Einstein, Albert & Infeld, Leopold - Die Evolution Der Physik

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Albert Einstein & Leopold Infeld

Die Evolution der Physik

Albert Einstein: Leben und Werk

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Der Aufstieg des mechanistischen Denkens

Ein Gleichnis

Man könnte sich einen Detektivroman vorstellen, eineArt Urbild dieser Literaturgattung, der alle Hauptindi-zien in so klarer Form enthält, daß der Leser gar nichtumhin kann, sich seine eigene Theorie über den ge-schilderten Kriminalfall zurechtzulegen. Verfolgt erbei der Lektüre eines solchen Buches den Ablauf derHandlung nur immer mit der nötigen Aufmerksam-keit, so findet er die vollständige Auflösung ganz al-lein, und zwar unmittelbar bevor sie der Autor selbstam Schluß des Buches preisgibt; und diese Auflösungenttäuscht nicht einmal, was man bei minder gutenKriminalgeschichten oft nicht sagen kann, ja, sie wirdsogar gerade in dem Moment offenbar, wo er mitihrem Erscheinen rechnet.

Können wir den Leser eines solchen Romans mitden Naturwissenschaftlern vergleichen, die nun schondurch Generationen und Generationen unablässignach einer Deutung der Mysterien suchen, die imBuche der Natur beschlossen sind? Nun, der Ver-gleich hinkt ein wenig, und wir müssen ihn später fal-lenlassen, doch ist trotzdem etwas Wahres daran, einEtwas, das sich vielleicht noch ausbauen und modifi-

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zieren läßt, bis es dem Bemühen der Wissenschaft umeine Aufklärung der Weltgeheimnisse gerecht wird.

Noch ist das große Rätsel ungelöst. Wir könnennicht einmal mit Sicherheit sagen, daß es eine letzteLösung dafür gibt. Die Lektüre im Buch der Naturhat uns bereits viel gegeben, so etwa die Anfangs-gründe der Sprache, in der die Natur sich uns mitteilt.Sie hat uns ferner in den Stand gesetzt, viele Finger-zeige richtig zu verstehen, und ist den Wissenschaft-lern schließlich auf ihrem häufig dornenvollen Wegeine stete Quelle der Freude und Anregung gewesen.Wir sind uns darüber klar, daß wir ungeachtet all derBände, die wir schon gelesen, deren Inhalt wir unsschon zu eigen gemacht haben, noch immer von einerletzten Lösung weit entfernt sind, sofern es so etwasüberhaupt gibt. Haben wir eine Etappe erreicht, su-chen wir immer wieder nach Erklärungen, die sich mitden bereits früher gefundenen Anhaltspunkten verein-baren lassen. Viele Gesetzmäßigkeiten konnte manmit versuchsweise akzeptierten Theorien deuten, dochist noch keine Lösung vorgebracht worden, die allenbekannten Tatsachen Rechnung trägt. Sehr oft schonhat sich eine scheinbar vollendete Lehre dann später,bei näherem Zusehen, als unzulänglich erwiesen.Immer wieder werden neue Gesetze bekannt, die derTheorie zuwiderlaufen oder durch sie unerklärt blei-ben. Je weiter wir in das große Buch eindringen, um

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so besser lernen wir seinen vollendeten Aufbau wür-digen, obwohl eine restlose Aufklärung aller Geheim-nisse sich uns in dem Maße, wie wir vorrückten, wie-der zu entziehen scheint.

In fast jedem Kriminalroman, seit den wunderbarenGeschichten eines Arthur Conan Doyle, kommt ein-mal der Moment, wo der große Detektiv das ganzeTatsachenmaterial gesammelt hat, das er für sein Pro-blem oder zumindest für eine bestimmte Phase seinerUntersuchung braucht. Dieses Material sieht oft rechtverworren, unzusammenhängend und beziehungslosaus. Der Beamte erfaßt jedoch sofort, daß vorderhandkeine weitere Untersuchung notwendig ist und daß erauch durch bloßes Nachdenken eine sinnvolle Ord-nung in das gesammelte Tatsachenmaterial bringenkann. Er fängt also an, Geige zu spielen, oder rekeltsich Pfeife rauchend in seinem Lehnstuhl – und aufeinmal, man höre und staune, hat er es wahrhaftigheraus! Er vermag nicht nur die bereits vorhandenenIndizien zu deuten, sondern er weiß plötzlich sogarüber bestimmte andere Vorkommnisse Bescheid. Daer nun genau im Bilde ist, wo er suchen muß, geht erdann, wenn er Lust hat, vielleicht noch dazu über,eine weitere Bestätigung für seine Theorie beizubrin-gen.

Der Wissenschaftler, der – wenn es uns gestattet

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ist, diesen oft gebrauchten Vergleich noch einmal her-anzuziehen – das Buch der Natur studiert, muß dieLösung ganz allein herausfinden; denn er kann nichtvorwitzig auf den letzten Seiten des Buches nach-schauen, wie es ungeduldige Leser von Romanen jaoft tun. Er ist gewissermaßen Detektiv und Leser ineiner Person und bemüht sich, die Zusammenhängezwischen bestimmten Ereignissen und ihrem mannig-fachen Drum und Dran zu klären. Der Wissenschaft-ler muß, will er auch nur zu einer Teillösung gelan-gen, die vorhandenen ungeordneten Tatbestände sam-meln, zu einem zusammenhängenden Ganzen ver-schmelzen und durch den schöpferischen Gedankenverständlich machen.

Wir haben es uns nun zum Ziel gesetzt, auf den fol-genden Seiten in großen Zügen eben die Arbeit desPhysikers zu schildern, die der rein gedanklichenÜberlegung des Kriminalbeamten in unserem Gleich-nis entspricht. Das Hauptgewicht wollen wir dabeiauf die Darstellung der Rolle legen, welche die Ge-danken und Ideen bei der an Abenteuern reichen Jagdnach Erkenntnis der materiellen Welt gespielt haben.

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Die erste Spur

Das Bemühen, in das große Mysterium einzudringen,läßt sich bis in die Anfänge der Geistesgeschichte zu-rückverfolgen, doch erst im 17. Jahrhundert fingen dieWissenschaftler an, die Sprache des Buches zu verste-hen. Seit jenen Tagen, dem Zeitalter Galileis undNewtons, ist man mit der Lektüre rasch vorwärtsge-kommen. Man entwickelte Untersuchungstechnikenund systematische Methoden zur Auffindung und Ver-folgung von Spuren, und manche Rätsel der Naturkonnten so gelöst werden, wenn sich auch viele dieserLösungen im Lichte einer späteren Forschung als un-zulänglich und überholt erwiesen haben.

Ein grundlegendes Problem, das durch Tausendevon Jahren wegen seiner Komplikationen gänzlichverschleiert blieb, ist das der Bewegung. Alle Bewe-gungen, die wir in der Natur beobachten – ein Stein-wurf, ein Schiff, das durch die Meere kreuzt, ein Kar-ren, der durch die Straßen geschoben wird –, sind inWirklichkeit sehr verwickelt. Wenn man diese Er-scheinungen verstehen will, tut man gut daran, mitmöglichst einfachen Fällen zu beginnen, um dann erstallmählich zu den komplizierteren überzugehen. Stel-len wir uns einen Körper in der Ruhelage, im bewe-gungslosen Zustand, vor. Soll die Lage eines solchen

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Körpers verändert werden, so ist es erforderlich, ir-gendeinen Einfluß auf ihn auszuüben, ihn anzustoßenoder zu heben oder aber andere Körper – etwa Pferdeoder Dampfmaschinen – auf ihn einwirken zu lassen.Intuitiv bringen wir die Bewegung mit den Tätigkei-ten des Schiebens, Hebens oder Ziehens in Verbin-dung. Haben wir diese Erfahrung wiederholt bestätigtgefunden, könnten wir uns darüber hinaus sogar nochzu der Feststellung verstehen, daß wir stärker schie-ben müssen, wenn der betreffende Körper schnellerbewegt werden soll. Es ist ganz natürlich, daß wirdaraus den Schluß ziehen: Je stärker die Kraft, die aufeinen Körper einwirkt, um so größer ist seine Ge-schwindigkeit. Ein vierspänniger Wagen fährt schnel-ler als ein zweispänniger. Die Intuition sagt uns also,daß die Geschwindigkeit ursächlich mit der wirken-den Kraft zusammenhängt.

Für die Leser von Detektivromanen ist es nichtsNeues, daß ein falsches Indiz Verwirrung in die Ge-schichte bringt und die Auflösung hinausschiebt. Sowar eben auch hier die auf der Intuition beruhendeÜberlegung ungeeignet, und sie führte demgemäß zufalschen Vorstellungen von der Bewegung – Vorstel-lungen, an denen man nichtsdestoweniger jahrhunder-telang festhielt. Das große Ansehen, das Aristoteles inganz Europa genießt, war vielleicht der Hauptgrunddafür, daß man so lange bei dieser intuitiven Vorstel-

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lung geblieben ist. In der« Mechanik», einem Werk,das man ihm seit zweitausend Jahren zuschreibt, lesenwir:

Ein in Bewegung befindlicher Körper kommt zumStillstand, sobald die Kraft, die ihn vorantreibt,nicht mehr in der für den Antrieb erforderlichenWeise wirken kann.

Das Mittel der wissenschaftlichen Beweisführungwurde von Galilei erfunden und zum erstenmal ge-braucht. Es ist eine der bedeutendsten Errungenschaf-ten, die unsere Geistesgeschichte aufzuweisen hat,und bezeichnet recht eigentlich die Geburtsstunde derPhysik. Galilei zeigte, daß man sich auf intuitiveSchlüsse, die auf unmittelbarer Beobachtung beruhen,nicht immer verlassen kann, da sie manchmal auf diefalsche Spur führen.

Wo aber liegt der Fehler, zu dem uns die Intuitionverleitet? Kann es denn falsch sein, zu sagen, daß einvon vier Pferden gezogener Wagen schneller fahrenmüsse als ein zweispänniger?

Untersuchen wir die grundlegenden Umstände, diebei der Bewegung mitspielen, einmal näher, wobeiwir von einfachen, alltäglichen Erfahrungen ausgehenwollen, die der Menschheit schon von den Anfängender Zivilisation her geläufig sind und die sie in ihrem

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harten Daseinskampf gesammelt hat.Nehmen wir an, jemand geht entlang einer ebenen

Straße mit einem Schubkarren und hört plötzlich zuschieben auf. Der Karren wird dann noch eine kurzeStrecke weiterrollen, bevor er zum Stehen kommt.Wir fragen uns jetzt: Wie läßt sich diese Strecke ver-größern? und erkennen, daß es dafür verschiedeneMöglichkeiten gibt. Man kann die Räder schmieren,kann aber auch die Straße glätten. Je leichter sich dieRäder drehen, je glatter die Straße ist, desto weiterwird der Karren rollen. Und was wird durch dasSchmieren und Glätten eigentlich im Grunde erreicht?Nun, nichts weiter als eine Verminderung der äußerenEinflüsse, der sogenannten Reibung, und zwar sowohlin den Rädern als auch zwischen den Rädern und derStraße. Das ist nun aber bereits eine theoretische In-terpretation des beobachteten Tatbestandes, eine, manmuß schon sagen, willkürliche Auslegung. Wenn wirnun noch einen bedeutsamen Schritt weitergehen, sowerden wir gleich die richtige Spur haben. Stellen wiruns eine vollkommen glatte Straße vor, und denkenwir uns einen Karren mit Rädern, bei denen es über-haupt keine Reibung gibt. Einen solchen Karrenkönnte nichts mehr aufhalten; er müßte bis in alleEwigkeit weiterrollen. Zu diesem Schluß kommt manallerdings nur, wenn man von einem Idealversuchausgeht, der sich jedoch niemals tatsächlich durchfüh-

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ren läßt, da es eben in der Praxis unmöglich ist, alleäußeren Einflüsse auszuschalten. Dieses idealisierteExperiment lieferte den Anhaltspunkt, der die Grund-lage für die Mechanik der Bewegung, die Dynamik,bilden sollte.

Wenn wir die beiden Methoden, an das Problemheranzugehen, miteinander vergleichen, so könnenwir sagen: Die intuitive Vorstellung geht dahin, daßdie Geschwindigkeit in dem Maße wächst, wie dieKraft größer wird, und daß die Geschwindigkeit somitanzeigt, ob auf den betreffenden Körper äußere Kräfteeinwirken oder nicht. Das Neue, das Galilei fand, waraber dieses: Wenn ein Körper weder geschoben nochgezogen oder sonstwie bearbeitet wird, kurz, wennauf ihn keine äußeren Kräfte einwirken, so bewegt ersich gleichförmig, das heißt immer mit der gleichenGeschwindigkeit und geradlinig. Die Geschwindigkeitzeigt somit nicht an, ob äußere Kräfte auf einen Kör-per einwirken oder nicht. Galileis Erkenntnis, dierichtige also, wurde ein Menschenalter später vonNewton als Trägheitsgesetz formuliert. Das ist ge-wöhnlich das erste von der Physik, was wir in derSchule auswendig lernen, und der eine oder andere er-innert sich vielleicht noch daran:

Jeder Körper beharrt in seinem Zustande der Ruheoder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung,

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wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungenwird, seinen Zustand zu ändern.

Wir haben gesehen, daß dieses Trägheitsgesetz nichtdirekt aus dem Experiment, sondern nur durch einenspekulativen Denkvorgang abgeleitet werden konnte,der mit der Beobachtung vereinbar ist. Der Idealver-such kann niemals wirklich ausgeführt werden, unddoch ermöglicht er es uns, in das Wesen tatsächlichmöglicher Experimente tiefer einzudringen.

Aus der Vielfalt der komplexen Bewegungen, diein der Welt um uns her vorkommen, suchen wir unsals erstes Beispiel die gleichförmige Bewegung her-aus. Sie ist deshalb die einfachste, weil bei ihr keineäußeren Kräfte mitspielen. Gleichförmige Bewegungkann allerdings niemals realisiert werden. Ein Stein,der von einem Turm heruntergeworfen, ein Karren,der durch die Straßen geschoben wird – diese Dingekönnen sich niemals absolut gleichförmig bewegen,weil wir den Einfluß äußerer Kräfte nicht auszuschal-ten vermögen.

In einem guten Kriminalroman führen die augenfäl-ligsten Spuren oft zu falschen Verdachtsmomenten.So müssen wir auch bei unseren Bemühungen, dieNaturgesetze zu verstehen, immer wieder feststellen,daß die am meisten ins Auge springende intuitive Er-klärung oft gerade die falsche ist.

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Das Weltbild des Menschen unterliegt einem unab-lässigen Wandel. Galileis Beitrag dazu bestand darin,daß er das intuitive Denken entthronte und an seineStelle ein anderes setzte. Darin liegt die Bedeutungseiner Entdeckung.

Sogleich erhebt sich aber eine weitere, mit der Be-wegung zusammenhängende Frage. Wenn die Ge-schwindigkeit keinen Schluß auf die äußeren Kräftezuläßt, die auf einen Körper einwirken, woran sollenwir uns dann halten? Die Antwort auf diese funda-mentale Frage wurde von Galilei gefunden und spätervon Newton noch prägnanter formuliert. Sie bildeteinen weiteren Schlüssel für unsere Untersuchung.

Wollen wir die richtige Lösung finden, so müssenwir uns noch etwas eingehender in das Beispiel mitdem Karren versenken, der auf einer vollkommenglatten Straße dahinrollt. Bei unserem idealisiertenExperiment war die Gleichförmigkeit der Bewegungauf das Fehlen jeder äußeren Kraft zurückzuführen.Stellen wir uns nun vor, daß dem in gleichförmigerBewegung befindlichen Karren in seiner Bewegungs-richtung ein Stoß versetzt wird. Was geschieht dann?Nun, er fährt natürlich schneller. Ebenso klar ist es,daß ein Stoß in der entgegengesetzten Richtung eineGeschwindigkeitsverminderung nach sich zieht. Imersten Falle wird der Karren durch den Stoß beschleu-nigt, im zweiten dagegen verzögert, verlangsamt.

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Daraus ergibt sich sofort folgende Schlußfolgerung:Die Einwirkung einer äußeren Kraft verändert die Ge-schwindigkeit. Nicht die Geschwindigkeit an sich,sondern vielmehr ihre Veränderung ist also eine Folgedes Schiebens oder Ziehens. Eine solche Kraft steigertoder vermindert die Geschwindigkeit, je nachdem, obsie in der Bewegungsrichtung oder im entgegenge-setzten Sinne wirkt. Galilei erkannte das ganz klar,und so schrieb er in seinen »Zwei neuen Wissenschaf-ten«:

Indes ist zu beachten, daß der Geschwindigkeits-wert, den der Körper aufweist, in ihm selbst unzer-störbar enthalten ist, solange äußere Ursachen derBeschleunigung oder Verzögerung fehlen, was mannur auf horizontaler Ebene bemerkt, denn bei ab-steigenden nimmt man Beschleunigung wahr, beiaufsteigenden Verzögerung. Hieraus folgt, daß dieBewegung in der Horizontalen eine unaufhörlichesei; denn wenn sie stets gleichbleibt, wird sie nichtgeschwächt und aufgehoben, geschweige denn ver-mehrt.

Wenn wir die richtige Spur verfolgen, so können wirtiefer in das Bewegungsproblem eindringen. Der Zu-sammenhang von Kraft und Geschwindigkeitsände-rung – und nicht, wie man rein intuitiv glauben könn-

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te, der Zusammenhang zwischen Kraft und Geschwin-digkeit selbst – ist die Grundlage der klassischen Me-chanik Newtonscher Prägung.

Wir haben uns zweier Begriffe bedient, die beide inder klassischen Mechanik tragende Rollen spielen:Kraft und Geschwindigkeitsänderung. Da diese Be-griffe im Zuge der weiteren Entwicklung der Wissen-schaft erweitert und verallgemeinert wurden, müssenwir sie nun noch eingehender untersuchen.

Was ist Kraft? Intuitiv glauben wir zu wissen, wasmit diesem Ausdruck gemeint ist. Der Begriff ent-stand aus der Tätigkeit des Schiebens, Werfens oderZiehens bzw. aus der Muskelerregung, die mit allendiesen Handlungen verbunden ist. In seiner verallge-meinerten Form geht er aber weit über den Rahmendieser einfachen Beispiele hinaus. Wir können unsKraft durchaus vorstellen, ohne dabei etwa an einPferd zu denken, das einen Wagen zieht. So sprechenwir von der Anziehungskraft zwischen Sonne undErde, Erde und Mond sowie von den Kräften, welchedie Gezeiten hervorrufen. Wir sprechen von der Kraft,mit der die Erde uns und alle Dinge um uns her inihrem Bannkreis hält, und von der Kraft, mit der derWind die Meereswellen erzeugt oder die Blätter anden Bäumen bewegt. Wann und wo immer wir eineGeschwindigkeitsänderung wahrnehmen, müssen wir,ganz allgemein gesprochen, eine äußere Kraft dafür

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verantwortlich machen. Newton schreibt in seinen»Principia«:

Eine angebrachte Kraft ist das gegen einen Körperausgeübte Bestreben, seinen Zustand zu ändern,entweder den der Ruhe oder den der gleichförmigengeradlinigen Bewegung.

Diese Kraft besteht nur in dem Bestreben, undsie verbleibt, nachdem sie dieses ausgeübt hat,nicht im Körper. Dieser verharret nämlich in jedemneuen Zustande nur vermöge der Kraft der Träg-heit. Die beigebrachte Kraft ist verschiedenen Ur-sprungs, wie zum Beispiel durch Druck, Stoß, Zen-tripetalkraft.

Wenn man einen Stein von einem Turm herunterwirft,so ist seine Bewegung keineswegs gleichförmig; dieGeschwindigkeit wächst vielmehr während des Falles.Daraus schließen wir, daß in der Bewegungsrichtungeine äußere Kraft wirken muß oder – um es andersauszudrükken – daß die Erde den Stein anzieht. Neh-men wir ein weiteres Beispiel: Was geschieht, wennein Stein senkrecht nach oben geworfen wird? Nun,die Geschwindigkeit nimmt ab, bis er den höchstenPunkt seiner Bahn erreicht hat und wieder zu fallenbeginnt. Diese Geschwindigkeitsänderung wird vonder gleichen Kraft hervorgerufen wie die Beschleuni-

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gung des fallenden Körpers, nur wirkt die Kraft indem einen Falle in der Bewegungsrichtung, im ande-ren dagegen im entgegengesetzten Sinne. Beide Maleist dieselbe Kraft am Werke, nur bewirkt sie einmaleine Beschleunigung, im anderen Falle jedoch eineVerzögerung, je nachdem, ob man den Stein fallenläßt oder hochwirft.

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Vektoren

Alle Bewegungen, die wir bisher behandelt haben,waren geradlinig. Nun müssen wir aber einen Schrittweitergehen. Am besten gelangen wir dadurch zueinem Verständnis der Naturgesetze, daß wir zunächstdie einfachsten Fälle analysieren und bei unseren er-sten Ansätzen alle Komplikationen aus dem Spiel las-sen. Eine gerade Linie ist nun zwar einfacher als eineKurve, doch kann man sich natürlich keinesfalls miteinem Verständnis der geradlinigen Bewegung alleinzufriedengeben. Die Bewegungen des Mondes, derErde und der anderen Planeten, also gerade die Bewe-gungen, auf welche die Prinzipien der Mechanik mitso glänzendem Erfolg angewandt worden sind, ver-laufen auf gekrümmten Bahnen. Der Übergang vonder geradlinigen Bewegung zu einer solchen entlangeiner gekrümmten Bahn bringt neue Schwierigkeitenmit sich. Wir müssen aber den Mut zu ihrer Überwin-dung aufbringen, wenn wir die Prinzipien der klassi-schen Mechanik, die uns die ersten Fingerzeige liefer-te und so seinerzeit den Ausgangspunkt für die Ent-wicklung der Naturwissenschaft bildete, wirklich ver-stehen wollen.

Nehmen wir ein anderes idealisiertes Experiment,bei dem eine ideal geformte Kugel gleichförmig über

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einen glatten Tisch rollt. Wir wissen, daß die Ge-schwindigkeit geändert wird, wenn man der Kugeleinen Stoß versetzt, das heißt, wenn eine äußere Kraftzur Wirkung gebracht wird. Nehmen wir nun an, daßder Stoß diesmal nicht, wie vorhin bei dem Beispielmit dem Karren, im Sinne der Bewegung, sondern ineiner ganz anderen Richtung, sagen wir, senkrechtdazu, erfolge. Was geschieht jetzt mit der Kugel?Nun, zunächst einmal lassen sich drei Bewegungs-phasen unterscheiden: die ursprüngliche Bewegung,die Einwirkung der Kraft und die endgültige Bewe-gung nach dem Versiegen der Kraft. Auf Grund desTrägheitsgesetzes ist die Geschwindigkeit vor undnach dem Auftreten der Kraft vollkommen gleichför-mig. Allerdings besteht ein Unterschied zwischen dergleichförmigen Bewegung vor der Einwirkung derKraft und jener nach derselben; die Richtung ist näm-lich eine andere. Die ursprüngliche Bahn der Kugelbildet mit der Richtung der Kraft einen rechten Win-kel. Die endgültige Bewegung nun wird mit keinerdieser beiden Linien zusammenfallen, sie muß viel-mehr irgendwo dazwischen liegen, und zwar mehr zurRichtung der Kraft hin, wenn der Stoß kräftig und dieAnfangsgeschwindigkeit klein war, mehr zur ur-sprünglichen Bewegungsrichtung hin dagegen, wennder Stoß gelinde war und die Anfangsgeschwindigkeitgroß. Daraus folgern wir, ausgehend vom Trägheits-

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gesetz: Im allgemeinen bewirkt eine äußere Kraft eineÄnderung der Geschwindigkeit und auch der Bewe-gungsrichtung. Haben wir das einmal verstanden, sosind wir bereits hinreichend auf die Verallgemeine-rung vorbereitet, die durch den Begriff Vektor in diePhysik eingeführt wurde.

Wir können ruhig auch weiterhin bei unserer un-komplizierten Darstellungsmethode bleiben. Wiedergehen wir von Galileis Trägheitsgesetz aus. Nochimmer haben wir die Möglichkeiten, die uns diesesGesetz im Hinblick auf eine Lösung des Bewegungs-rätsels bietet, keineswegs restlos erschöpft.

Stellen wir uns zwei Kugeln vor, die auf einemglatten Tisch in verschiedenen Richtungen rollen.Damit wir uns ein klares und eindeutiges Bild davonmachen können, nehmen wir einmal an, die beidenRichtungen bildeten einen rechten Winkel. Da keineäußeren Kräfte vorliegen, verlaufen die Bewegungenvollkommen gleichförmig. Setzen wir weiters denFall, daß beide Kugeln gleich schnell dahinrollen, dasheißt, daß beide im gleichen Zeitraum die gleicheStrecke zurücklegen. Ist es dann aber korrekt zusagen, daß beide Kugeln gleiche Geschwindigkeithätten? Die Antwort lautet: Ja und nein! Wenn dieTachometer zweier Autos beide 50 Stundenkilometeranzeigen, so pflegt man zwar zu sagen, daß die Fahr-zeuge beide gleich schnell fahren bzw. dieselbe Ge-

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schwindigkeit haben, ganz gleich, in welcher Rich-tung sie sich bewegen; die Wissenschaft muß sich je-doch ihre eigene Sprache und eigene Begriffe schaf-fen, die ihren Erfordernissen angemessen sind. Wis-senschaftliche Begriffe decken sich zwar häufig zu-nächst mit solchen, wie man sie auch in der Um-gangssprache zur Bezeichnung von Vorkommnissendes täglichen Lebens gebraucht, doch entwickeln siesich dann zuweilen in einer ganz anderen Weise. Siewerden umgemodelt und des Doppelsinnes entkleidet,der ihnen in der Umgangssprache gelegentlich anhaf-tet. Sie werden strenger gefaßt, damit sie für wissen-schaftliche Gedankengänge taugen.

Vom Standpunkt des Physikers aus gesehen ist esvorteilhaft, zu sagen, die Geschwindigkeiten zweierKugeln, die sich in verschiedenen Richtungen bewe-gen, seien verschieden. Das ist zwar reine Formsache,doch erweist es sich tatsächlich als zweckmäßiger zusagen, daß vier Autos, die von der gleichen Kreuzungaus auf verschiedenen Straßen davonfahren, nicht diegleiche Geschwindigkeit haben, selbst wenn sie nachihrer Tachometerablesung alle einheitlich fünfzig Ki-lometer in der Stunde zurücklegen. Diese Unterschei-dung zwischen Schnelligkeit und Geschwindigkeitkann als Illustration dafür dienen, wie die Physikmanchmal aus dem täglichen Leben stammende Be-griffe abwandelt, was sich dann im Zuge der weiteren

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wissenschaftlichen Entwicklung als vorteilhaft er-weist.

Wenn man eine Länge mißt, wird das Ergebnis inForm einer bestimmten Anzahl von Einheiten ausge-drückt. Die Länge eines Steckens kann so zum Bei-spiel 1,20 Meter betragen, ein bestimmter Gegenstandkann 3,75 Kilogramm wiegen, während ein Zeitraummit soundso vielen Minuten oder Sekunden angege-ben wird. In allen diesen Fällen wird das Meßergeb-nis durch eine Zahl ausgedrückt. Bei der Wiedergabemancher physikalischer Begriffe kommt man nun al-lerdings mit Zahlen allein nicht aus. Als man diesenUmstand zum erstenmal beherzigte, war man damit inder wissenschaftlichen Erforschung der Naturgesetzeein gutes Stück vorwärtsgekommen. Will man eineGeschwindigkeit charakterisieren, so bedarf es dazusowohl einer Zahl als auch einer Richtungsangabe.Eine solche Größe, die nicht nur einen Betrag, son-dern auch einen Richtungssinn enthält, nennt manVektor. Ein Pfeil ist das geeignete Symbol dafür. DieGeschwindigkeit wird also am besten durch einenPfeil oder, wissenschaftlich ausgedrückt, durch einenVektor dargestellt, dessen Länge in einem bestimm-ten, frei gewählten Maßstab die Schnelligkeit angibt,gleichzeitig aber in die Bewegungsrichtung deutet.

Wenn vier Autos gleich schnell in verschiedenenRichtungen von einer Straßenkreuzung wegfahren, so

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kann man ihre Geschwindigkeiten durch vier gleichlange Vektoren darstellen, wie aus Figur I ersichtlichist. Bei dem verwendeten Maßstab entspricht ein Zen-timeter 20 Stundenkilometer. Die Geschwindigkeit istalso fünfzig Stundenkilometer. Auf diese Weise läßtsich jede beliebige Geschwindigkeit durch einen Vek-tor bezeichnen, und man kann auch umgekehrt, sofernder Maßstab nur bekannt ist, aus einem solchen Vek-torendiagramm die Geschwindigkeit entnehmen.

Wenn zwei Kraftwagen einander auf der Chausseebegegnen und ihre Tachometer beide 50 Stundenkilo-meter anzeigen, so geben wir ihre Geschwindigkeitendurch zwei Vektoren wieder, deren Pfeilspitzen inentgegengesetzte Richtungen zeigen (Fig. 2). So müs-sen auch die Pfeile, die zur Darstellung stadtwärtsbzw. aus der Stadt herausfahrender Untergrundbahn-züge gedacht sind, in entgegengesetzte Richtungenweisen, doch haben alle Züge, die auf verschiedenenStationen bzw. in verschiedenen Abschnitten der glei-chen Strecke gleich schnell stadtwärts fahren, auchdie gleiche Geschwindigkeit, was mit einem einzigenVektor ausgedrückt werden kann. Der Vektor enthältkeinen Anhaltspunkt dafür, welche Stationen der Zuggerade passiert oder auf welchem der vielen parallelverlaufenden Gleise er rollt.

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Fig. 1

Fig. 2

Fig. 3

Mit anderen Worten: der Gepflogenheit entsprechendkann man alle Vektoren von der in Figur 3 dargestell-

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ten Beschaffenheit als gleich ansehen, da sie auf dergleichen bzw. auf dazu parallel verlaufenden Geradenliegen und da schließlich ihre Pfeilspitzen in die glei-che Richtung deuten. Figur 4 zeigt Vektoren, die alleverschieden sind, weil sie entweder in bezug aufLänge, Richtung oder beides voneinander abweichen.

Fig. 4

Fig. 5

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Man kann dieselben vier Vektoren auch auf andereArt zeichnen, nämlich so, daß sie alle von einem ge-meinsamen Punkt nach verschiedenen Richtungenauseinandergehen. Da der Ausgangspunkt keine Rollespielt, können diese Vektoren sowohl die Geschwin-digkeiten von vier Wagen darstellen, die von der glei-chen Straßenkreuzung wegfahren, als auch die vonvier anderen Wagen, die in verschiedenen Gegendenmit der angegebenen Schnelligkeit in der angezeigtenRichtung fahren (Fig. 5).

Mit dieser Vektorendarstellung können wir nunauch die Dinge wiedergeben, die wir vorher bei dergeradlinigen Bewegung besprochen haben. Es wardort die Rede von einem Karren, der sich gleichför-mig und geradlinig bewegt und in seiner Bewegungs-richtung einen Stoß erhält, der seine Geschwindigkeitsteigert. Graphisch läßt sich das durch zwei Vektorendarstellen, einen kürzeren für die Geschwindigkeit vordem Stoß und einen längeren, in die gleiche Richtungweisenden für die Geschwindigkeit nach dem Stoß.Was der gestrichelte Vektor bedeuten soll, ist klar: erstellt die Geschwindigkeitsänderung dar, die von demStoß herrührt. In dem Fall, wo die Kraft der Bewe-gung entgegenwirkt, so daß diese sich verlangsamt,sieht das Diagramm etwas anders aus. Wieder stelltder gestrichelte Vektor die Geschwindigkeitsänderung

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dar, nur daß seine Richtung hier eine andere ist. Es istklar, daß nicht nur die Geschwindigkeit an sich, son-dern auch deren Veränderungen Vektoren sind. JedeGeschwindigkeitsänderung aber ist auf die Einwir-kung einer äußeren Kraft zurückzuführen. Folglichmuß die Kraft ebenfalls durch einen Vektor darge-stellt werden. Wenn wir eine Kraft charakterisierenwollen, ist es nicht damit getan zu erklären, wie starkwir den Karren anschieben, sondern wir müssen hin-zufügen, in welche Richtung wir ihn stoßen. Es istmit der Kraft wie mit der Geschwindigkeit

Fig. 6

und ihrer Veränderung: es genügt nicht, sie durch eineZahl darzustellen; es bedarf eines Vektors dazu. Wirstellen also fest: Die äußere Kraft ist gleichfalls einVektor und muß die gleiche Richtung haben wie dieGeschwindigkeitsänderung. In den beiden Skizzen(Fig. 6 und 7) geben die gestrichelten Vektoren dieRichtung der Kraft ebenso wahrheitsgetreu an wie dieGeschwindigkeitsänderung.

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Fig. 7

Der Skeptiker mag an dieser Stelle vielleicht einwen-den, daß er in der Einführung von Vektoren keinenVorteil sehen könne. Bisher sei nichts erreicht wordenals eine Übertragung längst bekannter Gesetzmäßig-keiten in eine unbekannte und komplizierte Sprache.Nun wäre es in dieser Phase unserer Erörterungenwirklich schwierig, ihn von der Unrichtigkeit seinerBehauptung zu überzeugen. Fürs erste müssen wirihm daher notgedrungen recht geben, doch werden wirdann später sehen, daß gerade diese eigentümlicheSprache zu einer wichtigen Verallgemeinerung hin-führt, bei der wir ohne Vektoren einfach nicht aus-kommen.

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Das Rätsel der Bewegung

Solange wir uns lediglich mit der geradlinigen Bewe-gung befassen, sind wir noch weit davon entfernt, alleBewegungsformen zu verstehen, die wir in der Naturbeobachten. Wir müssen also auch Bewegungen ent-lang gekrümmter Linien in Betracht ziehen, und sowollen wir jetzt die Gesetze festlegen, nach denenderartige Bewegungen ablaufen. Das ist keine leichteAufgabe. Bei der geradlinigen Bewegung erweisensich unsere Begriffe »Geschwindigkeit«, »Geschwin-digkeitsänderung« und »Kraft« als äußerst brauchbar,doch ist es uns nicht ohne weiteres klar, wie wir sieauf die Bewegung entlang einer gekrümmten Bahnanwenden sollen. Es wäre ja sogar denkbar, daß diealten Begriffe ungeeignet sind für eine Beschreibungder Bewegung schlechthin und daß neue geschaffenwerden müssen. Sollen wir auf dem bisher beschritte-nen Wege bleiben, oder müssen wir uns einen anderensuchen?

Mit der Verallgemeinerung von Begriffen wird inder Wissenschaft sehr häufig gearbeitet. Für Verallge-meinerungsverfahren gelten keine absoluten und bin-denden Regeln; denn gewöhnlich gibt es zahlreicheMöglichkeiten, die alle zum Ziel führen. Eine Voraus-setzung muß allerdings unbedingt erfüllt sein: jeder

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1.990 Einstein/Infeld-Evolution, 42Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

verallgemeinerte Begriff muß sich immer dann aufden ursprünglichen zurückführen lassen, wenn die ur-sprünglichen Verhältnisse vorliegen.

Das läßt sich am besten an dem Beispiel klarma-chen, mit dem wir es gerade zu tun haben. Wir kön-nen versuchen, die alten Begriffe »Geschwindigkeit«,»Geschwindigkeitsänderung« und »Kraft« dahinge-hend zu verallgemeinern, daß wir sie auch auf die Be-wegung entlang einer gekrümmten Bahn anwendenkönnen. Wenn der Fachmann von Kurven spricht, sobezieht er die gerade Linie mit ein; sie ist ein Sonder-fall, ein besonders unkompliziertes Beispiel für eineKurve. Wenn man daher die Begriffe »Geschwindig-keit«, »Geschwindigkeitsänderung« und »Kraft« aufdie Bewegung entlang einer gekrümmten Linie an-wendet, so gelten sie automatisch auch für die geradli-nige Bewegung. Daraus darf sich aber kein Wider-spruch zu früher gefundenen Resultaten ergeben.Wenn die Kurve den Charakter einer geraden Linieannimmt, muß man alle verallgemeinerten Begriffeauf die bereits geläufigen, für die geradlinige Bewe-gung geltenden zurückführen können. Diese Ein-schränkung allein macht jedoch noch kein starresSchema aus, an das die Verallgemeinerung gebundenwäre, sie läßt vielmehr noch zahlreiche Möglichkeitenoffen. Die Geschichte der Naturwissenschaft lehrt,daß man manchmal mit den einfachsten und nahelie-

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1.991 Einstein/Infeld-Evolution, 42Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gendsten Verallgemeinerungen auskommt, manchmalnicht. Zunächst müssen wir uns aufs Raten verlegen.In unserem Falle ist es ganz einfach, auf das richtigeVerallgemeinerungsverfahren zu tippen. Die neuenBegriffe bewähren sich auch tatsächlich sehr gut undhelfen uns, die Bewegung eines durch die Luft gewor-fenen Steines wie auch die der Planeten zu verstehen.

Überlegen wir uns einmal, was die Worte »Ge-schwindigkeit«, »Geschwindigkeitsänderung« und»Kraft« im Zusammenhang mit der Bewegungschlechthin, der Bewegung entlang einer gekrümmtenLinie bedeuten. Fangen wir mit der Geschwindigkeitan. Entlang der abgebildeten Kurve bewegt sich vonlinks nach rechts ein sehr kleiner Körper, eine Parti-kel, wie man auch dazu sagen kann. Der schwarzePunkt, der in unserer Skizze auf der Kurve zu sehenist, bezeichnet die Position der Partikel zu irgendei-nem Zeitpunkt. Welche Geschwindigkeit hat die Par-tikel nun in diesem Moment und in dieser Position?Wieder liefert uns Galileis Entdeckung eine Möglich-keit, den Begriff »Geschwindigkeit« einzuführen. Er-neut müssen wir unsere Phantasie spielen lassen unduns ein idealisiertes Experiment ausdenken. Die Parti-kel bewegt sich unter dem Einfluß äußerer Kräfte vonlinks nach rechts entlang der Kurve. Stellen wir unsvor, daß die Einwirkung aller dieser Kräfte plötzlichin einem bestimmten Moment und gerade an der Stel-

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1.992 Einstein/Infeld-Evolution, 43Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

le erlischt, wo sich der schwarze Punkt in der Skizzebefindet. Dann muß die Bewegung nach dem Träg-heitsgesetz zu einer gleichförmigen werden. In derPraxis können wir natürlich keinen Körper von allenäußeren Einflüssen loslösen. Wir können nur mutma-ßen: »Was passiert, wenn ...?«, um dann an Hand derSchlüsse, die sich aus unserer Annahme ziehen las-sen, und danach, inwieweit sie durch das Experimentbestätigt werden, zu beurteilen, ob sie zutrifft.

Fig. 8

In der nächsten Skizze zeigt der Vektor die mut-maßliche Richtung der gleichförmigen Bewegung fürden Fall an, daß alle äußeren Kräfte versiegen. Es istdie Richtung der sogenannten Tangente. Wenn man

Fig. 9

eine Partikel in der Bewegung unter dem Mikroskop

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betrachtet, so sieht man nur einen winzigen Teil derKurve, der durch die Vergrößerung als kleines Seg-ment erscheint. Die Tangente ist die Verlängerungdavon. So stellt der hier gezeichnete Vektor die Ge-schwindigkeit in einem bestimmten Augenblick dar.Der Geschwindigkeitsvektor deckt sich mit der Tan-gente. Seine Länge bezeichnet das Ausmaß der Ge-schwindigkeit bzw. die Schnelligkeit, wie sie zumBeispiel auch auf dem Tachometer eines Kraftwagensangezeigt wird.

Man darf unser idealisiertes Experiment, das heißtvor allem die Ausschaltung der Bewegung als Mittelzur Bestimmung des Geschwindigkeitsvektors, nichtzu wörtlich nehmen. Dieser Gedankengang soll unsnur Aufschluß über das Wesen des Geschwindigkeits-vektors geben und uns ferner in den Stand setzen, die-sen Vektor für einen gegebenen Augenblick zu be-stimmen.

In der nächsten Skizze sind die Geschwindigkeits-vektoren für drei verschiedene Positionen einer Parti-kel dargestellt, die sich entlang einer Kurve bewegt.In diesem Falle verändert sich während der Bewegungnicht nur die Richtung der Geschwindigkeit, sondernauch ihr Betrag, der ja durch die Länge der Vektorenausgedrückt wird.

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Fig. 10

Erfüllt dieser neue Geschwindigkeitsbegriff nun dieVoraussetzungen, die, wie festgestellt, bei allen Ver-allgemeinerungen erfüllt sein müssen? Das heißt, läßter sich auf den bereits bekannten Begriff zurückfüh-ren, wenn die Kurve zu einer Geraden wird? Offenbarja; denn die Tangente an einer geraden Linie ist dieGerade selbst, und der Geschwindigkeitsvektor liegt,wie wir an den Beispielen mit dem Karren und denrollenden Kugeln gesehen haben, in diesem Falle tat-sächlich in der Bewegungslinie.

Der nächste Schritt ist die Einführung des Begriffes»Geschwindigkeitsänderung« für eine Partikel, diesich entlang einer Kurve bewegt. Auch das läßt sichauf verschiedene Art und Weise tun. Wir wählen na-türlich den einfachsten und bequemsten Weg. In Figur10 hatten wir es mit mehreren Geschwindigkeitsvek-toren zu tun, welche die Bewegung an verschiedenenPunkten der Bahn darstellten.

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Fig. 11

Die ersten beiden dieser Vektoren (Fig. 11) wollenwir nun so anordnen, daß sie einen gemeinsamenAusgangspunkt haben, was ja, wie wir gesehenhaben, bei Vektoren möglich ist. Den gestricheltenVektor bezeichnen wir als Geschindigkeitsänderung.Er geht vom Ende des ersten Vektors aus und reichtbis zu dem des zweiten. Diese Definition der Ge-schwindigkeitsänderung mag auf den ersten Blickkrampfhaft und sinnlos erscheinen. Klarer wird sie so-gleich, wenn wir an den Sonderfall denken, bei demdie Vektoren1 und 2 die gleiche Richtung haben, wasfreilich einem Übergang zur geradlinigen Bewegunggleichkommt. Auch hier verbindet der gestrichelteVektor die Endpunkte der beiden anderen Vektoren,sofern sie einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben.Graphisch dargestellt ergibt dieser Fall das gleicheBild wie das in Figur 6 gezeigte; nur haben wir dendort behandelten Begriff jetzt als Sonderfall des neuenwiedererhalten. Es sei noch hinzugefügt, daß wir diebeiden Linien in der Skizze getrennt darstellen muß-

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1.996 Einstein/Infeld-Evolution, 45Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ten, da sie sich sonst decken und daher nicht zu unter-scheiden sein würden.

Fig. 12

Jetzt müssen wir im Zuge unserer Verallgemeine-rungsbestrebungen den letzten Schritt tun. Wir kom-men damit auf die Annahme zu sprechen, der vonallen bisher ausgesprochenen die größte Bedeutungzukommt. Es gilt, den Zusammenhang zwischen Kraftund Geschwindigkeitsänderung aufzuzeigen, damitwir die Formel aufstellen können, die es uns gestattet,das Bewegungsproblem schlechthin zu verstehen.

Die Formel für die Erklärung der geradlinigen Be-wegung war einfach. Äußere Kräfte sind die Ursacheder Geschwindigkeitsänderung; der Vektor der Krafthat die gleiche Richtung wie der der Veränderung.Wie sieht nun die Formel für die kurvenförmige Be-wegung aus? Nun, es ist genau die gleiche! Der einzi-ge Unterschied besteht darin, daß der Begriff »Ge-schwindigkeitsänderung« hier in einem weiterenSinne zu verstehen ist. Ein Blick auf die gestricheltenVektoren der Figuren 11 und 12 läßt das ganz klar-werden. Wenn die Geschwindigkeit für alle Punkte

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einer Kurve bekannt ist, so kann die Richtung derKraft ohne weiteres für jeden beliebigen Punkt darausabgeleitet werden. Wir zeichnen dazu die Vektorenfür zwei Zeitpunkte ein, die nur um ein sehr kurzesIntervall auseinanderliegen und daher zwei einandersehr stark angenäherten Positionen entsprechen. DerVektor, der die Endpunkte der beiden ersten miteinan-der verbindet, gibt dann die Richtung der wirkendenKraft an. Es ist aber unbedingt notwendig, daß diebeiden Geschwindigkeitsvektoren wirklich nur um ein»sehr kurzes« Intervall voneinander getrennt sind. Dieexakte Definition von Begriffen wie »sehr nahe« und»sehr kurz« ist alles andere als einfach. Auf der Suchenach einer solchen Definition entdeckten Newton undLeibniz übrigens die Differentialrechnung.

