden; sie war zu sehr an eine Symbolik gebunden, die nur im jüdischen Rahmen verständlich war.

Die Apostel• Nur für Lukas sind die Apostel mit den Zwölf identisch; ursprünglich ist der

Begriff weiter verstanden worden (vgl. 1Kor 15,3-5; Gal 1,19).• „Apostel“ bedeutet „Gesandter“: Aufgabe der Apostel ist die missionarische

Verkündigung.

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Einzelpersonen• Johannes, Sohn des Zebedäus: in den Anfangsteilen der Apg spielt er

eine große Rolle (Apg 3,1ff; 4,13ff; s.a. Gal 2,9). Seine Spur verliert sich wie die des Zwölferkreises.

• Jakobus, Bruder des Herrn: nach der Apg hatte er eine führende Stellung auf dem Apostelkonzil; Paulus nennt ihn als eine der drei Säulen der Gemeinde (Gal 2,9); „Leute des Jakobus“ stiften in Antiochia Unruhe (Gal 2,12); in den frühen sechziger Jahren wurde Jakobus hingerichtet.

• Josef Barnabas: In Apg 4,36f ist Personaltradition zu ihm überliefert; er war Abgesandter Jerusalems in Antiochien (Apg 11,22), unternahm mit Paulus eine Missionsreise von Antiochien aus (Apg 13f), war Abgesandter Antiochiens beim Apostelkonzil (Apg 15,2; Gal 2,1); später kam es zum Zerwürfnis mit Paulus (Gal 2,11-14; anders in Apg 15,36-39).

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Elemente des Gemeindelebens

• Es gab unterschiedliche Grade der Bedürftigkeit, und damit auch des Besitzes und des Vermögens (Apg 2,45; 4,36).

• Laut Apg 6,1-6 wurden Witwen bei der täglichen Versorgung übersehen: Bedürftige mussten also versorgt werden.

• Der eigens überlieferte Einzelfall des Josef Barnabas (Apg 4,32-35) zeigt, dass es nicht üblich war, alles zu verkaufen und in die Gemeinde einzubringen.

• Die Glaubenden versammelten sich in Häusern, also musste es Leute mit Privatbesitz geben (s.a. Apg 12,12)

Das gemeinsame Mahl• war ein Sättigungsmahl, wahrscheinlich von Beginn an abgeleitet vom letzten

Mahl Jesu, gehalten als Gedächtnis des Todes Jesu. • Die Einsetzungsworte bezeugen den Bezug auf den Tod Jesu, entweder beim

Brotwort (Paulus, Lk) oder beim Becherwort (Mk, Mt). >• Über gottesdienstliche Abläufe lässt sich nichts mehr rekonstruieren.

GütergemeinschaftDas Bild der Apg (2,44f) ist ein Idealbild: dass „alle alles gemeinsam hatten“, lässt sich nicht bestätigen. Es hat sozialen Ausgleich gegeben, aber keine Gütergemeinschaft. Gründe:

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Die TaufeFür das hohe Alter der Taufe spricht, dass sie schon bei Paulus als Selbstverständlichkeit begegnet (1Kor 1,13; Röm 6,3). Drei Elemente kennzeichnen das ursprüngliche Taufverständnis (nach Apg 2,38):

„Petrus aber sprach zu ihnen: Tut Buße, und jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Sünden! Und ihr werdet die Gabe des Heiligen Geistes empfangen.“

• „Taufe auf den Namen Jesu“ bedeutet die Übereignung an den erhöhten Herrn und die Eingliederung in seine Gemeinde.

• Vergebung der Sünden: vielleicht von der Taufe des Johannes herzuleiten, wahrscheinlicher aber vom Bekenntnis zum Tod Jesu als Sühnetod, das ja besagt: Jesu Tod geschah zur Vergebung der Sünden.

• Die Taufe vermittelt den Geistempfang.

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Hebräer und HellenistenHebräerDer Ausdruck bezieht sich auf aramäisch sprechende Judenchristen aus Palästina.

HellenistenDer Begriff bezeichnet in diesem Fall griechisch sprechende Judenchristen, die ursprünglich aus der Diaspora stammten.

(1) Apg 6 bezeugt einen Konflikt zwischen beiden Gruppen, Grund: Missstände bei der Witwenversorgung. Diese Angabe bedeutet wohl eine Verschiebung des Konflikts, denn: zwei der sieben Diakone, die angeblich für den Tischdienst bestellt werden, treten in der Folge als Verkünder auf (Stephanus, Philippus). (2) Außerdem zeigen die beiden Missionare ein bestimmtes Profil:

• Stephanus gerät in einen tödlichen Konflikt mit der jüdischen Obrigkeit (Apg 6,8ff).

• Nach Apg 11,20 ging die Heidenmission von jenen Diaspora-Judenchristen aus, die im Zuge der Verfolgung nach der Hinrichtung des Stephanus aus Jerusalem geflohen waren.

• Philippus missioniert in Samaria, verlässt so die Grenzen des Judentums (als Heiden galten die Samaritaner aber nicht).

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Die Hellenisten zogen aus der Christusbotschaft Konsequenzen, die für fromme Juden problematisch sein konnten. Diese Konsequenzen haben wohl, ansetzend am Bekenntnis zum Sühnetod Jesu, den Tempelkult und damit auch die Tora relativiert. Wie weit die Hellenisten in diesem Punkt gingen, lässt sich kaum noch rekonstruieren; doch offensichtlich wurde eine kritische Marke überschritten.

(3)Dann dürfte der Konflikt mit den „Hebräern“ eher um eine theologische Frage gegangen sein: toratreue Judenchristen nahmen an den Positionen der „Hellenisten“ Anstoß. Es musste noch darum gerungen werden, welche Konsequenzen aus dem Bekenntnis zu Tod und Auferweckung Jesu zu ziehen waren.

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Christliche Gemeinden außerhalb Jerusalems• Aus Apg 9 und Gal 1,17 lässt sich schließen, dass es in Damaskus eine

Christengemeinde gegeben haben muss. >

• Über die Ursprünge der Gemeinde von Rom wissen wir nichts. Sie muss in den 40er Jahren schon bestanden haben (das Claudius-Edikt bezieht sich wohl auf einen Streit in der jüdischen Gemeinde um die Christusverkündigung). Paulus jedenfalls hat sie nicht gegründet. >

• Am bedeutendsten war neben der Urgemeinde von Jerusalem die Gemeinde von Antiochien in Syrien. >- Von ihr ging nach Apg 11,20 die Heidenmission aus.- Die „erste Missionsreise“ des Paulus mit Barnabas erfolgt im Auftrag

dieser Gemeinde (Apg 13f). - Sie sendet Barnabas und Paulus zum Apostelkonzil. Das Ergebnis wird

nach Apg 15,22-30 der antiochenischen Gemeinde in einem Brief mitgeteilt.

- Der wirkungsvollste Missionar des Urchristentums, Paulus, wurde in der Gemeinde von Antiochien geprägt.

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Die Quellenlage

PaulusbriefeAls Quellen für die Rekonstruktion der Biographie des Paulus sind an

erster Stelle die Paulusbriefe zu berücksichtigen, und zwar die sieben authentischen Briefe: 1Thess, 1Kor, 2Kor, Phil, Gal, Phlm, Röm.