Es ist ein mühevoller und gewundener Weg, der zuder Verallgemeinerung von Galileis Formel führt. Wirkönnen hier nicht zeigen, wie überaus mannigfaltigund nutzbringend die Folgen dieser Verallgemeine-rung waren. Man kann damit viele Phänomene, dievorher unzusammenhängend zu sein schienen undmißverstanden wurden, auf einfache und einleuchten-de Art erklären.

Aus der äußerst großen Vielfalt von Bewegungs-möglichkeiten greifen wir nur die einfachsten herausund wollen jetzt versuchen, sie mit dem soeben for-mulierten Gesetz zu deuten.

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1.998 Einstein/Infeld-Evolution, 47Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Fig. 13

Eine Kanonenkugel, ein schräg nach oben geworfenerStein, ein Wasserstrahl aus einem Gartenschlauch –alle diese Dinge beschreiben Bahnen von einer unswohlbekannten Art, nämlich Parabeln. Stellen wir unszum Beispiel einen Stein vor, an dem ein Tachometerbefestigt ist, so daß wir für jeden Moment seines Flu-ges den Geschwindigkeitsvektor zeichnen können.Das Ergebnis sieht dann etwa so aus wie das in Figur13 dargestellte. Die Richtung der auf den Stein ein-wirkenden Kraft ist genau die gleiche wie die der Ge-schwindigkeitsänderung; und wie sich diese feststel-len läßt, haben wir ja gesehen. Aus Figur 14 ist er-sichtlich, daß diese Kraft senkrecht nach unten gerich-tet ist. Es ist genau dasselbe, wie wenn man einenStein von einem Turm herunterfallen läßt. Die Bah-nen wie auch die Geschwindigkeiten sind beide Maleganz verschieden, die Geschwindigkeitsänderung hatjedoch die gleiche Richtung, das heißt, sie zeigt nachdem Mittelpunkt der Erde.

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Fig. 14

Bindet man einen Stein an das eine Ende einer Schnurund schleudert man ihn in einer waagerechten Ebeneherum, so bewegt er sich auf einer kreisförmigenBahn. Alle Vektoren des Diagramms, das diese Be-wegung darstellt, haben, sofern die Schnelligkeitgleichförmig ist, dieselbe Länge. Nichtsdestowenigerist die Geschwindigkeit nicht gleichförmig; denn dieBahn ist ja nicht geradlinig.

Nur bei gleichförmiggeradliniger Bewegung sindkeinerlei Kräfte wirksam, hier jedoch sind Kräfte imSpiel, und wenn die Geschwindigkeit sich auch nichtihrem Ausmaß nach verändert, so doch in bezug aufdie Richtung. Auf Grund des Bewegungsgesetzesmuß diese Veränderung auf irgendeine Kraft zurück-gehen, und zwar in diesem Falle auf eine, die zwi-schen dem Stein und der Hand wirksam ist, welchedie Schnur hält. Hier müssen wir gleich noch eineFrage stellen: In welche Richtung wirkt die Kraft?

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2.000 Einstein/Infeld-Evolution, 48Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Fig. 15

Wieder zeigt uns ein Vektorendiagramm die Lösung.Wir zeichnen die Geschwindigkeitsvektoren für zweisehr dicht beieinanderliegende Punkte ein, und schonhaben wir die Geschwindigkeitsänderung. Der hierfürmaßgebende Vektor ist, wie man sieht, entlang derSchnur gegen den Kreismittelpunkt gerichtet und stehtimmer auf dem Geschwindigkeitsvektor bzw. derTangente senkrecht. Mit anderen Worten, die Handübt mittels der Schnur eine Wirkung auf den Steinaus.

Ganz ähnlich liegen die Dinge bei dem gewichtige-ren Beispiel des um die Erde kreisenden Mondes. Wirkönnen uns den Umlauf unseres Trabanten etwa alsgleichförmige Kreisbewegung vorstellen. Die Kraftist hier aus dem gleichen Grunde erdwärts gerichtet,

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2.001 Einstein/Infeld-Evolution, 48Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

aus dem sie bei unserem vorigen Beispiel nach derHand zeigen mußte. Nun sind Erde und Mond zwarnicht mit einer Schnur verbunden, doch können wiruns eine Linie denken, welche die Mittelpunkte beiderHimmelskörper verbindet. Entlang dieser Linie wirktdie Kraft. Sie ist gegen den Erdmittelpunkt gerichtet,genau wie jene, die auf einen durch die Luft geworfe-nen oder von einem Turm herunterfallenden Stein ein-wirkt.

Fig. 16

Alles, was wir bisher über die Bewegung gesagthaben, läßt sich zu einem einzigen Satz zusammen-fassen: Kraft und Geschwindigkeitsänderung sindVektoren mit gleicher Richtung. Das ist die Grundla-ge für eine Lösung des Bewegungsproblems; für einegründliche Erklärung aller Bewegungsarten, die wirbeobachten können, reicht das freilich nicht aus. Mitdem Übergang von den Gedankengängen des Aristo-teles zu denen Galileis wurde der Naturwissenschaft

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2.002 Einstein/Infeld-Evolution, 49Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

einer ihrer bedeutendsten Grundpfeiler gesetzt. Alsdieser Schritt einmal getan war, konnte es über dieweitere Entwicklungslinie keinen Zweifel mehr geben.Uns geht es hier besonders um die ersten Phasen die-ser Entwicklung, um die Weiterverfolgung der erstenSpuren und darum, zu zeigen, wie aus dem mühevol-len Ringen mit altem Gedankengut immer wiederneue physikalische Begriffe geboren werden. Wirwollen uns nur mit naturwissenschaftlicher Pionierar-beit befassen, und die besteht darin, neue und unvor-hergesehene Entwicklungsmöglichkeiten ausfindig zumachen; wollen kühne wissenschaftliche Spekulatio-nen besprechen, die ja unsere Vorstellungen vom Uni-versum ständig in Fluß halten. Die ersten, grundle-genden Schritte in dieser Richtung haben stets bahn-brechenden Charakter. Wissenschaftlicher Forscher-geist findet alte Begriffe zu beengend und ersetzt siedurch neue. Die Weiterentwicklung auf bereits be-schrittenen Bahnen vollzieht sich so lange mehr inForm einer ruhigen Evolution, bis der nächste Wende-punkt erreicht ist, von dem aus dann wieder ein ganzneues Gebiet erobert werden muß. Wollen wir aberbegreifen, welche Ursachen, welche Schwierigkeitendem Wandel der Anschauungen in bedeutenden Fra-gen zugrunde liegen, so kommen wir nicht mit denGrunderkenntnissen aus, sondern wir müssen auch dieSchlußfolgerungen kennen, die sich daraus ergeben.

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2.003 Einstein/Infeld-Evolution, 49Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Eines der wichtigsten Merkmale der modernen Phy-sik besteht darin, daß aus Grunderkenntnissen nichtnur qualitative, sondern auch quantitative Schlüssegezogen werden. Denken wir wieder an unseren Stein,der von einem Turm herunterfällt. Wir haben gesehen,daß seine Geschwindigkeit im Fallen zunimmt, dochmöchten wir gern noch weit mehr erfahren. Wie großist diese Veränderung? Wie lassen sich Position undGeschwindigkeit des Steines für einen beliebigenZeitpunkt nach dem Beginn des Sturzes bestimmen?Wir möchten also imstande sein, Ereignisse vorherzu-sagen und dann durch das Experiment festzustellen,ob diese Vorhersagen und somit auch die Annahmen,von denen wir ausgegangen sind, durch die Beobach-tung bestätigt werden.

Wollen wir quantitative Schlüsse ziehen, so müs-sen wir die Sprache der Mathematiker zu Hilfe neh-men. Die meisten Grundideen der Wissenschaft sindan sich einfach und lassen sich in der Regel in einerfür jedermann verständlichen Sprache wiedergeben.Will man diese Gedanken aber weiterverfolgen, somuß man sich auf die hierfür erforderliche, hochgra-dig verfeinerte Untersuchungstechnik verstehen. DieMathematik ist immer dann ein unerläßliches Hilfs-mittel für die Beweisführung, wenn wir Schlüsse zuziehen gedenken, die sich experimentell nachprüfenlassen. Solange wir es nur mit physikalischen Grundi-

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2.004 Einstein/Infeld-Evolution, 50Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

deen zu tun haben, kommen wir unter Umständenauch ohne die Sprache der Mathematik aus, und dawir das in dieser Abhandlung grundsätzlich tun wol-len, müssen wir uns gegebenenfalls darauf beschrän-ken, hier und da einige Resultate mathematischenCharakters, die für das Verständnis wichtiger, imZuge der weiteren Entwicklung auftauchender An-haltspunkte notwendig sind, einfach zu zitieren, ohneden Beweis dafür zu erbringen.

Fig. 17

Der Preis, den wir für den Verzicht auf die Spracheder Mathematik zahlen müssen, ist eine Einbuße anPräzision, verbunden mit der Notwendigkeit, manch-mal Ergebnisse einfach zitieren zu müssen, ohne zuzeigen, wie sie zustande gekommen sind.

Eine sehr wichtige Erscheinungsform der Bewe-gung ist der Umlauf der Erde um die Sonne. Wir wis-

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2.005 Einstein/Infeld-Evolution, 51Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sen, daß die Erdbahn eine in sich geschlossene Kurve,eine sogenannte Ellipse ist. Konstruieren wir ein Vek-torendiagramm der Geschwindigkeitsänderung, sosehen wir, daß die Kraft von der Erde zur Sonne ge-richtet ist. Damit wissen wir allerdings noch nicht be-sonders viel. Wir möchten aber gern die Position derErde und der anderen Planeten für einen beliebigenZeitpunkt vorausberechnen können und im vorhineinüber Termin und Dauer der nächsten Sonnenfinsternisund vieler anderer astronomischer Ereignisse Be-scheid wissen. Das alles ist nun zwar durchaus mög-lich, doch nicht mit unserer Grunderkenntnis allein;denn dazu müssen wir außer der Richtung der Kraftauch ihren absoluten Wert, ihr Ausmaß, kennen. Hierhat Newton in genialer Weise einen Weg gewiesen.Auf Grund seines Gravitationsgesetzes hängt diezwischen zwei Körpern waltende Anziehungskraft aufeinfache Art und Weise mit ihrer gegenseitigen Ent-fernung zusammen. Je größer die Entfernung, um sogeringer die Anziehung; um genau zu sein: sie wird zmal 2 gleich 4 mal kleiner, wenn die Entfernung sichverdoppelt, 3 mal 3 gleich 9 mal geringer, wenn dieEntfernung verdreifacht wird, usw.

Es ist uns also gelungen, im Falle der Massenan-ziehung die Abhängigkeit einer Kraft von der gegen-seitigen Entfernung bewegter Körper auf einfache Artauszudrücken. Ähnlich verfahren wir in allen sonsti-

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2.006 Einstein/Infeld-Evolution, 51Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gen Fällen, wo es sich um Kräfte anderer Art, zumBeispiel elektrische, magnetische und dergleichen,handelt. Das Ziel ist immer, die Kraft auf eine einfa-che Formel zu bringen, aber eine solche Formel hatnur dann einen Sinn, wenn die aus ihr gezogenenSchlüsse sich durch das Experiment bestätigen lassen.

Aber auch wenn wir die Gravitationskräfte kennen,sind wir noch nicht in der Lage, die Planetenbewe-gung wirklich zu beschreiben. Wir haben gesehen,daß Kraftvektoren und Vektoren der Geschwindig-keitsänderung für kurze Intervalle die gleiche Rich-tung haben, doch müssen wir jetzt noch mit Newtoneinen Schritt weitergehen und eine einfache, ihre Län-gen betreffende Beziehung postulieren. Wenn alle an-deren Faktoren gleich sind, das heißt, sofern es sichimmer um denselben bewegten Körper und um Verän-derungen innerhalb gleicher Intervalle handelt, verhältsich die Geschwindigkeitsänderung proportional zurKraft.

So werden also für quantitative Schlußfolgerungenbezüglich der Planetenbewegung lediglich zwei ein-ander ergänzende Postulate benötigt. Das eine hat all-gemeinen Charakter und bezieht sich auf den Zusam-menhang zwischen Kraft und Geschwindigkeitsände-rung, das andere ist spezieller Art und stellt eine ex-akte Formulierung des Abhängigkeitsverhältnisses derhier vorliegenden Kraft von der Entfernung zwischen

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2.007 Einstein/Infeld-Evolution, 52Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

den Körpern dar. Das erste ist Newtons allgemeinesBewegungsgesetz, das zweite sein Gravitationsgesetz.Beide zusammen bestimmen die Bewegung. Das läßtsich an folgender, vielleicht etwas unbeholfen anmu-tender Überlegung klarmachen. Nehmen wir an, daßsich Position und Geschwindigkeit eines Planeten füreinen bestimmten Zeitpunkt bestimmen lassen unddaß die Kraft bekannt ist. Dann kennen wir nach denNewtonschen Gesetzen die Geschwindigkeitsände-rung für ein kurzes Intervall. Wenn aber die ursprüng-liche Geschwindigkeit samt ihrer Veränderung be-kannt ist, können wir Geschwindigkeit und Positiondes Planeten am Ende des Intervalls bestimmen. Set-zen wir das stetig fort, können wir die ganze Plane-tenbahn konstruieren, ohne uns weiter auf Beobach-tungsdaten beziehen zu müssen. Nach diesem Prinzipbestimmt die Mechanik nun tatsächlich den zukünfti-gen Weg eines bewegten Körpers, doch ist das ebenbesprochene Verfahren schwerlich durchführbar. Inder Praxis würde sich ein solches schrittweises Vor-gehen nicht nur als äußerst mühselig, sondern auchals ungenau erweisen. Zum Glück ist das auch ganzüberflüssig; denn die Mathematik bietet uns einenAbkürzungsweg und ermöglicht somit eine präziseBeschreibung der Bewegung mit viel weniger Druk-kerschwärze, als wir für einen einzigen Satz brau-chen. Die auf diese Weise gewonnenen Resultate las-

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2.008 Einstein/Infeld-Evolution, 52Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sen sich durch die Beobachtung erhärten bzw. wider-legen.

Wir sehen, daß an der Bewegung eines frei fallen-den Steines und an dem Umlauf des Mondes die glei-che Art äußere Kraft beteiligt ist, nämlich die Anzie-hung, welche die Erde auf alle Körper ausübt. New-ton erkannte, daß der fallende Stein, der Mond unddie Planeten im Hinblick auf ihre Bewegung nur Ein-zelfälle, verschiedene Manifestationen einer universel-len Massenanziehung sind, die zwischen allen Kör-pern überhaupt waltet. In einfachen Fällen läßt sichdie Bewegung mit Hilfe der Mathematik beschreibenund voraussagen. In weniger geläufigen und in hoch-gradig komplizierten Fällen, bei denen die wechsel-seitigen Einflüsse vieler Körper mitspielen, ist diemathematische Beschreibung nicht so einfach, dochsind die Grundprinzipien auch hier die gleichen.

Wir finden die Schlußfolgerungen, zu denen wir,ausgehend von unseren Grunderkenntnissen, gelangtsind, in der Bewegung des durch die Luft geworfenenSteines sowie in der des Mondes, der Erde und derPlaneten realisiert.

Es ist unser ganzes System von Annahmen, das mitdem Versuch steht und fällt. Keine Annahme kanneinzeln herausgegriffen und für sich geprüft werden.In bezug auf die um die Sonne kreisenden Planetenbewährt unser mechanisches System sich glänzend.

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2.009 Einstein/Infeld-Evolution, 53Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Trotzdem können wir uns ohne weiteres vorstellen,daß es vielleicht mit einem anderen System, das aufganz anderen Annahmen beruht, genausogut ginge.

Physikalische Begriffe sind freie Schöpfungen desGeistes und ergeben sich nicht etwa, wie man sehrleicht zu glauben geneigt ist, zwangsläufig aus denVerhältnissen in der Außenwelt. Bei unseren Bemü-hungen, die Wirklichkeit zu begreifen, machen wir esmanchmal wie ein Mann, der versucht, hinter den Me-chanismus einer geschlossenen Taschenuhr zu kom-men. Er sieht das Zifferblatt, sieht, wie sich die Zeigerbewegen, und hört sogar das Ticken, doch hat erkeine Möglichkeit, das Gehäuse aufzumachen. Wenner scharfsinnig ist, denkt er sich vielleicht irgendeinenMechanismus aus, dem er alles das zuschreiben kann,was er sieht, doch ist er sich wohl niemals sicher, daßseine Idee die einzige ist, mit der sich seine Beobach-tungen erklären lassen. Er ist niemals in der Lage,seine Ideen an Hand des wirklichen Mechanismusnachzuprüfen. Er kommt überhaupt gar nicht auf denGedanken, daß so eine Prüfung möglich wäre, ja, erweiß nicht einmal, was das ist. Bestimmt glaubt eraber, daß seine Vorstellung von der Wirklichkeitimmer einfacher wird, je mehr sein Wissenshorizontsich weitet, und er ist überzeugt, daß er auf dieseWeise einen immer größeren Kreis seiner sinnlichenWahrnehmungen wird deuten können. Vielleicht

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2.010 Einstein/Infeld-Evolution, 53Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

glaubt er auch an eine unerreichbare Grenze aller Er-kenntnis und daran, daß der Mensch sich mit den Pro-dukten seines Geistes dieser Grenze immer mehr nä-hert. Diese ideale Grenze mag er dann wohl als objek-tive Wahrheit bezeichnen.

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2.011 Einstein/Infeld-Evolution, 53Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Noch eine Spur

Wenn man sich zum erstenmal mit Mechanik beschäf-tigt, so gewinnt man den Eindruck, als ob in diesemWissenschaftszweig alles ganz einfach, unumstößlichund ein für allemal geklärt sei. Kaum jemand wirdwohl auf den Gedanken kommen, daß gerade hier eineSpur zu finden ist, die dreihundert Jahre lang unent-deckt blieb. Dieser vernachlässigte Anhaltspunktsteht im Zusammenhang mit einem der Grundbegriffeder Mechanik, nämlich mit dem der Masse.

Kehren wir zu unserem einfachen idealisierten Ex-periment mit dem Karren zurück, der auf einer voll-kommen glatten Straße entlangrollt. Wenn er sich ur-sprünglich in Ruhe befindet und dann einen Stoß er-hält, so bewegt er sich anschließend gleichförmig miteiner bestimmten Geschwindigkeit. Nehmen wir wei-ter an, daß die Kraft beliebig oft zur Wirkung ge-bracht werden kann, daß die Stöße jedesmal in glei-cher Weise ausgeführt werden und daß immer diegleiche Kraft auf den gleichen Karren einwirkt. Sooftdieses Experiment auch wiederholt werden mag, dieGeschwindigkeit ist nachher immer die gleiche. Wasgeschieht aber, wenn der Versuch anders durchgeführtwird, wenn man den bisher leeren Karren belädt?Nun, der Karren wird beladen nach dem Stoß langsa-

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2.012 Einstein/Infeld-Evolution, 54Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

mer rollen als unbeladen, und daraus schließen wir:Wirkt die gleiche Kraft auf zwei verschiedenartige,ursprünglich ruhende Körper ein, so haben sie nach-her nicht die gleiche Geschwindigkeit. Wir definierendas dahingehend, daß die Geschwindigkeit von derMasse des Körpers abhängt, daß sie also um so gerin-ger wird, je größer die Masse ist.

Wir wissen nun, zumindest theoretisch, wie mandie Masse eines Körpers bestimmt oder, genauer ge-sagt, wie man feststellt, wie viele Male eine Massegrößer ist als eine andere. Wenn wir identische Kräfteauf zwei ruhende Massen einwirken lassen und fest-stellen, daß die Geschwindigkeit der ersten Massedreimal so groß wird wie die der zweiten, so schlie-ßen wir daraus, daß die erste Masse nur ein Drittelder zweiten ausmacht. Das ist freilich kein besonderspraktisches Verfahren zur Bestimmung des Verhält-nisses zweier Massen. Nichtsdestoweniger ist esdurchaus denkbar, die Masse, ausgehend vom Träg-heitsgesetz, auf diese oder eine ähnliche Weise zu be-rechnen.

Wie bestimmen wir die Masse aber nun in der Pra-xis? Natürlich nicht auf die eben geschilderte Art. Dierichtige Antwort wird jedermann geben können. Wirwiegen sie mit der Waage ab.

Nun wollen wir uns aber gleich noch etwas gründ-licher mit diesen beiden verschiedenen Methoden zur

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Bestimmung der Masse befassen.Das erste Experiment hatte absolut gar nichts mit

der Schwerkraft, der Anziehung der Erde, zu tun. DerKarren bewegt sich nach dem Stoß auf einer vollkom-men glatten und horizontalen Ebene entlang. DieSchwerkraft, die den Karren auf der Ebene festhält,ändert sich nicht und ist daher für die Bestimmungder Masse belanglos. Beim Wiegen liegen die Ver-hältnisse ganz anders. Eine Waage wäre überhauptnicht denkbar, wenn nicht alle Körper von der Erdeangezogen würden, wenn es keine Gravitation gäbe.Der Unterschied zwischen den beiden Verfahren zurMassenbestimmung besteht also darin, daß das erstenichts mit der Schwerkraft zu tun hat, während daszweite hauptsächlich auf ihr beruht.

Wir fragen uns nun: Bekommen wir das gleicheheraus, wenn wir das Verhältnis zweier Massen aufbeide oben geschilderte Arten bestimmen? Das Expe-riment gibt uns darauf eine ganz eindeutige Antwort:Beide Methoden kommen auf dasselbe heraus! Daswar an sich nicht vorherzusehen. Wir haben es hiermit einer Erkenntnis zu tun, die auf der Beobachtungund nicht auf verstandesmäßiger Überlegung basiert.Nennen wir der Einfachheit halber die nach dem er-sten Verfahren bestimmte die träge Masse und dienach dem zweiten Verfahren berechnete die schwereMasse. In unserer Welt sind diese Arten von Masse

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nun allerdings beide gleich, doch könnte es auchebensogut anders sein. Sogleich erhebt sich eine wei-tere Frage: Beruht diese Identität auf purem Zufall,oder kommt ihr tiefere Bedeutung zu? Die Antwortder klassischen Physik lautete: Die Identität der bei-den Arten von Masse ist zufälliger Natur, und es wärefalsch, ihr irgendeine tiefere Bedeutung beimessen zuwollen. Die moderne Physik behauptet genau das Ge-genteil: Die Identität der beiden Arten von Masse istvon grundlegender Bedeutung. Sie ist ein neuer, wich-tiger Anhaltspunkt, der geeignet ist, uns zu einem tie-feren Verständnis des Naturgeschehens zu führen. DieIdentität von träger und schwerer Masse gehört dennauch zu den wichtigsten Grundlagen der sogenanntenallgemeinen Relativitätstheorie.

Ein Kriminalroman, in dem mysteriöse Begeben-heiten als zufällig hingestellt werden, ist nicht vielwert. Es ist gewiß wesentlich überzeugender, wenndie Handlung nach einem logisch durchdachten Sche-ma abrollt. Genauso ist eine Theorie, die für die Iden-tität von schwerer und träger Masse eine Erklärungbietet, einer anderen überlegen, bei der diese Identitätals zufällig hingestellt wird, immer vorausgesetzt na-türlich, daß beide Theorien mit dem beobachtetenSachverhalt vereinbar sind.

Da die Identität von träger und schwerer Masse,wie gesagt, für die Formulierung der Relativitätstheo-

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rie von fundamentaler Bedeutung war, erscheint esuns durchaus als gerechtfertigt, diesen Punkt hiernoch etwas genauer zu untersuchen. Welche Experi-mente beweisen überzeugend, daß beide Arten vonMasse gleich sind? Die Antwort liegt in Galileis alt-bekanntem Versuch beschlossen, bei dem er verschie-den große Massen von einem Turm herunterfallenließ. Er bemerkte, daß die Fallzeit immer die gleicheist, daß die Bewegung eines fallenden Körpers alsonicht von seiner Masse abhängt. Um dieses einfache,jedoch äußerst wichtige Versuchsergebnis mit derIdentität der beiden Massearten in Verbindung zubringen, bedarf es einer recht verzwickten Überle-gung.

Ein ruhender Körper weicht aus, wenn eine äußereKraft auf ihn einwirkt; er bewegt sich und erreichteine bestimmte Geschwindigkeit. Er weicht dem be-treffenden Einfluß mehr oder weniger bereitwillig, jenachdem, wie groß seine träge Masse ist. Wenn siegroß ist, stemmt er sich der Bewegung heftiger entge-gen, als wenn sie klein ist. Wir können also sagen,ohne Anspruch auf besondere Exaktheit zu erheben,daß die Bereitwilligkeit, mit der ein Körper einer äu-ßeren Kraft nachgibt, von seiner trägen Masse ab-hängt. Wenn die Erde nun alle Körper mit gleicherKraft anzöge, dann würde derjenige mit der größtenträgen Masse langsamer fallen als alle anderen. Dem

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ist aber nicht so; denn alle Körper fallen gleichmäßig.Daraus folgt, daß die Erde verschieden große Massenverschieden stark anziehen muß. Für die Anziehungs-kraft, welche die Erde beispielsweise auf einen Steinausübt, ist lediglich die Schwerkraft, also die schwereMasse des Steines, maßgebend, während es von derträgen Masse abhängt, in welcher Weise der Stein aufdie von der Erde ausgehende Wirkung reagiert. Dar-aus, daß alle Körper gleich reagieren, daß sie nämlichgleichmäßig zu Boden stürzen, wenn man sie ausgleicher Höhe fallen läßt, muß geschlossen werden,daß schwere und träge Masse ein und dasselbe ist.

Der Physiker formuliert die gleiche Erkenntnisnoch etwas pedantischer: Die Beschleunigung einesfallenden Körpers nimmt proportional zu seinerschweren Masse zu und vermindert sich proportionalzu seiner trägen Masse. Da die Beschleunigung füralle fallenden Körper konstant ist, müssen beide Mas-searten identisch sein.

Im Buche der Natur gibt es keine restlos gelöstenund ein für allemal geklärten Probleme. Nach drei-hundert Jahren mußten wir zu dem Grundproblem derBewegung zurückkehren und das Untersuchungsver-fahren revidieren, um Spuren zu finden, die einstübersehen worden waren, und um auf diese Weiseschließlich zu einer anderen Vorstellung vom Univer-sum zu gelangen.

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Ist Wärme eine Substanz?

Jetzt wollen wir einer neuen Spur folgen, die auf demGebiet der Wärmephänomene ihren Ausgang nimmt.Man kann die Naturwissenschaft nun allerdings un-möglich in getrennte, unzusammenhängende Teilge-biete zerlegen, ja, wir werden sogar bald feststellen,daß die neuen Begriffe, die wir hier einführen wollen,mit den bereits bekannten und denen, die wir erst spä-ter kennenlernen sollen, eng verflochten sind. Ein Ge-dankengang, der in einem bestimmten Wissenschafts-zweig entwickelt wurde, läßt sich sehr oft auch auf dieBeschreibung von Vorgängen anwenden, die schein-bar einen ganz anderen Charakter haben. Will mandas tun, so modifiziert man häufig die ursprünglichenBegriffe, um das Verständnis sowohl für die Phäno-mene, auf die sie zurückgehen, als auch für jene, aufdie sie neuerdings angewandt werden sollen, zu er-leichtern.

Die wichtigsten Begriffe, die man für die Beschrei-bung von Wärmephänomenen braucht, sind Tempera-tur und Wärme. Es hat unglaublich lange gedauert,bis die Naturwissenschaft überhaupt erst einmal soweit war, zwischen diesen beiden Begriffen zu unter-scheiden, doch ging es dann rasch vorwärts. Wenn dieBegriffe heute auch jedermann geläufig sind, so wol-

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len wir sie doch gründlich untersuchen und dabei be-sonders ihre Verschiedenheiten hervorheben.

Unser Tastsinn ermöglicht es uns, ziemlich ein-wandfrei festzustellen, ob ein Körper heiß oder kaltist. Damit haben wir aber nur ein rein qualitativesKriterium, das für eine quantitative Beschreibungnicht ausreicht und manchmal sogar unzuverlässig ist.Das wollen wir an einem wohlbekannten Versuch zei-gen. Drei Gefäße werden mit Wasser gefüllt, einesmit kaltem, eines mit warmem und das dritte mit hei-ßem. Tauche ich eine Hand in das kalte und die ande-re in das heiße Wasser, so erhalte ich von der ersteneine Kälte- und von der zweiten eine Hitzeempfin-dung zugeleitet. Tauche ich aber anschließend beideHände gleichzeitig ins warme Wasser, so habe ichnicht etwa in beiden die gleiche Empfindung, sondernerhalte wiederum zwei einander widersprechende Ein-drücke. Aus dem gleichen Grunde würden auch einEskimo und ein Bewohner äquatorialer Zonen, diesich an einem Frühlingstag in New York träfen, dar-über, ob es dort heiß oder kalt sei, absolut geteilterMeinung sein. Alle Fragen dieser Art klären wir mitdem Thermometer, einem Instrument, das Galilei alserster in primitiver Form konstruierte. (Auch hier be-gegnet uns wieder dieser vielseitige Geist!) Bei derVerwendung des Thermometers gehen wir von eini-gen augenfälligen physikalischen Annahmen aus, die

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wir uns durch Zitierung einiger Zeilen aus Vorlesun-gen vergegenwärtigen wollen, die Ende des 18. Jahr-hunderts von Joseph Black gehalten wurden und sehrviel zur Beseitigung der Schwierigkeiten beigetragenhaben, die sich im Zusammenhang mit den beiden Be-griffen »Wärme« und »Temperatur« ergeben:

Durch den Gebrauch dieser Instrumente haben wirgelernt, daß, wenn wir tausend oder mehrere Artenvon verschiedenen Stoffen nehmen, zum BeispielMetalle, Steine, Salze, Hölzer, Kork, Federn,Wolle, Wasser und eine Menge anderer Flüssigkei-ten, ob sie gleich alle im Anfange verschiedeneGrade der Wärme haben und wir sie zugleich indasselbe ungeheizte Zimmer bringen, alsdann dieWärme von den heißeren Körpern unter ihnen denkälteren mitgetheilt werden wird: und nach Verflußvon einigen Stunden, oder vielleicht auch einemTage, wird, wenn man alsdann das Thermometernach und nach an jedes derselben bringt, ein jedesauch genau denselben Punkt angeben.

Das kursiv gedruckte »verschiedene Grade derWärme« müßte gemäß der heutigen Terminologiedurch »verschiedene Temperatur« ersetzt werden.

Ein Arzt, der einem Kranken das Fieberthermome-ter gerade aus dem Mund nimmt, könnte sich dabei

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folgendes durch den Kopf gehen lassen: »Das Ther-mometer zeigt durch die Länge seiner Quecksilber-säule seine Eigentemperatur an. Ich gehe dabei vonder Annahme aus, daß die Länge der Quecksilbersäu-le proportional zum Temperaturanstieg zunimmt. Nunhat das Thermometer aber ein paar Minuten lang mitmeinem Patienten in Berührung gestanden, so daß Pa-tient und Thermometer die gleiche Temperatur habenmüssen. Ich schließe daraus, daß die Temperatur mei-nes Patienten gleich der auf dem Thermometer ange-zeigten ist.« Nun handelt der Arzt wahrscheinlichmeist mechanisch, doch wendet er jedenfalls physika-lische Prinzipien an, auch wenn er sich darüber keineRechenschaft ablegt.

Enthält das Fieberthermometer darum aber auch diegleiche Wärmemenge wie der Körper des Kranken?Natürlich nicht. Wollte man behaupten, daß zweiKörper nur deshalb, weil ihre Temperatur gleich ist,gleiche Wärmemengen enthalten, so hieße das, wieschon Black sagt ...

... einen zu eiligen Blick auf den Gegenstand wer-fen: es heißt, die Menge der Wärme in verschiede-nen Körpern mit ihrer allgemeinen Stärke oder in-neren Kraft verwechseln, ob es gleich klar ist, daßdies zwey sehr verschiedene Dinge sind, welcheimmer unterschieden werden sollten, wenn wir von

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der Vertheilung der Wärme reden wollen.

Diese Unterscheidung läßt sich an einem sehr einfa-chen Experiment deutlich machen. Ein Liter Wasser,das man auf eine Gasflamme setzt, braucht eine ge-wisse Zeit, bis es von Zimmertemperatur auf Siedehit-ze kommt. Viel länger würde es natürlich dauern,wenn man, sagen wir, zwölf Liter Wasser im gleichenGefäß mit der gleichen Flamme erwärmen wollte.Diese Tatsache interpretieren wir in der Weise, daßwir sagen, es werde im zweiten Falle mehr von einemgewissen »Etwas« gebraucht, und dieses »Etwas«nennen wir eben Wärme.

Ein weiterer wichtiger Begriff, der der spezifischenWärme, wird aus dem folgenden Versuch gewonnen:Zwei Gefäße, eines mit einem Kilogramm Wasser,das andere mit einem Kilogramm Quecksilber, sollenbeide auf die gleiche Art erwärmt werden. DasQuecksilber wird, wie sich zeigt, viel rascher heiß alsdas Wasser, woraus sich ergibt, daß bei diesem Mate-rial weniger »Wärme« vonnöten ist, um die Tempera-tur um einen Grad zu erhöhen. Im allgemeinen kannüberhaupt gesagt werden, daß verschiedene Wärme-mengen notwendig sind, um die Temperaturen glei-cher Massen verschiedener Substanzen, wie Wasser,Quecksilber, Eisen, Kupfer, Holz usw., um einenGrad, also zum Beispiel von 10° auf 11° Celsius zu

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erhöhen. Wir sagen: Jede Substanz hat ihre eigeneWärmekapazität oder spezifische Wärme.

Sowie wir einmal den Begriff »Wärme« klar umris-sen haben, können wir näher auf das Wesen dieser Er-scheinung eingehen. Wenn wir zwei Körper haben,einen warmen und einen kalten, oder, genauer gesagt,von denen der eine eine höhere Temperatur hat als derandere, beide miteinander in Berührung bringen undvon allen äußeren Einflüssen loslösen, so werden sie,wie wir nun schon wissen, nach einer gewissen Zeitdie gleiche Temperatur haben. Wie kommt das aber?Was geschieht zwischen dem Moment, wo sie mitein-ander in Berührung gebracht werden, und dem Au-genblick, wo der Ausgleich der Temperaturen vollzo-gen ist? Zunächst bietet sich die Vorstellung an, dieWärme »fließe« von einem Körper in den anderen,wie Wasser aus größerer Höhe in tiefer gelegene Ge-biete hinabströmt. Diese Vorstellung, mag sie auchprimitiv sein, scheint sich mit vielen Gesetzmäßigkei-ten vereinbaren zu lassen, so daß wir folgende Gegen-überstellung vornehmen können:

Wasser – WärmeHöhere Lage – Höhere TemperaturTiefere Lage – Tiefere Temperatur

Die Strömung hält an, bis beide Niveaus, das heißt

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beide Temperaturen, gleich sind. Aus dieser naivenVorstellung kann nun in quantitativer Hinsicht dieNutzanwendung gezogen werden. Wenn man be-stimmte Massen von Wasser und Alkohol, die beidebestimmte Temperaturen haben, miteinander ver-mischt, so kann man, wenn die spezifische Wärmevon beiden Stoffen bekannt ist, vorhersagen, wie hochdie Temperatur des Gemisches schließlich sein wird.Umgekehrt wird uns eine Messung der Endtemperaturzusammen mit ein wenig Algebra in die Lage setzen,das Verhältnis der spezifischen Wärmewerte beiderStoffe zu finden.

An dem Wärmebegriff, wie er hier dargestelltwurde, bemerken wir eine Ähnlichkeit mit anderenphysikalischen Begriffen. Wärme ist auf Grund obigerÜberlegung also substantieller Natur wie die Massein der Mechanik. Sie läßt sich ihrer Menge nach ver-ändern oder auch erhalten, wie man Geld in einenTresor sperren oder auch ausgeben kann. Der ineinem Tresor enthaltene Geldbetrag bleibt so langeunverändert, wie jener verschlossen ist, und genausoist es mit den Masse- und Wärmequantitäten beieinem isolierten Körper. Das Gegenstück zu einemsolchen Tresor wäre eine ideale Thermosflasche. Fer-ner stellen wir fest: Wie die Masse eines isoliertenSystems unverändert bleibt, selbst wenn eine chemi-sche Umwandlung darin stattfindet, so bleibt die

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Wärme auch dann erhalten, wenn sie von einem Kör-per auf den anderen überströmt. Auch in den Fällen,wo die Wärme nicht zur Temperatursteigerung, son-dern, sagen wir, zum Schmelzen von Eis oder zurVerdampfung von Wasser benutzt wird, können wirsie noch immer als Substanz betrachten, da dieWärme beim Gefrieren des Wassers bzw. bei der Ver-flüssigung des Dampfes ja wieder in Erscheinungtritt. Schon die alten Bezeichnungen – latenteSchmelz- bzw. Verdampfungswärme – lassen erken-nen, daß man sich die Wärme als Substanz dachte.Die latente Wärme ist vorübergehend verborgen wiedas Geld, das man in einen Tresor legt, doch steht siewie dieses jederzeit zur Verfügung, wenn man dierichtige Einstellung des Kombinationsschlosseskennt.

Wärme hat aber bestimmt nicht im gleichen Sinnewie Masse substantiellen Charakter. Masse läßt sichmit Hilfe von Waagen nachweisen, wie steht es aberbei der Wärme? Wiegt ein Stück rotglühendes Eisenmehr als ein eiskaltes? Das Experiment erweist, daßdie letzte Frage verneint werden muß. Wenn Wärmeüberhaupt als Substanz anzusprechen ist, dann nur alseine schwerelose. Die »Wärmesubstanz« wurde frühergewöhnlich als Wärmestoff bezeichnet. Sie ist daserste Mitglied einer großen Familie von schwerelosenSubstanzen, die wir noch näher kennenlernen werden.

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Später haben wir noch Gelegenheit, ihre Familienge-schichte, ihr Werden und Vergehen, zu verfolgen.Vorläufig genügt es, die Existenz dieser einen Sub-stanz zur Kenntnis zu nehmen.

Jede physikalische Theorie ist darauf angelegt,einen möglichst großen Kreis von Phänomenen zudeuten. Sie erscheint in dem Maße gerechtfertigt, wiesie bestimmte Vorgänge verständlich macht. Wirhaben gesehen, daß man mit der Substanztheorie vieleWärmephänomene erklären kann, doch wird es baldklarwerden, daß wir wieder auf der falschen Fährtesind; daß sich Wärme nicht als Substanz, auch nichtals schwerelose, auffassen läßt. Das leuchtet unsgleich ein, wenn wir über ein paar einfache Versucheaus den Anfängen der Zivilisation nachdenken.

Unter einer Substanz verstehen wir hier etwas, wasweder erzeugt noch vernichtet werden kann. Schonder primitive Mensch erzeugte jedoch durch ReibungWärme, die er zur Entzündung von Holz brauchte.Für die Erzeugung von Wärme durch Reibung gibt esja überhaupt viel zu viele und zu wohlbekannte Bei-spiele, als daß es einer Aufzählung derselben bedürf-te. In allen diesen Fällen wird jeweils eine gewisseWärmemenge erzeugt, eine Tatsache, die sich anHand der Substanztheorie schwerlich ausdeuten läßt.Freilich könnte ein Verfechter dieser Theorie dennochArgumente ersinnen, die seiner Meinung nach eine

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Erklärung dieses Phänomens ermöglichen, und etwafolgendes vorbringen: »Mit der Substanztheorie kannman die erwiesene Wärmeerzeugung durchaus erklä-ren. Nehmen wir nur das allereinfachste Beispiel:zwei Holzstücke, die aneinander gerieben werden. DieReibung beeinflußt eben das Holz und verändert seineEigenschaften, und zwar höchstwahrscheinlich so,daß sich bei gleichbleibender Wärmemenge eine hö-here Temperatur entwickelt. Schließlich konstatierenwir ja lediglich den Temperaturanstieg. Es ist dahermöglich, daß die Reibung zwar die spezifischeWärme des Holzes, nicht aber die Gesamtwärmemen-ge darin verändert.«

In dieser Diskussionsphase noch weiter mit demVerfechter der Substanztheorie zu debattieren wärezwecklos; denn die Frage kann nur durch das Experi-ment entschieden werden. Denken wir uns zwei voll-kommen gleiche Holzstücke, und nehmen wir an, daßbei diesen mit verschiedenen Methoden gleiche Tem-peraturänderungen hervorgerufen werden – zum Bei-spiel in dem einen Falle durch Reibung und im ande-ren durch Berührung mit einem Heizkörper. Wennbeide Stücke bei der neuen Temperatur immer nochdie gleiche spezifische Wärme haben, so muß dieganze Substanztheorie zusammenbrechen. Es gibt nunsehr einfache Methoden zur Bestimmung der spezifi-schen Wärme. Die Theorie steht und fällt also mit den

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Ergebnissen solcher Messungen. Versuche, derenAusgang über Sein oder Nichtsein einer Theorie ent-scheidet, hat es in der Geschichte der Physik schonviele gegeben; man nennt sie Experimenta crucis,entscheidende Experimente. Ob ein Versuch grundle-genden Charakter hat oder nicht, läßt sich einzig undallein aus der Fragestellung ersehen, und es kanndamit immer nur eine Theorie über das jeweilige Phä-nomen auf die Probe gestellt werden. Die Bestim-mung der spezifischen Wärme zweier gleichartigerKörper mit gleicher Temperatur, die in dem einenFalle durch Reibung, im anderen dagegen durch Wär-meströmung erzielt wurde, ist ein typisches Experi-mentum crucis. Es wurde 1798 von Sir Rumforddurchgeführt und bedeutete das Ende der substantiel-len Wärmetheorie.

Es folgt ein Auszug aus Rumfords eigenem Berichtmit einer Schilderung des Hergangs:

Es kommt häufig vor, daß sich im normalen All-tagsleben die Gelegenheit ergibt, die seltsamstenNaturerscheinungen näher in Augenschein zu neh-men, und mit Hilfe von Maschinen, die an sich nurfür die rein mechanischen Zwecke des Handwerksgedacht sind, können zuweilen, fast ohne Müheund Aufwand, sehr interessante Versuche von phi-losophischer Bedeutung gemacht werden.

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Ich habe diese Beobachtung jedenfalls schonhäufig gemacht und bin zudem überzeugt, daß dieGepflogenheit, mit offenen Augen durch die Weltzu gehen, sei es nun durch Zufall oder durch dasspielerische Schweifen der Phantasie, das durch dieBetrachtung der alltäglichsten Erscheinungen aus-gelöst wird, öfter zu nutzbringenden Zweifeln undvernünftigen Untersuchungs- und Verbesserungs-plänen geführt hat als alle die intensiven Meditatio-nen der Philosophen, die für ihre Studien bestimm-te Stunden des Tages ansetzen ...

Während ich kürzlich das Bohren von Geschütz-rohren in den Werkstätten des militärischen Arse-nals in München zu überwachen hatte, stellte ichmit Erstaunen fest, welche beträchtliche Wärme einmessingnes Kanonenrohr beim Ausbohren in kur-zer Zeit entwickelt, und bemerkte, daß die Metall-späne, die der Bohrer davon loslöste, noch heißerwurden (viel heißer als kochendes Wasser, wie ichexperimentell feststellte) ...

Woher stammt die Wärme, die ja bei dem oben-erwähnten mechanischen Vorgang effektiv erzeugtwird?

Wird sie von den Metallspänen geliefert, die derBohrer von der festen Metallmasse ablöst?

Wenn das der Fall wäre, so müßte die Kapazitätnach den modernen Lehren von der latenten Wärme

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und vom Wärmestoff nicht nur verändert werden,sondern die Veränderung müßte sogar so groß sein,daß sich alle erzeugte Wärme darauf zurückführenließe.