Die übrigen Paulusbriefe sind keine Selbstzeugnisse und haben deshalb Quellenwert praktisch nur für die Wirkungsgeschichte des Paulus (Kol, Eph, 2Thess, 1/2Tim, Tit). Dasselbe gilt für das Phänomen nachpaulinischer Einträge in authentische Briefe.

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• Es gibt Widersprüche zwischen der Darstellung der Apg und dem pln Selbstzeugnis.

• Es gibt schwer erklärbare Leerstellen in der Apg: der Kampf um das gesetzesfreie Evangelium; Paulus als Briefschreiber; die je besondere Beziehung des Paulus zu den Gemeinden in Korinth und Philippi.

• Paulus gilt in der Apg nicht eigentlich als Apostel, obwohl Paulus die Legitimität seines Apostolates vehement verteidigt hat.

• Die Reden des Paulus in der Apg sind nicht geprägt von der Theologie des Paulus, wie sie durch die Briefe bezeugt ist.

• Die Apg verbindet Paulus mit einer presbyterianischen Gemeindeverfassung (20,17ff), die für eine spätere Zeit typisch ist.

• Rückschluss aus der literarhistorischen Beurteilung des LkEv: Wenn es in die 80er oder 90er des 1. Jh. gehört, kann die Apg nicht aus der Zeit des pln Wirkens stammen.

ApostelgeschichteDie Apg kann kritisch als Quelle ausgewertet werden. Von einem Augenzeugen der beschriebenen Ereignisse, einem Paulusschüler oder -begleiter, stammt sie nicht, denn:

Die Darstellung der Apg ist nicht historisch wertlos. Etliche Nachrichten über Paulus sind uns nur durch sie überliefert, z.B.: Herkunft aus Tarsus, Doppelname Saulus-Paulus, Beruf des Zeltmachers, Berufung vor Damaskus, sog. erste Missionsreise von Antiochia aus, der Prozess vor Gallio in Korinth.

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Der „vorchristliche“ Paulus I – Herkunft und Prägung

Herkunft aus Tarsus• Tarsus, nicht weit vom Mittelmeer am Fuß des Taurusgebirges gelegen (im

mittleren Süden der heutigen Türkei), war seit 66 vC Hauptstadt der römischen Provinz Kilikien.

• Aufgrund ihrer geographischen Lage hatte die Stadt enorme wirtschaftliche Bedeutung. – Sie lag an der Kreuzung mehrerer Verkehrswege (Zugang zum Mittelmeer durch den Fluss Kydnos, der ab Tarsus schiffbar war; Station an der Handelsstraße zu den Städten an der ägäischen Küste Kleinasiens. – Auch im Blick auf den Bodenertrag herrschten günstige Verhältnisse: Getreide, Trauben und Flachs konnten angebaut werden.

• In kultureller Hinsicht war Tarsus in der Vergangenheit ebenfalls bedeutsam, doch gibt es für die Zeit, die näher an Paulus heranführt, diesbezüglich auch negative Zeugnisse.

Insgesamt kann man Tarsus als einen „Mikrokosmos des hellenistischen Mittelmeerraumes“ bezeichnen (J. Becker).

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Der Pharisäer aus der Diaspora • „Diaspora“ bedeutet „Zerstreuung“ und bezeichnet in unserem Fall das

Phänomen, dass Juden nicht nur in dem von Gott geschenkten Land lebten, sondern zerstreut im ganzen römischen Reich (und darüber hinaus), besonders stark vertreten in Syrien und Ägypten. Das Judentum entwickelte in der Diaspora eine starke missionarische Kraft, sei es dass Heiden ganz übertraten („Proselyten“), sei es dass sie, um den harten sozialen Schnitt zu vermeiden, als „Gottesfürchtige“ im Umkreis der Synagoge (und z.T. auch als deren Förderer) lebten. Die Attraktivität des jüdischen Glaubens lag in der Verkündigung des einen

unsichtbaren, weltüberlegenen Gottes und den anspruchsvollen ethischen Geboten. Das Verhältnis zur Umwelt war aber nicht nur positiv bestimmt. Das Leben in eigenen Vierteln und rechtliche Privilegien konnten Feindseligkeiten der heidnischen Bewohner einer Stadt provozieren (vgl. z.B. FlavJos Ant XVI 2,3-5).

• Paulus selbst bezeugt, dass er Pharisäer war (Phil 3,5) und seinen jüdischen Glauben pharisäischer Prägung besonders ernst genommen hat (Gal 1,13f; Phil 3,6). Für ihn stand also die Tora, das mosaische Gesetz, im Zentrum der Frömmigkeit – einschließlich der Überlieferungen der Väter, die für die Pharisäer zur verbindlichen Tora-Tradition gehörten (s.a. Gal 1,14).

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• Wenn Paulus Pharisäer war, ist auch eine Ausbildung in Jerusalem wahrscheinlich. Denn ein Wirken der Pharisäer außerhalb Palästinas ist nicht bezeugt. Für einen Diasporajuden aus Tarsus kam für einen Aufenthalt im Heiligen Land wohl nur Jerusalem in Frage. Ob Paulus bei Gamaliel Tora gelernt hat, wie die Apg sagt (22,3; 26,4f), muss aber offen bleiben.

• Dass Paulus, wie für Pharisäer typisch, ein Handwerk erlernt hat, gibt die Apg genau an: er sei Zeltmacher gewesen (18,3). Paulus bestätigt, dass er sich seinen Lebensunterhalt durch handwerkliche Arbeit verdient hat (1Kor 4,12; 9,15; 2Kor 11,9; 1Thess 2,9). Da in Tarsus Leinen hergestellt und verarbeitet wurde (Material für Zelte und Abdeckungen), hat die Angabe der Apg große Wahrscheinlichkeit für sich.

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Hellenistischer Einfluss • Als Einwohner der Stadt Tarsus kam Paulus auch mit der hellenistischen Kultur

in Berührung. Auch wenn er kaum eine griechische Schule besucht haben dürfte, so war das Bildungswesen der Juden in der Diaspora sicher nicht unbeeinflusst von der griechischen Umwelt. – Am deutlichsten zeigt sich dieser Einfluss bei Paulus in der Sprache: Paulus schreibt griechisch, seine Bibel ist die Septuaginta (LXX). – Auch die Formulierung „Juden und Griechen“ für „Juden und Heiden“ zeigt die hellenistische Perspektive. – Paulus setzt außerdem Kunstmittel antiker Rhetorik und populäre Lehrformen ein (etwa die als fiktives Gespräch gestaltete Diatribe), – auch einzelne Metaphern und Vorstellungen knüpfen an Vorgaben aus der hellenistischen Umwelt an (z.B. Wettkampf in der Arena in 1Kor 9,24-27; Leib-Metapher in 1Kor 12,12-31).

• Das Ausmaß der griechischen Bildung wird heute kontrovers diskutiert. Eine Strömung möchte die Ausbildung in Jerusalem stärker gewichten und sieht das hellenistische Element als praktisch vernachlässigbar an.

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Sucht man die Spuren des Hellenismus nicht nur in der Vertrautheit mit gehobener Literatur oder den philosophischen Traditionen der damaligen Bildungsschicht, wird man das hellenistische Element bei Paulus nicht gering einstufen. In diesem Fall ist im Übrigen auch besser zu verstehen, dass das Wirkungsfeld des Paulus in der hellenistischen Welt lag und er mit der entsprechenden Prägung seiner Gemeinden gut umgehen konnte.

• Paulus war Stadtmensch. Dies bestätigen seine Wirkungsstätten, außerdem die von ihm verwendeten Metaphern, die anders als in der Jesusüberlieferung nicht am ländlichen Leben anknüpfen.

Römischer Bürger?• Nach der Apg hat Paulus das römische Bürgerrecht besessen (16,37; 23,27),

und zwar von Geburt an (22,28). • Bisweilen wird bezweifelt, dass dies die historischen Gegebenheiten trifft, weil

dazu eine Nähe zum römischen Staat vorausgesetzt sei, die für eine fromme jüdische Familie undenkbar sei. Ein Szenario ist aber möglich: Die Freilassung eines Sklaven durch einen römischen Bürger verschaffte dem Freigelassenen das Bürgerrecht.

• Für den Besitz des römischen Bürgerrechts spricht die Überstellung des Paulus nach Rom. Dass der Statthalter den vergleichsweise unbedeutenden Fall nach Rom verwiesen hat, erklärt sich am besten durch den Appell an den Kaiser.

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Der „vorchristliche“ Paulus II – Verfolger von Christen

Die Problematik der Darstellung der Apg

Die Darstellung in der Apg zeichnet sich durch folgende Inhalte aus:• Jerusalem: Paulus dringt nach der Steinigung des Stephanus in die Häuser von

Christen ein und verhaftet Männer und Frauen (8,3).• Damaskus: Paulus wütet mit „Drohung und Mord“ gegen die Christen,

ausgestattet mit Bevollmächtigungsschreiben durch die Hohenpriester in Jerusalem (9,1; s.a. 22,5).

• Darüber hinaus entsteht der Eindruck einer umfassenden Verfolgertätigkeit: in allen Synagogen, Verfolgung in Städte außerhalb des Landes (26,11).

Gegen diese Darstellung spricht:• Paulus war Gal 1,23 zufolge den Gemeinden Judäas persönlich unbekannt; das

ist schwer zu vereinbaren mit der geschilderten Verfolgertätigkeit.• Die Jurisdiktionsgewalt des Hohen Rates reichte nicht bis Damaskus; die

Bevollmächtigungsbriefe sind deshalb historisch fragwürdig.

So bleibt als gesichertes Datum die Verfolgertätigkeit in Damaskus, da sie auch durch Gal 1,17 nahegelegt wird.

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- nur hier war jüdisches Selbstverständnis so zentral getroffen, dass gewaltsame Verfolgung erklärlich ist.

- Paulus selbst legt diesen Zusammenhang nahe, wenn er Gesetzeseifer und Verfolgertätigkeit in einem Atemzug nennt (Phil 3,6; Gal 1,13f).

Der Grund für die Verfolgertätigkeit • Nicht ausreichend ist der Glaube an die Messianität Jesu, auch nicht der

Glaube an den gekreuzigten Messias. Darin lag kein Potential für einen gewaltsamen Konflikt.

• Es handelte sich um einen Konflikt um das Gesetz, denn:

Das Ausmaß der Verfolgertätigkeit Genauere Angaben lassen sich zu dieser Frage kaum treffen, jedoch haben die Maßnahmen des Verfolgers Paulus sicher auch Gewalt eingeschlossen, denn: - Paulus sieht diesen Punkt in seiner Vergangenheit durchaus als Makel in seiner Biographie; - ihn selber trafen als christlichen Missionar Gewaltmaßnahmen von jüdischer Seite (2Kor 11,24). Wie weit der Verfolger Paulus im Einzelnen ging, lässt sich aber aus den Quellen nicht mehr zuverlässig rekonstruieren.

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Die Wende: Berufung zum Apostel I - Darstellungen

Die Problematik der Darstellung der Apg • Die Apg erzählt die Lebenswende in Kap. 9 und lässt Paulus zweimal auf dieses

Ereignis zurückblicken (22,6-21; 26,13-18). • Zum Selbstzeugnis des Paulus bestehen unüberbrückbare Differenzen (keine

Begründung des Apostolats; Einweisung durch Hananias; Vision im Jerusalemer Tempel), weshalb eine historische Rückfrage sich nur an die Paulusbriefe halten kann.

1Kor 15,8-10; 9,1Paulus beschreibt hier seine Berufung als Ostererscheinung. >• Nicht im Rahmen eines biographischen Rückblicks spricht Paulus in 15,8-10 von

seiner Lebenswende, auch nicht primär zur Verteidigung seines Apostolates, sondern als Auftakt einer theologischen Argumentation (zur Auferstehung). Dass er sich unter die Erscheinungsempfänger einreiht, zeigt: Osterzeuge- und Apostelsein gehört für Paulus zusammen, und er beansprucht beides für sich.

• In 1Kor 9,1 verweist Paulus in apologetischem Zusammenhang darauf, dass er den Herrn gesehen habe und darin sein Apostolat begründet sei.

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Gal 1,15fHier spricht Paulus von der Offenbarung des Sohnes Gottes. >• Zwar skizziert Paulus seine Vergangenheit, die Hauptaussage liegt aber nicht auf

der Wende als solcher, sondern auf der Unabhängigkeit seines Apostolates. • Paulus beschreibt seine Berufung nach prophetischen Vorbildern (Jes 49,6; Jer

1,5). Vergleichbar sind zwei Momente: - betont ist die Initiative Gottes (s.a. Gal 1,1). - die Sendung zu den Heiden passt insofern zu den prophetischen Vorbildern, als auch dort der Horizont Israels überstiegen wird.

Phil 3,3-9Thema ist die Auswirkung der Christusbegegnung: die Umwertung des bisher

Geltenden. >• Was Paulus als Vorzug angesehen hat (3,5f), ist jetzt nur noch Dreck (3,8). War

bislang die Tora das Zentrum, so ist es nun Christus. „Damaskus“ war also für Paulus wesentlich christologisch bestimmt.

• Diese Umwertung des Lebens gilt nicht exklusiv für den Apostel, sondern beschreibt das Christwerden überhaupt. Deshalb bedient sich Paulus hier der wichtigsten Begriffe der Rechtfertigungstheologie.

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Die Wende: Berufung zum Apostel II - Auswertung

Paulus versteht das Damaskusgeschehen als Eingriff Gottes in sein Leben. Die Gnade Gottes hat aus dem Verfolger den Verkünder gemacht.

• Der Eingriff Gottes vermittelte eine neue Sicht auf Christus: Er gehört auf die Seite Gottes. • Mit der Wende verbindet sich die Berufung zum Apostel (der Völker). • Die Lebenswende des Paulus hat exemplarischen Charakter, wird transparent für das Christwerden allgemein.