Eine derartige Veränderung war jedoch nichteingetreten; denn als ich gleiche Gewichtsmengendieser Späne einerseits und dünne Streifchen vomgleichen Metallblock andererseits, die ich mit einerfeinen Säge ablöste, bei gleicher Temperatur (beider von kochendem Wasser) in gleiche Mengenkalten Wassers (die Wassertemperatur betrug 15,3°Celsius) legte, wurde das Wasser, worin die Spänelagen, allem Anschein nach nicht mehr und nichtweniger erwärmt als das andere, in das ich dieStreifchen getan hatte.

Und so kommen wir zu seiner Schlußfolgerung:

Schließlich dürfen wir bei einer Erörterung dieserFrage keinesfalls den äußerst bemerkenswertenUmstand übersehen, daß die Quelle der durch Rei-bung erzeugten Wärme sich bei diesen Versuchenoffensichtlich als unerschöpflich erwiesen hat.

Es erübrigt sich fast hinzuzufügen, daß einEtwas, welches ein isolierter Körper oder ein eben-solches System von Körpern unbegrenzt weiter zuliefern vermag, niemals materieller Natur sein

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kann, und es scheint mir äußerst schwierig, wennnicht gänzlich unmöglich, sich eine klare Vorstel-lung von etwas zurechtzulegen, das sich in derWeise hervorrufen und übertragen läßt wie dieWärme bei diesen Versuchen, es sei denn, es han-delte sich um Bewegung.

Da haben wir den Zusammenbruch der alten Theorieoder, um es präziser auszudrücken: wir sehen, daß dieSubstanzlehre auf Probleme der Wärmeströmung be-schränkt bleiben muß. Wieder müssen wir, wie Rum-ford schon andeutet, nach einer neuen Spur suchen.Zu diesem Zweck wollen wir das Wärmeproblemeinstweilen auf sich beruhen lassen und noch einmalzur Mechanik zurückkehren.

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Die Berg-und-Tal-Bahn

Wir wollen uns jetzt einmal die Bewegung der Berg-und-Tal-Bahn ansehen, dieser beliebten Volksbelusti-gung, die fast in jedem Vergnügungspark zu findenist. Ein kleiner Wagen wird bis zum höchsten Punktder Bahn emporgezogen oder -getrieben. Sobald ersich selbst überlassen bleibt, rollt er zufolge derSchwerkraft abwärts und beschreibt dann eine wildbe-wegte Bahn – auf und ab, rechts herum und linksherum –, so daß die Insassen den Nervenkitzel plötz-licher Geschwindigkeitsänderungen nach Herzenslustauskosten können. Jeder Waggon hat den Gipfelpunktseiner Bahn dort, wo er losgelassen wird. Währendder ganzen weiteren Bewegung erreicht er niemalswieder die alte Höhe. Eine vollständige Beschreibungdieser Bewegung wäre eine sehr komplizierte Angele-genheit. Einmal ist die mechanische Seite des Pro-blems zu beachten, und dazu gehören die laufendenGeschwindigkeits- und Positionsänderungen in derZeit, auf der anderen Seite darf aber auch die Reibungund somit die Erzeugung von Wärme an Schienenund Rädern nicht vergessen werden. Der einzige trifti-ge Grund für die Zerlegung des physikalischen Vor-ganges in diese beiden Aspekte ist der, daß wir danndie zuvor behandelten Begriffe wieder heranziehen

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können. Die Aufteilung führt wiederum zu einemidealisierten Experiment; denn einen physikalischenVorgang, bei dem nur der mechanische Aspekt zutagetritt, kann man sich nur ausdenken; realisieren läßt ersich nicht.

Wir können uns diesen idealisierten Versuch sovorstellen, daß es jemandem gelungen sei, die Rei-bung, die ja stets mit der Bewegung einhergeht, voll-kommen auszuschalten. Dieser Mann beschließt nun,seine Erfindung für den Bau einer Berg-und-Tal-Bahnauszuwerten. Er muß sich natürlich zuerst darüberklarwerden, wie er das Ganze anlegen soll. DerWagen, dessen Bahn in einer Höhe von, sagen wir,dreißig Metern über dem Erdboden beginnt, soll sichständig auf und ab bewegen. Unser Erfinder kommtnach einigem Herumprobieren bald darauf, daß ersich an eine sehr einfache Regel halten kann. Er kanndie Bahn bauen, wie er will, nur darf sie nirgends denAusgangspunkt übersteigen. Wenn der Wagen unge-hindert das Ende seiner Bahn erreichen soll, darf erbeliebig oft auf dreißig Meter kommen, doch niemalshöher. Auf einer wirklichen Berg-und-Tal-Bahn dage-gen wird der Wagen infolge der Reibung niemals dieursprüngliche Höhe wieder erreichen. Unser hypothe-tischer Ingenieur braucht sich darum jedoch nicht zukümmern.

Verfolgen wir nun die Bewegung des idealisierten

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Waggons auf der idealisierten Berg-und-Tal-Bahnvon dem Moment an, wo er vom Ausgangspunkt hin-abzurollen beginnt. Je weiter er kommt, um so gerin-ger wird seine Entfernung vom Erdboden, währenddie Geschwindigkeit gleichzeitig zunimmt. Das erin-nert uns auf den ersten Blick etwas an Sätze wie: »Ichhabe keinen Bleistift, aber du hast sechs Orangen«,die wir aus dem Sprachunterricht kennen. Allerdingsist unser Satz nicht ganz so sinnlos. Zwischen demUmstand, daß ich keinen Bleistift habe, und dem, daßein anderer sechs Orangen besitzt, besteht keinerleiZusammenhang, aber zwischen der Entfernung desWaggons vom Erdboden und seiner Geschwindigkeitläßt sich durchaus eine greifbare Wechselbeziehungnachweisen. Wir können die Schnelligkeit des Wa-gens nämlich für jeden beliebigen Moment berechnen,wenn wir wissen, wie hoch er sich jeweils über demErdboden befindet, doch lassen wir das jetzt auf sichberuhen, weil es sich dabei um quantitative Dingehandelt, die man ja am zweckmäßigsten in mathema-tische Formeln kleidet.

Auf dem höchsten Punkt seiner Bahn, dreißigMeter über dem Erdboden, ist die Geschwindigkeitdes Wagens gleich Null. Am tiefsten Punkt seinerBahn ist die Entfernung vom Erdboden gleich Null,während die Geschwindigkeit dort ihren höchstenWert erreicht.

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Fig. 18

Dieser Sachverhalt läßt sich auch folgendermaßen for-mulieren: Auf dem höchsten Punkt seiner Bahn hatder Waggon nur potentielle, aber keine kinetischeoder Bewegungsenergie. Am tiefsten Punkt hat seinekinetische Energie ihren Maximalwert erreicht, wäh-rend die potentielle Energie gänzlich fehlt. In allendazwischenliegenden Positionen, wo sich eine be-stimmte Geschwindigkeit mit einer gewissen Höhepaart, hat der Waggon dagegen sowohl kinetische alsauch potentielle Energie. Die potentielle Energienimmt mit wachsender Höhe zu, während die kineti-sche Energie in dem Maße größer wird, wie die Ge-schwindigkeit sich steigert. Bei der Erklärung dieserBewegungsform kommen wir also mit den Prinzipiender Mechanik aus. In der mathematischen Formulie-rung scheinen zwei Ausdrücke für die Energie auf, diebeide veränderlich sind, während ihre Summe kon-

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stant bleibt. Somit ist es möglich, den Begriff der po-tentiellen Energie einerseits, die von der Position ab-hängt, und den der kinetischen Energie andererseits,die sich aus der Geschwindigkeit ergibt, auf mathe-matischer und exakt-wissenschaftlicher Basis einzu-führen. Die beiden Bezeichnungen selbst sind natür-lich willkürlich gewählt. Ihre Daseinsberechtigungliegt in ihrer Zweckmäßigkeit. Die Summe beiderGrößen bleibt stets unverändert und wird als Bewe-gungskonstante bezeichnet. Die gesamte Energie, ki-netische plus potentielle, ist einer Substanz, zum Bei-spiel einem Geldbetrag, vergleichbar, dessen Wertman stets auf gleicher Höhe hält, ihn dabei aber unterZugrundelegung eines wohlberechneten Wechselkur-ses ständig von einer Währung in die andere, sagenwir von Dollars in Pfund Sterling und umgekehrt, um-wechselt.

Bei der wirklichen Berg-und-Tal-Bahn, wo dieReibung den Wagen daran hindert, die anfänglicheHöhe nochmals zu erreichen, findet ebenfalls eineständige Verschiebung zwischen kinetischer und po-tentieller Energie statt, nur daß hier die Summe nichtkonstant bleibt, sondern kleiner wird; und es bedarfjetzt eines weiteren beherzten Schrittes von großerTragweite, um die mechanischen und kalorischenAspekte der Bewegung zueinander in Beziehung zusetzen.

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Fig. 19

Später werden wir dann sehen, welche Fülle von Fol-gerungen und Verallgemeinerungen sich aus diesemSchritt ergibt.

Außer kinetischer und potentieller Energie ist alsonun auch noch die Reibungswärme zu berücksichti-gen. Hat diese Wärme etwas mit der Verminderungder mechanischen, das heißt der kinetischen und derpotentiellen Energie zu tun? Wieder ist ein neues Po-stulat fällig: Wenn Wärme als Form der Energie an-gesehen werden kann, bleibt vielleicht die Summevon allen dreien, der Wärme, der kinetischen und derpotentiellen Energie, konstant. Nicht Wärme allein,sondern Wärme und andere Energieformen zusam-mengenommen wären dann gleich einer Substanz un-zerstörbar. Es ist genauso, als ob der Mann, der dieobenerwähnten Dollars in Pfund Sterling umwechselt,

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2.037 Einstein/Infeld-Evolution, 67Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sich selbst eine Provision in Franken auszahle, ohnedie eingenommenen Beträge ausgeben zu wollen, sodaß die Gesamtsumme von Dollar-, Pfund- und Fran-kenbeträgen, nach einem bestimmten Wechselkurs ge-rechnet, immer gleichbliebe.

Der wissenschaftliche Fortschritt hat mit der altenVorstellung von der substantiellen Natur der Wärmeaufgeräumt. Wir wollen es statt dessen nun einmalmit einer neuen Substanz, nämlich mit der Energie,versuchen, von der die Wärme nur eine Spielart ist.

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2.038 Einstein/Infeld-Evolution, 68Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Das Umwandlungsverhältnis

In den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts beschrittJulius Robert Mayer als erster einen neuen Weg. Erkam schließlich dazu, in der Wärme eine Form derEnergie zu sehen – eine Auffassung, die experimentellvon Joule bestätigt wurde. Es ist eine seltsame Häu-fung von Zufällen, daß fast die ganze grundlegendeArbeit über das Wesen der Wärme eigentlich vonNichtphysikern geleistet wurde, die dieses Fach nurals Liebhaberei betrachteten, so der vielseitige Schot-te Black, der deutsche Arzt Mayer und der große ame-rikanische Abenteurer Graf von Rumford, der späterin Europa lebte und unter anderem das Amt eines bay-rischen Kriegsministers innehatte; aber auch der eng-lische Bierbrauer James Prescott Joule gehört dazu,der in seiner Freizeit einige höchst bedeutsame Versu-che mit der Energieumwandlung anstellte.

Joule bestätigte durch das Experiment die Annah-me, daß Wärme eine Form der Energie sei, und er be-stimmte überdies das Umwandlungsverhältnis. Eslohnt sich, kurz darauf einzugehen, zu welchen Ergeb-nissen er gelangte.

Kinetische und potentielle Energie eines Systemsmachen zusammen seine mechanische Energie aus.Bei der Berg-und-Tal-Bahn haben wir die Annahme

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vertreten, daß ein Teil der mechanischen Energie inWärme umgewandelt werden müsse. Wenn dem soist, dann muß für diesen und alle ähnlichen physikali-schen Vorgänge ein bestimmtes Umwandlungsver-hältnis gelten, nach dem die Energie von einer Formin die andere überführt wird. Das ist strenggenommeneine quantitative Frage, doch ist der Umstand, daßman eine bestimmte Quantität mechanischer Energiein eine bestimmte Wärmemenge verwandeln kann,von solcher Tragweite, daß wir uns einmal ansehenwollen, durch welche Zahl dieses Umwandlungsver-hältnis ausgedrückt werden kann, das heißt, wievielWärme wir aus einer bestimmten Menge mechani-scher Energie gewinnen können.

Die Bestimmung dieser Zahl hatte Joule zum Zielseiner Forschungen gemacht. Der Mechanismus, des-sen er sich für eines seiner Experimente bediente,sieht sehr stark dem einer Uhr mit Gewichten ähnlich.Eine solche Uhr wird bekanntlich in der Weise aufge-zogen, daß man zwei Gewichte hochzieht und da-durch die potentielle Energie des Systems vermehrt.Wenn man in den Mechanismus der Uhr sonst nichtweiter eingreift, so kann man ihn als abgeschlossenesSystem ansehen. Die Gewichte senken sich langsam,und die Uhr läuft. Nach einer gewissen Zeit haben dieGewichte ihre tiefste Lage erreicht, und die Uhr bleibtstehen. Was ist aus der Energie geworden? Nun, die

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2.040 Einstein/Infeld-Evolution, 69Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

potentielle Energie der Gewichte ist in die kinetischedes Mechanismus umgewandelt worden, um sich dannals Wärme nach und nach zu verlieren.

Fig. 20

Mit Hilfe einer sinnreichen Modifikation eines der-artigen Mechanismus gelang es Joule, die verlorenge-gangene Wärme und damit das Umwandlungsverhält-nis zu messen. Bei seinem Apparat setzten zwei Ge-wichte ein in Wasser getauchtes Schaufelrad in Um-drehungen. Die potentielle Energie der Gewichtewurde bei den beweglichen Teilen in kinetische Ener-gie umgesetzt, dann aber in Wärme, wodurch dieWassertemperatur stieg. Joule maß diese Temperatur-änderung und berechnete unter Zugrundelegung derbekannten spezifischen Wärme des Wassers die ab-sorbierte Wärmemenge.

Die Ergebnisse zahlreicher Versuche faßt er wie

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folgt zusammen:

Ich schließe ... damit, daß ich ... als bewiesen be-trachte:

1. daß die durch Reibung von Körpern, seien esnun feste oder flüssige, entwickelte Wärmemengeimmer proportional ist der auf gewandten Kraft[mit Kraft meint Joule Energie] und

2. daß zur Entwicklung der Wärmemenge, wel-che im Stande ist, ein [englisches] Pfund Wasser(im leeren Raum und zwischen 55 und 60 Fahren-heit gewogen) um 1 Fahrenheit zu erwärmen, dieAufwendung einer mechanischen Kraft [Energie]erforderlich ist, welche repräsentiert wird durch denFall von 772 Pfund aus einer Höhe von einem Fuß[30, 48 Zentimeter].

Mit anderen Worten: Die potentielle Energie von 772Pfund, die man einen Fuß vom Erdboden hochhebt,entspricht der Wärmemenge, die notwendig ist, umein Pfund Wasser von 55 auf 56 Fahrenheit zu erwär-men. Spätere Experimentatoren haben diesen Wertzwar noch exakter berechnen können, doch ist dasmechanische Äquivalent der Wärme, das Joule imZuge seiner Pionierarbeit fand, an sich immer wiederbestätigt worden.

Sobald dieser wichtige Schritt getan war, vollzog

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sich die weitere Entwicklung recht rasch. Man er-kannte bald, daß die beiden Energiearten, die mecha-nische und die der Wärme, nur zwei von vielen sind.Alles, was sich in eine von beiden umwandeln läßt,ist ebenfalls als Form der Energie anzusehen. So istauch die von der Sonne ausgesandte Strahlung nichtsanderes als Energie; denn ein Teil davon wird auf derErde in Wärme umgesetzt. Auch der elektrischeStrom repräsentiert Energie; denn er erwärmt denDraht oder versetzt die Räder des Elektromotors inUmdrehungen. Kohle enthält chemische Energie, diebei der Verbrennung als Wärme frei wird. Bei allenVorgängen in der Natur wird Energie von einer Formin eine andere umgewandelt, und zwar stets nacheinem ganz bestimmten Umwandlungsverhältnis. Ineinem geschlossenen System, das also von sämtlichenäußeren Einflüssen isoliert ist, bleibt die Energie er-halten, so daß sie sich praktisch wie eine Substanzverhält. Die Summe aller denkbaren Energieformen,die in einem solchen System vorkommen, ist immerkonstant, wenn die einzelnen Energiearten sich auchmengenmäßig ständig verändern mögen. Wenn wirdas ganze Universum als geschlossenes System anse-hen, können wir – wie es die Physiker des neunzehn-ten Jahrhunderts taten – stolz verkünden, daß dieEnergie des Weltalls unveränderlich ist, daß kein Teildavon je erschaffen oder vernichtet werden kann.

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Wir haben also jetzt zwei Substanzbegriffe, Mate-rie und Energie. Für beide gibt es Erhaltungsgesetze:Ein isoliertes System kann weder seiner Masse nochseiner Gesamtenergie nach eine Veränderung erfah-ren. Materie besitzt Gewicht, Energie dagegen istschwerelos. Eben deshalb brauchen wir zwei ver-schiedene Begriffe und zwei Erhaltungsgesetze. Kön-nen wir uns aber heute noch zu diesen Gedankengän-gen bekennen, oder muß diese scheinbar so wohlfun-dierte Anschauung im Lichte neuerer Erkenntnisse alsüberholt angesehen werden? »Allerdings«, lautet dieAntwort auf die letzte Frage. Die Weiterentwicklungdieser Begriffe wurde aber erst durch die Relativitäts-theorie eingeleitet, und so werden wir erst später wie-der hier anknüpfen können.

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Der philosophische Rahmen

Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschunglösen sehr oft einen Wandel in der philosophischenAuffassung auch von Problemen aus, die außerhalbdes beschränkten Rahmens der eigentlichen Naturwis-senschaft liegen. Worauf zielt die exakte Wissen-schaft ab? Was wird von einer Theorie verlangt, wennsie sich für die Beschreibung von Naturereignisseneignen soll? Obwohl diese Fragen nicht mehr zurPhysik gehören, hängen sie doch eng damit zusam-men, da die Naturwissenschaft das Material bildet,aus dem sie sich ergeben. Philosophische Verallge-meinerungen müssen auf wissenschaftliche For-schungsergebnisse gegründet werden. Sind sie aller-dings einmal formuliert und genießen sie allgemeineAnerkennung, so beeinflussen sie sehr häufig ihrer-seits wieder die weitere Entwicklung des wissen-schaftlichen Denkens dadurch, daß sie eine der zahl-reichen denkbaren Möglichkeiten des Vorgehens auf-zeigen. Ein von Erfolg gekröntes Aufbegehren gegendie vorherrschende Meinung gibt in der Regel Anlaßzu einer unvorhergesehenen und absolut neuartigenEntwicklung, die dann wieder zur Quelle neuer philo-sophischer Gesichtspunkte wird. Diese Bemerkungenmüssen natürlich reichlich vage und beziehungslos er-

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scheinen, solange sie nicht durch Beispiele aus derGeschichte der Physik belegt werden.

Wir wollen nun einmal versuchen, die ersten philo-sophischen Ideen über die wissenschaftliche Zielset-zung wiederzugeben. Diese Ideen haben die Entwick-lung der Physik noch bis in die vierziger Jahre des 19.Jahrhunderts stark beeinflußt. Dann aber mußte mansie auf Grund neuer Beweise, neugefundener Gesetz-mäßigkeiten und Theorien fallenlassen, die ihrerseitswieder einen neuen Rahmen für die Wissenschaft ab-gaben:

Von der griechischen Philosophie bis zur modernenPhysik hat es in der Geschichte der Wissenschaft niean Versuchen gefehlt, die scheinbare Vielfältigkeitdes Naturgeschehens auf einige wenige einfacheGrundideen und grundlegende Beziehungen zurückzu-führen. Dieses Prinzip macht das Wesen jeder Natur-philosophie aus. Es kommt sogar im Denken der Ato-misten zum Ausdruck. So schrieb Demokrit um 400v.Chr.:

Süß und bitter, warm und kalt existieren nur nachder herkömmlichen Meinung, und ebenso die Far-ben; in Wirklichkeit existieren nur die Atome unddas Leere [das heißt, die Sinneseindrücke gelten alswirklich, das heißt als der Wirklichkeit genau ent-sprechend; in Wahrheit aber existieren die Sinnes-

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qualitäten gar nicht, sondern nur die Atome unddas Leere].

Dieser Gedanke kommt in der alten Philosophie nichtüber den Charakter einer scharfsinnigen Spekulationhinaus. Naturgesetze für die Zusammenhänge zwi-schen aufeinanderfolgenden Ereignissen waren denGriechen unbekannt. Die Wissenschaft im Sinne einerVerknüpfung von Theorie und Experiment begann ei-gentlich erst mit Galilei. Wir haben vorhin die erstenSpuren verfolgt, die zu den Bewegungsgesetzen hin-führten. Zweihundert Jahre lang waren Kraft und Ma-terie die Grundbegriffe für alle Bestrebungen der Wis-senschaft, das Naturgeschehen zu deuten. Man kannsich unmöglich das eine ohne das andere vorstellen,da Materie ihr Vorhandensein ja nur als Kraftquelle,nämlich durch ihre Einwirkung auf andere Materie,manifestiert.

Nehmen wir das einfachste Beispiel: zwei Parti-keln, zwischen denen Kräfte walten. Die Kräfte, dieman sich am leichtesten vorstellen kann, sind Anzie-hung und Abstoßung. In beiden Fällen liegen dieKraftvektoren auf einer gedachten Linie, welche diebeiden Massenpunkte miteinander verbindet. Da wiruns immer an das Einfachste halten wollen, denkenwir uns also Partikeln, die einander nur anziehen oderabstoßen können. Jede andere Annahme hinsichtlich

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der Richtung der hier waltenden Kräfte würde ein be-deutend komplizierteres Bild ergeben. Können wirbezüglich der Länge der Kraftvektoren eine ebensoeinfache Annahme machen? Selbst wenn wir allzuspezialisierte Annahmen vermeiden wollen, könnenwir auf jeden Fall eines sagen: Die zwischen zwei be-stimmten Partikeln waltende Kraft hängt wie die Mas-senanziehung lediglich von ihrer gegenseitigen Ent-fernung ab.

Fig. 21

Das ist doch wohl einfach genug. Man könnte sichviel kompliziertere Kräfte vorstellen, darunter auchsolche, die vielleicht nicht nur von dem gegenseitigenAbstand, sondern auch von der Geschwindigkeit derbeiden Partikeln abhängen. Wenn wir Materie undKraft als Grundbegriffe haben, können wir allerdingskaum etwas Einfacheres postulieren als Kräfte, dieentlang einer gedachten Verbindungslinie zwischen

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den beiden Partikeln wirken und nur von der Entfer-nung abhängen. Ist es aber wirklich möglich, allephysikalischen Phänomene allein auf Kräfte dieserArt zurückzuführen?

Die großen Errungenschaften, die in allen Zweigender Mechanik erzielt wurden, der erstaunliche Erfolg,den die mechanistische Auffassung in der Astronomiegehabt hat, die Anwendung mechanistischer Ideen aufscheinbar andersartige und ihrem Wesen nach nicht-mechanische Probleme – all das hat den Glauben ge-nährt, daß man durchaus alle Erscheinungen auf ein-fache Kräfte müsse zurückführen können, die zwi-schen unveränderlichen Objekten walten. Währendder ganzen zwei Jahrhunderte, die dem Zeitalter Gali-leis folgten, läßt sich an fast allen naturwissenschaft-lichen Arbeiten nachweisen, daß man teils bewußt,teils unbewußt immer wieder eine derartige Vereinfa-chung anstrebte. Um die Mitte des neunzehnten Jahr-hunderts formulierte Hermann von Helmholtz diesganz klar:

Es bestimmt sich also endlich die Aufgabe der phy-sikalischen Naturwissenschaften dahin, die Natur-erscheinungen zurückzuführen auf unveränderliche,anziehende und abstoßende Kräfte, deren Intensitätvon der Entfernung abhängt. Die Lösbarkeit dieserAufgabe ist zugleich die Bedingung der vollständi-

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gen Begreiflichkeit der Natur.

Demnach ist der Naturwissenschaft ihre Entwick-lungslinie unverrückbar vorgezeichnet. Sie muß sichin festen Bahnen bewegen.

Ihr Geschäft wird vollendet sein, wenn einmal dieZurückleitung der Erscheinungen auf einfacheKräfte vollendet ist und zugleich nachgewiesenwerden kann, daß die gegebene die einzig möglicheZurückleitung sei, welche die Erscheinungen zulas-sen.

Einem Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts er-scheint diese Ansicht trocken und naiv. Es würde ihnmit Entsetzen erfüllen, wenn er glauben müßte, derkühne Flug der Gedanken, von dem die Forschung ge-tragen wird, könnte schon so bald sein Ende findenund durch ein wenn auch fehlerloses, so doch trostlo-ses Weltbild abgelöst werden, das für alle Zeiten fest-steht. Wenn man mit diesen Lehren auch alles Ge-schehen auf einfache Kräfte zurückführen zu könnenvermeinte, so ließ man doch die Frage offen, wiediese Kräfte eigentlich mit der Entfernung zusammen-hängen sollten. Es wäre ja denkbar, daß dieses Ab-hängigkeitsverhältnis für verschiedene Phänomeneverschieden sein könnte. Ist man aber genötigt, für

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verschiedene Vorgänge verschiedene Arten von Kräf-ten einzuführen, so ist das vom Standpunkt des Philo-sophen aus gesehen sicherlich unbefriedigend. Nichts-destoweniger spielte dieses sogenannte mechanisti-sche Denken, das von Helmholtz auf die prägnantesteFormel gebracht wurde, seinerzeit eine bedeutendeRolle. Eine der größten Leistungen, die unter dem un-mittelbaren Einfluß des mechanistischen Denkensvollbracht wurden, ist die Aufstellung der kinetischenTheorie der Materie.

Bevor wir uns dann später dem Niedergang desmechanistischen Denkens zuwenden, wollen wir abernoch einmal versuchsweise den Standpunkt des Physi-kers des neunzehnten Jahrhunderts einnehmen und zu-sehen, welche Schlüsse wir aus seiner Vorstellungvon der Außenwelt ziehen können.

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Die kinetische Theorie der Materie

Ist es möglich, die mit der Wärme zusammenhängen-den Erscheinungen aus Bewegungen von Partikeln zuerklären, die mit einfachen Kräften aufeinander ein-wirken? – Ein geschlossenes Gefäß soll eine gewisseMenge eines Gases, zum Beispiel Luft, mit einer be-stimmten Temperatur enthalten. Durch Erwärmungerhöhen wir die Temperatur und vermehren somit dieEnergie. Was hat diese Wärme aber mit Bewegung zutun? Der Gedanke an einen solchen Zusammenhangkommt uns sowohl, wenn wir uns unseres versuchs-weise eingenommenen philosophischen Standpunktesbewußt werden, als auch in Anbetracht der Tatsache,daß man Wärme durch Bewegung erzeugen kann.Wärme muß einfach mechanische Energie sein, wennalle Probleme mechanischer Natur sind. Nun auch denMaterialbegriff in diesem Sinne zu fassen, ist derZweck der kinetischen Theorie, nach der ein Gas eineAnsammlung von ungeheuer vielen Partikeln oderMolekülen ist, die sich nach allen Richtungen hin be-wegen, fortwährend zusammenstoßen und ihre Bewe-gungsrichtung bei jeder Kollision ändern. Es mußeine Durchschnittsgeschwindigkeit für Molekülegeben, genauso wie man in einer großen menschlichenLebensgemeinschaft ein Durchschnittsalter oder ein

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Durchschnittsvermögen bestimmen kann, und folglichmuß es auch eine durchschnittliche kinetische Energiepro Partikel geben. Je mehr Wärme in dem Gefäß vor-handen ist, um so größer ist die durchschnittliche ki-netische Energie darin. Nach dieser Vorstellung istWärme also keine Spezialform der Energie im Gegen-satz zur mechanischen, sondern nichts weiter als diekinetische Energie der Molekularbewegung. JederTemperatur entspricht sonach eine bestimmte durch-schnittliche kinetische Energie pro Molekül. Das istabsolut keine willkürliche Annahme. Wenn wir unse-re Vorstellung von der Materie nämlich konsequentvon der Mechanik her aufbauen wollen, sind wir ein-fach gezwungen, die kinetische Energie der Moleküleals Maßstab für die Temperatur eines Gases anzuse-hen.

Diese Theorie ist mehr als bloßes Spiel der Gedan-ken. Es läßt sich nämlich nachweisen, daß die kineti-sche Gastheorie nicht nur mit dem Experiment verein-bar ist, sondern darüber hinaus zu einem tieferen Ver-ständnis der Gesetzmäßigkeiten führt. Das soll jetztan Hand weniger Beispiele illustriert werden.

Ein Gefäß, das mit einem frei beweglichen, mit Ge-wichten beschwerten Kolben verschlossen ist, solleine bestimmte Menge eines Gases enthalten, dessenTemperatur auf gleicher Höhe gehalten wird. Wennder Kolben sich anfänglich in einer bestimmten Stel-

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lung in der Ruhelage befindet, kann er durch Wegneh-men von Gewichten aufwärts und durch Beschwerenabwärts bewegt werden. Will man den Kolben nachunten pressen, muß man sich dazu einer Kraft bedie-nen, die dem Druck, der dem Gas innewohnt, entge-genwirkt. Wie kommt dieser Druck nach der kineti-schen Theorie zustande? Nun, eine Unzahl von Parti-keln, aus denen sich das Gas ja zusammensetzt, be-wegt sich nach allen Richtungen. Die Teilchen bom-bardieren die Wände und den Kolben und prallen abwie Bälle, die man gegen die Mauer schleudert.

Fig. 22

Dieses ständige Bombardement durch eine Unmengevon Partikeln sorgt dafür, daß die Schwerkraft, dieden Kolben mit den Gewichten nach unten ziehen

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möchte, ausgeglichen wird, so daß er sich in einer be-stimmten Höhe hält. Nach der einen Richtung ziehtdie immer gleichbleibende Schwerkraft, in der ande-ren wirken zahllose unregelmäßige, von den Molekü-len herrührende Stöße. Wenn das Gleichgewicht er-halten bleiben soll, muß die Gesamtwirkung aller die-ser kleinen ungleichmäßigen Kräfte auf den Kolbengleich dem von der Schwerkraft ausgeübten Einflußsein.

Nehmen wir an, der Kolben würde nun nach untengestoßen, so daß er das Gas auf einen Bruchteil seinesfrüheren Volumens, sagen wir, auf die Hälfte, kom-primiert, wobei die Temperatur jedoch nach wie vorunverändert bleiben soll. Was wird jetzt, nach der ki-netischen Theorie, geschehen? Tritt die durch dasBombardement erzeugte Kraft stärker oder schwächerin Erscheinung als vorher? Nun, die Partikeln sind jafester zusammengeballt, und wenn die durchschnittli-che kinetische Energie auch noch immer die gleicheist, ereignen sich jetzt doch häufiger als zuvor Zusam-menstöße von Partikeln mit dem Kolben, wodurch dieKraft in ihrer Gesamtheit wachsen wird. Aus dieserDarstellung erhellt, daß nach der kinetischen Theoriemehr Gewicht gebraucht wird, um den Kolben in derneuen, tieferen Stellung zu halten. Daß diese Vermu-tung den Tatsachen entspricht, ist allgemein bekannt.Sie ergibt sich aber auch ohnedies als logische Folge

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aus unserer Theorie, mit der wir den Aufbau der Ma-terie kinetisch erklären wollen.

Ändern wir unsere Versuchsanordnung ein wenigab. Denken wir uns zwei Gefäße, die gleiche Volumi-na verschiedener Gase, sagen wir Wasserstoff undStickstoff, von gleicher Temperatur enthalten. BeideGefäße sollen mit gleichartigen, gleichmäßig be-schwerten Kolben verschlossen sein, kurz, beide Gasehaben gleiches Volumen sowie gleiche Temperaturund stehen unter gleichem Druck. Da die Temperaturgleich ist, muß nach unserer Theorie für die durch-schnittliche kinetische Energie pro Partikel dasselbegelten. Da auch der Druck in beiden Fällen gleich ist,werden die beiden Kolben mit der gleichen Gesamt-kraft bombardiert. Im Durchschnitt haben also allePartikeln die gleiche Energie, und da beide Gefäßeüberdies das gleiche Volumen haben, muß die Zahlder Moleküle in beiden die gleiche sein, wenn dieGase auch chemisch verschieden sind. Diese Erkennt-nis ist für das Verständnis vieler chemischer Vorgän-ge überaus wichtig. Sie besagt nämlich, daß die An-zahl der Moleküle, die bei einer bestimmten Tempera-tur und einem bestimmten Druck einen bestimmtenRauminhalt erfüllen, nicht nur für ein bestimmtesGas, sondern für alle Gase die gleiche sein muß. Esist höchst beachtlich, daß die kinetische Theorie nichtnur die Existenz einer solchen Universalzahl voraus-

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sagt, sondern sogar ihre genaue Berechnung ermög-licht. Wir werden gleich darauf zurückkommen.

Die kinetische Theorie der Materie erklärt die fürGase geltenden, experimentell gefundenen Gesetzesowohl quantitativ als auch qualitativ. Überdiesbleibt sie durchaus nicht auf die Gase beschränkt,wenn auch auf diesem Gebiet ihre größten Erfolge lie-gen.

Gase kann man durch eine Senkung der Temperaturverflüssigen. Eine Abkühlung von Materie kommteiner Verminderung der durchschnittlichen kineti-schen Energie ihrer Partikeln gleich. Es ist somit klar,daß die durchschnittliche kinetische Energie einerFlüssigkeitspartikel geringer ist als die einer entspre-chenden Gaspartikel.

Die erste Manifestation der Bewegung von Flüssig-keitspartikeln, die der Wissenschaft bekannt wurde,war die sogenannte Brownsche Bewegung, ein er-staunliches Phänomen, das ohne die kinetische Theo-rie der Materie völlig mysteriös und unbegreiflichbleiben müßte. Diese Bewegung wurde von dem Bo-taniker Robert Brown beobachtet und achtzig Jahrespäter, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, gedeutet. Daseinzige für die Beobachtung der Brownschen Bewe-gung erforderliche Gerät ist ein Mikroskop; esbraucht nicht einmal ein besonders gutes zu sein.

Brown arbeitete mit den Pollen bestimmter Pflan-

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zen, also mit ...

... an sich ungewöhnlich großen Partikeln oderKörnchen, deren Durchmesser zwischen einemViertausendstel und etwa einem Fünftausendsteleines Zolls [fünf bis sechs tausendstel Millimeter]schwankt.

Er fährt dann fort:

Während ich die Form dieser Partikeln, die ich inWasser untergetaucht hatte, untersuchte, nahm ichwahr, daß viele von ihnen sich unzweifelhaft be-wegten ... Diese Bewegungen waren von der Art,daß ich nach wiederholten weiteren Beobachtungendie feste Überzeugung gewann, daß sie weder aufStrömungen innerhalb der Flüssigkeit noch aufderen allmähliche Verdunstung zurückzuführensein konnten; daß sie vielmehr den Partikeln selbsteigentümlich waren.

Was Brown beobachtete, war eine unaufhörliche Rüt-telbewegung, von der die Körnchen erfaßt werden,wenn sie im Wasser frei schweben – eine Bewegung,die sich durch das Mikroskop beobachten läßt. Einüberaus imposanter Anblick!

Spielt es eine Rolle, von welcher Pflanzengattung

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der Blütenstaub stammt? Brown löste diese Frage da-durch, daß er das Experiment mit den Produkten vonvielen verschiedenen Pflanzen wiederholte. Er fand,daß Körnchen aller Art, sofern sie nur klein genugsind, eine derartige Bewegung ausführen, sobald sieins Wasser kommen. Darüber hinaus wies er die glei-che rastlose, unregelmäßige Bewegung auch bei sehrkleinen Partikeln von anorganischen und organischenSubstanzen nach. Auch als er das pulverisierte Frag-ment von einem Nachtfalter nahm, machte er die glei-che Beobachtung!

Wie läßt sich diese Bewegung erklären? Sie scheintin Widerspruch zu allen früheren Erfahrungen zu ste-hen. Wenn wir die Position einer frei schwebendenPartikel einmal, sagen wir, alle 30 Sekunden registrie-ren, so sehen wir erst, welch seltsame Bahn sie be-schreibt. Das Erstaunlichste ist der scheinbar ewigeCharakter der Bewegung. Wenn man ein hin und herschwingendes Pendel ins Wasser steckt, so kommt esbald zum Stehen, wenn es nicht durch irgendeine äu-ßere Kraft neuen Antrieb erhält. Die Existenz einerniemals nachlassenden Bewegung steht offensichtlichin Widerspruch zu jeder Erfahrung. Diese Schwierig-keit wurde jedoch mit Hilfe der kinetischen Theorieder Materie blendend gemeistert.

Selbst wenn wir dem Wasser mit den stärksten Mi-kroskopen zu Leibe gehen, können wir keine Molekü-

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le oder eine Bewegung derselben wahrnehmen, die esja nach der kinetischen Theorie der Materie gebensoll. Daraus müssen wir schließen, daß die Partikelnvon einer Größenordnung sind, der das Auflösungs-vermögen selbst der besten Mikroskope nicht ge-wachsen ist, sofern es überhaupt stimmt, daß Wassereine Ansammlung von Partikeln ist. Bleiben wir aberruhig weiterhin bei unserer Theorie, und nehmen wiran, daß sie eine lückenlose Deutung der tatsächlichenVerhältnisse ermögliche. Die im Mikroskop sichtba-ren Brownschen Partikeln werden von den noch klei-neren Partikeln, aus denen sich das Wasser selbst zu-sammensetzt, bombardiert. Die Brownsche Bewegungtritt immer dann auf, wenn die bombardierten Parti-keln nur klein genug sind, und sie wird dadurch her-vorgerufen, daß dieses Bombardement nicht von allenSeiten gleichmäßig erfolgt und somit auf Grund sei-nes unregelmäßigen und vom Zufall regierten Charak-ters nicht ausgewogen sein kann. Die beobachtete Be-wegung ist also nur das Ergebnis einer nicht wahr-nehmbaren. Das Verhalten der großen Partikeln spie-gelt in gewisser Beziehung das der Moleküle widerund stellt sozusagen eine Vergrößerung dar, die sostark ist, daß die Bewegung durch das Mikroskop ge-sehen werden kann. Die Unregelmäßigkeit und Unbe-rechenbarkeit der Bahnen, welche die BrownschenPartikeln beschreiben, läßt darauf schließen, daß die

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2.060 Einstein/Infeld-Evolution, 81Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Bahnen der kleineren Partikeln, aus denen sich dieMaterie zusammensetzt, genauso unregelmäßig sind.Man begreift, daß eine quantitative Untersuchung derBrownschen Bewegung uns einen tieferen Einblick indie kinetische Theorie der Materie vermitteln müßte.Es liegt auf der Hand, daß die sichtbare BrownscheBewegung mit der Größe der unsichtbaren Molekülezusammenhängt, die das Bombardement ausführen.Die Brownsche Bewegung wäre undenkbar, wenn diebombardierenden Moleküle nicht eine gewisse Ener-gie oder, um es anders auszudrücken, eine bestimmteMasse und eine bestimmte Geschwindigkeit hätten.Es nimmt daher nicht wunder, daß die Untersuchungder Brownschen Bewegung eine Bestimmung der Mo-lekularmasse ermöglicht.

In mühsamer Forschungsarbeit theoretischer undexperimenteller Art wurden die quantitativen Aspekteder kinetischen Theorie geklärt. Die Spur, auf die unsdas Phänomen der Brownschen Bewegung gebrachthat, war eine von denen, die zu quantitativen Datenführten. Man kann diese Daten auf verschiedene Artund Weise und von ganz verschiedenen Seiten her er-halten. Es ist von größter Bedeutung, daß mit allendiesbezüglichen Methoden eine Bestätigung ein undderselben Theorie erbracht werden kann; denn das istein Beweis für die innere Logik der kinetischen Theo-rie der Materie.

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Tafel I

Brownsche Teilchen unter dem Mikroskop(Foto J. Perrin)

Langbelichtete Aufnahme eines BrownschenTeilchens mit flächigem Effekt(Foto Brumberg und Vavilov)

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Nacheinander beobachtete Positionen einesBrownschen Teilchens

Der aus diesen Beobachtungen abgeleitete ungefähreWeg des Teilchens

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2.063 Einstein/Infeld-Evolution, 82Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Hier soll nur eines der vielen quantitativen Resulta-te angeführt werden, zu denen man in experimentellerund theoretischer Arbeit gelangt ist. Nehmen wir an,wir haben ein Gramm des leichtesten aller Elemente,des Wasserstoffes, und wollen wissen, wie viele Parti-keln in diesem einen Gramm enthalten sind. Das Er-gebnis gilt dann nicht nur für Wasserstoff, sondernauch für alle anderen Gase; denn wir wissen ja be-reits, unter welchen Umständen zwei Gasquantitätendie gleiche Zahl von Partikeln enthalten.

Die Theorie setzt uns in die Lage, diese Aufgabemit Hilfe gewisser Messungen der an frei schweben-den Partikeln beobachteten Brownschen Bewegung zulösen. Das Ergebnis ist eine unglaublich große Zahl:eine Drei mit 23 Stellen! In einem Gramm Wasser-stoff sind 303 000 000 000 000 000 000 000 Mole-küle enthalten.

Denken wir uns die Moleküle eines Gramms Was-serstoff einmal so sehr vergrößert, daß sie mikrosko-pisch sichtbar wären, daß sie also einen Durchmesservon fünf tausendstel Millimeter bekämen, wie ihn dieBrownschen Partikeln haben. Wir würden dann eineKiste mit einer Seitenlänge von etwa vierhundert Me-tern brauchen, wenn wir sie dicht an dicht verpackenwollten!

Die Masse einer solchen Wasserstoffpartikel kön-nen wir leicht berechnen, wenn wir die Zahl Eins

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durch die eben angeführte Zahl dividieren. Das Er-gebnis ist die unvorstellbar kleine Zahl

0,000 000 000 000 000 000 000 0033;

und das ist also die Masse eines Wasserstoffmolekülsin Gramm.

Die Experimente mit der Brownschen Bewegungsind nur ein paar von den vielen voneinander unab-hängigen Versuchen, die alle eine Bestimmung dieserfür die Physik so wichtigen Zahl ermöglichen.

In der kinetischen Theorie der Materie sehen wir,wie auch in all den bedeutenden Errungenschaften, diewir ihr verdanken, die Realisierung eines bestimmtenallgemeinen philosophischen Programms, das daraufabzielt, alle Erscheinungen auf eine zwischen Mate-rieteilchen existierende Wechselwirkung zurückzu-führen.

Wir fassen zusammen:In der Mechanik läßt sich der Weg, den ein in Bewe-gung befindlicher Körper beschreibt, vorausberech-nen, und auch seine Vergangenheit kann man be-stimmen, wenn sein gegenwärtiger Zustand samtden Kräften bekannt ist, die auf ihn einwirken.

So kann man zum Beispiel alle Planetenbahnenvorausberechnen. Die hierbei mitspielenden Kräftesind durch die Newtonsche Massenanziehung gege-

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ben, die einzig und allein von der Entfernung ab-hängt. Die großartigen Erfolge der klassischen Me-chanik legen den Gedanken nahe, das mechanisti-sche Denken müsse sich folgerichtig auf alle Zweigeder Physik ausdehnen lassen, und alle Erscheinun-gen müßten aus dem Walten von Kräften erklärtwerden können, die sich entweder als Anziehungoder als Abstoßung äußern, ausschließlich von derEntfernung abhängen und zwischen unveränderli-chen Partikeln wirksam sind.

An der kinetischen Theorie der Materie sehen wir,wie diese Gedankengänge, ausgehend von mechani-schen Problemen, später auf die Wärmephänomeneübergreifen und letzten Endes eine brauchbare Vor-stellung von der Struktur der Materie liefern.

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2.066 Einstein/Infeld-Evolution, 83Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Der Niedergang des mechanistischen Denkens

Die beiden elektrischen Fluida

Die nächsten Seiten bringen eine mehr oder wenigereintönige Schilderung einiger sehr einfacher Experi-mente, die schon einmal deshalb langweilig ist, weildie bloße Beschreibung von Versuchen niemals so in-teressant sein kann wie ihre praktische Durchführung,dann aber auch, weil ihr Sinn erst klar wird, wennman von der Theorie her an sie herangeht.