Paulus bleibt so knapp, dass er uns nicht wirklich an das herankommen lässt, was ihm widerfahren ist. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass das „Damaskuserlebnis“ vorbereitet war durch die Erfahrung eines Ungenügens der pharisäischen Frömmigkeit.

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Biographische Angaben in Gal 1,13-2,14

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(1) Paulus lebst als gesetzestreuer Pharisäer – ohne Zeitangabe(2) Berufung, Aufenthalt in der Arabia und in Damaskus – ohne Zeitangabe(3) Erster Gang nach Jerusalem für zwei Wochen, rund 3 Jahre nach der

Berufung, dann Fortzug nach Syrien und Kilikien(4) Zweiter Gang nach Jerusalem zum Apostelkonzil rund 14 Jahre nach dem

ersten Besuch(5) Aufenthalt des Petrus in Antiochia – ohne Zeitangabe

Probleme• Angebrochene Jahre wurden in der Antike voll gezählt, „drei Jahre“ können z.B.

auch nur eineinhalb Jahre sein.• Die Zeitangaben sind nicht notwendig, wie oben, auf die Zeitpunkte zu

beziehen, also Berufung bei (3), erster Besuch bei (4). Denkbar wäre prinzipiell auch ein Bezug auf das Ende von Zeiträumen: Aufenthalt in der Arabia bei (3), in Syrien und Kilikien bei (4).

Aber:Da die Zeiträume nicht terminiert sind, wäre eine solche Information für die Adressaten wertlos. Der Bezug auf Zeitpunkte ist deshalb wahrscheinlicher.

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Das Apostelkonzil

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Die StreitfrageKönnen Heiden als Heiden in die Gemeinde aufgenommen werden, also ohne sie auf die jüdische Tora zu verpflichten? Die bereits geübte Praxis der Heidenmission soll geklärt werden.

Die Lösung nach Gal 2,1-10• Die Heidenmission wurde grundsätzlich bejaht, und zwar ohne Auflagen – die

Kollekte für Jerusalem ausgenommen (2,6.10). • Man einigte sich auf eine Aufteilung der Missionsgebiete: Paulus und Barnabas

sollten unter den Heiden missionieren, die Jerusalemer „Säulen“ dagegen unter den Juden (2,9).

Die Lösung nach Apg 15Die Heidenmission wurde grundsätzlich bejaht, aber mit Auflagen – die so genannten Jakobusklauseln (15,29): die missionierten Heiden sollten sich von vier Dingen enthalten: Blut, Ersticktes, Götzenopferfleisch, Unzucht. Es handelt sich um rituelle Mindestanforderungen, die das Zusammenleben von Juden- und Heidenchristen ermöglichen sollten. Historisch ist der Darstellung des Paulus der Vorzug zu geben.

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Der antiochenische Zwischenfall

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Die Streitfrage• Petrus hat (wie auch Barnabas) in der Gemeinde von Antiochia zunächst

Tischgemeinschaft mit den Heidenchristen gepflegt, diese aber aufgegeben, als er von „Leuten des Jakobus“ kritisiert wurde. Dagegen protestiert nun Paulus.

• Paulus berichtet den Vorfall in Gal 2,11-14, ohne den Ausgang mitzuteilen. Wahrscheinlich hat er in der Kontroverse den Kürzeren gezogen.

Die Bedeutung des Zwischenfalls • Er offenbarte, dass die Lösung des Apostelkonzils nicht genügte, weil nicht

geklärt war, wie Juden- und Heidenchristen in einer Gemeinde zusammenleben konnten.

• Möglicherweise gehören die Jakobusklauseln in die Nachgeschichte dieses Konflikts: Wenn die Heidenchristen diese rituellen Mindeststandards einhalten, ist den Judenchristen ein Zusammenleben mit ihnen möglich. Lukas hätte diese Lösung in Apg 15 gewissermaßen vordatiert auf das Apostelkonzil.

• Wahrscheinlich trennte sich Paulus nach dieser Kontroverse von der antiochenischen Gemeinde und begann seine selbständige Mission.

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„Zweite Missionsreise“

1Thess• Paulus schreibt aus Korinth an die Gemeinde von Thessalonich. • Er bezeugt einen Aufenthalt in Athen (3,1f).• Paulus sagt außerdem, dass er von Philippi nach Thessalonich kam (2,2). So

ergibt sich die Reiseroute Philippi – Thessalonich – Athen – Korinth.

Apg 16,11-18,17• Die Passage passt zur obigen Reiseroute (dazu erwähnt Lukas das Wirken

des Paulus in Beröa).• Die Europa-Mission ist nach der Trennung von Barnabas angesetzt (15,36-41

). • Vor dem Gang des Paulus nach Europa erzählt die Apg von einem Durchzug

des Paulus durch das galatische Land – aber ohne Bezug auf Gemeindegründungen (16,6).

• Der Aufenthalt in Korinth wird auf eineinhalb Jahre angesetzt (18,11).

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Es ergibt sich folgendes Bild: Nach dem „antiochenischen Zwischenfall“ bricht Paulus zu eigenständiger Mission auf und gründet Gemeinden in

Galatien (Kleinasien) / Philippi / Thessalonich / Korinth.Misserfolg hat Paulus in Athen. >

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Zur Datierung der „Europa-Mission“

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FrageHatte Paulus in Griechenland schon Gemeinden gegründet, ehe die Frage der Heidenmission auf dem Apostelkonzil verhandelt wurde?

Joachim Gnilka bejaht die Frage mit folgenden Gründen:• Die Darstellung der Apg entspringt dem Anliegen des Lukas. Er wollte Paulus

erst zur Mission in Europa aufbrechen lassen, nachdem die Apostel in Jerusalem ihr Placet gegeben hatten.Aber: Dann hätte das Apostelkonzil überhaupt vor der Heidenmission eingeordnet werden müssen. Ein spezieller Bezug des Konzils zur Europa-Mission zeigt sich nicht in Apg 15.

• Es ist unwahrscheinlich, dass Paulus den Schritt nach Europa so spät getan haben sollte.Aber: Auskünfte über das Selbstverständnis des Paulus als „weltweit“ wirkender Missionar haben wir nur aus der Zeit nach dem Apostelkonzil. Und: Wenn Paulus schon Anfang der 40er Jahre nach Griechenland ging, warum drang er dann erst Ende der 50er Jahre weiter nach Westen vor?

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• Die starke Position des Paulus auf dem Apostelkonzil ist (ebenso wie die Kollekte) besser verständlich, wenn Paulus auf Gemeindegründungen in wichtigen griechischen Städten verweisen kann.Aber: Die Frage, wo die heidenchristlichen Gemeinden bestehen, spielt keine Rolle; die Kollekte kann auch als vorausweisende Maßnahme verstanden werden.

• Die Reiseroute in Apg 18,18-23 (Korinth, Ephesus, Caesarea, Jerusalem) könnte der Zug zum Apostelkonzil sein.Aber: Der entscheidende Sachverhalt muss hier vorausgesetzt werden.

Gegen eine Frühansetzung der pln Europa-Mission spricht die Verbindung des Paulus mit Barnabas auf dem Apostelkonzil (Gal 2,1). Barnabas ist kein Mitarbeiter bei der Europa-Mission.

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„Dritte Missionsreise“ 1Kor • Paulus schreibt aus Ephesus, wo er eine Gefahr überstanden (15,32) und

missionarisch gewirkt hat (evtl. auch im Umland). • Reisepläne: Paulus will bis Pfingsten in Ephesus bleiben (16,8) und dann

über Makedonien nach Korinth reisen, um dort zu überwintern (16,5f).

Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

• Die Pläne des Paulus haben sich nicht wie gedacht verwirklichen lassen. Das Verhältnis des Paulus zur Gemeinde hat sich entscheidend verschlechtert. Er schreibt, er sei betrübt worden und habe unter Tränen einen Brief abgefasst (2,1-4).

• Zwischen 1Kor und 2Kor 10-13 muss Paulus in Korinth gewesen sein, denn er kündigt seinen dritten Besuch an (12,14; 13,1). 1Kor setzt aber nur den Gründungsbesuch voraus.

• Dieser zweite Aufenthalt ist mit der geschehenen Betrübnis zu verbinden (Rückblick in 2,1-11), denn Paulus fürchtet, bei seinem dritten Besuch noch einmal gedemütigt zu werden (12,21).

2Kor 2Kor ist wahrscheinlich aus zwei Briefen zusammengesetzt: „Tränenbrief“ (Kapp. 10-13) und „Versöhnungsbrief“ (Kapp. 1-9).

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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

• Der „Tränenbrief“ (Kapp. 10-13) ist dann wohl die Reaktion auf dieses Scheitern beim Zwischenbesuch: Paulus setzt sich mit Gegnern auseinander, die in der Gemeinde von Korinth mit Erfolg gegen ihn aufgetreten sind.

• In 2Kor 1-9 wird dagegen ein sehr versöhnlicher Ton angeschlagen: durch den Einsatz von Titus ist der Streit bereinigt worden. Dieser „Versöhnungsbrief“ wurde in Makedonien geschrieben; Paulus hat vor, nach Korinth zu kommen.

• Paulus blickt außerdem auf eine Todesgefahr in der Provinz Asia zurück (1,8f). Dies dürfte die Gefangenschaft in Ephesus sein, aus der wohl auch Phil und Phlm geschrieben sind.

Die Apg kann diesen Zeitraum historisch kaum erhellen. Sie bestätigt den Aufenthalt in Ephesus (nicht die Gefangenschaft; Kap. 19) und den Aufbruch von Ephesus über Makedonien nach Griechenland (20,1-3).

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Paulus und die Gemeinde von Korinth - Übersicht

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Ephesus

2 … an Paulus. Der schreibt daraufhin den 1Kor und kündigt seinen Besuch an.

4 … Paulus hört davon, …

6… nach Ephesus, schreibt dort den Tränenbrief (2Kor 10-13), …

Korinth1 Anfragen aus derGemeinde nach Ephesus …

3 Gegner des Paulus haben in Korinth Erfolg, …

5 … reist nach Korinth, wird dort abergedemütigt und fährt …

7 … den Titus überbringt und damit den Streit im Sinn des Paulus bereinigt.

8 Paulus reist nach überstandener Todesgefahr überTroas nach Makedonien, trifft Titus mit guten Nach-richten aus Korinth und schreibt den „Versöhnungsbrief“ (2Kor 1-9) und …

9 … zieht weiter nach Korinth. Dort schreibt er den Röm. In diesem Brief blickt er voraus auf die Überbringung der Kollekte nach Jerusalem und seine geplante Spanien-Mission.

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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

Tiber äs us G

walt, das 26. Mal V aterlan

lan der S Delph esonne lich n Kul es Apol beobachtet ... jetzt gesprochen wird und jene Strei der rger ünius Gallio mein F un onsul ...

Die Gallio-Inschrift

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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

Tiberius Claudius Cäsar Augustus Germanicus, Pontifex Maximus, 12. Jahr seiner tribunizischen Ge walt, das 26. Mal Imperator, Vater des Vaterlandes, Konsul zum fünften Mal, Censor, grüßt die Stadt Delphi.Schon lange der Stadt Delphi wohlgesonnen zu sein, ... schätze ich mich glück-lich und ich habe den Kult des pythischen Apollo beobachtet ... was jetzt gesprochen wird und jene Streitfälle der Bürger über die Lucius Ju-nius Gallio mein Freund und Prokonsul von Achäa ...

Diese Inschrift ist der entscheidende Angelpunkt für die absolute Chronologie, da mit ihrer Hilfe der Aufenthalt des Paulus in Korinth datiert werden kann: ca. 50-51.

Die Gallio-Inschrift

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Lebensdaten des Paulus?? (zw. 1 und 10) Geburt in Tarsus 32 Paulus als Christenverfolger 32 Berufung 32-34 in der Arabia, Rückkehr nach Damaskus 34/35 Jerusalembesuch: bei Petrus 34/35 in Syrien und Kilikien vor 48 Mission mit Barnabas (sog. 1. Missionsreise; Apg 13f >), einige Zeit davor:

Paulus in der Gemeinde von Antiochia 48 Apostelkonzil, Paulus zum 2. Mal in Jerusalem 48/49 Antiochenischer Zwischenfall ab 49 Paulus auf selbständiger Mission (sog. 2. Missionsreise mit

Gemeindegründungen in Galatien, Philippi, Thessalonich und Korinth, Misserfolg in Athen)

50-51 Aufenthalt in Korinth, Abfassung von 1Thess, Paulus vor Gallio >51/52-55/56 Aufenthalt in Ephesus und der Asia, vielleicht mit Besuch der Gemeinden in

Galatien zu Beginn, Gefahr vor Abfassung des 1Kor (s. 15,32), Abfassung des 1Kor, Zwischenbesuch in Korinth, „Tränenbrief“ (2Kor 10-13), Gefangenschaft mit Todesgefahr, Abfassung von Phlm und dem Hauptteil von Phil; evtl. auch Gal in Ephesus verfasst

55/56 Reise über Troas und Makedonien nach Korinth, evtl. mit Abfassung des Gal, sicher des „Versöhnungsbriefes“ (2Kor 1-9)

56/57 Aufenthalt in Korinth, Abfassung des Röm 57? Überbringung der Kollekte nach Jerusalem >57-59? Gefangennahme in Jerusalem und Haft in Cäsarea 59/60? Überbringung nach Rom >60ff? Märtyrertod in Rom

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Paulinische Chronologie______________________________|________________________|_______________________________1 32 48/49

60

Paulus als Diasporajude, Bekehrung/Berufung Paulus auf selbständiger Mission (sog.

evtl. Gesetzesstudium in Jerusalem, in der Arabia, Rückkehr 2. Missionsreise mit Gemeindegründungen in

Christenverfolger nach Damaskus, Galatien, Philippi, Thessalonich und Korinth,

in Jerusalem bei Petrus Misserfolg in Athen)in Syrien und Kilikien Aufenthalt in Korinth, Abfassung des

1Thess,1. Missionsreise (Apg 13f) Aufenthalt in Ephesus und der Asia,

vielleicht einige Zeit davor: Paulus in mit Besuch der Gemeinden in

Galatien zu der Gemeinde von Antiochia, Beginn, Gefahr vor Abfassung des

1Kor Apostelkonzil, Paulus zum (s. 15,32), Abfassung des 1Kor, dem

Zwi- 2. Mal in Jerusalem, schenbesuch in Korinth, dem

„Tränenbrief“ „Antiochenischer Zwischenfall“ (2Kor 10-13), Gefangenschaft

mit Todesgefahr, Abfassung des Phlm und Hauptteils des Phil; evtl. auch Gal in Ephesus verfasst. Reise über Troas und Makedonien nach Korinth, evtl. mit Abfassung des Gal, sicher des „Versöhnungs- briefes“ (2Kor 10-13).