Fig. 23

Wir wollen damit gleichzeitig ein besonders augenfäl-liges Beispiel für den Wert der Theorie in der Physikgeben.

1. Ein Metallstab ruht auf einem Glasfuß, und

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seine beiden Enden sind mit Drähten an je ein Elek-troskop angeschlossen. Was ist ein Elektroskop?Nun, ein einfacher Apparat, der im wesentlichen auszwei Blattgoldstreifen besteht, die am unteren Endeeines kurzen Metallstumpfes angehängt sind. DasGanze steckt in einer Glasflasche, und das darin be-findliche Metall kommt nur mit nichtmetallischenKörpern, sogenannten Isolatoren, in Berührung.Außer Elektroskop und Metallstab haben wir nocheinen Hartgummistab und einen Flanelllappen.

Das Experiment wird folgendermaßen ausgeführt:Zunächst sehen wir nach, ob die Streifen im zusam-mengelegten Zustand herunterhängen; denn das sollensie normalerweise. Ist das zufällig nicht der Fall, sokönnen wir es sofort in Ordnung bringen, indem wirden Metallstab mit dem Finger berühren. Sind dieseVorbereitungen erledigt, reiben wir den Hartgummi-stab kräftig mit dem Flanelltuch und halten ihn dannan das Metall. Sofort klaffen die Streifen auseinander!Sie bleiben sogar auch dann noch gespreizt, wenn wirden Stab schon wieder weggenommen haben.

2. Nun kommt ein anderes Experiment, zu dem wirden gleichen Apparat verwenden wie vorher. Wiederhängen die Streifen zu Anfang zusammengelegtherab. Diesmal bringen wir den Gummistab abernicht direkt mit dem Metall in Berührung, sondernhalten ihn nur in die Nähe. Wieder klaffen die Streifen

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auseinander, nur sinken sie augen blicklich in ihreAusgangsstellung zurück, wenn der Stab wieder weggenommen wird, ohne das Metall berührt zu haben,während sie bei dem vorigen Versuch ja gespreiztblieben.

3. Für das dritte Experiment wollen wir unserenApparat etwas um ändern. Nehmen wir an, der Me-tallstab bestünde aus zwei Teilen, die lose aneinan-dergefügt sind. Wir reiben nun wieder den Gummi-stab mit dem Tuch und nähern ihn dem Metall. Es ge-schieht das gleiche: die Streifen klaffen auseinander.Jetzt wollen wir aber den Metallstab erst in seine bei-den Teile zerlegen und dann erst den Gummistabwegnehmen. Ergebnis: die Streifen bleiben gespreizt,statt wie beim zweiten Experiment in die Ausgangs-stellung zurückzukehren.

Fig. 24

Für diese einfachen und naiven Experimente wirdkaum jemand ein brennendes Interesse aufbringen. ImMittelalter hätte man dem Experimentator wahr-

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scheinlich noch den Prozeß gemacht, uns kommen dieVersuche aber langweilig und außerdem unlogischvor. Es wäre jedoch schwierig, sie nach einmaligemDurchlesen obiger Schilderung fehlerlos nachzuma-chen. Mit ein wenig Theorie können wir sie aber ganzgut verstehen, ja, man kann sogar sagen, daß eineplanlose, rein zufällige Durchführung solcher Experi-mente, ohne daß bereits mehr oder weniger fest umris-sene Ideen über ihren Sinn und Zweck existieren,kaum denkbar ist.

Wir wollen nun einmal die Grundideen einer sehreinfachen und naiven Theorie umreißen, mit der manalle die geschilderten Erscheinungen deuten könnte:

Es gibt zwei elektrische Fluida, ein sogenanntespositives Fluidum (+) und ein negatives (–). In demweiter oben besprochenen Sinne, nämlich insofern,als sie mengenmäßig vermehrt oder vermindert wer-den können, haben diese Fluida in gewisser Weisesubstantiellen Charakter, doch bleibt ihr Gesamtbe-trag in jedem isolierten System immer gleich. Den-noch besteht ein wesentlicher Unterschied zwischender Elektrizität und den Erscheinungen, bei denen essich um Wärme, Materie oder Energie handelt; dennwir haben zweierlei elektrische Substanz. Mit demGeldvergleich von vorhin können wir hier nur dannarbeiten, wenn wir ihn etwas verallgemeinern: EinKörper ist elektrisch neutral, wenn die positiven und

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negativen elektrischen Fluida einander genau aufhe-ben. Wenn ein Mensch kein Geld hat, so entwederdeshalb, weil er tatsächlich gar nichts besitzt, oderaber, weil der Geldbetrag, den er in seinem Tresoraufbewahrt, genau gleich der Summe seiner Schuldenist. So könnte man die Eintragungen in den RubrikenSoll und Haben seines Hauptbuches mit den beidenelektrischen Fluida vergleichen.

Die nächste Annahme unserer Theorie ist die, daßzwei gleichnamige elektrische Fluida einander absto-ßen, während zwei ungleichnamige sich anziehen.Das kann man graphisch auf folgende Art und Weisedarstellen:

Fig. 25

Wir müssen aber noch ein letztes Postulat in unsere

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Theorie aufnehmen: Es gibt zwei Arten von Körpern,solche, in denen die Fluida sich ungehindert bewegenkönnen, sogenannte Leiter, und solche, in denen dasnicht der Fall ist, sogenannte Nichtleiter oder Isolato-ren. Wie immer in derartigen Fällen, dürfen wir esmit dieser Klassifizierung nicht allzu genau nehmen.Ideale Leiter bzw. Isolatoren gibt es in Wirklichkeitnicht. Metalle, Erde, menschliche Körper – das sindLeiter, deren Qualität allerdings verschieden ist. Glas,Gummi, Porzellan und dergleichen zählen zu den Iso-latoren. Die Luft kann nur teilweise als Isolator ange-sehen werden, wie jedermann weiß, der schon einmalbei Experimenten wie den oben geschilderten zugese-hen hat. Es gilt immer als gute Ausrede, wenn mandas Mißlingen elektrostatischer Experimente der Luft-feuchtigkeit zuschreibt, die ja die Leitfähigkeit erhöht.

Die genannten theoretischen Annahmen reichen zurErklärung der drei beschriebenen Experimente aus.Wir wollen sie nun noch einmal in der gleichen Rei-henfolge durchsprechen, und zwar im Lichte derTheorie von den elektrischen Fluida:

1. Der Gummistab ist, wie andere Körper unternormalen Verhältnissen auch, elektrisch neutral. Erenthält zweierlei Fluida, nämlich positive und negati-ve Elektrizität, zu gleichen Teilen. Wenn wir ihn mitFlanell reiben, scheiden wir diese beiden Fluida. Dasist eine rein konventionelle Vorstellung, eine Anwen-

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dung der aus der Theorie entwikkelten Terminologieauf die Beschreibung dessen, was beim Reiben desStabes geschieht. Die Elektrizitätsart, die nachher indem Stab überwiegt, nennen wir die negative, undauch das ist natürlich reine Formsache. Wenn wir zuden Versuchen einen Glasstab verwendet und diesenmit einem Katzenfell gerieben hätten, würden wir aufGrund der geltenden Regeln genötigt gewesen sein,den Elektrizitätsüberschuß positiv zu nennen. Im wei-teren Verlauf des Experimentes übertragen wir da-durch elektrisches Fluidum auf den metallenen Leiter,daß wir ihn mit dem Gummistab berühren. Hier kannes sich ungehindert bewegen und über das ganze Me-tall einschließlich der Blattgoldstreifen ausbreiten. Dazwei negative Ladungen einander abstoßen, zeigendie beiden Streifen das Bestreben, sich möglichst weitvoneinander zu entfernen. Das Ergebnis ist die beob-achtete Spreizung. Da das Metall in Glas oder einenanderen Isolator gebettet ist, verharrt das Fluidum aufdem Leiter, solange die Leitfähigkeit der Luft das zu-läßt. Wir verstehen jetzt auch, warum wir vor Beginndes Experimentes das Metall berühren müssen. Tunwir das, so bilden Metall, Körper und Erde nämlicheinen einzigen riesigen Leiter, über den das elektri-sche Fluidum sich so fein verteilt, daß auf dem Elek-troskop praktisch nichts mehr zurückbleibt.

2. Dieses Experiment beginnt genauso wie das vor-

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hergehende, nur daß der Gummistab, statt das Metallzu berühren, diesem lediglich an genähert werdendarf. Die beiden in dem Leiter vorhandenen Fluidawerden geschieden, da sie sich ja frei bewegen kön-nen; das eine wird angezogen, das andere abgestoßen.Wird der Gummistab entfernt, vermischen sie sichwieder, da ungleichnamige Fluida einander, wie wirwissen, anziehen.

3. Der Gummistab wird erst dann weggenommen,wenn der Metall stab in seine beiden Hälften zerlegtist. In diesem Falle können die bei den Fluida sichnicht wieder miteinander vermischen, so daß die Blattgoldstreifen gespreizt bleiben, weil sie ja jeweilsüberwiegend mit einem der beiden elektrischen Fluidageladen sind.

Fig. 26

Im Lichte dieser einfachen Theorie erscheinen allebisher besprochenen Gesetzmäßigkeiten durchausverständlich, ja, wir können damit sogar noch viele

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andere Tatsachen aus dem Reiche der Elektrostatik –wie dieses Gebiet genannt wird – erklären. Theorienhaben den Zweck, uns auf neue Gesetzmäßigkeitenaufmerksam zu machen, zu neuen Experimenten anzu-regen und die Wege zur Entdeckung neuer Phänome-ne und Gesetze zu ebnen. Ein Beispiel möge das ver-deutlichen. Stellen wir uns den zweiten Versuch inetwas veränderter Form vor: Ich halte den Gummistabin die Nähe des Metalls und berühre den Leitergleichzeitig mit dem Finger. Was geschieht? Nun,nach der Theorie wird das abgestoßene Fluidum (–)durch meinen Körper entweichen, so daß nur das an-dere, das positive, zurückbleibt. Nur die Streifen desElektroskops, das dem Gummistab am nächsten ist,bleiben gespreizt. Führen wir diesen Versuch prak-tisch durch, so finden wir unsere Voraussage bestä-tigt.

Die Theorie, mit der wir hier arbeiten, ist, vomStandpunkt der modernen Physik aus betrachtet, zwei-fellos naiv und unzulänglich, doch ist sie insofern ty-pisch, als sie die charakteristischen Merkmale derphysikalischen Theorie schlechthin besitzt.

In der Naturwissenschaft gibt es keine Theorienvon ewiger Gültigkeit. Es kommt immer wieder vor,daß der eine oder andere Umstand, der nach der Theo-rie eintreten müßte, bei experimenteller Nachprüfungausbleibt. Jede Theorie unterliegt einem allmählichen

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Entwicklungsprozeß, und jede hat ein Stadium derTriumphe, um danach womöglich sehr rasch in derVersenkung zu verschwinden. Aufstieg und Nieder-gang der substantiellen Wärmetheorie, die wir schonbesprochen haben, bilden nur eines von vielen Bei-spielen. Weitere, und zwar solche mit noch größererTragweite und Bedeutung, wollen wir später behan-deln. Fast jeder große wissenschaftliche Fortschritt er-gibt sich aus der Krise einer überalterten Theorie. Zu-nächst bemüht man sich in solchen Fällen immer, ausden Schwierigkeiten, die sich im Laufe der Zeit aufge-türmt haben, einen Ausweg zu finden. So müssen wiruns in altes Gedankengut, alte Theorien versenken,auch wenn sie längst der Vergangenheit angehören;denn sonst können wir Bedeutung und Geltungsbe-reich neuer Ideen niemals richtig einschätzen.

Auf den ersten Seiten dieses Buches haben wir dieRolle des Wissenschaftlers mit der eines Detektivsverglichen, der, nachdem er das erforderliche Tatsa-chenmaterial gesammelt hat, die richtige Lösungdurch bloßes Nachdenken finden muß. In einem we-sentlichen Punkte muß dieser Vergleich als äußerstoberflächlich bezeichnet werden. Sowohl im wirkli-chen Leben als auch im Kriminalroman ist das Ver-brechen selbst nämlich gegeben. Der Detektiv mußsich nach Briefen, Fingerabdrücken, Projektilen,Schußwaffen und dergleichen umsehen, doch weiß er

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jedenfalls gewöhnlich, daß ein Mordfall vorliegt.Beim Wissenschaftler liegt der Fall nicht so einfach.Es ist gar nicht so schwer, sich einen Menschen vor-zustellen, der absolut keine Ahnung von der Elektrizi-tät hat; schließlich lebten ja die Alten auch vergnügtund munter, ohne sie zu kennen. Wenn man einemsolchen Menschen nun ein Stück Metall, ferner Blatt-gold, Flaschen, Hartgummistab und Flanelltuch in dieHand gibt, kurz, das ganze Material, das für dieDurchführung unserer drei Experimente notwendigist, so wird er am Ende, selbst wenn es sich um einesehr gebildete Person handelt, die Flaschen mit Weinfüllen und den Lappen zum Putzen verwenden, nie-mals aber auf den Gedanken kommen, die oben ge-schilderten Prozeduren auszuführen. Für den Detektivist das Verbrechen gegeben, das Problem gestellt:Wer hat Cock Robin ermordet? oder so etwas; derWissenschaftler aber muß, wenn man so sagen darf,sein Verbrechen, zumindest teilweise, selbst begehen.Dann erst kann er mit der Untersuchung beginnen.Überdies besteht seine Aufgabe nicht nur darin, einenbestimmten Einzelfall zu klären, sondern vielmehralle Vorgänge zu deuten, die sich abgespielt habenbzw. noch abspielen können.

Die Einführung des Fluidumbegriffes geht auf denEinfluß der mechanistischen Ideen zurück, die aufeine Erklärung alles Geschehens mit Substanzen und

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einfachen, zwischen diesen Substanzen waltendenKräften ausgerichtet sind. Wenn wir feststellen wol-len, ob sich die mechanistische Methode wirklich fürdie Beschreibung elektrischer Phänomene eignet,müssen wir uns mit dem folgenden Problem befassen:

Wir denken uns zwei kleine Kugeln, die beide elek-trisch geladen sind, die also beide einen Überschuß aneinem der elektrischen Fluida haben. Wir wissen, daßdiese Kugeln einander entweder anziehen oder absto-ßen. Hängt diese Kraft aber nur mit ihrem gegenseiti-gen Abstand zusammen, und wenn ja, dann wie? Nun,die einfachste Annahme scheint die zu sein, daß zwi-schen dieser Kraft und der Entfernung der gleiche Zu-sammenhang besteht wie im Falle der Massenanzie-hung, die ja zum Beispiel auf ein Neuntel ihrer Inten-sität absinkt, wenn die Entfernung verdreifacht wird.Die von Charles Augustin de Coulomb angestelltenVersuche zeigten nun, daß dieses Gesetz tatsächlichauch hier gilt. Hundert Jahre nachdem Newton dasGravitationsgesetz gefunden hatte, entdeckte Cou-lomb ein ganz ähnliches Abhängigkeitsverhältnis derelektrischen Kräfte von der Entfernung. Die beidenbedeutendsten Unterschiede zwischen Newtons Ge-setz und dem von Coulomb sind die folgenden: DieAnziehungskraft der Gravitation ist immer wirksam,während elektrische Kräfte nur dann gegeben sind,wenn die betreffenden Körper elektrische Ladungen

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besitzen. Ferner gibt es im Falle der Gravitation nurAnziehung, während elektrische Kräfte sowohl anzu-ziehen als auch abzustoßen vermögen.

Hier erhebt sich wieder die gleiche Frage, mit derwir uns schon bei der Behandlung der Wärme ausein-anderzusetzen hatten: Sind die elektrischen Fluidaschwerelose Substanzen oder nicht? Mit anderenWorten: Ist das Gewicht eines Stückes Metall im neu-tralen und im geladenen Zustand immer gleich? Unse-re Waagen zeigen keinerlei Unterschied an. Darausschließen wir, daß die elektrischen Fluida gleichfallszur Gruppe der schwerelosen Substanzen zählen.

Die weitere Entwicklung der Elektrizitätslehrebringt wieder zwei neue Begriffe mit sich. StrengeDefinitionen wollen wir wie bisher vermeiden und unsstatt dessen einer Gegenüberstellung der neuen mitbereits bekannten Begriffen bedienen. Wir entsinnenuns, wie wesentlich es für das Verständnis der Wär-mephänomene war, die Wärme selbst von der Tempe-ratur zu unterscheiden. Hier müssen wir nun in dersel-ben Weise zwischen elektrischem Potential und elek-trischer Ladung unterscheiden, was sich am bestendurch folgende Gegenüberstellung verdeutlichen läßt:

elektrisches Potential – Temperatur,elektrische Ladung – Wärme.

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Zwei Leiter, zum Beispiel zwei verschieden großeKugeln, die gleiche elektrische Ladungen, das heißt,einen gleichen Überschuß an einem der beiden elektri-schen Fluida haben, werden ihrem Potential nach den-noch verschieden sein, und zwar wird die kleinereKugel ein höheres und die größere ein niedrigeres Po-tential aufweisen. In dem kleinen Leiter hat das elek-trische Fluidum eine größere Dichte, so daß es stärkerzusammengedrängt ist als in dem anderen. Da die ab-stoßenden Kräfte naturgemäß mit zunehmender Dich-te größer werden müssen, ist die Ladung der kleinerenKugel intensiver als die der großen bestrebt, sich»loszureißen«. Das Bestreben, vom Leiter zu entwei-chen, ist ein direkter Maßstab für das Potential einerLadung. Um den Unterschied zwischen Ladung undPotential noch klarer herauszuarbeiten, wollen wir einpaar Sätze aufstellen, die das Verhalten erwärmterKörper beschreiben, und diesen dann die entsprechen-den, für geladene Leiter geltenden Aussagen gegen-überstellen:

WÄRMEZwei Körper, die ursprünglich verschiedene Tempera-turen haben, erreichen nach einiger Zeit die gleicheTemperatur, wenn sie miteinander in Berührung ge-bracht werden.Gleiche Wärmemengen rufen bei zwei Körpern, deren

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Wärmekapazität verschieden ist, verschiedene Tem-peraturänderungen hervor.Ein Thermometer, das mit einem Körper in Berüh-rung kommt, zeigt – durch die Länge seiner Quecksil-bersäule – seine Eigentemperatur und somit die Tem-peratur des Körpers an.

ELEKTRIZITÄTZwei isolierte Leiter, die ursprünglich verschiedeneselektrisches Potential haben, erreichen sehr rasch dasgleiche Potential, wenn der Kontakt zwischen ihnenhergestellt wird.Gleich große elektrische Ladungen rufen bei zweiKörpern, deren elektrische Kapazität verschieden ist,verschiedene Veränderungen des elektrischen Potenti-als hervor.Ein Elektroskop, das mit einem Leiter Kontakt hat,zeigt – durch die Spreizung der Blattgoldstreifen –sein eigenes elektrisches Potential und somit das desLeiters an.

Diese Analogie darf man nun freilich nicht zu weittreiben. Wir wollen ein Beispiel anführen, das sowohldie Unterschiede als auch die Parallelen zwischenWärme und Elektrizität verdeutlicht. Wenn man einenheißen Körper mit einem kalten in Berührung bringt,so strömt die Wärme vom heißeren zum kälteren hin-

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über. Nehmen wir auf der anderen Seite zwei isolierteLeiter mit gleichen, aber ungleichnamigen Ladungen,einer positiven und einer negativen, so ist das Potenti-al dennoch bei beiden verschieden. Der Gepflogenheitgemäß betrachten wir das Potential einer negativenLadung als das niedrigere, während das einer positi-ven Ladung als das höhere gilt. Wenn die beiden Lei-ter miteinander in Berührung gebracht oder mit einemDraht verbunden werden, dürfen sie nach der Theorievon den elektrischen Fluida keine Ladung und somitauch keinerlei elektrische Potentialdifferenz mehr zei-gen. Wir können uns nur denken, daß die elektrischeLadung während der kurzen Zeit, in der sich der Aus-gleich der Potentialdifferenz vollzieht, von einem Lei-ter zum anderen »fließt«. Wie aber soll das vor sichgehen? Fließt das positive Fluidum zum negativenKörper, oder strömt das negative Fluidum zum positi-ven hinüber?

Die bisher besprochenen Gesetzmäßigkeiten bietenkeinerlei Handhabe für eine Wahl zwischen diesenbeiden Alternativen. Wir können es damit nach Belie-ben halten oder auch annehmen, daß die Strömungs-vorgänge sich in beiden Richtungen gleichzeitig voll-ziehen. Das Ganze ist eben reine Formsache, undwofür wir uns auch entscheiden, dürfen wir unsererWahl doch keinerlei sonstige Bedeutung beimessen;denn es ist uns kein Verfahren bekannt, das eine expe-

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rimentelle Lösung dieser Frage erlaubt. Erst die wei-tere Entwicklung, die eine viel tiefgründigere Elektri-zitätslehre brachte, ermöglichte auch eine Lösung die-ses Problems – eine Lösung, die vollkommen sinnloserschiene, wenn man sie mit den Mitteln der simplenund primitiven Theorie von den elektrischen Fluidaformulieren wollte. Hier wollen wir uns darum derEinfachheit halber vorläufig mit folgender Feststel-lung begnügen: Das elektrische Fluidum fließt vondem Leiter mit dem höheren Potential zu dem mitdem niedrigeren Potential. Bei unseren beiden Leiternvon vorhin fließt die Elektrizität also vom positivenzum negativen. Diese Feststellung ist rein formellerNatur und im übrigen absolut willkürlich. Aus dieserSchwierigkeit läßt sich ersehen, daß die Parallelitätvon Wärme und Elektrizität keineswegs vollkommenist.

Fig. 27

Wir wissen jetzt, daß es durchaus möglich ist, dieelementaren Gesetzmäßigkeiten der Elektrostatik imSinne der mechanistischen Auffassung zu deuten. Das

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gleiche läßt sich nun, wie wir sehen werden, bei denmagnetischen Erscheinungen machen.

Fig. 28

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Die magnetischen Fluida

Auch hier wollen wir in der gleichen Weise zu Werkegehen wie vorhin, also mit ganz einfachen Tatsachenbeginnen und dann eine theoretische Erklärung dafürsuchen.

1. Wir haben zwei lange Stabmagnete, von denender eine in der Mitte frei beweglich aufgehängt ist.Den anderen halten wir in der Hand. Die Enden bei-der werden einander genähert, bis sich eine starke An-ziehung zwischen ihnen bemerkbar macht. Bleibt die-ser Effekt aus, müssen wir den Magneten umdrehenund es mit dem anderen Ende probieren. Dann geht esbestimmt. Sofern die Stäbe überhaupt magnetischsind, muß sich eine Wirkung einstellen. Die Endender Magnete bezeichnen wir als Pole. Wir bewegennun den Pol des Magneten, den wir in der Hand hal-ten, an dem anderen Magneten entlang. Zunächst be-merken wir eine Abnahme der Anziehungskraft, undwenn der Pol die Mitte des schwebenden Magnetenerreicht hat, sind überhaupt keine Anzeichen für dasVorhandensein irgendeiner Kraft mehr feststellbar.Wird der Pol in der gleichen Richtung weiterbewegt,läßt sich schließlich eine Abstoßung beobachten, dieam anderen Pol des aufgehängten Magneten ihregrößte Intensität erreicht.

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2. Das geschilderte Experiment bringt uns gleichauf ein weiteres. Können wir nicht, da jeder Magnetzwei Pole hat, einen davon isolieren? Man müßteeinen Magneten kurzerhand in zwei gleiche Teile zer-brechen. Nun haben wir zwar gesehen, daß zwischendem Pol eines Magneten und dem Mittelstück einesanderen keine Kraft waltet, doch wenn wir einen Ma-gneten wirklich durchbrechen, so gewahren wir etwasüberaus Verblüffendes und Unvorhergesehenes. Wie-derholen wir nämlich das unter eins beschriebene Ex-periment an einem halben, frei aufgehängten Magne-ten, so beobachten wir genau das gleiche wie zuvor!Dort, wo ursprünglich keine Spur von Magnetismuszu bemerken war, befindet sich jetzt ein kräftiger Pol.

Fig. 29

Wie sollen wir uns das erklären? Man könnte versu-chen, eine Theorie des Magnetismus nach dem Musterder Lehre von den elektrischen Fluida auszuarbeiten.Der Gedanke daran liegt deshalb nahe, weil wir eshier genauso wie bei den elektrostatischen Phänome-nen mit Anziehung und Abstoßung zu tun haben.Denken wir uns einmal zwei kugelförmige Leiter mit

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gleicher Ladung, nur soll die eine positiv und die an-dere negativ sein. »Gleich« heißt hier: mit gleichemabsolutem Wert, so wie + 5 und – 5 gleich sind. Neh-men wir nun an, diese Kugeln seien mit einem Isola-tor, also etwa einem Glasstab, verbunden. Schema-tisch kann man diese Anordnung durch einen Pfeildarstellen, der von dem negativ geladenen Leiter zumpositiven zeigt. Das Ganze wollen wir als elektri-schen Dipol bezeichnen. Es ist klar, daß zwei solcheDipole sich bei Experiment 1 genauso verhalten wür-den wie die Stabmagnete. Wenn wir in unserer Kon-struktion das Modell eines richtigen Magneten sehenwollten, so könnten wir unter der Voraussetzung, daßes wirklich magnetische Fluida gibt, sagen, ein Ma-gnet sei nichts weiter als ein magnetischer Dipol, deran seinen beiden Enden zwei verschiedenartige Fluidaenthält. Diese eng an die Elektrizitätslehre angelehnteeinfache Theorie kann für eine Erklärung des erstenExperiments als ausreichend angesehen werden. DieAnziehung am einen, die Abstoßung am anderen Endeund die Ausgewogenheit von gleichnamigen und un-gleichnamigen Kräften in der Mitte – alles hat seineRichtigkeit. Wie steht es aber mit dem zweiten Ver-such? Wenn wir den Glasstab des elektrischen Dipolsdurchbrechen, so bleiben uns zwei isolierte Pole. Mitdem Eisenstab des magnetischen Dipols müßte esaber nun, entgegen den Resultaten des zweiten Expe-

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riments, genauso sein. Dieser Widerspruch nötigt uns,eine etwas subtilere Theorie zu entwickeln. Andersals bei dem letzten Modell wollen wir uns jetzt viel-leicht einmal vorstellen, daß der Magnet aus sehr klei-nen magnetischen Elementardipolen besteht, die sichnicht mehr in separate Pole zerlegen lassen. In demMagneten herrscht mustergültige Ordnung; denn alleElementardipole weisen in die gleiche Richtung. Wirsehen sofort, warum zwei neue Pole entstehen müs-sen, wenn man einen Magneten teilt, und daß man mitdieser verbesserten Theorie den Verlauf der Experi-mente 1 und 2 erklären kann.

Fig. 30

Viele Gesetzmäßigkeiten kann man aber auch mitder einfacheren Theorie erklären, ohne die verbesserteForm heranzuziehen. Ein Beispiel: Wir wissen, daßein Magnet Eisenstücke anzieht. Warum tut er das?Nun, in einem normalen Stück Eisen sind die beidenmagnetischen Fluida vermengt, so daß sich keine ein-seitige Wirkung zeigt. Wird diesem Eisenstück nun

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ein positiver Pol genähert, so wirkt dieser auf dieFluida wie ein »Teilungsbefehl«; er zieht das negativeFluidum des Eisens an und weist das positive ab. Sokommt die Anziehung zwischen Eisen und Magnetzustande. Wird der Magnet weggenommen, kehrendie Fluida mehr oder weniger vollständig zu ihrem ur-sprünglichen Zustand zurück, je nachdem, wie starkdas »Kommandowort« der äußeren Kraft bei ihnennachwirkt.

Über die quantitative Seite des Problems ist nichtviel zu sagen. Wir könnten an zwei sehr langen Stab-magneten den Grad der Anziehung (oder Abstoßung)ihrer Pole bei gegenseitiger Annäherung genau zu be-stimmen suchen. Sind die Stäbe nur lang genug, kannman den Einfluß der abgewandten Enden vernachläs-sigen. Wir haben zu fragen, wie sich die Anziehungbzw. Abstoßung zu dem Abstand zwischen den betei-ligten Polen verhält. Nun, nach Coulombs Versuchliegt hier die gleiche Beziehung zwischen Kraft undEntfernung vor, wie wir sie schon bei Newtons Gravi-tationsgesetz und Coulombs elektrostatischem Gesetzkennengelernt haben.

Auch an dieser Theorie können wir wieder sehen,wie man nach Möglichkeit immer zu verallgemeinernsucht und bestrebt ist, alle Erscheinungen auf Anzie-hungs- und Abstoßungskräfte zurückzuführen, die nurvon der Entfernung abhängen und zwischen unverän-

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derlichen Partikeln wirksam sind.Noch eine wohlbekannte Tatsache sei hier erwähnt,

auf die wir später wieder zurückkommen werden:auch die Erde ist ein gewaltiger magnetischer Dipol.Es gibt nicht die geringste Spur einer Erklärung dafür.Der geographische Nordpol fällt etwa mit dem ma-gnetischen Minuspol und der Südpol mit dem magne-tischen Pluspol zusammen. Auch in diesem Fallewurde die Benennung der Pole mit Plus und Minusvollkommen willkürlich vorgenommen, doch habenwir das einmal geregelt, können wir wenigstens auchin allen sonst vorkommenden Fällen von Magnetis-mus die Pole benennen.

Eine auf einer vertikalen Achse schwebende Ma-gnetnadel gehorcht dem Befehl der magnetischen Erd-kräfte. Sie zeigt mit ihrem Pluspol nach dem geogra-phischen Nordpol, das heißt nach dem magnetischenMinuspol der Erde.

Wenn wir nun auch im Bereich der bisher bespro-chenen elektrischen und magnetischen Erscheinungenim Sinne der mechanistischen Auffassung schaltenund walten können, ohne uns in Widersprüche zu ver-wickeln, so haben wir doch gar keinen Grund, unsdarauf etwas einzubilden oder in Jubelrufe auszubre-chen. Schließlich ist die Theorie ja doch in manchenPunkten mangelhaft, wenn nicht sogar entmutigend.Es mußten immerhin Substanzen erfunden werden –

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zwei elektrische Fluida und magnetische Elementardi-pole –, und so haben wir es allmählich schon miteiner erdrückenden Fülle von Stoffen zu tun.

Die Kräfte sind einfacher Natur. Sie lassen sichimmer auf ähnliche Weise ausdrücken, ganz gleich,ob es sich um die Massenanziehung oder um elektri-sche und magnetische Kräfte handelt. Der Preis, derfür diese Vereinfachung gezahlt werden muß, ist aller-dings hoch; es ist die Einführung neuer schwereloserSubstanzen, recht krampfhafter Begriffe, die zu derGrundsubstanz, der Masse, kaum in Beziehung zusetzen sind.

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Die erste große Schwierigkeit

Jetzt sind wir so weit gekommen, daß wir die erstebedeutende Schwierigkeit behandeln können, die sichaus der praktischen Anwendung unseres philosophi-schen Grundprinzips ergibt. Später wird noch zu zei-gen sein, daß diese Schwierigkeit zusammen mit eineranderen, noch ernsteren, zu einem vollständigenSchiffbruch der Auffassung führte, daß man alle Er-scheinungen auf mechanistische Weise erklärenkönne.

Die kolossale Entfaltung der Elektrizität im Rah-men von Wissenschaft und Technik nahm mit derEntdeckung des elektrischen Stromes ihren Anfang.Wir haben es hier mit einem der wenigen Beispieleaus der Geschichte der Naturwissenschaft zu tun, woder Zufall offenbar eine entscheidende Rolle gespielthaben muß. Die Geschichte von dem zuckendenFroschschenkel erzählt man sich in einer ganzenReihe verschiedener Versionen. Mögen diese Berichtenun im einzelnen stimmen oder nicht, jedenfalls kanndoch nicht daran gezweifelt werden, daß Luigi Galva-nis zufällige Entdeckung Ende des achtzehnten Jahr-hunderts den Forscher Alessandro Graf Volta zumBau des sogenannten Voltaschen Elements bewog,dem heute zwar keine praktische Bedeutung mehr zu-

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kommt, das aber noch immer wegen seiner Einfach-heit und leichten Verständlichkeit im Schulunterrichtund in Lehrbüchern als Musterbeispiel für eineStromquelle herangezogen wird.

Die Voltasche Batterie ist nach einem ganz einfa-chen Prinzip gebaut. Sie besteht aus mehreren Glä-sern mit Wasser, dem ein wenig Schwefelsäure beige-mengt ist. In jedes Glas werden zwei Metallplatten,eine kupferne und eine aus Zink, getaucht. Die Kup-ferplatte des ersten Glases wird nun an die Zinkplattedes nächsten angeschlossen und so weiter, bis nurnoch die Zinkplatte des ersten und die Kupferplattedes letzten Glases ohne Anschluß sind. Zwischen derKupferplatte des ersten und der Zinkplatte des letztenGlases können wir mittels eines einigermaßen emp-findlichen Elektroskops eine Differenz des elektri-schen Potentials nachweisen, sofern die Anzahl dereinzelnen Elemente, also der mit Platten versehenenGläser, aus denen die Batterie sich zusammensetzt,nur groß genug ist.

Nur wenn wir einen Strom erhalten wollen, der sichmit einem Meßgerät nachweisen läßt, wie wir esschon kennen, brauchen wir eine aus mehreren Ele-menten bestehende Batterie wie die eben geschilderte.Im übrigen kommen wir aber bei den nun folgendenBetrachtungen durchaus mit einem Einzelelement aus.Es zeigt sich, daß die Kupferplatte ein höheres Poten-

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tial hat als die aus Zink, und zwar ist das Potential indem Sinne höher, wie +2 größer ist als –2. Wenn einLeiter an die freie Kupferplatte und ein anderer an dieaus Zink angeschlossen wird, so sind beide geladen,der erstgenannte positiv und der andere negativ. Dasalles ist weder neu noch aufsehenerregend, und sokönnen wir ja hier wieder versuchen, mit dem früherschon entwickelten Begriff der Potentialdifferenz zuarbeiten. Wir haben damals gesehen, daß eine Poten-tialdifferenz zwischen zwei Leitern sich rasch dadurchaufheben läßt, daß man beide mit einem Draht verbin-det, so daß elektrisches Fluidum von einem Leiterzum anderen fließen kann. Dieser Vorgang ähnelt,wie wir feststellten, dem der Temperaturangleichungdurch Wärmeströmung. Trifft das nun aber auch aufdas Voltasche Element zu? Volta schreibt in seinerAbhandlung über dieses Thema, daß die Platten sichwie Leiter verhalten ...

... die schwach geladen sind und diese Ladung un-aufhörlich beibehalten. Es mag auch sein, daß ihreLadung sich nach jeder Entladung wieder erneuert.Jedenfalls ist das Ergebnis eine unerschöpflicheLadung bzw. ein fortwährendes Wirken, ein unauf-hörlicher Erregungszustand des elektrischen Flui-dums.

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Das Ergebnis des Voltaschen Versuchs ist insofernerstaunlich, als die Potentialdifferenz zwischen derKupferplatte und der aus Zink hier nach Herstellungeiner Drahtverbindung nicht verschwindet, wie dasbei den beiden geladenen Leitern in unserem früherenBeispiel der Fall war. Die Differenz bleibt bestehenund muß nach der Lehre von den Fluida einen ständi-gen Strom elektrischen Fluidums vom höheren Poten-tialniveau (Kupferplatte) zum niedrigeren (Zinkplatte)bewirken. Wenn wir die Lehre von den Fluida den-noch retten wollen, müssen wir annehmen, daß einestets gegenwärtige Kraft die Potentialdifferenz fort-laufend erneuert und auf diese Weise einen Stromelektrischen Fluidums hervorruft, doch ist das Ganzedann immer noch im Hinblick auf die Energie merk-würdig. In dem stromdurchflossenen Draht entstehtnämlich eine beachtliche Wärmemenge, die sogar aus-reicht, ihn zum Schmelzen zu bringen, wenn er rechtdünn ist. Es wird also in dem Draht Wärmeenergie er-zeugt. Da dem Voltaschen Element nun aber vonaußen keine Energie zugeführt wird, bildet es ein iso-liertes System. Wenn wir das Gesetz von der Erhal-tung der Energie retten wollen, müssen wir also her-ausfinden, wo die Umwandlungen stattfinden und aufKosten welcher anderen Energieform die Wärme ent-steht. Man kann nun unschwer feststellen, daß sich indem Element verwickelte chemische Vorgänge ab-

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spielen, an denen die untergetauchten Kupfer- undZinkplatten wie auch die Flüssigkeit selbst aktiv be-teiligt sind. Energiemäßig vollziehen sich nacheinan-der folgende Umwandlungen: chemische Energie →Energie des strömenden elektrischen Fluidums, das istelektrischer Strom → Wärme. Ein Voltasches Ele-ment hält allerdings nicht ewig; auf Grund der mit derStromerzeugung zusammenhängenden chemischenUmsetzungen wird es nämlich mit der Zeit aufge-braucht.

Das Experiment, aus dem sich nun aber die eigent-lichen großen Schwierigkeiten in der Anwendung me-chanistischer Prinzipien ergaben, muß jedem, der zumerstenmal davon hört, zunächst seltsam vorkommen.Es wurde ungefähr um 1820 von Hans Christian Ør-sted durchgeführt, der darüber folgendes schreibt:

Aus diesen Versuchen schien zu erhellen, daß dieMagnetnadel sich mittelst des galvanischen Appa-rats aus ihrer Lage bringen lasse, und zwar bei ge-schlossenem galvanischen Kreise, und nicht bei of-fenem, wie vor mehreren Jahren einige berühmtePhysiker umsonst es versucht haben.

Nehmen wir an, wir haben ein Voltasches Elementund einen Leitungsdraht. Wenn der Draht nur an dieKupferplatte, nicht aber an die aus Zink angeschlos-

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2.096 Einstein/Infeld-Evolution, 100Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sen ist, existiert zwar eine Potentialdifferenz, dochkann kein Strom fließen. Denken wir uns den Drahtnun zu einem Kreis gebogen, in dessen Mitte eineMagnetnadel so plaziert ist, daß Draht und Nadel inderselben Ebene liegen. Solange der Draht nicht andie Zinkplatte kommt, erfolgt gar nichts. Es sindkeine Kräfte im Spiel, und die vorhandene Potential-differenz hat keinerlei Einfluß auf die Stellung derNadel. Es ist nicht leicht einzusehen, wieso die»hochberühmten Physiker«, wie Ørsted sie nennt, miteinem solchen Einfluß überhaupt rechnen konnten.

Wenn wir den Draht nun aber auch an die Zink-platte anschließen, so ereignet sich im gleichen Au-genblick etwas Merkwürdiges: die Magnetnadel be-wegt sich nämlich und stellt sich so ein, daß einerihrer Pole zum Leser zeigt, wenn die Buchseite alsEbene des Kreises gedacht wird. Dieser Effekt mußvon einer Kraft hervorgerufen werden, die senkrechtzur Kreisebene auf den Magnetpol einwirkt. Nur sound nicht anders können wir uns angesichts diesesExperiments die Kraft vorstellen, die hier waltet.

Das Experiment ist zunächst deshalb interessant,weil es eine Beziehung zwischen zwei scheinbar ganzverschiedenartigen Phänomenen, dem Magnetismusund dem elektrischen Strom, aufzeigt, doch ist auchnoch ein anderer, sogar noch wichtigerer Punkt zu be-achten.

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Fig. 31

Die Kraft, die zwischen den Magnetpolen und denihnen gegenüberliegenden kleinen Abschnitten desstromdurchflossenen Drahtes waltet, kann nicht dieRichtung von gedachten Verbindungslinien zwischenDraht und Nadel bzw. zwischen den Partikeln desströmenden elektrischen Fluidums und den magneti-schen Elementardipolen haben; denn sie wirkt jasenkrecht zu diesen Linien. Zum erstenmal taucht alsoeine Kraft auf, die von ganz anderer Art ist als die,mit der wir im Rahmen unserer mechanistischenTheorie alle Vorgänge in der Außenwelt zu deuten ge-dachten. Wir entsinnen uns ja noch, daß die Kräftevon Gravitation, Elektrostatik und Magnetismus, denGesetzen Newtons und Coulombs zufolge, entlangder gedachten Verbindungslinie zwischen den beideneinander anziehenden bzw. abstoßenden Körpern wir-

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ken.Dieses Dilemma trat durch ein Experiment, das

Henry A. Rowland 1875 mit großem Geschick aus-führte, noch krasser in Erscheinung.

Fig. 32

Wenn man von technischen Details absieht, läßt sichdieser Versuch wie folgt beschreiben: Eine kleine ge-ladene Kugel bewegt sich sehr schnell im Kreiseherum. In der Mitte des Kreises ist eine Magnetnadelaufgestellt. Im Prinzip handelt es sich dabei um dasgleiche Experiment wie das Ørstedsche, nur daß wires hier statt mit einem normalen elektrischen Strommit einer auf mechanischem Wege zustande gekom-menen Bewegung einer elektrischen Ladung zu tunhaben. Rowland fand, daß sein Versuch auch tatsäch-lich zu einem ganz ähnlichen Ergebnis führt wie der

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2.099 Einstein/Infeld-Evolution, 102Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

mit dem stromdurchflossenen Drahtkreis. Der Magnetwird von einer senkrecht zur Bahnebene wirkendenKraft abgelenkt.

Jetzt wollen wir die Ladung schneller bewegen. DieFolge davon ist eine Verstärkung der auf den Magnet-pol einwirkenden Kraft, und so wird die Ablenkungder Nadel von ihrer ursprünglichen Stellung nochdeutlicher. Diese Beobachtung bringt uns eine weitereschwerwiegende Komplikation. Nicht genug damit,daß die Kraft nicht entlang einer gedachten Verbin-dungslinie zwischen Ladung und Magnet wirkt, wirdjetzt auch noch klar, daß ihre Intensität mit der Ge-schwindigkeit der Ladung zusammenhängt. Dasganze mechanistische Denken basierte aber auf derÜberzeugung, alle Erscheinungen müßten sich aufKräfte zurückführen lassen, die einzig und allein vonder Entfernung, nicht aber von der Geschwindigkeitbestimmt werden. Mit dieser Auffassung läßt sich dasErgebnis von Rowlands Versuch nun allerdings nichtrecht vereinbaren. Trotzdem können wir natürlichauch versuchen, daran festzuhalten, und uns um eineLösung im Rahmen alter Ideen bemühen.

Schwierigkeiten dieser Art, Hindernisse, die mittenim Siegeslauf einer Lehre plötzlich und unerwartetauftreten, sind in der Naturwissenschaft keine Selten-heit. Manchmal scheint eine einfache Verallgemeine-rung der alten Vorstellungen, zumindest zeitweilig,

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einen brauchbaren Ausweg zu bieten. So könnte es indem vorliegenden Falle zum Beispiel eventuell genü-gen, den alten Begriff weiter zu fassen und zwischenden Elementarteilchen Kräfte allgemeinerer Art anzu-nehmen.

Sehr oft erweist es sich allerdings als unmöglich,eine alte Theorie zurechtzuflicken, und dann führenderartige Kalamitäten ihren Sturz und das Aufkom-men einer neuen herbei. Hier nun war es nicht alleindas Verhalten einer winzigen Magnetnadel, das diescheinbar so wohlfundierten und bewährten mechani-stischen Lehren zu Fall brachte, sondern es erfolgteauch noch von einer ganz anderen Seite her eine sogarnoch heftigere Attacke. Das steht aber auf einem an-deren Blatt, und so wollen wir erst später darauf zusprechen kommen.

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Die Lichtgeschwindigkeit

Bei der Lektüre von Galileis »Zwei neue Wissen-schaften« werden wir Zeugen eines Gespräches zwi-schen einem Lehrer und seinen Schülern über dieLichtgeschwindigkeit. Es heißt dort:

SAGREDO: Aber welcher Art und wie groß dürfenwir die Lichtgeschwindigkeit schätzen? Ist die Er-scheinung instantan, momentan oder wie andereBewegungen zeitlich? Ließe sich das Experimentexperimentell entscheiden?

SIMPLICIO: Die alltägliche Erfahrung lehrt,daß die Ausbreitung des Lichts instantan sei; wennin weiter Entfernung die Artillerie Schießübungenanstellt, so sehen wir den Glanz der Flamme ohneZeitverlust, während das Ohr den Schall erst nachmerklicher Zeit vernimmt.

SAGREDO: Ei, Herr Simplicio, aus diesemwohlbekannten Versuche läßt sich nichts anderesschließen, als daß der Schall mehr Zeit braucht alsdas Licht; aber keineswegs, daß das Licht momen-tan und nicht zeitlich, wenn auch sehr schnell sei.Auch andere ähnliche Beobachtung lehrt nichtmehr: sofort wenn die Sonne am Horizonte er-scheint, erblicken wir ihre Strahlen; aber wer sagt

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2.102 Einstein/Infeld-Evolution, 103Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

mir, daß die Strahlen nicht früher am Horizont alsin meinen Augen ankommen?

SALVIATI: Die geringe Entscheidungskraft die-ser und anderer ähnlicher Vorgänge brachte michauf den Gedanken, ob man nicht auf irgendeineWeise sicher entscheiden könne, ob die Illuminati-on, das heißt die Ausbreitung des Lichtes, wirklichinstantan sei ...

Salviati erläutert dann seine Versuchsanordnung, unddamit wir seinen Gedankengang richtig verstehen,wollen wir einmal annehmen, daß die Lichtgeschwin-digkeit endlich und außerdem so gering sei, daß dieFortpflanzung des Lichtes wie in einem Zeitlupenfilmverlangsamt ist. Zwei Personen, A und B, stellen sichmit Blendlaternen in der Hand in einem Abstand von,sagen wir, einem Kilometer auf. Die beiden habenverabredet, daß B in dem Moment seine Laterne öff-nen soll, wo er bei A ein Licht sieht. Das Licht sollbei unserem Zeitlupenversuch nur einen Kilometerpro Sekunde zurücklegen. Wenn nun A die Blendeseiner Laterne öffnet, sieht B dieses Signal eine Se-kunde später, und er sendet prompt ein Antwortsi-gnal, das von A zwei Sekunden nach Abgabe des ei-genen Signals aufgenommen wird. Das heißt also,zwischen Sendung und Empfang eines Signals durchA verstreichen zwei Sekunden, sofern das Licht einen

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Kilometer in der Sekunde zurücklegt und B einen Ki-lometer weit weg ist. Umgekehrt läßt sich sagen:Wenn A die Lichtgeschwindigkeit nicht kennt undsich darauf verläßt, daß sein Kollege sich an die Ver-abredung hält; wenn er ferner zwei Sekunden nachÖffnung seiner Blende bei B ein Licht sieht, so kanner daraus schließen, daß die Lichtgeschwindigkeiteinen Kilometer pro Sekunde beträgt.

Galilei hatte mit den technischen Experimentierbe-helfen, auf die er noch angewiesen war, wenig Aus-sicht, die Lichtgeschwindigkeit tatsächlich auf die ge-schilderte Art zu finden. Hätte er auch mit einem Ab-stand von nur einem Kilometer arbeiten wollen, sohätte er Zeitintervalle von der Größenordnung einerhunderttausendstel Sekunde messen müssen!

Galilei hat das Problem der Lichtgeschwindigkeits-bestimmung zwar formuliert, doch vermochte er esnicht zu lösen. Allerdings kommt es auf die Problem-stellung häufig mehr an als auf die eigentliche Lö-sung, die manchmal nur Sache der mathematischenund experimentellen Routine ist. Das Anschneidenneuer Fragen, die Erschließung neuer Möglichkeiten,das Aufrollen alter Probleme von einer anderen Seiteher – das sind Aufgaben für einen schöpferischenGeist, das ist der wahre wissenschaftliche Fortschritt.Das Trägheitsprinzip und das Gesetz von der Erhal-tung der Energie haben wir einzig und allein neuen,

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originellen Gedanken zu an sich längst bekannten Ex-perimenten und Phänomenen zu verdanken. Im fol-genden werden uns noch zahlreiche Fälle dieser Artbegegnen, Fälle, bei denen wir immer wieder daraufhinweisen werden, wie wichtig es ist, bekannte Ge-setzmäßigkeiten neu zu beleuchten, wenn wir neueTheorien entwickeln wollen.

Kehren wir zu der noch verhältnismäßig einfachenFrage der Lichtgeschwindigkeitsbestimmung zurück,so müssen wir uns eigentlich fragen, warum Galileinicht darauf gekommen ist, daß sich sein Experimentvon einem Mann allein viel einfacher und exakterdurchführen läßt. Statt in einer gewissen Entfernungeinen Kollegen zu postieren, hätte er doch einfacheinen Spiegel aufstellen können, der das Signal ja au-tomatisch zurücksendet, sowie es bei ihm eingetroffenist.

Dieses so überaus einfachen Prinzips bediente sichetwa zweihundertfünfzig Jahre später Hippolyte Fi-zeau, der die terrestrische Messung der Lichtge-schwindigkeit durchführte, wenn Ole Rømer sie auchschon viel früher, allerdings weniger genau, aufGrund astronomischer Beobachtungen bestimmthatte.

Es leuchtet durchaus ein, daß sich die Lichtge-schwindigkeit in Anbetracht ihrer enormen Größe nurunter Zugrundelegung von Entfernungen, wie sie etwa

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durch die Abstände zwischen der Erde und anderenPlaneten des Sonnensystems gegeben sind, oder abermit einer äußerst raffinierten Experimentiertechnikmessen läßt. Des ersten Verfahrens bediente sichRømer, das zweite wandte Fizeau an. Seither ist derso überaus wichtige Wert der Lichtgeschwindigkeitdes öfteren, und jedesmal mit größerer Exaktheit, be-stimmt worden. In unserem Jahrhundert ersann AlbertA. Michelson hierfür ein hochgradig verfeinertes Ver-fahren. Das Ergebnis aller dieser Versuche läßt sichin wenige einfache Worte und Zahlen fassen: DieLichtgeschwindigkeit beträgt im Vakuum annähe-rungsweise 300000 Kilometer pro Sekunde.

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2.106 Einstein/Infeld-Evolution, 105Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Licht als Substanz

Wieder beginnen wir mit ein paar Erfahrungstatsa-chen. Die eben genannte Zahl bezieht sich auf dieLichtgeschwindigkeit im Vakuum. Wird das Licht inkeiner Weise beeinträchtigt, pflanzt es sich im leerenRaum mit der angegebenen Geschwindigkeit fort. Wirkönnen durch ein leeres Glasgefäß hindurchsehen,wenn wir die Luft herauspumpen; und wir sehen Pla-neten, Fixsterne und kosmische Nebel, obwohl ihrLicht auf dem Wege zu uns den leeren Raum durch-queren muß. Die einfache Tatsache, daß wir durch einGefäß hindurchsehen können, ob Luft darin ist odernicht, ist ein Beweis dafür, daß die Luft keine großeRolle spielen kann. Aus diesem Grunde können wirunsere optischen Experimente auch seelenruhig ineinem normalen Zimmer durchführen. Das Resultatfällt genauso aus, als ob keine Luft vorhanden wäre.Eines der einfachsten optischen Gesetze besagt, daßdas Licht sich geradlinig fortpflanzt. Ein primitivesund naives Experiment soll uns das beweisen. Voreiner punktförmigen Lichtquelle ist ein durchbohrterSchirm aufgestellt. Unter einer punktförmigen Licht-quelle verstehen wir eine sehr kleine Lichtquelle, alsoetwa eine feine Öffnung in einer Blendlaterne.

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2.107 Einstein/Infeld-Evolution, 106Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Fig. 33

Auf einer ein paar Meter entfernten Wand erscheintdas Loch im Schirm als Lichtfleck auf dunklem Hin-tergrund. Figur 33 zeigt, inwiefern dieses Phänomenfür die geradlinige Fortpflanzung des Lichtes spricht.Alle derartigen Erscheinungen, sogar die komplizier-teren, bei denen wir Licht, Schatten und Halbschattenunterscheiden können, lassen sich unter der Voraus-setzung erklären, daß sich das Licht im Vakuum undin der Luft geradlinig fortpflanzt. Nehmen wir ein an-deres Beispiel: Licht, das Materie durchdringt. EinLichtstrahl durchquert ein Vakuum und fällt dann aufeine Glasplatte. Was geschieht? Wenn das Gesetzvon der geradlinigen Bewegung auch hier Geltung be-säße, müßte der Lichtstrahl der gestrichelten Liniefolgen.

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Fig. 34

Das tut er aber in Wirklichkeit nicht; vielmehr er-scheint er geknickt, wie aus Figur 34 ersichtlich ist.Das ist die Strahlenbrechung. Eine der bekanntestenErscheinungsformen der Brechung ist die scheinbareKnickung eines zur Hälfte in Wasser getauchten Stok-kes.

Diese Gesetzmäßigkeiten genügen uns für die Auf-stellung einer einfachen mechanischen Theorie desLichtes. Wir wollen nun zeigen, wie die auf Substan-zen, Partikeln und Kräften aufgebauten Gedankengän-ge in die Optik eingedrungen sind und wie dadurchschließlich das alte philosophische System in sich zu-sammenbrach.

Die Theorie bietet sich hier in ihrer einfachsten undprimitivsten Form gewissermaßen von selbst an. Neh-men wir einmal an, daß alle leuchtenden Körper

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Lichtpartikeln oder Korpuskeln aussenden, welchedie Lichtempfindung auslösen, wenn sie unser Augetreffen. Wir sind bereits so daran gewöhnt, immerwieder neue Substanzen einzuführen, um unsere me-chanistische Erklärung weiterführen zu können, daßes auf eine mehr oder weniger schon nicht mehr an-kommt. Diese Korpuskeln müssen geradlinig und miteiner bekannten Geschwindigkeit den leeren Raumdurchmessen, und sie bringen unserem Auge Kundevon den Körpern, die das Licht ausstrahlen. Alle Er-scheinungen, bei denen die geradlinige Fortpflanzungdes Lichtes zutage tritt, können als Erhärtung derKorpuskulartheorie gewertet werden; denn diese Be-wegungsform haben wir ja für die Korpuskeln vorge-schrieben. Mit der Theorie kann man auch die Refle-xion des Lichtes im Spiegel, wie aus Figur 35 ersicht-lich ist, ganz einfach erklären. Es handelt sich dabeium die gleiche Art Reflexion, wie wir sie schon vondem mechanischen Experiment mit den gegen dieWand geworfenen Gummibällen her kennen.

Die Brechung läßt sich nicht ganz so leicht erklä-ren. Ohne ins Detail zu gehen, können wir aber schonsehen, daß es durchaus möglich ist, eine mechanischeErklärung dafür zu finden. Wenn die Korpuskeln aufeine Glasfläche auftreffen – könnten wir zum Beispielsagen –, dann mag es sein, daß eine von den Materie-teilchen ausgehende Kraft, allerdings eigentümlicher-

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weise nur in der unmittelbaren Nachbarschaft vonMaterie, auf sie einwirkt.

Fig. 35

Jede Kraft aber, die auf eine bewegte Partikel ein-wirkt, führt, wie wir schon wissen, eine Geschwindig-keitsänderung herbei. Wenn der Endeffekt der auf dieLichtkorpuskeln einwirkenden Kraft eine senkrechtzur Glasoberfläche waltende Anziehung ist, so wirddie neue Bewegungsrichtung irgendwo zwischen derVerlängerung der ursprünglichen Bahn und der Senk-rechten dazu liegen. Diese einfache Erklärung nimmtsich wie ein gutes Omen für die fernere Brauchbarkeitder Korpuskulartheorie des Lichtes aus. Wollen wirjedoch den Grad ihrer Brauchbarkeit und ihren Gel-tungsbereich bestimmen, müssen wir auch noch ande-re, kompliziertere Gesetzmäßigkeiten besprechen.

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2.111 Einstein/Infeld-Evolution, 108Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Das Rätsel der Farbe

Auch die erste Erklärung für die Farbenpracht, die un-sere Welt belebt, verdanken wir Newtons Genius. Wirwollen hier darum eine von Newton selbst stammendeBeschreibung eines seiner Experimente einschalten:

Im Jahre 1666 (da ich gerade mit dem Schleifenoptischer Gläser von anderer als sphärischer Ge-stalt beschäftigt war) versah ich mich mit einemdreikantigen Glasprisma, um damit das berühmteFarbphänomen hervorzurufen. Zu diesem Zweckverdunkelte ich mein Zimmer und bohrte ein klei-nes Loch in die Jalousien, um eine hinreichendeMenge Sonnenlicht hereinzulassen. Dann hielt ichmein Prisma in den hereinfallenden Lichtstrahl, sodaß er gebrochen und an die gegenüberliegendeWand geworfen wurde. Ich fand es überaus ergötz-lich, die dabei entstehenden lebhaften und kräftigenFarben eine Weile zu betrachten.

Das Licht der Sonne ist »weiß«. Wenn es aber durchein Prisma fällt, sieht man alle Farben, die es in derWelt der optischen Erscheinungen gibt. Die Naturbringt ja in der prachtvollen Farbenzusammenstellungdes Regenbogens den gleichen Effekt hervor. Man hat

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dieses Phänomen schon in uralten Zeiten zu erklärenversucht. Auch die biblische Legende, der Regenbo-gen sei Gottes Unterschrift unter einen Vertrag mitdem Menschen, ist in ihrer Art eine »Theorie«, nurenthält sie keine hinreichende Erklärung dafür, daßder Regenbogen von Zeit zu Zeit immer wieder er-scheint und warum das stets im Zusammenhang mitRegenfällen geschieht. Der ganze Fragenkomplex derFarbenphänomene wurde erstmalig von Newton wis-senschaftlich untersucht, und in seinem umfangrei-chen Werk finden sich auch zum erstenmal Ansätzezu einer Lösung.

Der eine Rand des Regenbogens ist immer rot undder andere violett. Dazwischen liegen in einer be-stimmten Reihenfolge alle anderen Farben. Newtonerklärt dieses Phänomen wie folgt: Im weißen Lichtsind alle Farben von vornherein enthalten. Einträchtigdurchqueren sie den interplanetarischen Raum und dieAtmosphäre, wobei sie wie weißes Licht wirken, dasaber in Wirklichkeit eine Mischung der verschiede-nen, den einzelnen Farben zugeordneten Korpuskelar-ten ist, die bei Newtons Experiment durch das Prismaräumlich aussortiert werden. Nach der mechanisti-schen Theorie ist die Brechung, wie wir gesehenhaben, Kräften zuzuschreiben, die auf die Lichtkor-puskeln einwirken und von den Glaspartikeln hervor-gerufen werden. Diese Kräfte wirken sich je nachdem,

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2.113 Einstein/Infeld-Evolution, 109Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

welcher Farbe die Korpuskeln angehören, verschiedenstark aus, am stärksten bei Violett und am schwäch-sten bei Rot. Infolgedessen wird jede Farbe anders ge-brochen, so daß sie von den anderen geschieden ist,wenn das Licht aus dem Prisma heraustritt. Beim Re-genbogen wird die Funktion des Prismas von denWassertröpfchen ausgeübt.

Die substantielle Theorie des Lichts ist nun abernoch komplizierter geworden als zuvor. Wir habennämlich jetzt nicht nur eine Lichtsubstanz, sondernviele, von denen jede einer anderen Farbe zugeordnetist. Soll an der Theorie jedoch etwas Wahres sein,müssen die Konsequenzen, die sich daraus ergeben,mit der Beobachtung übereinstimmen.

Die im Sonnenlicht enthaltene Farbengruppierung,die wir bei Newtons Experiment kennengelernt haben,nennen wir das Spektrum der Sonne, genauer gesagt,das sichtbare Spektrum. Die Zerlegung des weißenLichtes in seine Bestandteile auf die hier beschriebeneArt wird als Dispersion oder Farbzerlegung desLichtes bezeichnet. Die zerlegten Farben des Spek-trums muß man nun mit einem entsprechend einge-stellten zweiten Prisma wieder zusammenfassen undvermischen können; sonst ist unsere Erklärung falsch.Dieser Vorgang, eine Umkehrung des ersten Versu-ches, muß mit einer Wiedervereinigung der getrenntenFarben zu weißem Licht enden. Newton wies experi-

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2.114 Einstein/Infeld-Evolution, 110Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

mentell nach, daß es tatsächlich möglich ist, beliebigoft das Spektrum in weißes Licht und weißes Licht inseine Spektralfarben zu verwandeln. Diese Versuchesprachen sehr für die Theorie, nach der die Korpus-keln der verschiedenen Farben sich wie unveränderli-che Substanzen verhalten müssen. Newton schreibt zudiesem Thema folgendes:

... doch entstehen diese Farben nicht etwa erst, viel-mehr treten sie lediglich, durch die Zerlegung, inErscheinung; denn wenn man sie aufs neue voll-kommen miteinander vermengt, so vereinigen siesich wieder zu der Farbe, die wir vor der Zerlegungbeobachtet haben. Aus dem gleichen Grunde sindVerwandlungen, die durch die Vereinigung ver-schiedener Farben entstehen, nicht echt; denn wenndie verschiedenartigen Strahlen wiederum geschie-den werden, so erscheinen sie in genau den glei-chen Farben, die vor der Zusammenfassung zusehen waren. Es ist dasselbe wie bei der Vermi-schung von blauem und gelbem Pulver, das, wennes gut durcheinandergemengt wird, dem bloßenAuge grün erscheint, obwohl die Farben der Kor-puskeln, aus denen sich das Pulver zusammensetzt,dadurch keineswegs wirklich verändert, sondern le-diglich vermischt worden sind. Wenn man sie näm-lich unter einem guten Mikroskop betrachtet, sieht

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2.115 Einstein/Infeld-Evolution, 110Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

man nach wie vor blaue und gelbe Körnchen, nursind sie mehr oder weniger gleichmäßig verteilt.

Wir wollen uns jetzt einmal einen ganz schmalenStreifen aus dem Spektrum herausgreifen. Zu diesemZweck lassen wir von all den Farben nur eine sodurch den Schlitz eines Schirmes fallen, daß die ande-ren abgefangen werden. Der aus dem Spalt herausfal-lende Lichtstrahl verkörpert homogenes Licht, dasheißt Licht, das in keine weiteren Farbelemente mehrzerlegt werden kann. Das ergibt sich aus der Theorie,kann aber auch experimentell unschwer bestätigt wer-den. Ein solcher einfarbiger Lichtstrahl läßt sich aufkeinen Fall mehr weiter zerlegen. Es gibt ganz einfa-che Mittel zur Erzeugung homogenen Lichtes, so zumBeispiel glühendes Natrium, das gelbes Licht dieserArt ausstrahlt. Bei optischen Experimenten empfiehltes sich sehr oft, mit homogenem Licht zu arbeiten, dadas Ergebnis dann, wie leicht einzusehen ist, einfa-cher ausfällt.

Stellen wir uns vor, es würde sich plötzlich dermerkwürdige Fall ereignen, daß unsere Sonne au-schließlich nur noch homogenes Licht bestimmter,sagen wir gelber, Farbe ausstrahlte. Im gleichen Au-genblick wäre es um die Farbenpracht auf unseremErdball geschehen, und es gäbe nur noch Gelb undSchwarz! Diese Prophezeiung ist einmal eine logische

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2.116 Einstein/Infeld-Evolution, 111Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Folgerung aus der substantiellen Theorie des Lichts,nach der in einem solchen Falle keine neuen Farbenmehr entstehen können, zum anderen kann man sieaber auch experimentell auf ihre Richtigkeit prüfen,wenn man einen verdunkelten Raum nur mit glühen-dem Natrium beleuchtet. Die Farbenpracht in unsererWelt haben wir also nur der Fülle von Farben zu ver-danken, aus denen sich das weiße Licht zusammen-setzt.

In allen diesen Fällen scheint sich die substantielleTheorie des Lichts glänzend zu bewähren, wenn esuns auch nicht ganz geheuer vorkommt, daß wir soviele Substanzen einführen müssen, wie es Farbengibt. Auch die Annahme, daß sämtliche Lichtkorpus-keln sich im leeren Raum mit genau der gleichen Ge-schwindigkeit fortpflanzen, ist alles andere als plausi-bel.

Es wäre denkbar, daß sich ein anderes System vonAnnahmen, eine vollkommen andersartige Theorie,genausogut bewähren und ebenfalls alle erforderli-chen Erklärungen liefern könnte. Wir werden auchtatsächlich gleich Zeugen des Aufkommens einer sol-chen absolut neuen Theorie werden, die auf ganz neu-artigen Begriffen basiert, trotzdem aber eine Erklä-rung der Phänomene des gleichen optischen Gebietesgestattet. Bevor wir allerdings die Annahmen formu-lieren, auf denen sich diese neue Theorie aufbaut,

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2.117 Einstein/Infeld-Evolution, 111Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

müssen wir noch eine Frage beantworten, die, wieman zunächst glauben könnte, in keiner Beziehungmit diesen optischen Dingen zusammenhängt und unswiederum in die Mechanik zurückführt.

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2.118 Einstein/Infeld-Evolution, 111Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Was ist eine Welle?

Irgendein Klatsch, der, sagen wir, in Washington auf-gebracht wird, gelangt sehr rasch nach New York,wenn auch nicht eine einzige von den an der Weiter-gabe beteiligten Personen tatsächlich von der einenStadt in die andere reist. Wir haben es vielmehr ge-wissermaßen mit zwei ganz verschiedenen Bewegun-gen zu tun, der des Gerüchtes selbst, das von Wa-shington nach New York dringt, und der jener Perso-nen, die das Gerücht verbreiten. Ein anderes Beispiel:Wenn der Wind über ein Kornfeld hinstreicht, so er-zeugt er eine Wellenbewegung, die sich über dasganze Feld ausbreitet. Auch hier wieder müssen wirzwischen der Fortpflanzung der Welle und den Bewe-gungen der einzelnen Halme unterscheiden, bei denenes sich ja um geringfügige Schwingungen handelt.Jeder kennt die ringförmigen Wellen, die immer wei-tere und weitere Kreise ziehen, wenn man einen Steinins Wasser wirft. Wiederum müssen wir die eigentli-che Wellenbewegung von der Bewegung der Wasser-teilchen unterscheiden. Letztere gehen nur auf und ab,und die beobachtete Ausbreitung der Welle ist eigent-lich bloß ein Wandern eines Zustandes der Materie,jedoch keine Bewegung von Materie im eigentlichenSinne. Man sieht das deutlich, wenn man einen Kor-

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2.119 Einstein/Infeld-Evolution, 112Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ken ins Wasser wirft; er hüpft, der wirklichen Bewe-gung des Wassers folgend, auf und ab, wird abernicht von der Welle mit fortgetragen.

Damit uns der Mechanismus der Wellenbewegungnoch deutlicher wird, wollen wir wieder ein idealisier-tes Experiment zu Hilfe nehmen. Ein großes Gefäß istganz gleichmäßig mit Wasser, Luft oder irgendeinemanderen Medium angefüllt. In der Mitte etwa befindetsich eine Kugel. Zunächst ist gar keine Bewegungvorhanden, plötzlich aber beginnt die Kugel zu»atmen«, das heißt, sie vergrößert und verringert ihrVolumen in einem gewissen Rhythmus, behält jedochihre Kugelgestalt immer bei. Was geschieht dann mitdem Medium? Überlegen wir uns zunächst einmal,was sich in dem Moment ereignet, wo die Kugel sichauszudehnen beginnt. Nun, die in der unmittelbarenNähe der Kugel befindlichen Partikeln des Mediumswerden fortgestoßen, so daß eine kugelförmige, mankönnte sagen, Wasser- oder Lufthülle – je nachdem,welches Medium wir gewählt haben – abnorm ver-dichtet wird. Wenn die Kugel sich wieder zusammen-zieht, nimmt die Dichte in den Regionen des Medi-ums, welche die Kugel unmittelbar umgeben, wiederab. Diese Dichteschwankungen breiten sich nun durchdas ganze Medium aus. Zwar führen die einzelnenPartikel, aus denen sich das Medium zusammensetzt,nur kleine Schwingungen aus, doch läuft das Ganze

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im Endeffekt auf eine fortschreitende Wellenbewe-gung hinaus. Das Neue an dieser Erscheinung liegtdarin, daß wir es zum erstenmal mit der Bewegungvon etwas anderem als Materie, nämlich von Energie,zu tun haben – Energie, die sich durch Materie fort-pflanzt.

Auf Grund des Versuches mit der pulsierendenKugel können wir zwei neue physikalische Begriffeeinführen, die wir für die Charakterisierung von Wel-len brauchen. Da ist zunächst die Geschwindigkeit,mit der die Welle sich ausbreitet und die vom Medi-um abhängt, also zum Beispiel für Wasser eine ande-re ist als für Luft. Das zweite ist die Wellenlänge,und die entspricht bei Wellen, wie wir sie von der Seeoder von Flüssen her kennen, der Entfernung voneinem Wellental zum nächsten bzw. von einem Wel-lenberg zum anderen. Meereswellen haben zum Bei-spiel eine größere Wellenlänge als Wasserwellen aufFlüssen. Bei den Wellen in unserem Experiment, diedurch eine pulsierende Kugel erzeugt werden, ist dieWellenlänge gleich dem Abstand zwischen zwei be-nachbarten kugelförmigen Hüllen mit maximaler bzw.minimaler Dichte in einem bestimmten Zeitpunkt. Esliegt auf der Hand, daß dieser Abstand sich nicht nurnach dem jeweiligen Medium richtet; vielmehr wird ersicherlich auch sehr stark vom Pulsationstempo derKugel mitbestimmt; je schneller der Rhythmus, um so

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kürzer die Wellenlänge, und umgekehrt.

Fig. 36

Diese absolut mechanistische Vorstellung von derWellenbewegung hat sich in der Physik sehr gut be-währt. Das Phänomen wird einfach auf die Bewegungvon Partikeln zurückgeführt, aus denen sich die Mate-rie nach der kinetischen Theorie ja zusammensetzt.Jede Lehre, die mit dem Begriff »Welle« arbeitet,kann somit ganz allgemein als mechanistisch angese-hen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Akustik, beider durchweg alle Erscheinungen als Wellenbewegun-gen aufgefaßt werden können. Vibrierende Körper,wie Stimmband und Geigensaite, erzeugen Schallwel-len, die sich in der Luft genauso ausbreiten, wie wires bei der pulsierenden Kugel gesehen haben. So las-sen sich alle akustischen Erscheinungen unter Zuhilfe-

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2.122 Einstein/Infeld-Evolution, 114Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

nahme des Wellenbegriffs auf mechanische Vorgängezurückführen.

Es wurde bereits betont, daß wir zwischen der Be-wegung der Partikeln und der der Welle selbst, alsoder Bewegung eines Zustandes des Mediums, unter-scheiden müssen. Beide Bewegungsformen sind zwaran sich grundverschieden, doch leuchtet es ein, daßsich in unserem Beispiel mit der pulsierenden KugelPartikeln und Wellen entlang der gleichen Geradenbewegen. Die Partikeln des Mediums schwingen in-nerhalb kurzer Strecken, wodurch die Dichte dement-sprechend periodisch zu- und abnimmt, und die Rich-tung, in der die Welle sich ausbreitet, deckt sich mitder Linie, in der die Schwingungen liegen. Wellendieser Art nennt man Longitudinal- oder Längswel-len. Gibt es denn auch noch andere Wellen? Nun, wirwerden gleich sehen, daß es allerdings noch einezweite Wellenart gibt, und gerade diese ist für unsereweiteren Betrachtungen von größerer Bedeutung. Essind die sogenannten Transversal- oder Querwellen.

Wandeln wir unser Beispiel von vorhin etwas ab.Die Kugel soll jetzt, statt von Luft oder Wasser, voneinem andersartigen Medium, einer Art Gallerte, um-geben sein. Außerdem pulsiert sie nicht mehr, sondernsie dreht sich immer ein wenig und kehrt dann gleichwieder in ihre Ausgangslage zurück. Diese Bewegungerfolgt stets im gleichen Takt und um eine bestimmte,

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2.123 Einstein/Infeld-Evolution, 115Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gleichbleibende Achse. Da die Gallerte an der Kugelhaftet, werden die Teile der Masse, die unmittelbarmit der Kugel in Berührung kommen, bei jeder Dre-hung mitgerissen, und diese Teile wiederum veranlas-sen die etwas weiter entfernten, die Bewegung gleich-falls mitzumachen, und so fort. Das Ergebnis ist eineWelle. Wenn wir uns wiederum den Unterschied zwi-schen Bewegung des Mediums und Wellenbewegungvor Augen halten, so erkennen wir, daß in diesemFalle nicht beide auf der gleichen Linie liegen. DieWelle pflanzt sich in radialer Richtung fort, währenddie Bestandteile des Mediums senkrecht dazu schwin-gen. Das ist dann eine Querwelle.

Fig. 37

Die Bewegungen in der Wasseroberfläche zumBeispiel werden von solchen Querwellen hervorgeru-

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2.124 Einstein/Infeld-Evolution, 115Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

fen. Ein schwimmender Korken hüpft nur auf und ab,während die Welle sich in einer horizontalen Ebenefortpflanzt. Schallwellen dagegen sind das bekannte-ste Beispiel für Längswellen.

Fig. 38

Noch etwas wollen wir hier gleich besprechen: EineWelle, die in einem homogenen Medium von einerpulsierenden oder oszillierenden Kugel erzeugt wird,ist eine Kugelwelle. Sie heißt deshalb so, weil allePunkte irgendeiner gedachten Kugelfläche mit derSchwingungsquelle als Mittelpunkt jeweils im glei-chen Moment die gleiche Schwingungsphase durch-machen. Wenn wir uns aus einer solchen Kugelflächeeinen Abschnitt herausgreifen, so wird er einer Ebeneum so ähnlicher sehen, je weiter wir von der Quelleweggehen und je kleiner wir ihn wählen. Ohne An-spruch auf übermäßige Exaktheit erheben zu wollen,können wir sagen, daß zwischen einer Ebene und demAusschnitt aus einer Kugelfläche mit entsprechend

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2.125 Einstein/Infeld-Evolution, 115Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

großem Radius kein wesentlicher Unterschied besteht.Sehr oft reden wir von ebenen Wellen, wenn es sichin Wirklichkeit eigentlich um kleine Ausschnitte ausKugelwellen handelt, die weit von ihrer Quelle ent-fernt sind. Je weiter wir mit dem schraffierten Teil inunserer Skizze von dem gemeinsamen Mittelpunkt derKugeln weggehen und je kleiner der von den beidenRadien gebildete Winkel ist, um so besser gelingt unsdie Darstellung einer ebenen Welle. Im Grunde ge-nommen ist eine ebene Welle natürlich wie vieles inder Physik etwas rein Fiktives. Vollkommen ebenwird sie in der Praxis niemals sein. Dennoch kannman mit diesem Begriff sehr viel anfangen, wie wirspäter noch sehen werden.

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Die Wellentheorie des Lichts

Erinnern wir uns, warum wir die Beschreibung deroptischen Erscheinungen abgebrochen hatten. Wirwollten eine Theorie des Lichts aufstellen, die sichauf anderen Voraussetzungen aufbaut als die Korpus-kulartheorie, trotzdem aber eine Erklärung der Ge-setzmäßigkeiten des gleichen Gebietes ermöglicht.Dazu mußten wir unsere Betrachtungen unterbrechenund zunächst den Begriff »Welle« klarstellen, dochkönnen wir jetzt zu unserem eigentlichen Thema zu-rückkehren.

Christiaan Huygens, ein Zeitgenosse Newtons, wares, der diese gänzlich neuartige Theorie entwickelte.Er schreibt:

Wenn nun, wie wir alsbald untersuchen werden,das Licht zu seinem Wege Zeit gebraucht, so folgtdaraus, daß diese dem Stoffe mitgetheilte Bewe-gung eine allmähliche ist und darum sich ebensowie diejenige des Schalles in kugelförmigen Flä-chen oder Wellen ausbreitet; ich nenne sie nämlichWellen wegen der Ähnlichkeit mit jenen, welcheman im Wasser beim Hineinwerfen eines Steinessich bilden sieht, weil diese eine ebensolche all-mähliche Ausbreitung in die Runde wahrnehmen

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2.127 Einstein/Infeld-Evolution, 117Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

lassen, obschon sie aus einer anderen Ursache ent-springen und nur in einer ebenen Fläche sich bil-den.

Nach Huygens hat das Licht Wellennatur, und es ent-steht durch eine Weitergabe von Energie und nichtvon Substanz. Wir haben oben gesehen, daß die Kor-puskulartheorie für viele Erfahrungstatsachen eine Er-klärung bietet. Läßt sich von der Wellentheorie dasgleiche sagen? Wieder müssen wir die gleichen Fra-gen stellen, die wir schon einmal von der Korpusku-lartheorie her beantwortet haben, damit wir sehen, wiedie Wellentheorie sich bewährt. Wir wollen dieser Er-örterung die Form eines Dialoges zwischen zwei Per-sonen, N und H, geben. N ist Newton-Anhänger, dasheißt, er glaubt an dessen Korpuskulartheorie, H da-gegen schwört auf Huygens' Lehre. Keiner darf Argu-mente ins Treffen führen, die erst nach Abschluß desLebenswerkes dieser beiden Großen formuliert wor-den sind.

N: In der Korpuskulartheorie ist mit der Lichtge-schwindigkeit etwas ganz Bestimmtes gemeint, näm-lich die Geschwindigkeit, mit der die Korpuskeln denleeren Raum durchmessen. Wie steht es damit bei derWellentheorie?

H: Sie ist hier natürlich gleich der Geschwindigkeitder Lichtwellen. Alle Wellen, die wir kennen, breiten

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2.128 Einstein/Infeld-Evolution, 117Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit aus; soeben auch die Lichtwellen.

N: Das ist nicht so einfach, wie es aussieht. Schall-wellen breiten sich in der Luft aus, Meereswellen imWasser. So braucht jede Welle ein materielles Medi-um für ihre Fortpflanzung. Das Licht durchquert aberden leeren Raum, was der Schall nicht kann. Wennman aber von einer Welle im leeren Raum spricht, soist das doch eigentlich paradox.

H: Da liegt allerdings eine Schwierigkeit, doch istsie mir keineswegs neu. Mein Lehrmeister hat dieseFrage sehr sorgfältig durchdacht und ist zu demSchluß gekommen, daß der einzige Ausweg aus die-sem Dilemma darin besteht, eine hypothetische Sub-stanz, einen Äther, ein transparentes Medium anzu-nehmen, das den ganzen Weltraum erfüllt. Das Uni-versum schwimmt sozusagen in Äther. Bringen wirden Mut auf, diesen Begriff einzuführen, so wird auchalles andere gleich klar und einleuchtend.

N: Ich erhebe aber Einspruch gegen eine solcheAnnahme. Zunächst habe ich nichts für eine neue hy-pothetische Substanz übrig, wo wir in der Physik oh-nedies schon mit viel zu vielen Stoffen arbeiten, undaußerdem spricht auch noch etwas anderes dagegen.Sie sind doch zweifellos gleich mir überzeugt, daßwir für alles und jedes eine mechanistische Erklärungfinden müssen. Wie steht es nun in dieser Beziehung

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mit dem Äther? Können Sie mir die einfache Fragebeantworten, wie dieser Äther aus seinen Elementar-partikeln aufgebaut ist und wie er sich bei anderenPhänomenen manifestiert?

H: Ihr erster Einwand ist gewiß gerechtfertigt, dochwenn wir uns des allerdings etwas weit hergeholtenschwerelosen Äthers bedienen, so werden wir dafürmit einem Schlage die noch viel unnatürlicherenLichtkorpuskeln los. Wir haben dann nur noch eine»mysteriöse« Substanz statt einer unbegrenztenMenge derartiger Stoffe, wie wir sie für die zahllosenSpektralfarben brauchen. Halten Sie das nicht dochfür einen beträchtlichen Fortschritt? Zumindest habenwir damit alle Schwierigkeiten auf eine reduziert, undwir brauchen nicht mehr an der unglaubhaften Annah-me festzuhalten, daß die Partikeln der verschiedenenFarben mit gleicher Geschwindigkeit den leerenRaum durchqueren. Auch Ihr zweites Argument ist ansich durchaus stichhaltig. Wir können den Äther tat-sächlich nicht mechanistisch erklären, doch wird dieweitere Untersuchung optischer und vielleicht auchanderer Erscheinungen uns zweifellos eines Tagesüber seine Struktur Aufschluß geben. Vorläufig müs-sen wir erst einmal auf neue Experimente und theore-tische Erkenntnisse warten, doch hoffe ich, daß wirschließlich einmal in der Lage sind, das Problem dermechanischen Struktur des Äthers aufzuhellen.

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N: Lassen wir die Frage einstweilen auf sich beru-hen, da wir sie jetzt noch nicht bereinigen können.Nur möchte ich wissen, wie Ihre Theorie, selbst wennwir von den geschilderten Schwierigkeiten absehen,die Phänomene deutet, die nach der Korpuskulartheo-rie so klar und einleuchtend erscheinen. Nehmen wirzum Beispiel die Tatsache, daß Lichtstrahlen sich imVakuum und in der Luft geradlinig fortpflanzen.Wenn man ein Stück Pappe vor eine Kerze hält, sowirft es einen deutlich abgegrenzten Schatten an dieWand. Scharf umrandete Schatten könnte es aber garnicht geben, wenn die Wellentheorie des Lichts rich-tig wäre; denn Wellen müßten am Rande der Pappeeine Beugung erfahren und auf diese Weise denSchattenumriß verwischen, wie ja auch ein kleinesBoot kein Hindernis für die Meereswellen bildet, wieSie wissen werden. Sie beugen sich einfach undschlängeln sich um das Fahrzeug herum, so daß keinWellenschatten entsteht.

H: Das ist kein überzeugendes Argument. DenkenSie nur einmal an die kurzen Wellen, wie sie aufFlüssen entstehen. Wenn diese gegen die Bordwandeines großen Schiffes schlagen, so wird man sie aufder anderen Seite nicht weiterverfolgen können. Sinddie Wellen nur entsprechend klein und ist das Schiffgroß genug, so zeigt sich ein sehr deutlicher Schatten.Wahrscheinlich pflanzt das Licht sich nur deshalb ge-

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radlinig fort, weil es im Verhältnis zur Größenord-nung normaler Objekte und Öffnungen, wie sie beiExperimenten Verwendung finden, eine sehr kleineWellenlänge hat. Hätten wir ein entsprechend kleinesObjekt zur Verfügung, so würde ja auch womöglichgar kein Schatten entstehen. Der Bau eines Apparates,mit dem sich nachweisen läßt, ob das Licht der Beu-gung unterliegt, mag vielleicht mit großen experimen-tiertechnischen Schwierigkeiten verbunden sein; be-wältigen wir diese Aufgabe jedoch, so bringt das Ver-suchsergebnis eine unanfechtbare Entscheidung dar-über, ob der Wellentheorie oder der Korpuskulartheo-rie der Vorzug zu geben ist.

N: Mag sein, daß die Wellentheorie späterhin neueAufschlüsse bringt, doch ist mir vorläufig noch keinExperiment bekannt, das eine überzeugende Bestäti-gung dieser Lehre erbracht hätte. Solange es nicht ex-perimentell eindeutig bewiesen ist, daß das Licht derBeugung unterliegt, sehe ich nicht ein, warum ichnicht an der Korpuskulartheorie festhalten soll, diemir einfacher und somit besser zu sein scheint als dieWellentheorie.

Hier wollen wir den Dialog abbrechen, obwohl dasThema noch keineswegs erschöpfend behandelt wor-den ist.

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Fig. 39

Es bleibt noch zu zeigen, wie die Wellentheorie dieStrahlenbrechung und die Vielfalt der Farben erklärt.Die Korpuskulartheorie bietet ja eine Deutung dieserPhänomene, wie wir gesehen haben. Zunächst wollenwir auf die Brechung eingehen und deren Wesen aneinem Beispiel erläutern, das an sich gar nichts mitder Optik zu tun hat.

Denken wir uns eine weite Fläche, auf der zweiMänner einhergehen, die je ein Ende einer festenStange in der Hand halten. Anfangs marschieren siemit gleicher Geschwindigkeit geradeaus. Mögen sienun schnell oder langsam gehen, solange sie gleichesTempo halten, erleidet die Stange eine Parallelver-schiebung, das heißt, sie macht keine Schwenkungund ändert somit ihre Fortbewegungsrichtung nicht.Alle Positionen, welche die Stange nacheinander ein-

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2.133 Einstein/Infeld-Evolution, 120Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

nimmt, sind einander parallel. Nehmen wir aber jetzteinmal an, daß die beiden Männer einen Moment – esbraucht nur der Bruchteil einer Sekunde zu sein –nicht gleich schnell gehen. Was geschieht dann? Na-türlich macht die Stange während dieses kurzen Zeit-raumes eine Schwenkung, so daß sie sich fortan nichtmehr parallel zu ihrer Ausgangsstellung verschiebt.Sobald das Tempo aber auf beiden Seiten wiedergleich wird, ist auch die Parallelverschiebung wiederda, nur daß sie jetzt in einer anderen Richtung liegtals vorher, wie unserer Skizze deutlich zu entnehmenist. Die Richtungsänderung erfolgte in der Zeitspanne,in der die Männer verschieden schnell gegangen sind.

Fig. 40

An Hand dieses Beispiels werden wir jetzt auch dieBrechung einer Welle verstehen. Denken wir uns eineden Äther durchmessende ebene Welle, die auf eine

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2.134 Einstein/Infeld-Evolution, 121Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Glasplatte trifft. In Figur 40 sehen wir eine Welle, diesich auf verhältnismäßig breiter Front fortpflanzt.Unter einer Wellenfront verstehen wir eine gedachteEbene aus lauter Ätherteilchen, die jeweils im glei-chen Moment genau dieselbe Schwingungsphasedurchmachen. Da die Geschwindigkeit dieser Wellevon dem betreffenden Medium abhängt, wird sie fürGlas eine andere sein als für den leeren Raum. Wäh-rend des überaus kurzen Zeitraums, da die Wellen-front in das Glas eindringt, muß die Geschwindigkeitalso für verschiedene Teile der Welle verschiedengroß sein; denn natürlich bewegt sich der Teil, der dasGlas schon erreicht hat, bereits mit der für Glas gel-tenden Lichtgeschwindigkeit, während die anderenvorläufig noch die Geschwindigkeit beibehalten, mitder das Licht den Äther durchdringt. Auf Grund die-ser Geschwindigkeitsdifferenzen innerhalb der Wel-lenfront während des »Eintauchens« in das Glas mußsich die Richtung der Welle ändern.

Wir sehen somit, daß nicht nur die Korpuskular-theorie, sondern auch die Wellentheorie zu einer Er-klärung der Brechung führt. Wenn man sich näherdamit befaßt und noch ein wenig Mathematik zurHilfe nimmt, so erkennt man, daß die Erklärung nachder Wellentheorie zudem die einfachere und bessereist und daß die Folgerungen daraus absolut mit derBeobachtung übereinstimmen. Wir können mit quan-

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2.135 Einstein/Infeld-Evolution, 121Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

titativen Methoden sogar die Lichtgeschwindigkeit fürein lichtbrechendes Medium berechnen, sofern wirwissen, wie stark dieses den Lichtstrahl beim Eindrin-gen bricht.

So bleibt uns nur mehr das Farbenproblem.Wir wollen uns vergegenwärtigen, daß eine Welle

durch zwei Zahlen charakterisiert wird: Geschwindig-keit und Wellenlänge. Die Grundvoraussetzung derWellentheorie des Lichts ist nun die, daß die ver-schiedenen Farben auf Unterschiede in der Wellen-länge zurückgehen. Die Wellenlänge von homoge-nem gelbem Licht ist eine andere als die von rotemoder violettem. Dadurch ersetzen wir die recht weithergeholte buntfarbige Korpuskelsammlung durch dieviel einleuchtendere Variabilität der Wellenlänge.

Aus diesem allem ergibt sich, daß man NewtonsVersuche mit der Farbzerlegung des Lichts sozusagendurch zwei verschiedene Brillen sehen kann, durch dieder Korpuskulartheorie und durch die der Wellentheo-rie. Wir können also zum Beispiel sagen:

KORPUSKULARBRILLEDie Korpuskeln der verschiedenen Farben haben imVakuum die gleiche Geschwindigkeit, doch pflanzensie sich in Glas verschieden schnell fort.Weißes Licht setzt sich aus den Korpuskeln verschie-dener Farben zusammen, während diese Korpuskel-

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2.136 Einstein/Infeld-Evolution, 122Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gattungen im Spektrum getrennt sind.

WELLENBRILLEStrahlen mit verschiedenen Wellenlängen, wie sie denverschiedenen Farben zugeordnet sind, haben imÄther die gleiche Geschwindigkeit, doch pflanzen siesich in Glas verschieden schnell fort.Weißes Licht setzt sich aus Wellen aller Längen zu-sammen, die im Spektrum jedoch getrennt sind.