Aufenthalt in Korinth, Abfassung des Röm Überbringung der Kollekte nach

Jerusalem Gefangennahme in Jerusalem und Haft

in CaesareaÜberbringung nach RomMärtyrertod in Rom

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(1) Briefanfang Präskript a) Griechisches Formular

• Angabe des Absenders (superscriptio) • Angabe des Adressaten (adscriptio) • Gruß (salutatio, als Infinitiv)

b) Orientalisches Formular • Angabe des Adressaten (an B) oder des Absenders und Adressaten (von A

an B) • Friedenswunsch

Proömium • Übergangswendungen zum Briefkorpus, z.B. Wohlergehenswunsch • Dank an die Götter • Versicherung des Gedenkens und der Fürbitte (Proskynema-Formel) • Äußerung der Freude über einen erhaltenen Brief

Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

Gestaltungsmerkmale antiker Briefe

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(3) Briefschluss Epilog

Übergang vom Hauptteil des Briefes in den Schluss, z.B. Schlussmahnungen, Besuchswunsch

Postskript• Grüße (Ich grüße dich …/ Grüße du …/ Es grüßt dich auch …)• Wohlergehenswunsch (z.B.: leb wohl, lebt wohl)

Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

(2) BriefkorpusNicht so formalisiert wie Anfang und Schluss; es gibt aber brieftypische

Wendungen, z.B.: • aphorme-Formel (Gelegenheit zur Übersendung des Briefes als Grund für seine

Abfassung)• Disclosure-Formel („Ich möchte, dass du weißt …“ o.ä.)• Anwesenheits-Topos (durch den Brief ist man beim fernen Adressaten

anwesend)• stereotype Formulierungen (z.B. „wenn es dir gut scheint“, „du wirst gut daran

tun“, „vor allem aber“)

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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

Zur Klassifikation antiker BriefeNichtliterarische Briefe • Hier handelt es sich um „reine Gebrauchsliteratur“ (H.-J. Klauck), deshalb auch meist auf Papyrus im Original erhalten. •Man kann diese Gruppe weiter untergliedern, etwa in amtliche, Privat- und Geschäftsbriefe oder nach dem Muster so genannter Briefsteller: In ihnen werden verschiedene Brieftypen unterschieden und jeweils Beispielbriefe geboten (z.B. Freundschaftsbrief, Empfehlungsbrief [s.a. 2Kor 3,1], Trostbrief, Scheltbrief).

Diplomatische SchreibenMan kann diplomatische Schreiben von amtlichen Briefen durch das Kriterium der Veröffentlichung unterscheiden. Sie liegen dann vor, wenn für ihre Veröffentlichung und damit für ihre Bewahrung gesorgt wurde (Inschriften oder Archivierung, die durch Zitate bei späteren Historikern erkennbar ist).

Literarische BriefeSie sind von vornherein auf Veröffentlichung angelegt und meist nur in Abschriften und Sammlungen zugänglich, seien sie vom Autor selbst herausgegeben oder posthum veröffentlicht (poetische Briefe, philosophische Lehrschriften, Briefeinlagen in Romanen, Briefromane, Widmungsbriefe).

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Zum Formular paulinischer Briefe (1) BriefanfangPräskript Paulus bietet eine Mischform aus griechischem und orientalischem Präskript: • Absender im Nominativ zu Beginn, Adressatenangabe im Dativ. • Neueinsatz mit dem Gnaden- und Friedenswunsch (nicht die Infinitiv-Form).

superscriptio: Paulus und Mitarbeiter als Absender; gewöhnlich Paulus als Apostel bezeichnet (Röm 1,1; Phil 1,1 als „Knecht Christi“; nur in 1Thess 1,1 keine Titulierung); die Mitarbeiter werden als „Brüder“ bezeichnet (außer Phil 1,1: „Knecht Christi“).

adscriptio: Adressaten sind Gemeinden, meist bezeichnet als ekklesiai (auch im Phlm als Mitadressat), andere Umschreibungen nur im Röm und im Phil („Heilige in Christus Jesus“; „Geliebte Gottes, berufene Heilige“); Funktionsträger nur im Phil als Mitadressaten („Episkopen und Diakone“)

salutatio: „Gnade euch und Friede von Gott unserem Vater und dem Herrn Jesus Christus“ (nur 1Thess 1,1 bietet eine Kurzform)

Proömium Paulus gestaltet es gewöhnlich als Danksagung an Gott; Grund des Dankes ist die Gemeinde. Nur im 2Kor findet sich eine Eulogie („Gepriesen sei Gott …“). Funktion des Proömiums:• Wohlwollen der Leser gewinnen (Captatio benevolentiae )• Vorbereitung des Inhalts und Anliegens des Briefes

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Epilog

Wiederkehrende Elemente• allgemeine Mahnungen (z.B. 1Thess 5,16: „Freut euch alle Zeit!“; 1Kor

16,13)• Ausblick auf einen Besuch (z.B. Phlm 22: „Zugleich aber bereite mir auch

eine Herberge! Denn ich hoffe, daß ich durch eure Gebete euch werde geschenkt werden.“)

• fürbittender Segenswunsch (z.B. 1Thess 5,23: „Er selbst aber, der Gott des Friedens, heilige euch völlig; und vollständig möge euer Geist und

Seele und Leib untadelig bewahrt werden bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus!“ ; Röm 15,33)

Postskript• Schlussgrüße (z.B. 1Thess 5,26: „Grüßt alle Brüder mit heiligem Kuss!“ ;

Phil 4,21a; Röm 16,3-15)• Segenswunsch, z.B.: „Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei mit euch“

(z.B. 1Thess 5,28; 1Kor 16,23)

(2) BriefschlussDer Briefschluss ist nicht so streng formalisiert wie die Brieferöffnung. Vor allem der Übergang zum Schlussteil lässt sich häufig nicht eindeutig bestimmen.

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Die Sammlung der Paulusbriefe• Ursprünglich waren die Paulusbriefe Einzelschreiben an bestimmte

Gemeinden, die aber im Lauf der Zeit gesammelt und zu einem Briefkorpus vereinigt wurden (13 oder 14 Briefe, je nachdem ob man den Hebr einbezieht).