Es wäre nun natürlich das gescheiteste, den Zwiespäl-tigkeiten, die sich aus der Existenz zweier in sich ab-geschlossener Theorien über das gleiche Phänomenergeben, dadurch aus dem Wege zu gehen, daß mansich nach eingehender Prüfung des Für und Wider füreine entscheidet. Aus dem Dialog zwischen N und Hergibt sich, daß dies nun aber gar nicht so leicht ist.In der jetzigen Phase unserer Überlegungen sieht esfast so aus, als ob eine solche Entscheidung mehr Ge-schmacksache sei und nicht so sehr von wissenschaft-lichen Gesichtspunkten bestimmt werde. Zur ZeitNewtons und in dem Jahrhundert danach zogen diemeisten Physiker jedenfalls die Korpuskulartheorievor.

Das Urteil der Geschichte ist aber ungeachtet des-sen zugunsten der Wellentheorie des Lichts ausgefal-len. Die Korpuskulartheorie wurde, wenn auch erst

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viel später, Mitte des neunzehnten Jahrhunderts,schließlich doch zum alten Eisen geworfen. Währendseiner Debatte mit H erklärte N, daß eine Entschei-dung darüber, welche von den beiden Theorien dierichtige ist, grundsätzlich auf experimentellem Wegemöglich sei. Nach der Korpuskulartheorie darf eskeine Beugung des Lichts geben; denn sie verlangtscharf begrenzte Schatten. Nach der Wellentheorie je-doch soll ein entsprechend kleines Objekt keinenSchatten werfen. Thomas Young und Augustin Fres-nel konnten diese Annahme tatsächlich experimentellbestätigen und die theoretischen Schlüsse ziehen.

Wir haben bereits einen überaus einfachen Versuchgeschildert, bei dem ein Schirm mit einem Loch sovor einer punktförmigen Lichtquelle aufgestellt wird,daß an der Wand ein Schattenbild entsteht. DiesesExperiment wollen wir jetzt noch mehr vereinfachenund annehmen, daß die Lichtquelle homogenes Lichtausstrahlt. Je stärker die Lichtquelle, um so besserdas Resultat. Nun soll das Loch im Schirm nach undnach immer mehr verkleinert werden. Haben wir einestarke Lichtquelle und gelingt es uns, das Loch ent-sprechend zu verengen, so zeigt sich ein neues, ver-blüffendes Phänomen, das von der Korpuskulartheo-rie her absolut unbegreiflich bleiben muß. Helle unddunkle Bereiche sind nämlich mit einemmal nichtmehr deutlich gegeneinander abgegrenzt. Das Licht

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verliert sich in Form einer Reihe abwechselnd hellerund dunkler Ringe allmählich immer mehr, bis esganz in der dunklen Umgebung untergeht. Das Auf-treten von Ringen ist etwas für eine Wellentheoriesehr Charakteristisches, und wenn wir die Versuchs-anordnung ein wenig abändern, werden wir auch eineErklärung für die abwechselnd hellen und dunklenZonen finden. Lassen wir das Licht einmal auf eindunkles Stück Pappe fallen, das wir zuvor an zweiStellen mit einer Stecknadel durchbohrt haben. Wenndie Löcher dicht nebeneinander liegen und sehr kleinsind, und wenn die Lampe, die das homogene Lichtausstrahlt, stark genug ist, so erscheinen an der Wandzahlreiche helle und dunkle Streifen, die sich zu bei-den Seiten nach und nach im Dunkel verlieren. DieseErscheinung läßt sich ganz einfach erklären. Dort, woein Wellental des Lichtstrahls aus dem einen Lochmit einem Wellenberg aus dem anderen zusammen-trifft, entsteht ein dunkler Streifen, da sich beide auf-heben. Wo aber zwei Wellentäler oder zwei Wellen-berge von verschiedenen Strahlen zusammenkommen,zeigt sich ein heller Streifen, weil zwei Wellentälerbzw. -berge einander verstärken. Die dunklen und hel-len Ringe in unserem vorigen Beispiel mit einer Öff-nung im Schirm sind nicht so einfach zu erklären,doch handelt es sich auch dabei eigentlich im Prinzipum die gleiche Erscheinung.

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Tafel II

Oben: Zwei Lichtflecken, die dadurch entstandensind, daß man zwei Lichtstrahlen nacheinander durch

zwei feine Öffnungen leitete (es wurde immer nureine Öffnung zur Zeit aufgeblendet). Unten:

Streifenmuster bei gleichzeitigem Durchgang desLichts durch beide Öffnungen

(Foto V. Arkadiev)

Beugung des Lichts an einem kleinen Objekt

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Beugung des Lichts beim Durchgang durch einefeine Öffnung

(Foto V. Arkadiev)

Dieses Phänomen, das Auftauchen dunkler und hellerStreifen bei zwei Löchern, heller und dunkler Ringehingegen bei einem Loch, wollen wir uns merken;denn wir werden später wieder darauf zurückkommenund die beiden verschiedenen Effekte noch näher be-sprechen. Bei allen diesen Experimenten haben wir esmit der Diffraktion oder Beugung des Lichts zu tun,das heißt mit der Ablenkung der Strahlen von der ge-radlinigen Fortpflanzungsrichtung beim Passierenkleiner Öffnungen oder beim Auftreffen auf kleineObjekte.

Mit ein wenig Maithematik kommen wir sogarnoch bedeutend weiter. Man kann nämlich berechnen,wie groß oder vielmehr klein die Wellenlänge seinmuß, damit ein bestimmtes Beugungsmuster entsteht.So können wir auf Grund der geschilderten Experi-mente die Wellenlänge des homogenen Lichts mes-sen, das wir als Lichtquelle verwendet haben. Damitman sich ein Bild machen kann, mit wie kleinen Zah-

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len wir es bei den Wellenlängen des Lichts zu tunhaben, sollen hier zwei Werte angegeben werden, undzwar die der beiden äußersten Extreme des Sonnen-spektrums, also des roten bzw. des violetten Lichts.

Die Wellenlänge des roten Lichts beträgt 0,0008Millimeter.

Die Wellenlänge des violetten Lichts beträgt0,0004 Millimeter.

Wir dürfen uns nicht darüber wundern, daß dieseZahlen so klein sind. Scharf abgegrenzte Schatten,das heißt die geradlinige Fortpflanzung des Lichts,können wir in der Natur nur deshalb beobachten, weilalle normalerweise vorkommenden Öffnungen undObjekte im Vergleich zur Wellenlänge des Lichts äu-ßerst groß sind. Nur wenn wir es mit sehr kleinen Ob-jekten oder Öffnungen zu tun haben, verrät das Lichtseine Wellennatur.

Damit ist die Suche nach einer brauchbaren Theo-rie des Lichts aber noch keineswegs endgültig abge-schlossen. Das Urteil des neunzehnten Jahrhundertswar kein abschließendes und endgültiges; denn dermoderne Physiker sieht sich wiederum vor die Fragegestellt, ob es sich beim Licht um Korpuskeln oderum Wellen handelt, nur wird das Für und Wider dies-mal auf einer höheren Ebene diskutiert, wodurch dasganze Problem allerdings nur noch erheblich kompli-zierter geworden ist. Wir wollen aber zunächst einmal

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die Niederlage der Korpuskulartheorie des Lichts alsgegeben hinnehmen, bis wir selbst sehen, wie proble-matisch der Sieg der Wellentheorie eigentlich ist.

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Hat das Licht Längs- oder Querwellen?

Alle bisher besprochenen optischen Phänomene spre-chen für die Wellentheorie. Die durchschlagendstenArgumente sind: die Beugung des Lichts an kleinenObjekten und unsere Erklärung der Brechung. Wennwir uns weiterhin an die mechanistische Auffassunghalten wollen, so müssen wir feststellen, daß nochimmer ein Problem ungelöst geblieben ist, nämlichdie Bestimmung der mechanischen Eigenschaften desÄthers. Soll das nachgeholt werden, dann haben wirvor allem einmal festzustellen, ob die Lichtwellensich im Äther als Längs- oder Querwellen ausbreitenoder, um es anders auszudrücken: pflanzt sich dasLicht so wie der Schall fort? Wird die Welle durchDichteveränderungen im Medium hervorgerufen, sodaß die Partikeln in der gleichen Richtung schwingen,in der die Welle sich fortpflanzt, oder läßt sich derÄther eher mit einer gallertartigen Masse vergleichen,einem Medium, in dem nur Querwellen entstehenkönnen und dessen Teilchen senkrecht zur Fortbewe-gungsrichtung der Welle schwingen?

Bevor wir diese Frage entscheiden, wollen wir unserst einmal darüber klarzuwerden suchen, welche Lö-sung uns am willkommensten wäre. Nun, es wäredoch wohl sehr zu begrüßen, wenn wir in den Licht-

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wellen Längsschwingungen sehen dürften. Dann ließesich das mechanische Modell des Äthers nämlich vieleinfacher konstruieren. Höchstwahrscheinlich würdeunsere Vorstellung vom Äther dann in gewisserWeise dem mechanischen Schema für Gase ähneln,mit dem wir die Fortpflanzung der Schallwellen erklä-ren.

Fig. 41

Viel schwieriger wäre es dagegen, wollten wir unseinen Äther ausdenken, dessen Teilchen so angeord-net sind, daß er Querwellen übertragen könnte, alsosozusagen einen gallertartigen Äther. Huygens glaub-te, es müsse sich irgendwie herausstellen, daß derÄther eher »luftähnlich« als »gallertartig« sei, doch

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kümmert sich die Natur nur sehr wenig um die Vor-schriften, die ihr der Mensch machen möchte. Ist dieNatur den Physikern, die es darauf angelegt hatten,alle Vorgänge vom Mechanischen her verständlich zumachen, nun in diesem Punkte entgegengekommen?Bevor wir diese Frage beantworten können, müssenwir zunächst noch ein paar weitere Experimente be-sprechen.

Näher wollen wir allerdings nur auf einen von vie-len Versuchen eingehen, die geeignet wären, unsKlarheit über diesen Punkt zu verschaffen. Wir brau-chen dazu eine sehr dünne Scheibe aus Turmalinkri-stall, die in einer Weise geschliffen ist, auf die wirhier nicht näher eingehen wollen. Die Kristallscheibemuß so dünn sein, daß wir eine Lichtquelle, unserzweites Requisit, einwandfrei sehen können, wennwir den Turmalin zwischen Auge und Lampe halten.Jetzt nehmen wir noch eine zweite Platte hinzu undhalten auch diese zwischen Auge und Lichtquelle.Was werden wir dann sehen? Nun, wenn die Plattendünn genug sind, natürlich nach wie vor einen hellenFleck, sagen wir uns, und wir haben auch tatsächlichgroße Chancen, diese unsere Vermutung bestätigt zufinden. Ohne uns den Kopf über den damit ausgespro-chenen Vorbehalt zu zerbrechen, aus dem hervorgeht,daß es offenbar auch anders kommen könne, wollenwir annehmen, daß der helle Fleck wirklich noch

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sichtbar ist, wenn wir durch beide Kristalle hindurch-blicken. Nun soll die Lage einer der Kristallscheibenaber durch Drehen verändert werden. Diese Anwei-sung hat nur dann einen Sinn, wenn für diese Drehungeine Achse festgelegt wird, und so wollen wir diedurch den einfallenden Lichtstrahl gegebene Liniedazu machen, das heißt, wir verschieben bei der Dre-hung alle Punkte der einen Kristallscheibe mit Aus-nahme derjenigen, durch welche die Achse hindurch-geht. Dabei beobachten wir eine merkwürdige Er-scheinung. Das Licht wird nämlich allmählich schwä-cher und schwächer, bis es schließlich vollständig er-lischt. Drehen wir die Scheibe dann noch weiter,taucht es wieder auf, und wenn sie in die Ausgangs-stellung zurückkehrt, sehen wir es genausogut wiezuvor.

Ohne auf dieses und ähnliche Experimente nähereingehen zu müssen, können wir schon folgendeFrage stellen: Lassen sich derartige Erscheinungen er-klären, wenn die Lichtwellen longitudinal sind? BeiLängswellen müßten die Ätherpartikeln in der Rich-tung der Achse schwingen, in der sich ja auch derStrahl fortpflanzt. Wenn der Kristall rotiert, verändertsich jedoch entlang der Achse gar nichts. Die Punkte,durch die sie hindurchgeht, verändern ihre Lage nicht,und auch in ihrer unmittelbaren Nähe geht nur einesehr geringe Verschiebung vor sich. Wenn es sich um

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Längswellen handelte, könnte sich eine so radikaleVeränderung wie das Verschwinden einer Lichter-scheinung bzw. das Auftauchen einer neuen keines-falls ereignen. Dieses Phänomen läßt sich also gleichanderen, ähnlichen Vorgängen nur unter der Voraus-setzung deuten, daß die Lichtwellen transversal undnicht longitudinal schwingen oder, um es anders zuformulieren: wir müssen annehmen, daß der Äthergallertartig ist.

Das ist sehr betrüblich; denn nun werden wir mitder mechanistischen Erklärung unseres Äthers diegrößten Schwierigkeiten haben.

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Äther und mechanistisches Denken

Mit einer Besprechung all der mannigfaltigen Versu-che, die schon unternommen worden sind, um die me-chanische Natur des Äthers als eines Mediums für dieFortpflanzung des Lichts zu bestimmen, könnte manBände füllen. Wenn eine Substanz mechanisch aufge-baut sein soll, dann müssen ihre Partikeln, wie wirschon wissen, von Kräften zusammengehalten wer-den, die entlang gedachter Verbindungslinien zwi-schen ihnen walten und ausschließlich von der Entfer-nung abhängen. In ihrem Bemühen, dem Äther denCharakter einer gallertartigen Substanz zu unterschie-ben, mußten die Physiker mit einigen sehr weit herge-holten und widersinnigen Annahmen arbeiten, die wirhier nicht nennen wollen, da sie schon nahezu völligin Vergessenheit geraten sind. Dennoch führten allediese Bestrebungen zu einem überaus bedeutendenResultat; denn die Widersinnigkeit aller dieser Postu-late gab schließlich zusammen mit der Notwendig-keit, sich auf so viele völlig unzusammenhängendeAnnahmen stützen zu müssen, den Anstoß zur Über-windung der mechanistischen Lehre.

Abgesehen davon, daß es so schwierig ist, denÄther überhaupt zu konstruieren, sprechen aber auchnoch andere, einfachere Einwände gegen ihn. Sollen

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nämlich alle optischen Erscheinungen vom Mechani-schen her gedeutet werden, so muß der ganze Welten-raum von dem Äther erfüllt sein; denn wenn das Lichtfür seine Fortpflanzung tatsächlich ein Mediumbraucht, kann es keinen leeren Raum geben.

Wir wissen nun aber aus der Mechanik, daß der in-terstellare Raum die Bewegung materieller Körpernicht hemmt. Die Planeten wandern zum Beispieldurch die »Äther-Gallerte«, ohne je auf einen Wider-stand zu stoßen, wie er ihnen von einem materiellenMedium zweifellos entgegengesetzt werden müßte.Wenn der Äther aber die Materie in ihrer Bewegungnicht beeinträchtigt, so kann es keine Wechselwir-kung zwischen Äther- und Materieteilchen geben.Licht geht nun zwar durch Glas und Wasser genausohindurch wie durch den Äther, doch ändert sich seineGeschwindigkeit in den erstgenannten Substanzen.Wie läßt sich das mechanistisch erklären? Doch wohlnur so, daß wir eine Wechselwirkung zwischen Ätherund Materieteilchen postulieren. Gerade haben wiraber gesehen, daß es bei frei bewegten Körpern keinederartigen Wechselwirkungen geben kann. EineWechselwirkung zwischen Äther und Materie solltees also womöglich nur bei optischen, nicht aber beimechanischen Vorgängen geben!? Das wäre dochwohl eine sehr paradoxe Schlußfolgerung.

Aus diesem Dilemma gibt es anscheinend nur einen

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Ausweg. In dem Bemühen, die Naturerscheinungenim mechanistischen Sinne zu deuten, wie es für dieganze Entwicklung der Naturwissenschaft bis inszwanzigste Jahrhundert charakteristisch ist, sah mansich genötigt, hypothetische Substanzen, wie elektri-sche und magnetische Fluida, Lichtkorpuskeln undÄther, einzuführen, und erreichte damit nichts weiterals eine Zurückführung aller Schwierigkeiten auf einpaar Grundprobleme. Ein Beispiel hierfür ist eben dieEinführung des Lichtäthers in die Optik. Hier schei-nen nun aber all die fruchtlosen Bemühungen, denÄther auf einfache Art zu konstruieren, im Verein mitanderen Widersprüchen darauf hinzudeuten, daß derFehler eben schon in der allen anderen Überlegungenzugrundeliegenden Annahme beschlossen liegt, es seimöglich, alle Vorgänge in der Natur vom Mechani-schen her zu erklären. Der Naturwissenschaft ist esnicht gelungen, das mechanistische Programm restlosund überzeugend durchzuführen, und heute glaubtkein Physiker mehr, daß es sich überhaupt konsequentzu Ende führen läßt.

Bei unserer kurzen Besprechung der physikalischenLeitgedanken sind wir auf manch ungelöstes Problemgestoßen und haben die Schwierigkeiten und Hinder-nisse kennengelernt, welche immer wieder alle Versu-che vereitelt haben, sämtliche Erscheinungen der Au-ßenwelt in ein einheitliches Gedankengebäude mit lo-

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gischer Struktur einzuordnen. So haben wir gesehen,wie in der klassischen Mechanik die Tatsache derIdentität von schwerer und träger Masse so lange un-bemerkt geblieben ist, wir sprachen über das Unna-türliche der Vorstellung von den elektrischen und ma-gnetischen Fluida und stießen im Zusammenhang mitder Wechselwirkung zwischen elektrischem Stromund Magnetnadel noch auf ein mechanistisch unlösba-res Problem. Wir erinnern uns, daß die Kraft dortnicht entlang der Verbindungslinie von Draht undMagnetpol wirkt und überdies mit der Geschwindig-keit der bewegten Ladung zusammenhängt. Das Ge-setz für Richtung und Ausmaß dieser Kraft erwiessich als äußerst kompliziert. Schließlich aber kamenwir auf das große Ätherproblem zu sprechen.

Die moderne Physik hat alle diese Fragen vonneuem aufgerollt und auch gelöst. Allerdings sind unsaus dem Ringen um diese Lösungen wieder neue,noch tiefgründigere Probleme erwachsen. Unser Wis-sen erscheint im Vergleich zu dem der Physiker desneunzehnten Jahrhunderts beträchtlich erweitert undvertieft, doch gilt für unsere Zweifel und Schwierig-keiten das gleiche.

Wir fassen zusammen:Wir sehen, wie man sich mit den alten Lehren von

den elektrischen Fluida, mit der Korpuskular- und

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Wellentheorie des Lichts weiterhin bemüht, allesvom Mechanischen her zu deuten. Im Reiche derelektrischen und optischen Erscheinungen stoßenwir dabei jedoch auf ernste Schwierigkeiten.

Die Magnetnadel wird von einer bewegten La-dung beeinflußt, doch hängt die dabei beteiligteKraft nicht allein von der Entfernung ab. Sie äußertsich nicht als Abstoßung oder Anziehung, sie wirktvielmehr senkrecht zu der gedachten Verbindungsli-nie zwischen Nadel und Ladung.

In der Optik haben wir uns für die Wellentheorieund gegen die Korpuskulartheorie des Lichts ent-scheiden müssen. Wellen, die sich in einem Mediumausbreiten, zwischen dessen Partikeln mechanischeKräfte walten, haben zweifellos mechanischen Cha-rakter. Wie sieht nun aber das Medium aus, worinsich das Licht ausbreitet? Es besteht gar keine Hoff-nung, die optischen Phänomene auf mechanischezurückzuführen, bevor diese Frage nicht geklärt ist,doch sind die mit der Lösung dieses Problems ver-bundenen Schwierigkeiten so groß, daß wir ein sol-ches Vorhaben ganz aufgeben müssen, womit wir al-lerdings auch das ganze mechanistische Denken alsüberwunden anzusehen haben.

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Kraftfeld und Relativitätstheorie

Das Feld als Darstellungsform

In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundertswurde die Physik durch neue, bahnbrechende Ideenreformiert. Diese Ideen wiesen den Weg zu neuen phi-losophischen Anschauungen, die das mechanistischeDenken ablösen sollten. Faraday, Maxwell und Hertzschufen die Grundlagen für die moderne Physik mitihren neuen Begriffen, die sich zu einem neuen Welt-bild fügten.

Uns fällt jetzt die Aufgabe zu, den Umschwung zuschildern, den diese neuen Begriffe in der Naturwis-senschaft herbeigeführt haben, und zu zeigen, wie siesich nach und nach immer deutlicher herauskristalli-siert und konsolidiert haben. Wir wollen uns bemü-hen, die Dinge nach Möglichkeit so darzustellen, daßman sieht, wie sich jeder neue Fortschritt aus demvorhergehenden logisch ergeben hat, ohne uns allzu-viel um die chronologische Reihenfolge zu kümmern.

Die neuen Begriffe sind an und für sich im Zusam-menhang mit elektrischen Vorgängen entstanden,doch ist es für uns einfacher, zunächst von der Me-chanik her an sie heranzugehen. Daß zwei Partikelneinander anziehen und daß diese Anziehungskraft mit

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dem Quadrat der Entfernung abnimmt, wissen wir be-reits. Diese Gesetzmäßigkeit wollen wir nun einmalnach einem ganz neuen Verfahren darstellen, wennauch nicht gleich so ohne weiteres einzusehen ist, waswir davon haben. Der kleine Kreis in unserer Skizzestellt einen Körper dar, der eine Anziehungskraft aus-übt. Eigentlich müssen wir uns statt der Skizze, die jaan eine Ebene gebunden ist, ein räumliches Modellvorstellen. Der Kreis entspricht dann einer im Raumschwebenden Kugel, also etwa der Sonne. Wenn mannun einen Gegenstand, einen sogenannten Prüfkör-per, irgendwo in den Bereich der Sonne bringt, sowird er entlang einer gedachten Verbindungslinie derMittelpunkte beider Körper angezogen. Die Linien inFigur 42 geben also die Richtung der Anziehungs-kraft der Sonne für verschiedene Positionen des Prüf-körpers an. Die in alle Linien eingezeichneten Pfeil-spitzen zeigen, daß die Kraft gegen die Sonne gerich-tet ist, daß es sich also um eine Anziehungskraft han-delt. Die Strahlen in unserer Skizze sind die Kraftli-nien des Schwerefeldes. Wir nehmen diese Bezeich-nung vorläufig hin, ohne länger dabei zu verweilen,doch hat die Skizze eine Eigenheit, auf die wir späternoch zurückkommen werden. Die Kraftlinien könnennämlich im leeren Raum konstruiert werden, ohne daßMaterie vorhanden zu sein braucht, und vorläufig zei-gen sie alle oder, wie man auch sagen kann, zeigt das

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Feld lediglich an, wie sich ein Prüfkörper verhaltenwürde, den man in die Nähe der Kugel brächte, derenFeld wir konstruieren.

Fig. 42

Die Linien unseres räumlichen Modells stehen alle-samt senkrecht auf der Kugeloberfläche. Da sie voneinem Punkt ausgehen, sind sie in der Nähe der Kugeldicht beieinander, um dann in größerer Entfernungimmer schütterer zu werden. Wenn wir die Entfernungvon der Kugel verdoppeln oder verdreifachen, beläuftsich die Dichte der Linien in unserem räumlichen Mo-dell – wenn auch nicht in der Skizze – nur noch aufein Viertel bzw. ein Neuntel ihres ursprünglichenWertes. Die Linien erfüllen also einen doppeltenZweck: einmal geben sie die Richtung der Kraft an,die auf einen in die Nähe der Sonnenkugel gebrachten

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Körper einwirkt, und zum anderen läßt sich aus ihrerräumlichen Dichte ersehen, in welchem Verhältnissich die Kraft mit der Entfernung verändert. Aus soeiner Feldkonstruktion können wir also, sofern wir sierichtig zu deuten wissen, die Richtung der Anzie-hungskraft und ihr Abhängigkeitsverhältnis von derEntfernung herauslesen. Das Gravitationsgesetz er-gibt sich aus einem solchen Modell mit gleicher Deut-lichkeit wie aus einer Schilderung der ihm zugrunde-liegenden Vorgänge mit Worten oder mit den präzisenund rationalen Ausdrücken der mathematischen For-melsprache. Diese Felddarstellung, wie wir sie nen-nen wollen, scheint uns nun zwar klar und auch rechtinteressant zu sein, doch ist zunächst kein Grund zuder Annahme vorhanden, daß sie tatsächlich einenFortschritt bedeuten könnte. Ihre praktische Brauch-barkeit für den Fall der Massenanziehung nachzuwei-sen wäre ein recht schwieriges Unterfangen. Der eineoder andere glaubt vielleicht, es könnte förderlichsein, in den Kraftlinien nicht bloß gezeichnete Strichezu sehen, sondern sich vorzustellen, daß die Kraft tat-sächlich gleichsam durch sie hindurchströmt. Wennman das aber tut, dann muß man die Geschwindigkeitder entlang der Kraftlinien wirkenden Impulse als un-endlich groß ansehen. Nach Newtons Gesetz hängtdie zwischen zwei Körpern waltende Kraft nur vonder Entfernung ab. Die Zeit wird gar nicht in Betracht

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gezogen. Folglich muß die Kraft ohne Zeitverbrauchvon einem Körper zum anderen gelangen. Da sich je-doch kein Mensch unter einer mit unendlich großerGeschwindigkeit erfolgenden Bewegung etwas Rech-tes vorzustellen vermag, führt der Versuch, in unsererKonstruktion mehr als nur ein Modell zu sehen, ei-gentlich zu nichts.

Auf das Gravitationsproblem wollen wir nun aller-dings jetzt noch nicht näher eingehen. Es sollte unshier nur als Einführung dienen und das Verständnisanderer, ähnlicher Überlegungen aus der Elektrizitäts-lehre erleichtern.

Beginnen wir mit dem Experiment, das uns beidem Versuch, es vom Mechanischen her zu deuten, inso schwere Kalamitäten gebracht hat. Es handelte sichum einen Strom, der durch einen Kreisleiter fließt. Inder Mitte des Kreises ist eine Magnetnadel aufge-stellt. Sowie der Strom zu fließen beginnt, tritt eineneue, auf den Magnetpol einwirkende und rechtwink-lig zu allen gedachten Verbindungslinien zwischenDraht und Pol wirkende Kraft auf, die, sofern sie voneiner kreisenden Ladung hervorgerufen wird – wiedas Experiment Rowlands lehrt –, von deren Ge-schwindigkeit abhängt. Diese Erfahrungstatsachenstehen mit der philosophischen Anschauung in Wi-derspruch, wonach alle Kräfte entlang gedachter Ver-bindungslinien zwischen Partikeln wirken müssen

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und sich ausschließlich nach der Entfernung richten.Die Kraft, mit der ein Strom auf einen Magnetpol

einwirkt, exakt zu beschreiben ist gar nicht so ein-fach. Der Fall liegt hier bedeutend komplizierter alsbei der Massenanziehung. Trotzdem wollen wir hierwie bei der Gravitation versuchen, uns ein Bild vonden wirkenden Kräften zu machen. Wir stellen zu-nächst die Frage: Welcher Kraft bedient sich derStrom, um auf einen in seiner Nähe befindlichen Ma-gnetpol einzuwirken? Es ist nicht gerade einfach,diese Kraft mit Worten zu schildern, und selbst einemathematische Formel dafür würde zu kompliziertund unhandlich werden. Das beste ist, wir bringenalles, was wir über die hier waltenden Kräfte wissen,in die Form einer Skizze oder, noch besser, einesräumlichen Modells, in das wir die Kraftlinien ein-zeichnen. Eine gewisse Schwierigkeit ergibt sich inso-fern, als ein Magnetpol nur zusammen mit einemzweiten, also als Dipol, vorkommt, doch können wiruns die Magnetnadel ja ohne weiteres so lang vorstel-len, daß nur die Kraft berücksichtigt zu werdenbraucht, die auf den einen Pol einwirkt, der demStrom am nächsten ist, während wir uns den anderenPol so weit weg denken, daß die auf ihn einwirkendeKraft vernachlässigt werden kann. Um allen Unklar-heiten von vornherein aus dem Wege zu gehen, wol-len wir annehmen, daß der dem Draht zugekehrte Ma-

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gnetpol der positive sei.Der Charakter der auf den positiven Magnetpol

einwirkenden Kraft läßt sich aus Figur 43 ersehen.

Fig. 43

Zunächst bemerken wir oben am Draht einen kleinenPfeil, der die Richtung des Stromes angibt. Er zeigtalso vom höheren zum niedrigeren Potential. Alle an-deren Linien sind die in einer bestimmten Ebene ent-haltenen, zu diesem Strom gehörenden Kraftlinien.Sind sie richtig eingezeichnet, können wir aus ihnendie Richtung des dem Einfluß unseres Stromes aufeinen positiven Magnetpol entsprechenden Kraftvek-tors und außerdem noch einiges über seine Länge her-auslesen. Kraft ist, wie wir schon wissen, ein Vektor,und wenn wir diesen bestimmen wollen, so müssenwir seine Richtung und auch seine Länge kennen. Unsgeht es hier hauptsächlich um die Richtung der auf

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einen Pol einwirkenden Kraft, und so fragen wir: Wiekann man aus der Skizze die Richtung der Kraft füreinen beliebigen Punkt im Raum entnehmen?

Fig. 44

Das Ablesen der Kraftrichtung ist in diesem Fallenicht so einfach wie vorhin, als wir es mit geradlini-gen Kraftlinien zu tun hatten. In Figur 44 haben wirnun eine Kraftlinie eingezeichnet, um das Verfahrenbesser erklären zu können. Der Kraftvektor decktsich, wie man sieht, mit der Tangente an der Kraftli-nie. Seine Pfeilspitze zeigt in die gleiche Richtungwie die Pfeile auf der Kraftlinie, und in ebendiesemSinne wirkt die Kraft also an dieser Stelle des Strom-kreises auf eine Magnetnadel ein. Aus einer gutenSkizze oder vielmehr aus einem guten Modell können

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wir auch etwas über die Länge des Kraftvektors füreinen beliebigen Punkt entnehmen. Der Vektor mußdort, wo die Linien dichter sind, also in der Nähe desDrahtes, länger sein, kürzer dagegen, wo die Linienschütterer werden, das heißt in größerer Entfernungvon dem Draht.

Auf diese Art können wir an Hand der Kraftlinienoder, mit anderen Worten, mit Hilfe des Feldes fürjeden beliebigen Punkt im Raum die Kräfte bestim-men, die auf einen dort befindlichen Magnetpol ein-wirken. Darin liegt vorläufig der ganze praktischeWert unserer komplizierten Feldkonstruktion. Nunwir aber einmal wissen, was es mit dem Feld für eineBewandtnis hat, werden wir die Kraftlinien des Stro-mes mit bedeutend größerem Interesse untersuchen.Diese Linien umgeben den Draht als Kreise und lie-gen in Ebenen, die auf der des Drahtes senkrecht ste-hen. Wenn wir uns an Hand der Skizze über den Cha-rakter der Kraft informieren, so kommen wir aufsneue zu dem Schluß, daß sie in einer Richtung wirkt,die mit allen gedachten Verbindungslinien zwischenDraht und Pol einen rechten Winkel bildet; denn dieTangente an einem Kreis steht immer auf seinem Ra-dius senkrecht. Unser ganzes Wissen um die hier wal-tenden Kräfte läßt sich in die Konstruktion des Feldeseinbauen. Wir schalten den Begriff »Feld« gewisser-maßen zwischen den Begriffen »Strom« und »Ma-

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gnetpol« ein, damit wir die Kräfte auf einfache Artund Weise darstellen können.

Fig. 45

Jeder Strom tritt in Begleitung eines magnetischenFeldes auf, das heißt, auf einen Magnetpol, der in dieNähe eines stromdurchflossenen Drahtes gebrachtwird, wirkt stets eine Kraft ein. Nebenbei bemerkt,können wir a conto dessen empfindliche Apparatekonstruieren, mit denen sich das Vorhandensein einesStromes jederzeit nachweisen läßt.

Nachdem wir einmal gelernt haben, wie man denCharakter magnetischer Kräfte aus dem Feldmodelleines Stromes herauslesen kann, werden wir von nunan zu jedem stromdurchflossenen Draht eine Feldskiz-ze anfertigen, damit wir wissen, wie sich die magneti-schen Kräfte in allen Punkten des Raumes auswirken.

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Zunächst wollen wir das sogenannte Solenoid bespre-chen, das eigentlich, wie aus Figur 45 ersichtlich,nichts weiter ist als eine Drahtspule. Wir werden ersteinmal experimentell möglichst viel über das magne-tische Feld in Erfahrung zu bringen suchen, das zu-gleich mit einem durch ein Solenoid fließenden Stromauftritt, und dann sollen diese Daten in das Modelleines Kraftfeldes eingearbeitet werden. Das Ergebniswird in Form einer Skizze festgehalten. Die ge-krümmten Kraftlinien sind in sich geschlossene Kur-ven, die das Solenoid in einer für das Magnetfeldeines Stromes charakteristischen Weise umgeben.

Das Kraftfeld eines Stabmagneten läßt sich, wieFigur 46 zeigt, genauso darstellen wie das des Stro-mes.

Fig. 46

Die Kraftlinien laufen vom positiven zum negativenPol. Der Kraftvektor fällt stets mit der Tangente ander Kraftlinie zusammen und ist in der Nähe der Pole

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am längsten, weil die Linien dort am dichtesten sind.Er zeigt den Einfluß an, den der Magnet auf einen an-deren positiven Magnetpol ausübt. In diesem Falle istder Magnet statt des Stromes »Urheber« des Kraftfel-des.

Die beiden letzten Skizzen wollen wir uns gründ-lich ansehen und miteinander vergleichen. Die erstestellt das magnetische Feld eines durch ein Solenoidfließenden Stromes dar, die zweite dagegen das einesStabmagneten. Wenn wir uns nun Solenoid bzw.Stabmagnet wegdenken und nur die beiden umgeben-den Kraftfelder betrachten, so bemerken wir sofort,daß sie einander vollkommen gleichen; beim Solenoidwie beim Stabmagneten laufen die Kraftlinien voneinem Ende zum anderen.

Das ist die erste Frucht, die uns die Kraftfelddar-stellung einbringt. Es ist an sich nicht gerade einfach,zwischen dem Strom, der durch ein Solenoid fließt,und einem Stabmagneten eine ausgeprägte Ähnlich-keit zu finden; erst wenn wir das Kraftfeld konstruie-ren, sehen wir, worin sie besteht.

Jetzt können wir den Feldbegriff einer noch rigoro-seren Erprobung zuführen. Bald werden wir sehen, ober uns wirklich nur eine neue Darstellungsmöglichkeitfür die wirkenden Kräfte bringt oder ob sich mehrdamit anfangen läßt. Wir können folgende Überle-gung anstellen: Angenommen, das Kraftfeld wäre die

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einzig richtige Darstellungsform für alle Wirkungen,die von seinen »Urhebern« ausgehen. Was wäre,wenn das wirklich zuträfe? Nun, es würde folgendesbedeuten: Wenn Solenoid und Stabmagnet gleicheKraftfelder haben, dann müssen auch alle von ihnenausgehenden Wirkungen dieselben sein. Zwei unterStrom gesetzte Solenoide müssen sich dann gegensei-tig in derselben Weise beeinflussen wie zwei Stab-magnete, das heißt, sie müssen einander genauso wiezwei Stabmagnete abstoßen bzw. anziehen, je nach-dem, welche Lage sie relativ zueinander einnehmen.Auch ein Solenoid und ein Stabmagnet müssen einan-der wie zwei Stabmagnete anziehen und abstoßen,kurz, alle Wirkungen, die von einem stromdurchflos-senen Solenoid ausgehen, gleichen aufs Haar deneneines gleich starken Stabmagneten, da sie einzig undallein dem Kraftfeld zuzuschreiben sind und da diesesin beiden Fällen von der gleichen Beschaffenheit ist. –Das Experiment erweist, daß diese Annahme sogarvollkommen richtig ist.

Wie schwierig wären diese Gesetzmäßigkeitenohne den Begriff »Kraftfeld« zu entdecken gewesen!Der Ausdruck für eine zwischen einem stromdurch-flossenen Draht und einem Magnetpol waltende Kraftist nämlich ein sehr kompliziertes Gebilde, und wennwir es mit zwei Solenoiden zu tun haben, müßten wirwieder die Kräfte untersuchen, mit denen zwei Ströme

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aufeinander einwirken. Nehmen wir jedoch das Kraft-feld zu Hilfe, so wissen wir schon in dem Moment,wo die Gleichartigkeit der Felder von Solenoiden undStabmagneten einmal konstatiert ist, in welcher Weisesie aufeinander einwirken.

Wir können dem Kraftfeld jetzt mit Fug und Rechteine weit größere Bedeutung als ursprünglich beimes-sen. Einzig und allein auf die Eigenschaften des Fel-des scheint es bei der Beschreibung der Phänomeneanzukommen; die Verschiedenartigkeit der Kraftquel-len spielt offenbar gar keine Rolle. Die überragendeBedeutung des Feldbegriffs zeigt sich vor allem darin,daß er den Weg zu neuen, aufschlußreichen Experi-menten weist.

Das Kraftfeld hat sich als eine sehr nützliche Vor-stellung erwiesen. Zunächst schoben wir es bloß zwi-schen Kraftquelle und Magnetnadel ein, um die zwi-schen beiden waltenden Kräfte beschreiben zu kön-nen. Wir sahen es gleichsam als einen Mittler an, deralle von dem Strom ausgehenden Wirkungen zu reali-sieren hat. Jetzt hat dieser Mittler aber außerdem nochdie Aufgabe eines Dolmetschers zugewiesen bekom-men, der die Gesetzmäßigkeiten in eine einfache,klare und leichtverständliche Sprache überträgt.

Dieser Anfangserfolg der kraftfeldmäßigen Be-schreibung läßt es als zweckmäßig erscheinen, nun-mehr alle von Strömen, Magneten und Ladungen aus-

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gehenden Kräfte indirekt, das heißt unter Heranzie-hung des Kraftfeldes als Dolmetsch, zu betrachten.Vielleicht ist das Kraftfeld eine ständige Begleiter-scheinung aller elektrischen Ströme. Am Ende ist essogar da, wenn gar kein Magnetfeld vorhanden ist,das für seine Existenz zeugt. Wir wollen nun versu-chen, diese neue Spur systematisch zu verfolgen.

Fig. 47

Das Kraftfeld eines geladenen Leiters kann ziemlichauf die gleiche Art konstruiert werden wie das Schwe-refeld bzw. das Kraftfeld eines Stromes oder Magne-ten. Wieder wählen wir uns ein möglichst einfachesBeispiel. Wenn wir das Kraftfeld einer positiv gelade-nen Kugel entwerfen wollen, müssen wir uns zunächstfragen, welcher Art die Kräfte sind, die auf einen klei-nen positiv geladenen Prüfkörper einwirken, der indie Nähe der Kraftquelle, nämlich der geladenen

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Kugel, gebracht wird. Ob wir einen positiv geladenenPrüfkörper oder einen negativen verwenden, ist imGrunde ganz gleichgültig. Wir müssen uns nur des-halb darüber einigen, damit wir wissen, nach welcherRichtung die Kraftlinien zeigen sollen. Das Modellhat sehr große Ähnlichkeit mit dem des Schwerefeldes(Figur 42), wie ja auch die Gesetze Coulombs undNewtons eine gewisse Parallelität aufweisen. Es istnur insofern anders, als die Pfeile nach der entgegen-gesetzten Richtung zeigen; denn wir haben es ja hiermit der Abstoßung zweier positiver Ladungen, dortdagegen mit der gegenseitigen Anziehung zweierMassen zu tun.

Fig. 48

Das Kraftfeld einer negativ geladenen Kugel aller-dings ist mit dem Schwerefeld vollkommen identisch;denn in diesem Falle wird die kleine positive Prüfla-

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dung ja von dem »Urheber« des Feldes angezogen.Zwischen ruhenden elektrischen Polen einerseits

und ruhenden Magnetpolen andererseits gibt es keineWechselwirkung; sie ziehen sich nicht an und stoßeneinander nicht ab. In der Kraftfeldsprache drücken wirdas wie folgt aus: Ein elektrostatisches Feld übt aufein magnetostatisches keinen Einfluß aus, und umge-kehrt. Ein statisches Feld ist eines, das sich in der Zeitnicht verändert. Magnet und Ladung bleiben bis inalle Ewigkeit ruhig beieinander liegen, wenn sie durchkeine äußeren Kräfte gestört werden. Elektrostatische,magnetostatische und Schwerefelder sind drei ganzverschiedene Dinge. Sie gehen keine Verbindungenein. Jede Kategorie bewahrt unbeschadet der anderenihre Eigenart.

Kehren wir zu der elektrischen Kugel zurück, die jabisher in Ruhe war, und nehmen wir an, sie beginntsich jetzt auf Grund der Einwirkung einer äußerenKraft zu bewegen. Wenn die geladene Kugel sich aberbewegt, so heißt das, ausgedrückt in der Kraftfeld-sprache: Das Feld der elektrischen Ladung verändertsich in der Zeit. Nun ist die Bewegung dieser gelade-nen Kugel aber, wie wir ja bereits an Rowlands Ver-such gesehen haben, einem Strom gleichzusetzen, undjeder Strom wiederum tritt immer zusammen miteinem magnetischen Feld auf. Unsere Überlegung läßtsich also folgendermaßen schematisieren:

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Daraus schließen wir: Eine durch Bewegung einerLadung verursachte Veränderung eines elektrischenFeldes ist stets mit dem Auftreten eines magneti-schen Feldes verbunden.

Unsere Schlußfolgerung basiert zwar auf ØrstedsVersuch, doch bleibt sie in ihrer Bedeutung keines-wegs auf diesen beschränkt. Sie läßt die Tatsache,daß ein in der Zeit veränderliches elektrisches Feldvon einem magnetischen begleitet wird, nämlich alsrichtungweisend für unsere weiteren Überlegungen er-scheinen.

Solange eine Ladung ruht, ist nur ein elektrostati-sches Feld vorhanden. Beginnt sie sich jedoch zu be-wegen, tritt sofort ein magnetisches Feld auf. Wirkönnen sogar noch mehr sagen: Das durch die Bewe-gung einer Ladung hervorgerufene magnetische Feldwird um so stärker, je größer die Ladung ist bzw. jeschneller sie sich bewegt. Das ergibt sich nämlichauch aus Rowlands Experiment, und wenn wir unswiederum der Kraftfeldsprache bedienen wollen, sokönnen wir sagen: Je schneller sich das elektrischeFeld verändert, um so stärker ist das gleichzeitig auf-

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2.171 Einstein/Infeld-Evolution, 142Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tretende magnetische Feld.Wir haben uns bemüht, wohlbekannte Gesetzmä-

ßigkeiten aus der Lehre von den Fluida, wie sie sichaus der alten mechanistischen Auffassung entwickelthatte, in die neue Kraftfeldterminologie zu übertragen.Erst später werden wir dann sehen, wie klar und auf-schlußreich diese Darstellungsmethode eigentlich istund was wir alles damit anfangen können.

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Die beiden Grundpfeiler der Feldtheorie

»Die Veränderung eines elektrischen Feldes ist mitder Entstehung eines magnetischen Feldes verbun-den.« Wenn wir die Worte »magnetisch« und »elek-trisch« austauschen, so heißt der Satz: »Die Verände-rung eines magnetischen Feldes ist mit der Entstehungeines elektrischen Feldes verbunden.« Ob das natür-lich stimmt, läßt sich nur experimentell feststellen,doch bietet sich das Problem als solches förmlich an,wenn wir uns der Kraftfeldterminologie bedienen.

1831 entdeckte Michael Faraday auf Grund einesExperimentes die Induktion – ein großes Ereignis inder Geschichte der Naturwissenschaften.