• Der Weg zu dieser Sammlung kann nicht mehr im Einzelnen erhellt werden, doch lassen sich Indizien benennen, die diese Entwicklung plausibel erscheinen lassen. - Paulus selbst rechnete mit der Weitergabe seiner Briefe, wenn er

einen weiteren Adressatenkreis anschrieb (Gal 1,2; 2Kor 1,1). - Kol 4,16 zeigt, dass in paulinischen Gemeinden Paulusbriefe

ausgetauscht wurden. Darauf deutet auch die Benutzung mehrerer Paulusbriefe durch die Verfasser der Schreiben, die unter dem Namen des Paulus nach dessen Tod entstanden sind.

- Der 1. Clemensbrief (Ende der 90er Jahre in Rom geschrieben), verwendet in einem Brief an die Gemeinde von Korinth zum mindesten den 1Kor, vielleicht noch weitere Briefe. 2Petr 3,15f (um 120) spricht von „allen Briefen“ des Paulus, setzt also deutlich eine Sammlung voraus. • Wahrscheinlich bildeten sich zunächst „lokale Kleinsammlungen“ (U.

Schnelle), aus denen größere Einheiten erstellt wurden, denn: die frühen Kanonverzeichnisse kennen kein festes Anordnungsprinzip. Dass Paulus selbst für die erste Sammlung seiner Briefe gesorgt habe (so D. Trobisch), hat kaum Zustimmung gefunden.

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Geänderte geschichtliche SituationBeispiel Pastoralbriefe:• Gemeindeordnung: Ämterordnung in den Past; charismatische Struktur bei Paulus.• Gegnerische Positionen: Eine judenchristlich bestimmte Frühform der Gnosis passt

nicht in die Zeit des Paulus.• Biographische Angaben zu Paulus scheinen z.T. unvereinbar mit den bekannten

Lebensdaten.

Unterschiede in der TheologieBeispiel Kolosserbrief:• Die Christologie wird in kosmischer Bedeutung entfaltet (2,9f).• In der Ekklesiologie zeigt sich eine andere Ausrichtung der Leib-Christi-Vorstellung

mit der Bezeichnung Christi als des Hauptes. • Eschatologie: Die Hoffnung richtet sich räumlich nach oben, nicht zeitlich in die

Zukunft; die Glaubenden sind durch die Taufe mit Christus gestorben und auferweckt (anders: Röm 6,4f).

Merkmale pseudepigraphischer Paulus-Briefe

Unter Pseudepigraphie versteht man die fälschliche Zuschreibung eines literarischen Werkes an eine bestimmte Person, der gewöhnlich besondere Autorität zukommt. Folgende Merkmale können auf solche Abfassungsverhältnisse deuten:

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Unterschiede in Sprache und Stil

Beispiel Epheserbrief; Pastoralbriefe:

• Begriffe, die in den unumstritten echten Paulusbriefen nicht erscheinen, prägen die Theologie des Eph (z.B. geistlicher Segen, Nachlass der Übertretungen, der Vater der Herrlichkeit).

• Begriffe erhalten einen anderen Sinn als in den unumstritten echten Paulusbriefen (etwa „Glaube“ in den Pastoralbriefen).

• Der Stil der Auseinandersetzung mit Gegnern ist in den Pastoralbriefen anders (scharfe Abgrenzung, nicht inhaltliche Argumentation).

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Bewertung der Pseudepigraphie I - HintergründeWarum entstanden pseudepigraphische Briefe?

Die ntl Pseudepigraphen sind entstanden in einer „Epoche des Umbruchs und der Neuorientierung“ (U. Schnelle): die Gründungsgeneration war gestorben, feste Strukturen waren noch nicht entwickelt; neue Fragen kamen auf, die von den überkommenen Traditionen her nicht zu beantworten waren (Loslösung vom Judentum, Parusieverzögerung, Verfolgungen, Streit um die Lehre).

In dieser Situation der Autoritätskrise waren nur die Größen der Anfangszeit unumstritten. Im Hintergrund steht ein Verständnis von Wahrheit, nach dem Wahrheit mit Alter verbunden ist. Die Vergangenheit wird begriffen als „normative Vergangenheit“ (N. Brox). Im frühen Christentum kommen als Ursprungsgrößen nur die Apostel in Frage. So soll die Pseudepigraphie das gegenwärtig als wahr Erkannte, um dessen Relevanz zu sichern, als Wahrheit des Ursprungs erscheinen lassen. Im Blick auf das Corpus Paulinum könnten zwei Faktoren das Aufkommen der

Pseudepigraphie begünstigt haben: (1) Der brieftheoretische Grundgedanke, dass der räumlich getrennte Partner

durch den Brief anwesend ist, musste nur auf die zeitliche Dimension übertragen werden.

(2) Dass Mitarbeiter des Paulus des Paulus als Mitabsender seiner Briefe fungierten, konnte die Idee bestärken, in seinem Namen Briefe zu schreiben.

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Bewertung der Pseudepigraphie II – moralische DimensionZur moralischen Rechtfertigung der Pseudepigraphie

• Die Fälschung war in der Antike als literarisches Mittel verbreitet, aber keineswegs problemlos akzeptiert.

• In der Alten Kirche wurde über die Rechtfertigung von Pseudepigraphie nicht debattiert. Weder pseudepigraph schreibende Autoren noch sonst jemand hatte ein Interesse an einer solchen Diskussion.

• Nur in einem Fall gibt ein altkirchlicher Autor unmittelbar über seine Motive zur Verwendung eines falschen Namens Auskunft: Salvian von Marseille (5. Jh.). - Pseudepigraphe Abfassung streitet er ab: Es sei ihm nicht darum gegangen,

sein unter dem Namen „Timotheus“ geschriebenes Werk dem Paulusschüler zuzuschreiben; vielmehr habe er darauf angespielt, die Bücher zur Ehre Gottes geschrieben zu haben (time = Ehre; theos = Gott).

- Das entscheidende Motiv für die Verwendung des falschen Namens ist die literarische Wirkung: Ein unbekannter Autor wird nicht gelesen.

- Salvian stellt sich als „Skrupulant der Wahrhaftigkeit“ dar (N. Brox) – möglicherweise auch, weil er unter Rechtfertigungsdruck stand. Immerhin gibt er einen Ansatzpunkt für das Urteil, ein im Geist eines anderen geschriebenes Werk könne diesem zugeschrieben werden (ausdrücklich sagt er das aber nicht).

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• Es gab in der patristischen Tradition die (umstrittene) Überzeugung, Lüge und Täuschung könne gerechtfertigt sein, wenn dies zum Heil der Getäuschten dient (ansetzend an der „Medizinerlüge“ Platons und an biblischen Beispielen).

Dieser Gedanke ist auf die Pseudepigraphie nicht ausdrücklich angewendet worden. Doch könnte er den Schlüssel für die Frage liefern, wie ein pseudepigraph schreibender Autor, der täuschen wollte, sein Unternehmen rechtfertigen konnte (N. Brox).

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1. Thessalonicherbrief I

VerfasserDie Abfassung durch Paulus ist unbestritten.