Die Induktion läßt sich sehr einfach demonstrieren.Wir brauchen dazu nur ein Solenoid oder irgendeinenanderen Kreis, einen Stabmagneten und einen der vie-len Apparate, wie man sie zum Nachweis eines elek-trischen Stromes verwendet. Zunächst nimmt derStabmagnet in der Nähe des Solenoids, das einen ge-schlossenen Kreis bildet, die Ruhelage ein. In demDraht fließt kein Strom, da keine Stromquelle vorhan-den ist. Lediglich das magnetostatische Feld des Stab-magneten ist da, das sich in der Zeit nicht ändert. Jetztwollen wir den Stabmagneten schnell verschieben.Wir ziehen ihn entweder weg oder führen ihn noch

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näher an das Solenoid heran. Wie wir es machen,bleibt sich ganz gleich, jedenfalls fließt im gleichenMoment ein Strom, der nach sehr kurzer Zeit wiederversiegt. Jedesmal, wenn der Magnet eine Lageverän-derung erfährt, ist auch der Strom wieder da. Er kannmit einem entsprechend empfindlichen Apparat stetsnachgewiesen werden. Wo ein Strom ist, muß abernach der Feldtheorie auch ein elektrisches Feld sein,welches die elektrischen Fluida veranlaßt, durch denDraht zu fließen. Kehrt der Magnet in die Ruhelagezurück, so versiegt der Strom, und folglich verschwin-det auch das elektrische Feld wieder.

Fig. 49

Setzen wir einmal den Fall, die Kraftfeldterminologiesei uns noch gar nicht bekannt und die Ergebnissedieses Versuches müßten in qualitativer und quantita-tiver Hinsicht mit den Mitteln der alten mechanisti-schen Denkweise beschrieben werden. Dann stelltsich unser Experiment wie folgt dar: Durch die Bewe-gung eines magnetischen Dipols wird eine neue Kraft

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erzeugt, die das elektrische Fluidum im Draht in Be-wegung setzt. Die nächste Frage müßte lauten: Wo-durch wird diese Kraft bestimmt? Und darauf ließesich schwerlich eine Antwort geben. Wir müßten un-tersuchen, ob die Kraft sich vielleicht nach der Ge-schwindigkeit des Magneten, nach seiner Form odernach der des Kreises richtet. Darüber, ob ein Indukti-onsstrom auch durch die Bewegung eines zweitenStromkreises statt der eines Stabmagneten erregt wer-den kann, gibt uns der Versuch keinen Aufschluß, so-fern wir ihn nur im Lichte der alten Auffassung sehen.

Fig. 50

Bedienen wir uns dagegen der Kraftfeldterminologieund gehen wir auch hier davon aus, daß die Wirkungsich nach dem Feld richtet, so sehen wir gleich, daßein stromdurchflossenes Solenoid ohne weiteres dieRolle des Stabmagneten übernehmen kann. In Figur50 sehen wir zwei Solenoide: ein kleines, von vorn-herein unter Strom gesetztes, und ein zweites, größe-res, in dem wir den Induktionsstrom erzeugen wollen.

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Wir können das Induktionsphänomen nun einmal da-durch hervorrufen, daß wir das kleine Solenoid so be-wegen wie zuvor den Stabmagneten, können aberauch von einer solchen Verschiebung ganz absehenund statt dessen durch Ein- und Ausschalten des Stro-mes im kleinen Solenoid, also durch fortwährendesUnterbrechen und Schließen des Stromkreises, einMagnetfeld schaffen, das abwechselnd erscheint undwieder verschwindet. Auch hier wieder werden dieaus der Feldtheorie abgeleiteten Voraussagen durchdas Experiment bestätigt!

Nehmen wir ein noch einfacheres Beispiel. Im Be-reich eines magnetischen Feldes befindet sich ein ge-schlossener Kreisleiter ohne jede Stromquelle. Es in-teressiert uns gar nicht, ob das Feld von einem ande-ren, unter Strom stehenden Kreis oder von einemStabmagneten hervorgerufen wird. In Figur 51 sehenwir den geschlossenen Kreis und die magnetischenKraftlinien. Die qualitative und quantitative Beschrei-bung der Induktionserscheinungen erweist sich nun,wie wir sehen werden, unter Benutzung der Kraftfeld-terminologie als sehr einfach. Wie die Skizze zeigt,geht ein Kraftlinienbündel durch die von dem Drahtumschlossene gedachte Fläche hindurch. Um dieseKraftlinien geht es uns hier. Ganz gleich, wie starkdas Feld ist; solange es sich nicht verändert, fließtkein elektrischer Strom. Sowie die Zahl der durch die

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gedachte, von dem Draht umschlossene Fläche hin-durchgehenden Linien sich jedoch verändert, ist derStrom da.

Fig. 51

Er mag entstehen, wie er will, jedenfalls hängt erdavon ab, ob und wie die Zahl der die gedachte Flä-che schneidenden Linien sich verändert. Die Ände-rung der Kraftlinienzahl ist das einzige, worauf es beider qualitativen und quantitativen Beschreibung desInduktionsstromes im Grunde ankommt. »Die Zahlder Linien verändert sich« heißt, daß die Dichte derLinien sich wandelt, und das wiederum bedeutet, wiewir uns erinnern wollen, daß die Feldstärke eine ande-re wird.

Die wichtigsten Stationen unserer Überlegung sindalso die folgenden: Veränderung eines magnetischen

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Feldes → Induktionsstrom → Bewegung einer La-dung → elektrisches Feld.

Folglich gilt der Satz: Ein veränderliches magneti-sches Feld wird von einem elektrischen Feld beglei-tet.

Damit haben wir die beiden wichtigsten Gesetzeder Theorie von den elektrischen und magnetischenFeldern abgeleitet. Das erste, das sich auf den Zusam-menhang zwischen dem veränderlichen elektrischenund dem magnetischen Feld bezieht, ergibt sich ausØrsteds Experiment mit der Ablenkung der Magnet-nadel und gipfelt in dem Satz: Ein veränderlicheselektrisches Feld wird von einem magnetischen Feldbegleitet.

Das zweite Gesetz bezieht sich auf den Zusammen-hang zwischen einem veränderlichen magnetischenFeld und dem Induktionsstrom und ergibt sich aus Fa-radays Experiment. Beide zusammen bilden dieGrundlage für eine quantitative Beschreibung.

Auch das elektrische Feld, das in Begleitung desveränderlichen magnetischen Feldes auftritt, machtden Eindruck von etwas wirklich Vorhandenem.Schon einmal, bei der Besprechung eines magneti-schen Feldes eines Stroms, sahen wir uns veranlaßt,das Feld auch ohne einen Prüfpol als vorhanden anzu-sehen, und so müssen wir hier analog dazu sagen, daßdas elektrische Feld auch ohne den Draht, der zum

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Nachweis des Induktionsstromes dient, dasein muß.Wir können sogar noch weitergehen und unsere

zwei Gesetze auf eines reduzieren, weil wir eigentlichmit dem auf Ørsteds Experiment beruhenden auskom-men. Das Ergebnis von Faradays Versuch läßt sichaus jenem nämlich mit Hilfe des Gesetzes von der Er-haltung der Energie ableiten. Nur um der Klarheitwillen und aus Zweckmäßigkeitsgründen haben wirhier von zwei Gesetzen, zwei Grundpfeilern, gespro-chen.

Noch ein Umstand, der sich aus der Beschreibungvon Vorgängen mit Hilfe des Kraftfeldes ergibt, seierwähnt. Wir denken uns einen Stromkreis, der, sagenwir, von einem Voltaschen Element gespeist wird.Plötzlich wird der Kontakt zwischen Draht undStromquelle unterbrochen. Jetzt fließt natürlich keinStrom mehr, doch spielt sich während dieser kurzenUnterbrechung ein verwickelter Vorgang ab, der nachder Feldtheorie auch wieder hätte vorhergesagt wer-den können. Bevor der Stromkreis unterbrochen wird,ist der Draht von einem magnetischen Feld umgeben,das dann bei der Unterbrechung verschwindet. Dasmagnetische Feld wird also durch die Unterbrechungdes Stromkreises ausgelöscht, das heißt, die Anzahlder Kraftlinien, welche durch die von dem Draht ein-geschlossene gedachte Fläche hindurchgehen, hat sichsehr rasch verändert. Eine solche rasche Veränderung,

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wodurch immer sie herbeigeführt wird, muß aber wie-derum einen Induktionsstrom erzeugen. Das, woraufes ankommt, ist die Veränderung des magnetischenFeldes. Je größer diese ist, um so stärker fällt der In-duktionsstrom aus. Diese Schlußfolgerung ist ein wei-terer Prüfstein für unsere Theorie. Die Unterbrechungeines Stromkreises muß also mit der Entstehung einesstarken, nur für einen kurzen Augenblick fließendenInduktionsstroms verbunden sein. Wieder erbringt dasExperiment eine Bestätigung unserer Voraussage.Jeder, der schon einmal einen Stromkreis unterbro-chen hat, wird bemerkt haben, daß dabei ein Funkeentsteht. Dieser Funke läßt auf die großen Potential-differenzen schließen, die durch die rasche Verände-rung des magnetischen Feldes bedingt sind.

Den gleichen Vorgang können wir von einer ande-ren Seite her betrachten, nämlich im Hinblick auf dieEnergie. Wenn das magnetische Feld verschwindet,entsteht, wie wir gesehen haben, ein Funke. DerFunke repräsentiert Energie; folglich muß auch dasmagnetische Feld eine Erscheinungsform der Energiesein. Wenn wir im Gebrauch des Feldbegriffs und derdazugehörigen Terminologie konsequent sein wollen,so müssen wir das magnetische Feld als Energieanrei-cherung betrachten. Nur dann können wir elektrischeund magnetische Erscheinungen nämlich im Einklangmit dem Gesetz von der Erhaltung der Energie be-

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schreiben.Das Feld, das wir zunächst nur als Modell, als eine

Hilfe, aufgefaßt haben, ist nach und nach zu etwasimmer Realerem geworden. Es erleichterte uns dasVerständnis altbekannter Gesetzmäßigkeiten und wiesuns auf neue hin. Wenn wir dem Feld nun gar einenEnergiegehalt zuschreiben, so gehen wir damit nocheinen Schritt weiter in unserem Bemühen, den Feldbe-griff immer mehr und mehr in den Vordergrund zustellen, während die Substanzbegriffe, die für die me-chanistische Denkweise so unerläßlich waren, sukzes-sive in der Versenkung verschwinden.

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Das Feld als Realität

Die quantitative, mathematische Beschreibung derFeldgesetze ist in den sogenannten MaxwellschenGleichungen enthalten. Diese Formeln wurden zwaraus den schon besprochenen Gesetzmäßigkeiten abge-leitet, doch beinhalten sie noch viel mehr, als wir bis-her zeigen konnten. Trotz ihrer einfachen Form sindsie von einer außerordentlichen Tiefgründigkeit, diesich einem aber erst bei gründlicherem Studium er-schließt.

Die Aufstellung dieser Gleichungen ist seit Newtondas bedeutendste Ereignis in der Physik gewesen, undzwar nicht nur wegen der Fülle ihrer Anwendungs-möglichkeiten, sondern auch deshalb, weil sie typischsind für eine ganz neue Gattung von Gesetzen.

Das Charakteristische an Maxwells Gleichungen,das auch in allen anderen Formeln der modernen Phy-sik zutage tritt, kann man mit einem Satz ausdrücken:Die Maxwellschen Gleichungen sind Gesetze, dieAufschluß über die Struktur des Feldes geben.

Inwiefern unterscheiden sich die MaxwellschenGleichungen nach Form und Art von denen der klassi-schen Mechanik? Was ist damit gemeint, wenn esheißt, sie beschreiben die Struktur des Feldes? Wiekommt es, daß wir auf Grund der Ergebnisse von Ør-

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steds und Faradays Versuchen ein ganz neuartigesGesetz aufstellen können, das sich für die weitereEntwicklung der Physik als so hochbedeutsam er-weist?

Wir haben an dem Ørstedschen Experiment gese-hen, wie sich um ein veränderliches elektrisches Feldein magnetisches »ringelt«, und Faradays Versuchzeigt uns, wie sich rings um ein veränderliches ma-gnetisches Feld ein elektrisches bildet. In dem Bestre-ben, einige Charakteristika der Maxwellschen Theorieherauszuarbeiten, wollen wir zunächst unser ganzesAugenmerk nur auf eines der beiden Experimente,und zwar auf das Faradaysche, konzentrieren. Wir bil-den noch einmal die Skizze ab, die den durch ein ver-änderliches Magnetfeld induzierten elektrischenStrom veranschaulicht. Wir wissen bereits, daß einInduktionsstrom auftritt, wenn die Zahl der Kraftli-nien, welche durch die von dem Draht begrenzte ge-dachte Fläche hindurchgehen, sich verändert. Es fließtalso immer dann ein Strom, wenn das magnetischeFeld sich verändert oder der Kreis deformiert oder be-wegt wird. Die Hauptsache ist, daß die Zahl der ma-gnetischen Kraftlinien, die durch die gedachte Flächehindurchgehen, sich verändert; wie das geschieht, istgleichgültig. Eine Theorie, in der all die verschiede-nen Veränderungsmöglichkeiten und die jeweiligenbesonderen Auswirkungen berücksichtigt sind, müßte

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sehr kompliziert sein. Aber können wir unser Problemnicht vereinfachen? Versuchen wir doch einmal, ausunseren Überlegungen alles wegzulassen, was sichauf Form und Länge des Kreisleiters und auf die vonihm umschlossene gedachte Fläche bezieht. Machenwir den Kreis aus unserer letzten Skizze in Gedankenimmer kleiner und kleiner, bis er schließlich so win-zig ist, daß er nur noch einen Punkt im Raum ein-schließt. Dann spielt alles, was mit Form und Größezusammenhängt, praktisch gar keine Rolle mehr.

Fig. 52

Bei diesem Einengungsprozeß, dieser Schrumpfungder in sich zurücklaufenden Kurve, die schließlichzum Punkt wird, verlieren Größe und Gestalt ganz au-tomatisch jede Bedeutung für unseren Gedankengang,und wir erhalten Gesetze für die Zusammenhängezwischen magnetischen und elektrischen Feldern in

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einem x-beliebigen Punkt in einem x-beliebigen Au-genblick.

Das ist eine der wichtigsten Etappen auf dem Wegezu den Maxwellschen Gleichungen. Es handelt sichwieder einmal um ein idealisiertes Experiment, daswir nur in Gedanken anstellen können, um eine Wie-derholung des Faradayschen Versuches mit einemKreis, der auf Punktgröße zusammenschrumpft.

Eigentlich ist es nicht einmal eine ganze, sondernnur eine halbe Etappe. Vorläufig hatten wir ja nur Fa-radays Experiment ins Auge gefaßt. Die zweite Stützeder Feldtheorie, die auf Ørsteds Versuch ruht, mußaber genauso sorgfältig und auf ganz ähnliche Art undWeise untersucht werden. In diesem Falle haben wires mit den magnetischen Kraftlinien zu tun, die einenStromkreis umhüllen. Wenn wir nun diese kreisförmi-gen magnetischen Kraftlinien bis auf Punktgröße zu-sammenschrumpfen lassen, haben wir die zweiteHälfte der Etappe bewältigt und wissen dann über dieZusammenhänge zwischen den Veränderungen ma-gnetischer und elektrischer Felder für beliebigeRaum- und Zeitpunkte einwandfrei Bescheid.

Nichtsdestoweniger bleibt immer noch ein hochbe-deutsamer Schritt zu tun. Bei Faradays Experiment istein Draht erforderlich, der für das elektrische Feldzeugen kann, wie ja auch bei Ørsteds Versuch einMagnetpol oder eine Magnetnadel zum Nachweis des

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magnetischen Feldes gebraucht wird. Maxwells neuesTheorem greift nun aber weit über diese Erfahrungs-tatsachen hinaus. Elektrisches und magnetisches Feldsind – oder, kürzer ausgedrückt: das elektromagneti-sche Feld ist nach Maxwells Theorie etwas Reales.Das elektrische Feld wird durch ein veränderlichesmagnetisches erzeugt, ganz gleich, ob nun ein Drahtvorhanden ist, mit dem es sich nachweisen läßt, odernicht. Ein magnetisches Feld wiederum wird durchein veränderliches elektrisches Feld hervorgerufen,auch wenn kein Magnetpol da ist, der das anzeigt.

Zwei entscheidungsschwere Schritte führen also zuMaxwells Gleichungen hin. Zunächst müssen wir,ausgehend von Ørsteds und Rowlands Experimenten,die kreisförmige Kraftlinie des magnetischen Feldes,das sich um einen stromdurchflossenen Draht und einveränderliches elektrisches Feld herum bildet, zueinem Punkt zusammenschrumpfen lassen. Überge-hend zu Faradays Versuch machen wir es dann mitder kreisförmigen Kraftlinie des elektrischen Feldes,das sich um ein veränderliches magnetisches Feldschlingt, genauso. Der zweite Schritt besteht danndarin, das Feld als etwas Reales anzuerkennen; unddieses elektromagnetische Feld verhält sich dann ganzim Sinne der Maxwellschen Gesetze.

Die Maxwellschen Gleichungen beziehen sich aufdie Struktur des elektromagnetischen Feldes. Die in

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ihnen formulierten Gesetze gelten für den ganzenRaum und nicht, wie es bei den mechanischen Geset-zen der Fall war, nur für Punkte, in denen sich Mate-rie oder Ladungen befinden.

Vergegenwärtigen wir uns doch noch einmal, wiees in der Mechanik war. Wenn wir nur für einen ein-zigen Augenblick Position und Geschwindigkeit einesTeilchens und ferner die jeweils waltenden Kräftekannten, waren wir imstande, seinen ganzen weiterenWeg vorauszuberechnen. Nach Maxwell können wirnunmehr an Hand der Gleichungen, in die er seineTheorie gefaßt hat, feststellen, wie sich das ganzeKraftfeld in Raum und Zeit verändert, sofern wir nurwissen, wie es in einem bestimmten Moment ausgese-hen hat. Mit Maxwells Gleichungen läßt sich somitdie Entwicklungsgeschichte des jeweiligen Feldes zu-rückverfolgen, genauso, wie wir es mit den Gleichun-gen der Mechanik bei Materieteilchen zu tun vermö-gen.

Ein wesentlicher Unterschied bleibt allerdingstrotzdem zwischen den mechanischen Gesetzen unddenen Maxwells bestehen, und ein Vergleich derNewtonschen Gravitationsgesetze mit den Maxwell-schen Feldgesetzen wird geeignet sein, einige charak-teristische Merkmale der beiden Arten von Gleichun-gen hervorzuheben.

Mit Hilfe der Newtonschen Gesetze können wir die

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Bewegung der Erde aus der zwischen Sonne und Erdewaltenden wechselseitigen Kraft ableiten. Die Gesetzegeben an, wie die Erdbahn mit den von der fernenSonne ausgehenden Einflüssen zusammenhängt. Erdeund Sonne sind trotz ihres großen Abstandes vonein-ander alle beide aktiv an dem Spiel der Kräfte betei-ligt.

Nach Maxwells Theorie dagegen gibt es keine ma-teriellen Wirkungsmomente. Seine mathematischenGleichungen geben die Gesetze an, denen das elektro-magnetische Feld unterworfen ist. Sie stellen nichtwie die Newtonschen den Zusammenhang zwischenzwei räumlich weit auseinanderliegenden Vorgängenher, bringen nicht die Ereignisse, die an dem und demOrt stattfinden, mit den Verhältnissen an einem ganzanderen in Verbindung. Das Feld, wie es sich aneinem bestimmten Ort und in einem bestimmten Zeit-punkt präsentiert, hängt vielmehr von dem Feld ab,das, räumlich unmittelbar benachbart, in einem geradeverflossenen Augenblick existiert hat. Nach den Glei-chungen können wir also voraussagen, was sich einwenig später und räumlich ein Stückchen weiter wegereignen wird, wenn wir nur wissen, was hier undjetzt geschieht. Wir können unser Wissen um dasFeld nach und nach, in ganz kleinen Etappen, ausbau-en und durch Aneinanderreihung dieser winzigenEtappen aus dem, was sich irgendwo in weiter Ferne

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ereignet hat, das ableiten, was hier geschieht. NachNewtons Theorie sind, ganz im Gegensatz dazu, nurgroße Etappen zulässig, die den Zusammenhang zwi-schen weit voneinander entfernten Ereignissen herstel-len. Die Experimente Ørsteds und Faradays lassensich aus Maxwells Theorie rekonstruieren, doch nurdurch Aneinanderreihung von lauter kleinen Etappen,auf die Maxwells Gleichungen anwendbar sind.

Eine gründlichere mathematische Untersuchung derMaxwellschen Gleichungen ergibt, daß sich aus ihnenneue und absolut unvorhergesehene Schlüsse ziehenlassen. Überdies kann man die ganze Theorie dannauch von einer bedeutend höheren Warte aus prüfen,da die theoretischen Folgerungen nunmehr quantitati-ver Natur sind und am Ende einer ganzen Kette logi-scher Schlüsse stehen.

Denken wir uns wieder ein idealisiertes Experimentaus. Eine kleine, elektrisch geladene Kugel wirddurch einen äußeren Einfluß in rasche Schwingungenversetzt, die wie bei einem Pendel rhythmisch verlau-fen. Wie können wir die Vorgänge, die sich dabei ab-spielen, mit den Kenntnissen, die wir schon im Hin-blick auf Feldänderungen gesammelt haben, in dieKraftfeldsprache fassen?

Die Schwingung der Ladung ruft ein veränderlicheselektrisches Feld hervor. Ein solches wiederum iststets von einem veränderlichen Magnetfeld begleitet.

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Stellt man in der Nähe einen geschlossenen Kreislei-ter auf, so wird das veränderliche magnetische Feldauch hier wieder einen elektrischen Strom erzeugen.Alles das ist noch bloße Wiederholung bereits be-kannter Dinge; beschäftigen wir uns jedoch eingehendmit Maxwells Gleichungen, so gewinnen wir einenviel tieferen Einblick in das Wesen der schwingendenelektrischen Ladung. Aus den Maxwellschen Glei-chungen können wir auf mathematischem Wege dieBeschaffenheit des Feldes ableiten, das eine schwin-gende Ladung umgibt.

Wir erfahren, wie es strukturell in der Nähe derKraftquelle und in größerer Entfernung davon aus-sieht und wie es sich im Laufe der Zeit ändert. DasResultat ist eine elektromagnetische Welle. Dieschwingende Ladung gibt Energie ab, die mit einerbestimmten Geschwindigkeit den Raum durchmißt,und eine Weitergabe von Energie, die Fortbewegungeines Zustandes, ist ja charakteristisch für alle Wel-lenerscheinungen.

Wir haben schon davon gesprochen, daß es ver-schiedene Arten von Wellen gibt. Denken wir wiederan die von der pulsierenden Kugel erzeugte Längs-welle, bei der Dichteveränderungen durch ein Mediumwandern, und an das gallertartige Medium, worin sichdie Querwelle fortpflanzt. Hier breitete sich einedurch die Drehung der Kugel verursachte Deformati-

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on der Gallerte über das Medium aus. Welcher Artsind nun die Veränderungen, die sich bei einer elek-tromagnetischen Welle ausbreiten? Nun, es sind le-diglich Veränderungen elektromagnetischer Felder,weiter gar nichts! Jede Veränderung eines elektrischenFeldes ruft ein magnetisches Feld hervor; jede Verän-derung dieses magnetischen Feldes erzeugt wieder einelektrisches Feld, und so weiter und so fort. Da dasFeld Energie repräsentiert, bilden alle diese Verände-rungen, die sich da mit einer bestimmten Geschwin-digkeit in den Raum hinaus verbreiten, eine Welle.Die elektrischen und magnetischen Kraftlinien liegen,wie wir aus der Theorie abgeleitet haben, stets in Ebe-nen, die auf der Fortpflanzungsrichtung senkrecht ste-hen. Die entstehende Welle ist daher eine Querwelle.Das Bild, das wir uns ursprünglich auf Grund vonØrsteds und Faradays Versuchen vom Kraftfeld ge-macht hatten, wird davon an sich nicht berührt, nurerkennen wir jetzt, daß die wahre Bedeutung des Fel-des noch tiefer liegt.

Die elektromagnetische Welle breitet sich im leerenRaum aus, und auch das ergibt sich aus der Theorie.Wenn die Ladung plötzlich zu schwingen aufhört,wird ihr Feld elektrostatisch. Die bis dahin durchSchwingungen erzeugte Wellenserie pflanzt sich je-doch ungeachtet dessen weiter fort. Die Wellen fuhrennunmehr ein Eigendasein, und der Ablauf ihrer Ver-

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änderungen läßt sich genausogut verfolgen wie dervon materiellen Objekten.

Wir begreifen, daß sich unsere Vorstellung von derelektromagnetischen Welle, die sich mit einer be-stimmten Geschwindigkeit im Raum ausbreitet undsich in der Zeit verändert, nur deshalb aus MaxwellsGleichungen ableiten läßt, weil man mit ihnen dieStruktur des elektromagnetischen Feldes für einen be-liebigen Punkt im Raum und für einen beliebigen Au-genblick bestimmen kann.

Noch eine sehr wichtige Frage bleibt zu lösen: Mitwelcher Geschwindigkeit pflanzt sich die elektroma-gnetische Welle im leeren Raum fort? Auch hier gibtuns die Theorie zusammen mit ein paar Daten, diesich aus einfachen, gar nicht mit der eigentlichenWellenausbreitung zusammenhängenden Experimen-ten gewinnen lassen, eine eindeutige Antwort: DieGeschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen istgleich der des Lichtes.

Ørsteds und Faradays Experimente bildeten dieGrundlage, auf der Maxwell seine Gesetze aufbauenkonnte. Alle bisher besprochenen Erkenntnisse ent-stammen einer gründlichen Analyse ebendieser Geset-ze mit den Mitteln der Kraftfeldsprache.

Die rein theoretische Entdeckung elektromagneti-scher Wellen, die sich mit der Lichtgeschwindigkeitfortpflanzen, gehört zu den Großtaten der Naturwis-

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senschaft. Sie konnte etwas später experimentell be-stätigt werden. In den Jahren 1886–88 wies Hertzerstmalig die Existenz elektromagnetischer Wellennach und fand, daß sie sich tatsächlich mit Lichtge-schwindigkeit ausbreiten. Heutzutage ist das Sendenund Empfangen von elektromagnetischen Wellen fürMillionen Menschen etwas Alltägliches und Selbst-verständliches. Der Apparat, den sie dazu verwenden,ist bedeutend komplizierter als der seinerzeit vonHertz gebaute, und man kann die Wellen damit nichtnur ein paar Meter, sondern Tausende Kilometer vonihrem Ursprungsort entfernt nachweisen.

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Feld und Äther

Elektromagnetische Wellen sind Querwellen undpflanzen sich im leeren Raum mit Lichtgeschwindig-keit fort. Diese Geschwindigkeitsgleichheit bei beidenPhänomenen läßt vermuten, daß optische und elektri-sche Erscheinungen sehr nahe miteinander verwandtsind.

Als wir zwischen Korpuskular- und Wellentheoriezu wählen hatten, entschieden wir uns für die letztere,und das Argument, das dabei den Ausschlag gab, wardie Beugung des Lichts. Ohne eine einzige der damalsangegebenen Deutungen optischer Gesetzmäßigkeitenetwa widerrufen zu wollen, gehen wir nun noch einenSchritt weiter und sagen, daß die Lichtwellen elektro-magnetischer Natur sind. Man kann aus dieser küh-nen Behauptung sogar noch weitere Schlüsse ziehen.Wenn dem nämlich wirklich so ist, dann muß es einentheoretisch nachweisbaren Zusammenhang zwischenden optischen und elektrischen Eigenschaften der Ma-terie geben. Der Umstand, daß ein solcher Zusam-menhang nun tatsächlich gefunden werden konnte undsogar bei experimenteller Nachprüfung Stich hielt,spricht ganz entschieden für die elektromagnetischeLichttheorie.

Diese bedeutende Erkenntnis haben wir der Feld-

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theorie zu verdanken, die zwei scheinbar völlig unzu-sammenhängende Wissenschaftszweige in ein undderselben Theorie vereint. Die Maxwellschen Glei-chungen gelten sowohl für die elektrische Induktionals auch für die Lichtbrechung. Wenn wir es als unserZiel ansehen, einmal alles, was sich je ereignet hatbzw. ereignen wird, ausschließlich mit einer einzigenTheorie beschreiben zu können, dann stellt die Verei-nigung der Optik mit der Elektrizitätslehre zweifelloseinen sehr großen Fortschritt dar. Physikalisch gese-hen, unterscheidet sich eine eigentliche elektromagne-tische Welle einzig und allein durch die Wellenlängevon einer Lichtwelle. Die Wellenlänge ist nämlich beiden für das menschliche Auge wahrnehmbaren Licht-wellen sehr klein, während sie bei den eigentlichenelektromagnetischen Wellen, wie wir sie mit demRundfunkempfänger auffangen, ziemlich groß ist.

Die alte mechanistische Konzeption war ein Ver-such, das ganze Naturgeschehen auf Kräfte zurückzu-führen, die zwischen Materieteilchen walten. Auf die-ser mechanistischen Auffassung basierte auch dieerste naive Theorie von den elektrischen Fluida. Fürden Physiker des beginnenden neunzehnten Jahrhun-derts gab es noch kein Feld. Er ließ nur die Substanzund ihre Veränderungen gelten und suchte das Ver-halten zweier elektrischer Ladungen auf Grund vonVorstellungen zu begründen, die sich direkt auf eben-

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diese Ladungen bezogen.Zunächst sollte der Feldbegriff bloß dazu dienen,

das Verständnis für bestimmte Erscheinungen vomMechanischen her zu erleichtern. In der neuen Kraft-feldterminologie ist die Beschreibung des zwischenden beiden Ladungen liegenden Feldes, nicht aber dieder Ladungen selbst für die Deutung ihres Verhaltensmaßgebend. Die neuen Begriffe zogen rasch immerweitere Kreise, bis das substantielle Denken schließ-lich ganz und gar von dem kraftfeldmäßigen verdrängtwurde. Man begriff, daß dieser Umschwung für diePhysik von größter Bedeutung sein mußte. Eine neueRealität war entdeckt worden, eine neue Konzeption,für die im Rahmen der mechanistischen Denkweisekein Raum mehr blieb. Langsam und in zähem Rin-gen eroberte sich der Kraftfeldbegriff den Vorrang inder Physik, und so zählt er bis heute zu den physikali-schen Grundbegriffen. Das elektromagnetische Feldist für den modernen Physiker nicht minder wirklichals der Stuhl, auf dem er sitzt.

Es wäre allerdings ungerecht, wollte man die Sacheso darstellen, als wäre die Naturwissenschaft mit demAufkommen des Kraftfeldgedankens von einer alten,unbrauchbaren Theorie, nämlich der von den Fluida,befreit, als wären die mit der alten Theorie erzieltenErrungenschaften durch die neue getilgt worden. Dieneue Theorie beleuchtet vielmehr sowohl die Vorzüge

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als auch die Schwächen der alten Theorie, und sie gibtuns die Möglichkeit, unsere alten Begriffe von einerhöheren Warte aus neu zu formulieren. Das gilt nichtnur für die Theorie von den elektrischen Fluida unddie vom Kraftfeld, sondern für alle Umwälzungenschlechthin, denen physikalische Theorien unterwor-fen sind, mögen sie auch scheinbar noch so einschnei-dend sein. In unserem Falle finden wir den Begriff»elektrische Ladung« zum Beispiel in MaxwellsTheorie wieder, wenn die Ladung hier auch nur alsQuelle eines elektrischen Feldes aufgefaßt wird. Cou-lombs Gesetz bleibt auch erhalten; es läßt sich gleichvielen anderen Folgerungen aus Maxwells Gleichun-gen ableiten. Wir kommen nach wie vor mit der altenTheorie aus, solange es sich um Gesetzmäßigkeitenhandelt, die in ihrem Geltungsbereich liegen, doch istes uns auch in diesen Fällen nicht verwehrt, die neueTheorie anzuwenden, da sie sich ja auf alle bekanntenGesetzmäßigkeiten erstreckt.

Vergleichsweise könnten wir sagen, daß die Auf-stellung einer neuen Theorie nicht dem Abreißen eineralten Bretterbude entspricht, an deren Stelle dann einWolkenkratzer aufgeführt wird; sie hat vielmehr eheretwas mit einer Bergbesteigung gemeinsam, bei derman immer wieder neue und weitere Ausblicke ge-nießt und unerwartete Zusammenhänge zwischen demAusgangspunkt und seiner reichhaltigen Umgebung

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entdeckt. Dabei ist der Punkt, von dem wir losmar-schiert sind, natürlich nach wie vor vorhanden. Mankann ihn stets liegen sehen, wenn er auch scheinbarimmer kleiner wird und schließlich nur noch einenwinzigen Teil unseres weitgespannten Rundblicksausmacht, den wir uns dadurch verschafft haben, daßwir die auf unserem abenteuerlichen Aufstieg liegen-den Hindernisse unerschrocken meisterten.

Es dauerte nun allerdings ziemlich lange, bis mandie Tragweite der Maxwellschen Theorie in vollemMaße zu würdigen wußte. Das Feld glaubte man spä-ter vielleicht unter Zuhilfenahme des Äthers noch ein-mal mechanistisch deuten zu können, doch wurde esmit der Zeit klar, daß dieses Vorhaben undurchführ-bar ist, da die bereits mit der Feldtheorie erzielten Er-folge zu augenfällig und zu bedeutend waren, als daßman die neue Lehre noch hätte zugunsten eines me-chanistischen Dogmas aufopfern können. Auf der an-deren Seite schien das Problem der Konstruktioneines mechanischen Äthermodells in dem Maße unin-teressanter zu werden, wie die Ergebnisse dieser Be-mühungen in Anbetracht der dafür notwendigen ge-zwungenen und gewollten Annahmen immer wenigerErfolg versprachen.

Wir haben wohl nur die Möglichkeit, es einfach alsgegeben hinzunehmen, daß der Raum eben die physi-kalische Eigenschaft hat, elektromagnetische Wellen

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2.198 Einstein/Infeld-Evolution, 156Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

weiterzuleiten, ohne uns den Kopf allzuviel über De-tails zu zerbrechen. Das Wort »Äther« können wireinstweilen auch weiterhin ruhig gebrauchen, dochwollen wir darunter nur noch eine bestimmte physika-lische Eigenschaft des Raumes verstehen. DiesesWort hat seine Bedeutung in der Naturwissenschaftübrigens im Laufe der Jahrhunderte schon oftmals ge-wandelt. Jetzt soll es nun also kein aus Partikeln auf-gebautes Medium mehr bezeichnen, doch ist sein Be-deutungswandel damit noch keineswegs abgeschlos-sen; er wird vielmehr von der Relativitätstheorie fort-gesetzt.

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2.199 Einstein/Infeld-Evolution, 156Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Das mechanische Bezugssystem

An diesem Punkte unserer Betrachtungen angelangt,müssen wir noch einmal zum Anfang, zu GalileisTrägheitsgesetz, zurückkehren. Wir zitieren aufsneue:

Jeder Körper beharrt in einem Zustande der Ruheoder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung,wenn er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungenwird, seinen Zustand zu ändern.

Wer den Gedanken der Trägheit einmal verstandenhat, wird sich fragen, was denn darüber noch zu sagensei. Dennoch ist dieses Problem noch lange nicht er-schöpfend behandelt worden, so eingehend wir unsauch schon damit befaßt haben.

Nehmen wir einmal folgenden Fall: Ein Wissen-schaftler, der seine Sache sehr ernst nimmt, ist derMeinung, das Trägheitsgesetz müsse sich experimen-tell bestätigen bzw. widerlegen lassen. Er bringt aufeinem waagerechten Tisch kleine Kugeln ins Rollenund bemüht sich, die Reibung nach Möglichkeit aus-zuschalten. Bald merkt er, daß die Bewegung immergleichförmiger wird, je mehr er Tisch und Kugelnglättet. Als er gerade im Begriffe ist, das Trägheits-

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2.200 Einstein/Infeld-Evolution, 157Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

prinzip zu verkünden, spielt ihm jemand einenStreich. Da unser Physiker nämlich in einem fenster-losen Kabinett arbeitet, hat er keinerlei Verbindungmit der Außenwelt. Ein Spaßvogel hat nun mittler-weile einen Mechanismus montiert, mit dem er dasganze Kabinett rasch um eine mitten durch dieses hin-durchgehende Achse rotieren lassen kann. Sowiediese Drehung einsetzt, kommt der Physiker zu ganzneuen und unvorhergesehenen Feststellungen. DieKugel, die sich bisher gleichförmig bewegt hatte,zeigt nunmehr die Tendenz, sich möglichst weit vomMittelpunkt des Kabinetts zu entfernen und den Wän-den zuzustreben. Auch er selbst spürt, wie er voneiner Kraft erfaßt und nach außen zu gegen die Wandgedrängt wird. Es ist das gleiche Gefühl, das man imZuge oder im Auto hat, wenn es schnell um einescharfe Kurve geht, oder noch deutlicher im Karus-sell. Damit werden alle bisherigen Forschungsergeb-nisse unseres Wissenschaftlers über den Haufen ge-worfen.

Der Physiker müßte nun zusammen mit dem Träg-heitsgesetz auch alle sonstigen mechanischen Gesetzefallenlassen; denn da er vom Trägheitsgesetz ausge-gangen war, ändern sich mit diesem auch alle seineweiteren Schlüsse. Ein Beobachter, der sein ganzesLeben in dem rotierenden Kabinett verbringen undalle seine Experimente darin anstellen müßte, würde

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eine Mechanik mit anderen Gesetzen als den unserenentwickeln. Geht er allerdings gewappnet mit einemumfassenden Wissen und erfüllt von dem unerschüt-terlichen Glauben an die Prinzipien der Physik hinein,so wird er den scheinbaren Zusammenbruch der Me-chanik damit zu erklären wissen, daß er sich in einemrotierenden Kabinett befinde. Mit Hilfe mechanischerVersuche könnte er sogar in Erfahrung bringen, wiediese Rotation aussieht.

Warum befassen wir uns so eingehend mit diesemBeobachter in seinem rotierenden Kabinett? Nun, wirsind ja auf unserer Erdkugel bis zu einem gewissenGrade in derselben Lage. Seit Kopernikus wissen wir,daß die Erde sich um ihre Achse dreht und die Sonneumkreist. Selbst diese einfache Erkenntnis, die uns soeinleuchtend erscheint, blieb von der vorwärtsstür-menden Wissenschaft nicht unangetastet. Lassen wirdiese Frage aber einstweilen noch auf sich beruhen,und halten wir es zunächst ruhig mit Kopernikus.Wenn unser rotierender Beobachter die Gesetze derMechanik nicht experimentell bestätigen kann, sosollte man annehmen, daß wir Erdbewohner dazuauch nicht in der Lage wären. Allerdings dreht sichdie Erde verhältnismäßig langsam, so daß die Aus-wirkungen ihrer Rotation nicht mehr deutlich in Er-scheinung treten. Nichtsdestoweniger gibt es vieleVersuche, bei denen sich eine kleine Abweichung von

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2.202 Einstein/Infeld-Evolution, 158Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

den Gesetzen der Mechanik zeigt, und der Umstand,daß diese Abweichungen beharrlich auftreten, kannals Beweis für die Rotation der Erde angesehen wer-den.

Leider haben wir nicht die Möglichkeit, uns zwi-schen Sonne und Erde zu postieren, um dort die Rich-tigkeit des Trägheitsgesetzes einwandfrei nachzuwei-sen und uns durch den Augenschein davon zu über-zeugen, daß die Erde sich wirklich dreht. Das könnenwir nur in Gedanken machen, und so müssen wir nachwie vor unsere Experimente auf der Erde ausführen,an die wir nun einmal gebunden sind. Das kann manauch wissenschaftlicher formulieren, indem man sagt:Die Erde ist unser Koordinatensystem.

Zur Erläuterung dieser Feststellung soll uns wiederein einfaches Beispiel dienen. Wir können die Posi-tion eines Steines, der von einem Turm herunterge-worfen wird, für jeden beliebigen Zeitpunkt vorhersa-gen und unsere Prophezeiung durch die Beobachtungbestätigen. Wenn wir neben dem Turm eine Meßlatteaufstellen, können wir im voraus genau angeben, inHöhe welcher Marke der fallende Körper sich ineinem bestimmten Augenblick befinden wird. Turmund Meßstab dürfen natürlich nicht aus Gummi odersonst einem Material sein, das sich während des Ver-suches irgendwie verändern kann. Dieser unveränder-liche Maßstab, der zudem fest mit der Erde verbunden

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2.203 Einstein/Infeld-Evolution, 159Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sein muß, sowie eine gute Uhr – das ist im Prinzipalles, was wir für das Experiment brauchen. Wennwir diese Dinge haben, kann uns nicht nur die archi-tektonische Gestalt des Turms, sondern der ganzeTurm überhaupt gleichgültig sein. Alle diese Vor-schriften verstehen sich eigentlich von selbst und wer-den daher bei derartigen Versuchen gewöhnlich garnicht eigens erwähnt, doch zeigt diese Analyse, wieviele Voraussetzungen sich hinter allen unseren Aus-sagen verbergen. In unserem Falle brauchen wir einenstarren Maßstab und eine ideale Uhr, da es ohne dieseRequisiten unmöglich wäre, Galileis Fallgesetzenachzuprüfen. Mit Hilfe dieses einfachen, aber uner-läßlichen physikalischen Gerätes – Stab und Uhr –können wir dieses Gesetz der Mechanik ziemlich ak-kurat nachprüfen. Bei exakter Durchführung ergebensich nun aus diesem Versuch Diskrepanzen zwischenTheorie und Praxis, die der Erddrehung oder, um esanders auszudrücken, dem Umstand zuzuschreibensind, daß die Gesetze der Mechanik, wie sie Galileiaufgestellt hat, in einem fest mit der Erde verbunde-nen Koordinatensystem keine strikte Geltung haben.

Bei allen mechanischen Versuchen, ganz gleichwelcher Art, müssen wir immer, wie bei dem obigenExperiment mit dem fallenden Körper, die Positionenvon Massenpunkten für bestimmte Momente bestim-men. Die Position muß jedoch immer zu etwas ande-

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2.204 Einstein/Infeld-Evolution, 159Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

rem – vorhin zum Beispiel zu dem Turm bzw. derMeßlatte – in Beziehung gesetzt werden. Wir müssenirgendein sogenanntes Bezugssystem, ein mechani-sches Gerüst, haben, wenn wir die Lage eines Kör-pers bestimmen wollen. Objekte bzw. ständige Auf-enthaltsorte von Menschen in einer Stadt bringen wirzu den Straßen und Gassen in Beziehung. Bislanghaben wir uns nicht damit aufgehalten, bei der Be-sprechung mechanischer Gesetze das jeweilige Be-zugssystem anzugeben, weil wir ja nun einmal alleauf dieser Erde leben und daher ohne Schwierigkeitenin jedem einzelnen Falle ein solches, fest mit der Erdeverbundenes Gerät schaffen können. So ein Gerüst,auf das wir alle unsere Beobachtungen beziehen müs-sen und das aus starren, unveränderlichen Körpern zubestehen hat, nennen wir Koordinatensystem oder derKürze halber einfach System.

So waren alle unsere bisherigen physikalischenFeststellungen eigentlich noch unvollständig, weil wirgar nicht berücksichtigt haben, daß alle Beobachtun-gen auf ein bestimmtes System bezogen werden müs-sen. Statt die Struktur des Systems anzugeben, habenwir es einfach vollständig ignoriert. Wenn wir zumBeispiel gesagt haben: »Ein Körper bewegt sichgleichförmig ...«, so hätte es eigentlich heißen müs-sen: »Ein Körper bewegt sich relativ zu dem und demSystem gleichförmig ...« Erst an dem Beispiel mit

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2.205 Einstein/Infeld-Evolution, 160Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

dem rotierenden Kabinett haben wir gesehen, daß dieErgebnisse mechanischer Experimente auch davonabhängen können, auf welches System sie bezogenwerden.

Wenn zwei Systeme gegeneinander rotieren, dannkönnen die Gesetze der Mechanik nicht für beide gel-ten. Stellen wir uns die beiden Koordinatensysteme inGestalt zweier runder Schwimmbassins vor und neh-men wir an, daß die Wasseroberfläche in einem davoneben ist, dann nimmt sie in dem anderen die durchge-bogene, kraterartige Form an, die wir vom Umrührendes Kaffees her kennen.