Zeit und Ort der AbfassungDer Abfassungsort ist im Brief nicht genannt, doch gibt es Hinweise auf Korinth:• Die Mitabsender Silvanus und Timotheus sind nach Apg 18,5 mit Paulus in

Korinth zusammengetroffen. • Auch die sonstigen Angaben der Apg zum Korinthaufenthalt des Paulus auf der

zweiten Missionsreise lassen sich mit dem 1Thess verbinden (Reisestation Athen [1Thess 3,1]; Gründung der Gemeinde nicht lange vor Abfassung des Briefes; Reise von Philippi nach Thessalonich [2,2]).

• Notiz über Achaia in 1Thess 1,7. Aus der Zuordnung zur „zweiten Missionsreise“ folgt: 1Thess ist im Jahr 50

geschrieben.

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1. Thessalonicherbrief II

Adressaten • Thessalonich, Hauptstadt der Provinz Makedonien, hatte große wirtschaftliche

Bedeutung. Verschiedene Kultgottheiten sind belegt, die Existenz einer Synagoge ist wahrscheinlich.

• Die Gemeinde bestand überwiegend aus Heidenchristen (1,9; 2,14). • Paulus bezeugt Bedrängnisse, ohne sie näher auszuführen (1,6), wahrscheinlich

also nicht Verfolgungen, sondern eher Schikanen und Diffamierungen. Die Perspektive von innen und außen lässt auch die Aussage in 4,12 erkennen.

• Paulus ist mit dem Zustand der Gemeinde sehr zufrieden. Deshalb ist das Motiv des Dankes stark akzentuiert. Außerdem erwähnt er ausdrücklich, dass Timotheus mit guten Nachrichten aus der Gemeinde zurückgekehrt ist.

Anlass und Zweck• Paulus drückt seine Freude über die guten Nachrichten aus der Gemeinde aus.

Der Brief ist, im Sinne antiker Brieftheorie, Ersatz für die persönliche Anwesenheit.

• Außerdem antwortet Paulus auf eine aufgebrochene Frage: das Geschick der verstorbenen Gläubigen.

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1. Thessalonicherbrief III: Aufbau und Inhalt

Briefanfang 1,1-101,1 Präskript 1,2-10 Proömium

Briefkorpus 2,1-5,22

Der Apostel und die Gemeinde: 2,1-3,13

2,1-12 Selbstempfehlung des Apostels2,13-3,13 Besuchswünsche, Sendung und Rückkehr des

TimotheusWeisung und Belehrung zum Leben vor dem Ende: 4,1-5,11

4,1-12 Lebensführung in Übereinstimmung mit dem Willen Gottes

4,13-18 Die Verstorbenen und die Parusie Christi5,1-11 Leben angesichts des Endes

Allgemeinere Mahnungen: 5,12-22

Briefschluss 5,23-285,23f Epilog: fürsprechendes Gebet 5,25-28 Postskript

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1. Thessalonicherbrief IV - EinheitlichkeitBriefteilungshypothesenMeist wird der 1Thess als einheitliches Schreiben beurteilt. Vertreter von Teilungshypothesen verweisen vor allem auf zwei Punkte:

(1) Doppelung von brieftypischen Merkmalen: – Nach dem Proömium in 1,2-10 („Wir danken Gott allezeit ...“ erscheint das Motiv des Dankes wiederum in 2,13 („Und deshalb auch danken wir Gott unablässig ...“).

Aber: Das Motiv des Dankes erscheint auch in 3,9, muss also kein Hinweis auf ein zweites Proömium sein, sondern ist dem inhaltlichen

Schwerpunkt des Briefes geschuldet. – In 3,11-13 begegnet (wie in 5,23) ein fürbittender Gebetswunsch; ähnliche Schlusswendungen auch in Röm 15,33; 16,20; Phil 4,19.

Zwar eine bedenkenswerte Beobachtung, aber keine zwingende. Ein solcher Gebetswunsch kann auch an anderen Stellen erscheinen (Röm 15,5; etwas anders Phil 1,9-11).

(2) Doppelung von Briefsituationen: In 2,17-3,5 ist Paulus von der Gemeinde getrennt und beunruhigt, in 3,6 dagegen ist Paulus getröstet angesichts der guten Nachrichten aus Thessalonich.

Aber: Die Passage 2,17-3,5 ist auch als Rückblick verständlich.

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Nachpaulinische Einschübe?• 1Thess 2,14-16 wird aus sprachlichen und inhaltlichen Gründen bisweilen

für unpaulinisch gehalten. Aber:

– Sprachliche Besonderheiten könnten auf eine Vorlage zurückgehen (s. Mt 23,29-38par).

– Der inhaltliche Widerspruch zu Röm 11 kann durch unterschiedliche Briefsituationen erklärt werden. Im 1Thess stehen konkrete

Erfahrungen bei der Missionsverkündigung im Hintergrund, im Röm denkt Paulus über die heilsgeschichtliche Stellung Israels nach.

• G. Friedrich erkennt in 5,1-11 (Ungewissheit des Endes) einen Widerspruch zu 4,13-18 (Naherwartung). Aber:

5,1-11 betont die Plötzlichkeit der Parusie, und dies lässt sich auch mit der Naherwartung verbinden.

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1. Thessalonicherbrief V – Themen

Die Wiederkunft Christi• Der Brief ist von endzeitlicher Grundstimmung geprägt: Viermal

findet sich der Begriff der „Parusie“ (2,19; 3,13; 4,15; 5,23), einmal die Wendung „Tag des Herrn“ (5,2). Schon das Proömium nennt das Thema (1,10).

• Der Inhalt des zweiten Hauptteils ist wesentlich bestimmt von der Perspektive der endzeitlichen Vollendung. Paulus wehrt die Befürchtung ab, die Verstorbenen hätten nicht voll Anteil an der Rettung durch Christus (4,13-18). Ziel des Endgeschehens ist die Gemeinschaft mit dem Herrn, und die ist für lebende und verstorbene Glaubende eröffnet.

• Zwar nimmt Paulus bei der Darstellung der Wiederkunft Christi apokalyptische Elemente auf (Auftreten eines Engels, Trompete Gottes), die Vorstellung endzeitlicher Katastrophen bietet er aber nicht. Das endzeitliche Szenario ist als „Wort des Herrn“ ausgeführt. Eine Entsprechung in der Jesustradition lässt sich aber nicht finden.

• Klar bezeugt ist die Perspektive der Naherwartung: Paulus rechnet sich zu denen, die die Parusie erleben.

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Einleitung in das Neue Testament IPaulus und seine Briefe

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Mahnungen • Sie stehen durch die starke Betonung der Wiederkunft Christi

unter endzeitlichem Vorzeichen: Dies gilt einmal für die Ausführungen, die auf das Szenario der Parusie folgen, sei es allgemein (5,1-11) oder in etwas konkreteren Aussagen (5,12-22).

• Auch die voranstehenden Mahnungen (4,1-12) sind davon betroffen, da der endzeitliche Horizont schon zuvor deutlich wird (s.o.).

Selbstverständnis des Paulus als Apostel • Paulus verkündet nicht Menschenwort, sondern Wort Gottes (

2,13). • Sein Wirken ist ausgerichtet auf die Gründung von Gemeinden:

Ohne Gemeinde würde er mit leeren Händen vor seinem Auftraggeber stehen (2,19f).