Auch als wir die Grundgesetze der Mechanik for-mulierten, haben wir einen wichtigen Punkt übergan-gen; denn auch hier wurde nicht gesagt, für welchesSystem sie gelten. Aus diesem Grunde hängt eigent-lich die ganze klassische Mechanik in der Luft, da wirja nicht wissen, worauf sie sich bezieht. Wir wollenauf diese Unstimmigkeit vorläufig aber nicht nähereingehen und unsere weiteren Gedankengänge auf dernicht ganz korrekten Voraussetzung aufbauen, daß dieGesetze der klassischen Mechanik für alle fest mit derErde verbundenen Systeme gelten. Damit haben wirwenigstens das System festgelegt, so daß wir auch un-sere Aussagen bestimmter fassen können. Wenn dieBehauptung, die Erde eigne sich als Bezugssystem,auch nicht ganz den Tatsachen entspricht, so soll uns

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2.206 Einstein/Infeld-Evolution, 160Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

das vorläufig nicht weiter stören.Wir nehmen also an, es gäbe ein System, in dem

die Gesetze der Mechanik Geltung haben. Ist diesesaber dann das einzige derartige System? Denken wirdoch einmal an Bezugssysteme wie Eisenbahnzüge,Schiffe oder Flugzeuge, die sich relativ zur Erde be-wegen. Gelten die Gesetze der Mechanik auch in die-sen Systemen? Nun, auf jeden Fall können wir mitBestimmtheit sagen, daß sie nicht immer gelten, zumBeispiel dann nicht, wenn der Zug durch eine Kurvefährt, wenn das Schiff im Sturm hin und her schwanktoder wenn das Flugzeug abtrudelt. Fangen wir miteinem einfachen Beispiel an: Ein System bewegt sichrelativ zu unserem »guten« System, das heißt also zueinem Bezugssystem, worin die Gesetze der Mecha-nik gelten, gleichförmig. Wir können uns zum Bei-spiel einen idealen Zug oder, noch besser, ein Schiffvorstellen, das majestätisch, unverändert geradlinigund mit gleichbleibender Geschwindigkeit das Meerdurchpflügt. Wir wissen aus Erfahrung, daß in diesemFalle beide Systeme »gut« sind, da physikalische Ex-perimente, die in einem gleichförmig bewegten Zugoder an Bord eines gleichförmig fahrenden Schiffesangestellt werden, genauso verlaufen, wie außerhalbdieser Fahrzeuge. Bremst der Zug jedoch unvermitteltab oder zieht er plötzlich scharf an bzw., im Falleeines Schiffes, setzt schwerer Seegang ein, so ereig-

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2.207 Einstein/Infeld-Evolution, 161Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

nen sich merkwürdige Dinge. Im Zug fallen die Kof-fer aus dem Gepäcknetz herunter, an Bord des Schif-fes kollern Tische und Stühle durcheinander, und diePassagiere werden seekrank. Physikalisch gesehen,liegt das alles einfach daran, daß die Gesetze der Me-chanik für diese Systeme nicht gelten, daß es sich alsoum »schlechte« Systeme handelt.

Diese Erkenntnis kommt schon in dem sogenanntenGalileischen Relativitätsprinzip zum Ausdruck:Wenn die Gesetze der Mechanik in einem bestimm-ten System gelten, so gelten sie auch für alle ande-ren Systeme, die sich relativ zu jenem gleichförmigbewegen.

Wenn wir es jedoch mit zwei Systemen zu tunhaben, die sich ungleichförmig gegeneinander bewe-gen, dann können die Gesetze der Mechanik keines-falls in beiden herrschen.»Gute« Koordinatensysteme,solche also, in denen die Gesetze der Mechanik gel-ten, nennen wir Inertialsysteme. Die Frage, ob es inWirklichkeit überhaupt Inertialgesetze gibt, bleibtnoch offen. Wenn ja, dann gibt es unendlich viele;denn jedes System, das sich relativ zu einem solchengleichförmig bewegt, ist dann ebenfalls ein Inertialsy-stem.

Nehmen wir jetzt einmal folgenden Fall: Zwei Sy-steme, deren Ausgangslage bekannt ist, bewegen sichgleichförmig und mit bekannter Geschwindigkeit ge-

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2.208 Einstein/Infeld-Evolution, 161Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

geneinander. Wer sich konkrete Dinge besser vorstel-len kann, denkt dabei vielleicht an einen Dampferoder einen Zug, der sich relativ zur Erde bewegt. DieGesetze der Mechanik lassen sich im Zuge oder anBord des Schiffes, soweit die Fahrzeuge sich nurgleichförmig bewegen, experimentell mit gleicher Ex-aktheit bestätigen wie auf der Erde selbst. Schwierigwird die Sache erst, wenn die Experimentatoren inverschiedenen Systemen ihre Beobachtungen über diegleichen Vorgänge vergleichen. Jeder wird bestrebtsein, die Beobachtungen des anderen seinen eigenenVerhältnissen entsprechend umzudeuten. Noch eineinfaches Beispiel: Ein und dieselbe Bewegung einesTeilchens wird von zwei Systemen, von der Erdeselbst und von einem gleichförmig bewegten Zug aus,beobachtet. Beide sind Inertialsysteme. Genügt es nunfestzustellen, was von dem einen System aus beob-achtet wurde, wenn man über das Beobachtungser-gebnis in dem anderen System Bescheid wissen will,sofern nur die relativen Geschwindigkeiten und Posi-tionen der beiden Systeme für irgendeinen Zeitpunktbekannt sind? Für die Beschreibung von Vorgängenist es natürlich von größter Wichtigkeit zu wissen,wie man die Dinge von einem System in ein anderesübertragen kann, da ja beide gleichwertig und daherfür die Beschreibung von Naturereignissen gleich gutgeeignet sind. Nun, wir brauchen in der Tat nur die

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Resultate zu kennen, zu denen der Beobachter in demeinen System gelangt ist. Wir wissen dann auch auto-matisch, was der andere in dem zweiten System kon-statiert hat.

Fassen wir das Problem etwas abstrakter, ohneSchiff und Eisenbahnzug. Der Einfachheit halber wol-len wir uns erst einmal nur die geradlinige Bewegungvornehmen. Wir brauchen dazu einen starren Stab mitEinteilung und eine gute Uhr. Der Stab gibt in demeinfachen Falle der geradlinigen Bewegung ein voll-wertiges System ab, spielt also hier die gleiche Rollewie die Meßlatte am Turm bei Galileis Experiment.Es ist einfacher und besser, sich unter einem Systemeinen starren Stab vorzustellen, sofern es sich um ge-radlinige Bewegung handelt, ein starres Gerüst ausparallelen und rechtwinklig dazu angeordneten Stäbendagegen im Falle der freien Bewegung im Raum,ohne dabei an Türme, Wände, Straßen und derglei-chen zu denken. In unserem ganz einfachen Beispielwollen wir nun mit zwei Systemen, das heißt mit zweistarren Stäben, arbeiten und den einen an dem ande-ren vorbeiziehen, so daß wir, in der Skizze, voneinem »oberen« und einem »unteren« System spre-chen können. Wir setzen voraus, daß beide Systemesich mit einer bestimmten Geschwindigkeit gegenein-ander bewegen, und zwar so, daß das eine sich andem anderen entlangschiebt. Es empfiehlt sich, außer-

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2.210 Einstein/Infeld-Evolution, 162Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

dem anzunehmen, daß beide Stäbe unendlich langsind, daß sie nämlich nur ein Ende haben, währenddas andere im Unendlichen liegt. Für die Messung derZeit, die ja für beide Systeme gleich schnell ver-streicht, kommen wir mit einer Uhr aus. Zu Beginnunserer Beobachtungen sind die Enden beider Stäbeauf gleicher Höhe. Die Lage eines Massenpunkteswird in diesem Moment noch in beiden Systemendurch die gleiche Zahl bestimmt, und diese Zahl istdadurch gegeben, daß das Materieteilchen sich miteiner bestimmten Marke der auf dem Stab angebrach-ten Einteilung deckt. Wenn die Stäbe sich jedochgleichförmig gegeneinander bewegen, so werden dieZahlen, welche die Lage in den jeweiligen Systemenangeben, nach einer gewissen Zeit, sagen wir nacheiner Sekunde, schon verschieden sein. Denken wiruns einen Massenpunkt auf dem oberen Stab. DieZahl, die seine Lage für das obere System angibt,bleibt immer konstant, die für den unteren Stab gel-tende ändert sich jedoch laufend. Statt immer von der»Zahl, welche die Lage eines Punktes angibt«, zureden, wollen wir kurz die Bezeichnung »Koordinate«dafür einführen. Aus der Skizze läßt sich ersehen, daßder folgende Satz, so kompliziert er auch auf den er-sten Blick aussieht, dennoch richtig ist und einen ansich sehr einfachen Sachverhalt ausdrückt: Im unterenSystem ist die Koordinate eines Punktes gleich seiner

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2.211 Einstein/Infeld-Evolution, 163Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Koordinate im oberen System, vermehrt um die Koor-dinate des Endpunktes des oberen Systems relativzum unteren System. Das Wesentliche hierbei ist derUmstand, daß wir die Lage dieses Punktes in einemSystem stets berechnen können, wenn wir wissen, wieer relativ zu einem anderen liegt, sofern die relativeLage der betreffenden Koordinatensysteme jederzeitfestgestellt werden kann. Das hört sich nun zwar allessehr geheimnisvoll an, ist aber in Wirklichkeit rechteinfach und wäre eigentlich kaum einer so eingehen-den Behandlung wert, wenn wir es nicht später nochbrauchen würden.

Fig. 53

Wir wollen an dieser Stelle noch einmal ausdrücklichauf den Unterschied zwischen der Bestimmung derLage eines Punktes und der des Zeitpunktes hinwei-sen, in dem ein Ereignis stattfindet. Während nämlichjeder Beobachter seinen eigenen Maßstab und damitsein System hat, ist für alle beide nur eine einzige Uhrmaßgebend. Die Zeit ist etwas Absolutes. Sie ver-streicht für alle Beobachter in sämtlichen Systemengleichmäßig.

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2.212 Einstein/Infeld-Evolution, 164Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Ein weiteres Beispiel: Ein Mann schlendert mit derGeschwindigkeit von drei Stundenkilometern über dasDeck eines Ozeandampfers. Diese Geschwindigkeitist relativ zum Schiff oder, mit anderen Worten, rela-tiv zu einem System gemessen, das fest mit demSchiff verbunden ist. Wenn das Schiff relativ zurKüste mit dreißig Stundenkilometern fährt, wenn fer-ner Mann und Schiff sich gleichmäßig in der gleichenRichtung bewegen, dann legt der Spaziergänger anDeck, von einem Beobachter an Land aus gesehen,dreiunddreißig Kilometer in der Stunde zurück. Auchdiesen Sachverhalt können wir wieder abstrakter for-mulieren: Die relativ zu dem unteren System gemes-sene Geschwindigkeit eines bewegten Massenpunktesist gleich der relativ zum oberen System gemessenen,vermehrt bzw. vermindert – je nachdem, ob die Ge-schwindigkeit gleiche oder entgegengesetzte Richtunghat – um die relativ zum unteren System gemesseneGeschwindigkeit des oberen. Wir können also nichtnur die Position, sondern auch die Geschwindigkeitvon einem System in ein anderes übertragen, sofernwir nur die Relativgeschwindigkeit der beiden Syste-me kennen. Positionsangaben oder Koordinaten sowieGeschwindigkeiten sind somit Beispiele für Größen,die, je nachdem, in welchem von mehreren durch be-stimmte, in diesem Falle sehr einfache Transforma-tionsgesetze miteinander verknüpften Systemen sie

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2.213 Einstein/Infeld-Evolution, 164Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gemessen werden, verschiedene Werte haben.

Fig. 54

Es gibt allerdings auch Größen, die in allen Systemenden gleichen Wert haben und für die wir daher keineTransformationsgesetze brauchen. Denken wir unszum Beispiel auf dem oberen Stab zwei fixierte Punk-te. Ihr Abstand ist dann gleich der Differenz ihrer Ko-ordinaten. Wollen wir die Positionen zweier Punkterelativ zu verschiedenen Systemen bestimmen, somüssen wir die Transformationsgesetze zu Hilfe neh-men; handelt es sich jedoch um die Differenz zweierPositionen, so heben die durch die Verschiedenheitder Systeme bedingten Faktoren einander auf, wiesich aus Figur 55 ergibt. Den Abstand zwischen denEnden der beiden Systeme müssen wir zuerst addierenund dann wieder subtrahieren. Die Entfernung zwi-schen zwei Punkten ist daher unveränderlich, dasheißt von der Wahl des Systems unabhängig.

Ein weiteres Beispiel für eine vom System unab-hängige Größe ist die Geschwindigkeitsänderung.Dieser Begriff ist uns ja schon von der Mechanik her

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2.214 Einstein/Infeld-Evolution, 165Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

geläufig. Wieder denken wir uns einen Massenpunkt,der sich geradlinig bewegt und von zwei Systemenaus beobachtet wird. Ändert er seine Geschwindig-keit, so nehmen die Beobachter in beiden Systemendas als Differenz zwischen zwei Geschwindigkeitenwahr, und der durch die gleichförmige Relativbewe-gung der beiden Systeme bedingte Faktor hebt sichbei der Berechnung dieser Differenz auf. Auch dieGeschwindigkeitsänderung ist also eine unveränderli-che Größe, freilich nur unter der Voraussetzung, daßdie Relativbewegung unserer beiden Systeme gleich-förmig ist. Sonst fällt die Geschwindigkeitsänderungnämlich für jedes System anders aus, wobei die Diffe-renz zwischen beiden Werten dann auf die Geschwin-digkeitsänderung in der Relativbewegung der beidenStäbe zurückzuführen ist, die uns als Koordinatensy-stem dienen.

Fig. 55

Nun kommt das letzte Beispiel: Diesmal handelt essich um zwei Massenpunkte, zwischen denen Kräftewalten, die ausschließlich von ihrem gegenseitigenAbstand abhängen. Bei der geradlinigen Bewegung

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2.215 Einstein/Infeld-Evolution, 165Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ist ihre gegenseitige Entfernung und folglich auch dieKraft unveränderlich. Newtons Gesetz, das die Kraftmit der Geschwindigkeitsänderung verknüpft, giltdaher für beide Systeme. Wieder einmal kommen wirdamit zu einem Schluß, der seine Bestätigung in derPraxis findet: Wenn die Gesetze der Mechanik ineinem System Geltung haben, so auch in allen ande-ren Systemen, die sich relativ zu jenem gleichförmigbewegen. Allerdings haben wir uns ein sehr einfachesBeispiel gewählt, nämlich das der geradlinigen Bewe-gung, bei der das System durch einen starren Stabdargestellt werden kann. Unsere Schlußfolgerungenhaben jedoch darüber hinaus Allgemeingültigkeit undlassen sich nun wie folgt zusammenfassen:

1. Wir haben keine Möglichkeit, die Existenz einesInertialsystems nachzuweisen. Gibt es allerdingseines, dann muß es unendlich viele geben, da alle Sy-steme, die sich gleichförmig gegeneinander bewegen,Inertialsysteme sind, wenn nur eines von ihnen einsolches ist.

2. Der Zeitpunkt, zu dem ein Ereignis stattfindet,ist für alle Systeme der gleiche. Verschieden sind da-gegen die Koordinaten und Geschwin digkeiten. Sielassen sich nach den Transformationsgesetzen um-rechnen.

3. Obwohl Koordinaten und Geschwindigkeitenbeim Übergang von einem System in ein anderes an-

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2.216 Einstein/Infeld-Evolution, 165Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

dere Werte annehmen, bleiben Kraft und Geschwin-digkeitsänderung und somit die Gesetze der Mechanikim Sinne der Transformationsgesetze invariant.

Die Transformationsgesetze, die wir hier für Koor-dinaten und Geschwindigkeiten aufgestellt haben,wollen wir als Transformationsgesetze der klassi-schen Mechanik oder kurz als klassische Transfor-mation bezeichnen.

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2.217 Einstein/Infeld-Evolution, 166Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Äther und Bewegung

Das Galileische Relativitätsprinzip, demzufolge inallen Inertialsystemen, die sich gegeneinander bewe-gen, dieselben mechanischen Gesetze herrschen, giltfür mechanische Phänomene. Kann man es nun aberauch auf nichtmechanische Erscheinungen anwenden,besonders auf diejenigen, für die sich die Feldbegriffeals so außerordentlich wertvoll erwiesen haben? Allemit dieser Frage zusammenhängenden Probleme füh-ren uns direkt zu dem Punkte, an dem die Relativitäts-theorie den Hebel ansetzt.

Wir erinnern uns, daß die Lichtgeschwindigkeit imVakuum oder, mit anderen Worten, im Äther 300000Kilometer pro Sekunde beträgt und daß wir im Lichteine elektromagnetische Wellenerscheinung zu sehenhaben, die sich in diesem Äther ausbreitet. Das elek-tromagnetische Feld enthält Energie, die ein Eigenda-sein führt, sobald sie sich einmal von ihrer Quelle los-gelöst hat. Vorläufig wollen wir weiterhin daran fest-halten, daß der Äther ein Medium ist, in dem sichelektromagnetische Wellen und somit auch Lichtwel-len fortpflanzen, obwohl wir uns voll und ganz dar-über klar sind, wie viele Schwierigkeiten uns dieFrage der mechanischen Struktur ebendieses Äthersbereitet.

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2.218 Einstein/Infeld-Evolution, 167Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Denken wir uns, wir säßen in einer geschlossenenKabine, die von der Außenwelt derart hermetisch ab-geschlossen ist, daß keine Luft eindringen oder ent-weichen kann. Wenn wir stillsitzen und sprechen, soerzeugen wir, physikalisch gesehen, Schallwellen, diesich von ihrer ruhenden Quelle aus mit Schallge-schwindigkeit ausbreiten. Befände sich zwischenMund und Ohr keine Luft oder sonst ein Medium, sokönnten wir keinen Ton hören. Experimentell wurdefestgestellt, daß der Schall sich in der Luft nach allenSeiten gleich schnell ausbreitet, sofern es windstill istund die Luft sich somit in unserem System im Ruhe-zustand befindet.

Stellen wir uns weiter vor, daß unsere Kabine (eskann auch ein Eisenbahnzug oder dergleichen sein)sich gleichförmig durch den Raum bewegt und glä-serne Wände hat, so daß eine draußen stehende Per-son alles verfolgen kann, was drinnen vorgeht. Ausden Messungen des Innenbeobachters kann diese Per-son die Schallgeschwindigkeit relativ zu ihrem mitihrer Umgebung fest verbundenen System ableiten,gegen das sich die Kabine bewegt. Hier haben wir eswiederum mit dem alten, schon so ausführlich bespro-chenen Problem zu tun, die Geschwindigkeit in einemSystem zu bestimmen, wenn sie bereits für ein ande-res bekannt ist.

Der Beobachter drinnen stellt fest: Von mir aus ge-

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2.219 Einstein/Infeld-Evolution, 167Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sehen breitet sich der Schall nach allen Seiten gleichschnell aus. Der Beobachter draußen dagegen sagt:Der Schall in der bewegten Kabine breitet sich relativzu meinem System nicht nach allen Seiten gleichschnell aus. In der Bewegungsrichtung der Kabinepflanzt er sich abnorm schnell fort, in der entgegenge-setzten Richtung dagegen langsamer.

Diese Schlüsse fußen auf der klassischen Transfor-mation und lassen sich experimentell bestätigen. DieKabine nimmt das materielle Medium, die Luft, worinsich die Wellen ausbreiten, mit, und daher kommenInnen- und Außenbeobachter bezüglich der Schallge-schwindigkeit zu verschiedenen Ergebnissen.

Die Theorie, derzufolge der Schall sich in einemmateriellen Medium wellenförmig ausbreitet, läßt au-ßerdem noch einige weitere Schlußfolgerungen zu.Wenn man nämlich nicht hören will, was ein anderersagt, so müßte man seinen Worten dadurch entgehenkönnen, daß man mit einer Geschwindigkeit davon-läuft, die größer ist als die des Schalles relativ zu derden Sprecher umgebenden Luft. Das ist nun freilichnicht das einfachste Verfahren, sich den Worten einesSprechers zu entziehen, aber die von ihm erzeugtenSchallwellen könnten so tatsächlich niemals das Ohrdes Läufers erreichen. Wollen wir dagegen einen be-deutenden Ausspruch noch einmal hören, der uns ir-gendwie entgangen ist und sonst unwiederbringlich

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2.220 Einstein/Infeld-Evolution, 168Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

verloren wäre, so müßten wir diesem, gleichfalls mitÜberschallgeschwindigkeit, nachlaufen können, biswir die Wellen eingeholt haben, aus denen er sich zu-sammensetzt. In beiden Fällen wird, abgesehendavon, daß wir etwa 350 Meter in der Sekunde zu-rücklegen müßten, nichts grundsätzlich Unmöglichesvorausgesetzt. Wir können uns überdies durchausvorstellen, daß wir mit neuen technischen Behelfeneines Tages tatsächlich solche Geschwindigkeiten er-reichen. Die meisten Granaten fliegen übrigens mitÜberschallgeschwindigkeit, und ein zweiter Münch-hausen, der sich auf einem solchen Projekt durch dieLüfte tragen ließe, würde den Abschußknall niemalshören können.

Alle diese Beispiele gehören noch ganz und gar indie Mechanik. Jetzt aber stellen wir die folgenden in-haltsschweren Fragen: Gilt das, was wir gerade vonden Schallwellen gesagt haben, auch für die Wellendes Lichts? Läßt sich das Galileische Relativitätsprin-zip nebst der klassischen Transformation auf optischeund elektrische Phänomene genausogut anwenden wieauf mechanische? Es ist riskant, diese Fragen einfachmit »Ja« oder »Nein« zu beantworten, ohne sie vorhernoch etwas gründlicher auf ihre Tragweite hin zu ana-lysieren.

Im Falle der Schallwellen, die sich in einer relativzu einem außerhalb stehenden Beobachter gleichför-

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2.221 Einstein/Infeld-Evolution, 168Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

mig bewegten Kabine ausbreiten, müssen wir zu-nächst einmal unbedingt die folgenden Punkte festhal-ten, bevor wir zu unserer Schlußfolgerung gelangen:Die bewegte Kabine nimmt die Luft mit, in der dieSchallwellen sich ausbreiten.

Geschwindigkeiten, die von zwei gleichförmig ge-geneinander bewegten Systemen aus gemessen wer-den, lassen sich durch die klassische Transformationzueinander in Beziehung setzen.

Beim Licht muß das entsprechende Problem etwasanders gestellt werden. Die Beobachter in der Kabinesprechen in diesem Falle nicht. Statt dessen sendensie nach allen Richtungen hin Lichtsignale und somitLichtwellen aus. Wenn wir weiters annehmen, daß dieLichtquellen ständig in der Kabine fixiert bleiben,dann müssen die Lichtwellen sich genauso durch denÄther bewegen wie die Schallwellen durch die Luft.

Wird der Äther aber gleich der Luft von der Kabinemitgerissen? Da wir uns von diesem Äther in mecha-nischer Hinsicht kein Bild machen können, läßt sichdie Frage nur sehr schwer beantworten. Wenn die Ka-bine geschlossen ist, muß die darin befindliche Luftzwangsläufig jede Bewegung des Raumes mitmachen.Wir dürfen aber wohl nicht glauben, daß es beimÄther genauso ist, da die Materie ja ganz von ihmumspült und durchdrungen sein soll. Für den Äthergibt es keine verschlossenen Türen. Die »bewegte Ka-

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2.222 Einstein/Infeld-Evolution, 169Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

bine« hat also hier bloß die Bedeutung eines beweg-ten Systems, mit dem die Lichtquelle fest verbundenist. Zwar übersteigt auch der Gedanke keineswegs un-sere Vorstellungskraft, die mitsamt der Lichtquellebewegte Kabine nehme den Äther genauso mit wievorher die Schallquelle und die Luft, doch kommt diegegenteilige Version uns nicht minder einleuchtendvor, wonach die Kabine gleich einem Schiff auf voll-kommen ruhiger See durch den Äther gleitet, ohneauch nur ein einziges Teilchen des Mediums mitzurei-ßen. Nach Annahme eins nimmt die mitsamt ihrerLichtquelle bewegte Kabine den Äther mit; man kannvon einer den Schallwellen analogen Erscheinungsprechen und ganz ähnliche Schlußfolgerungen darausziehen. Nach Annahme zwei nimmt die mit ihrerLichtquelle zusammen bewegte Kabine den Äthernicht mit. Man kann keine Parallele zu dem Schall-versuch ziehen, und die für Schallwellen geltendenSchlüsse lassen sich auf Lichtwellen nicht anwenden.Das sind die beiden Grenzfälle. Zwar könnten wir unseine noch kompliziertere Version ausdenken, nämlichdie, daß der Äther nur teilweise mitgerissen würde,doch ist nicht einzusehen, warum wir auf komplizier-tere Annahmen eingehen sollen, solange wir uns nichtdavon überzeugt haben, welchem der beiden einfache-ren Grenzfälle auf Grund des Experiments der Vorzugzu geben ist.

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2.223 Einstein/Infeld-Evolution, 169Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Wir wollen uns zunächst Annahme eins vornehmenund also erst einmal den Fall setzen, der Äther machedie Bewegung der Kabine und der fest damit verbun-denen Lichtquelle mit. Wenn wir von der Anwendbar-keit des einfachen Transformationsprinzips auf dieSchallgeschwindigkeit überzeugt sind, können wirunsere Schlüsse nun auch getrost auf die Lichtwellenübertragen. Es besteht vorläufig noch gar kein Grund,an der Richtigkeit des mechanischen Transforma-tionsgesetzes zu zweifeln, demzufolge Geschwindig-keiten in gewissen Fällen addiert, in anderen dagegenvoneinander subtrahiert werden müssen. Wir wollenalso einstweilen sowohl den Umstand, daß der Äthervon der zusammen mit ihrer Lichtquelle bewegtenKabine mitgenommen wird, als auch die klassischeTransformation als gegeben hinnehmen.

Wenn ich das Licht einschalte und die Lichtquellefest mit der Kabine verbunden ist, dann pflanzt sichdas Lichtsignal mit der bekannten, experimentell er-wiesenen Geschwindigkeit von 300000 Kilometernpro Sekunde fort. Da der Außenbeobachter jedoch dieBewegung der Kabine und somit der Lichtquelle be-rücksichtigen muß und da ferner der Äther die Bewe-gung mitmacht, kommt er zu dem Schluß: Die Licht-geschwindigkeit ist von meinem äußeren System ausgesehen je nach der Fortpflanzungsrichtung verschie-den groß. In der Bewegungsrichtung der Kabine über-

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2.224 Einstein/Infeld-Evolution, 170Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

steigt sie die Normalgeschwindigkeit des Lichtes,während sie in der entgegengesetzten Richtung kleinerist als diese. Daraus schließen wir: Wenn der Ätherdie Bewegung der Kabine und der Lichtquelle mit-macht und die Gesetze der Mechanik stimmen, dannmuß die Lichtgeschwindigkeit von der Geschwindig-keit der Lichtquelle abhängen. Ein Lichtschein, dervon einer bewegten Lichtquelle ausgeht, muß unserAuge eher treffen, wenn diese Lichtquelle auf uns zu-kommt, später dagegen, wenn sie von uns fortstrebt.

Wenn wir, so läßt sich weiter folgern, eine Ge-schwindigkeit erreichen könnten, die größer ist als diedes Lichtes, so müßten wir einem Lichtsignal entkom-men und bereits ausgesandte Lichtwellen einholenkönnen. Wir würden dann vergangene Ereignisse anuns vorüberziehen sehen, allerdings in verkehrter Rei-henfolge. Das Geschehen würde vor uns abrollen wieein Film, den man von hinten nach vorn laufen läßt,so daß er mit dem Happy-End anfängt. Alles das er-gibt sich logisch aus der Annahme, das bewegte Sy-stem nähme den Äther mit und die mechanischenTransformationsgesetze hätten für das Licht Geltung.Ist diese Annahme richtig, dann ist an der AnalogieLicht – Schall nichts auszusetzen.

Allerdings deuten keinerlei Anzeichen auf dieStichhaltigkeit der obigen Schlüsse hin. Im Gegenteil,sie werden durch alle Beobachtungen widerlegt, die

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2.225 Einstein/Infeld-Evolution, 170Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

darauf angelegt sind, sie zu erhärten. An dieser Tatsa-che kann nicht im mindesten gedeutelt werden, wennes auch angesichts der großen technischen Schwierig-keiten, die sich aus der enormen Größe der Lichtge-schwindigkeit ergeben, ziemlich komplizierter Expe-rimente bedurft hat, um sie zu beweisen. Die Lichtge-schwindigkeit ist für alle Systeme dieselbe, ganzgleich, ob und wie die Lichtquelle sich bewegt.

Wir wollen uns hier nicht mit einer detailliertenSchilderung der zahlreichen Experimente abgeben,aus denen sich diese bedeutende Erkenntnis ergibt,doch können wir einige sehr einfache Argumente insTreffen führen, die zwar keinen eigentlichen Beweisdafür darstellen, daß die Lichtgeschwindigkeit vonder Bewegung der Lichtquelle unabhängig ist, dieaber wenigstens das Verständnis für dieses Faktumerleichtern.

In unserem Planetensystem kreist die Erde zusam-men mit anderen Weltkörpern um die Sonne. Von derExistenz anderer, ähnlicher Planetensysteme wissenwir nichts. Nun gibt es aber eine ganze Menge vonDoppelsternsystemen, die aus zwei, einen bestimmtenPunkt im Raum – den sogenannten gemeinsamenSchwerpunkt – umkreisenden Fixsternen bestehen.Die Beobachtung dieser Doppelsterne ergab, daß ihreBewegungen dem Newtonschen Gravitationsgesetzunterliegen. Setzen wir nun wieder den Fall, daß die

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2.226 Einstein/Infeld-Evolution, 171Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Geschwindigkeit des Lichtes von der des Körpers ab-hängt, der es ausstrahlt, so muß ein von dem Stern beiuns eintreffender Lichtstrahl beschleunigt oder verzö-gert werden, je nachdem, wie schnell der Stern sich indem betreffenden Augenblick in unserer Blickrichtungauf uns zu- oder von uns fortbewegt. Wäre dem so,dann würde die ganze Bewegung verwischt erschei-nen, und man könnte bei den so weit entfernten Dop-pelsternen unmöglich nachweisen, daß sie dem glei-chen Gravitationsgesetz gehorchen wie unser Sonnen-system.

Ein anderes Experiment, dem ein ganz einfacherGedanke zugrunde liegt: Man stelle sich ein sehrschnell rotierendes Rad vor. Da der Äther nach An-nahme eins alle Bewegungen mitmachen soll, müßteeine dicht an dem Rad vorüberkommende Lichtwelleje nachdem, ob es stillsteht oder sich dreht, eine ande-re Geschwindigkeit haben; denn in ruhendem Äthermüßte die Lichtgeschwindigkeit eine andere sein alsin dem Falle, wo der Äther durch die Bewegung desRades schnell herumgewirbelt wird. Beim Schall istes ja tatsächlich so; wir brauchen nur an den Einflußdes Windes zu denken. Beim Licht läßt sich ein derar-tiger Unterschied aber nicht nachweisen. Von welcherSeite auch immer wir das Thema anpacken, was fürExperimenta crucis wir auch ersinnen mögen, allesspricht gegen die Annahme, der Äther mache die Be-

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2.227 Einstein/Infeld-Evolution, 171Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

wegung mit. Das Ergebnis unserer Überlegungensieht, erhärtet durch speziellere technische Argumen-te, folgendermaßen aus:

Die Lichtgeschwindigkeit hängt nicht von der Be-wegung der Lichtquelle ab.

Es kann nicht sein, daß ein bewegter Körper denihn umgebenden Äther mit sich fortnimmt.

Wir müssen die Analogie zwischen Schall- undLichtwellen nun wohl endgültig fallenlassen und wol-len es jetzt einmal mit Annahme zwei versuchen, wo-nach alle Materie durch den Äther treibt, ohne daßdieser in irgendeiner Form an der Bewegung teil-nimmt. Das läuft aber darauf hinaus, daß sämtlicheSysteme in einem Meer von Äther ruhen bzw. sich re-lativ dazu bewegen. Einstweilen wollen wir die Frage,ob diese Theorie durch das Experiment bestätigt oderwiderlegt wird, noch auf sich beruhen lassen. Es istnämlich besser, wenn wir uns erst ein wenig mit die-ser neuen Annahme vertraut machen und uns über dieSchlüsse klarwerden, die sich daraus ziehen lassen.

Zunächst verlangt die neue Theorie, daß es ein rela-tiv zum Äthermeer ruhendes System geben muß. Inder Mechanik sind all die vielen gleichförmig neben-einander bewegten Systeme vollkommen gleichwertig,das heißt gleich »gut« bzw. »schlecht«. Wenn wir esmit zwei gleichförmig gegeneinander bewegten Syste-men zu tun haben, hat es in der Mechanik gar keinen

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2.228 Einstein/Infeld-Evolution, 172Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Sinn zu fragen, welches von beiden sich bewegt undwelches ruht. Man kann nur relative Bewegung kon-statieren. In Anbetracht des Galileischen Relativitäts-prinzips können wir einfach nicht von absolutergleichförmiger Bewegung reden. Was heißt es über-haupt, wenn man sagt, es gebe nicht nur relative, son-dern auch absolute gleichförmige Bewegung? Dochwohl nichts weiter, als daß es ein System gebenmüsse, in dem andere Naturgesetze herrschen als inallen übrigen Systemen, so daß jeder Beobachter ohneweiteres feststellen kann, ob sein System ruht odersich bewegt, wenn er die in seinem System geltendenGesetze mit denen vergleicht, die für das andere, daseinzige Normalsystem des Universums, maßgebendsind. In der klassischen Mechanik, in der eine absolu-te gleichförmige Bewegung auf Grund des Galilei-schen Trägheitsgesetzes vollkommen illusorisch ist,liegen die Dinge allerdings anders.

Welche Nutzanwendungen lassen sich im Bereichder Feldphänomene aus der Annahme ziehen, daß eseine Bewegung durch den Äther gibt? Nun, zunächstmuß es, wie gesagt, ein System geben, das sich vonallen anderen dadurch auszeichnet, daß es relativ zumÄthermeer ruht. Es versteht sich, daß manche Natur-gesetze in diesem System anders aussehen müßten,sonst würde ja der Begriff »Bewegung durch denÄther« seinen Sinn verlieren. Andererseits ist die Be-

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2.229 Einstein/Infeld-Evolution, 173Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

wegung durch den Äther, wenn das Galileische Rela-tivitätsprinzip den Tatsachen entspricht, natürlichüberhaupt eine Absurdität. Beides läßt sich nicht aufeinen Nenner bringen. Nur wenn es ein Spezialsystemgibt, das relativ zum Äther fixiert ist, hat es einenSinn, von absoluter Bewegung oder absoluter Ruhezu sprechen.

Es bleibt uns nun keine Wahl mehr. Wir haben zu-nächst versucht, das Galileische Relativitätsprinzipdurch die Annahme zu retten, der Äther mache dieBewegung der Systeme mit, doch ergab sich darausein Widerspruch zu experimentell erwiesenen Tatsa-chen. Der einzige Ausweg besteht darin, daß wir dasGalileische Relativitätsprinzip fallenlassen und stattdessen annehmen, alle Körper bewegten sich durchein ruhendes Äthermeer.

Aus diesem Grunde wollen wir einige Punkte be-handeln, die gegen das Galileische Relativitätsprinzipund für die Bewegung durch den ruhenden Äthersprechen und sie einer experimentellen Nachprüfungunterziehen. Derartige Versuche kann man sich un-schwer vorstellen, doch ist ihre praktische Durchfüh-rung mit den größten Schwierigkeiten verbunden. Daes uns hier aber nur um die theoretische Seite geht,brauchen wir uns mit den technischen Details nichtweiter aufzuhalten.

Wieder kehren wir zu unserer bewegten Kabine mit

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2.230 Einstein/Infeld-Evolution, 173Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

den beiden Beobachtern, dem drinnen und dem drau-ßen, zurück. Der Außenbeobachter repräsentiert dies-mal das durch das Äthermeer bestimmte Normalsy-stem. Dieses System unterscheidet sich dadurch vonanderen, daß die Lichtgeschwindigkeit von ihm ausgesehen immer den gleichen Standardwert hat. AlleLichtquellen in diesem Äthermeer, ganz gleich, ob sieruhen oder sich bewegen, strahlen Licht gleicher Ge-schwindigkeit aus. Durch den Äther bewegt sich nundie Kabine mitsamt ihrem Beobachter. Denken wiruns in der Mitte der Kabine wieder ein Licht, dasständig ein- und ausgeschaltet wird, und nehmen wirferner wie vorhin an, daß die Wände durchsichtigsind, so daß die Beobachter drinnen und draußen dieLichtgeschwindigkeit messen können. Wenn wir diebeiden Beobachter fragen, mit welchen Ergebnissensie rechnen, dann würden sie wohl etwa folgendes zurAntwort geben:

Außenbeobachter: Mein System wird durch dasÄthermeer verkörpert. Das Licht hat darin immer diegleiche Normalgeschwindigkeit. Ich brauche michnicht darum zu kümmern, ob die Lichtquelle oder an-dere Körper sich bewegen oder nicht; denn der Äthermacht diese Bewegungen ja in keinem Falle mit.Mein System ist anders als alle sonstigen Systeme,und die Lichtgeschwindigkeit muß darin immer dengleichen Standardwert haben, ganz gleich, in welche

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Richtung der Lichtstrahl fällt oder wohin die Licht-quelle sich bewegt.

Innenbeobachter: Meine Kabine durchmißt dasÄthermeer. Die eine Wand läuft also sozusagen vordem Licht davon, die andere hinterdrein. Wenn dieKabine relativ zum Äthermeer Lichtgeschwindigkeithätte, dann würde das von ihrem Mittelpunkt ausge-hende Licht niemals die »weglaufende« Vorderwanderreichen. Bewegte sie sich dagegen langsamer als dasLicht, dann müßte eine von ihrem Mittelpunkt ausge-sandte Welle die »hinterdrein laufende« Wand ehererreichen als die »weglaufende«. Obwohl die Licht-quelle also fest mit meinem System verbunden ist,kann die Lichtgeschwindigkeit nicht in allen Richtun-gen gleich groß sein. In der Richtung der relativ zumÄthermeer erfolgenden Bewegung muß sie geringersein, da die Vorderwand der Kabine ja »wegläuft«, inder entgegengesetzten Richtung dagegen größer, dadie Hinterwand den Wellen entgegenkommt unddaher eher von ihnen getroffen wird.

Danach könnte sich das Licht also nur in demeinen, besonderen System des Äthermeeres nach allenSeiten gleich schnell ausbreiten. Bezogen auf andere,gleichförmig zum Äthermeer bewegte Systeme müßtedie Lichtgeschwindigkeit jedoch von der Richtung ab-hängen, in der sie gemessen wird.

Dieses Experimentum crucis setzt uns in den

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2.232 Einstein/Infeld-Evolution, 174Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Stand, die Theorie von der Bewegung durch dasÄthermeer auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Nun hat unsdie Natur ja in ein Koordinatensystem hineingestellt,das sich mit erheblicher Geschwindigkeit bewegt. Ge-meint ist natürlich die Erde in ihrem alljährlichenUmlauf um die Sonne. Wenn unsere Annahme zu-trifft, dann müßte das Licht sich in der Bewegungs-richtung der Erde schneller ausbreiten als nach der an-deren Seite. Die zu erwartende Differenz läßt sich be-rechnen, und das Resultat kann experimentell nachge-prüft werden. Mit Rücksicht auf die kleinen Zeitdiffe-renzen, um die es dabei geht, muß der Versuchsappa-rat ganz besonders raffiniert gebaut sein. In diesemSinne wurde der berühmte Michelson-Morley-Ver-such durchgeführt, dessen Ergebnis einem Todesurteilfür die Hypothese von dem ruhenden Äthermeergleichkommt, in dem die ganze Materie umhertreibensollte. Es konnte keinerlei Zusammenhang zwischenLichtgeschwindigkeit und Strahlenrichtung festge-stellt werden. Nach der Theorie vom Äthermeerwürde übrigens nicht nur die Lichtgeschwindigkeit,bezogen auf das bewegte System, abhängen, sondernes müßte für alle anderen Feldphänomene das gleichegelten. Alle diesbezüglichen Experimente führten ein-heitlich zu dem gleichen negativen Ergebnis wie derMichelson-Morley-Versuch. Niemals zeigte sich dergeringste Zusammenhang der betreffenden Erschei-

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2.233 Einstein/Infeld-Evolution, 175Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

nungen mit der Bewegungsrichtung der Erde.Die Sache wird nun immer schwieriger. Zwei An-

nahmen haben wir schon ausprobiert. Die erste gingdahin, daß der Äther die Bewegung der Körper mit-macht. Dagegen spricht der Umstand, daß die Licht-geschwindigkeit erwiesenermaßen nicht von der Be-wegungsrichtung der Lichtquelle beeinflußt wird.Nach der zweiten Annahme sollte es ein besonderesSystem geben. Die bewegten Körper sollten denÄther nicht mitnehmen, sondern durch ein ewig ru-hendes Äthermeer gleiten. Wenn das aber zuträfe,dann könnte das Galileische Relativitätsprinzip nichtstimmen, und die Lichtgeschwindigkeit dürfte nichtfür alle Systeme gleich groß sein. Auch hier kommenwir aber mit dem Experiment in Konflikt.

Man hat es auch mit noch krampfhafteren Theorienversucht und ist zum Beispiel davon ausgegangen,daß die Wahrheit zwischen diesen beiden Extremenliegen müsse und daß der Äther nur teilweise von denbewegten Körpern mitgenommen werde. Alle derarti-gen Bemühungen waren zum Scheitern verurteilt.Sämtliche Versuche, die elektromagnetischen Phäno-mene in bewegten Systemen mit Hilfe der Bewegungdes Äthers, der Bewegung durch den Äther oder bei-der Bewegungsarten zu deuten, schlugen fehl.

So rückte einer der dramatischsten Augenblicke inder Geschichte der Naturwissenschaften heran. Alle

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2.234 Einstein/Infeld-Evolution, 175Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

an die Äthervorstellung geknüpften Annahmen hattenzu nichts geführt. Alle Experimente lieferten negativeErgebnisse. Wenn wir die Entwicklung der Physik imRückblick überschauen, so sehen wir, daß der Äther-begriff schon kurz nach seinem Aufkommen das »en-fant terrible« unter den physikalischen Substanzen ge-worden ist. Zunächst erwies sich die Konstruktioneines einfachen mechanischen Äthermodells als un-möglich, so daß wir ganz darauf verzichten mußten;und dieser Fehlschlag war gleichzeitig auch eine derHauptursachen für das Scheitern des mechanistischenDenkens überhaupt. Dann mußten wir auch die Hoff-nung aufgeben, daß ein System auf Grund der Exi-stenz eines Äthermeeres eine anerkannte Sonderstel-lung einnehmen und somit die Annahme einer absolu-ten Bewegung neben der relativen rechtfertigen könn-te. Das wäre nämlich, abgesehen von der Funktion,Wellen weiterzuleiten, die einzige Manifestation desÄthers und der einzige Nachweis seiner Daseinsbe-rechtigung gewesen. Alle unsere Bemühungen, demÄther Realität zu verleihen, sind gescheitert. Wirhaben weder seine mechanische Konstruktion ergrün-den noch eine durch ihn bedingte absolute Bewegungnachweisen können. Von allen Eigenschaften desÄthers blieb nur die eine erhalten, die auch der Anlaßzu seiner Entführung gewesen ist, nämlich seine Fä-higkeit, elektromagnetische Wellen weiterzuleiten.

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2.235 Einstein/Infeld-Evolution, 176Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Bei allen Versuchen, weitere Eigenschaften herauszu-finden, verstrickten wir uns immer mehr in Schwierig-keiten und Widersprüche. Angesichts derartigschlechter Erfahrungen ist es das beste, wir entschlie-ßen uns, den Begriff »Äther« überhaupt fallenzulas-sen und dieses Wort gar nicht mehr in den Mund zunehmen. Wir sagen statt dessen einfach: Der Raumhat die physikalische Eigenschaft, Wellen weiterzulei-ten. Damit kommen wir um den Gebrauch des Wortes»Äther« herum, das wir von nun an unter keinen Um-ständen mehr gebrauchen wollen.

Mit der Streichung des Wortes aus unserem Voka-bular ist es natürlich noch nicht getan. Unsere Kala-mitäten sind ja auch viel zu schwerwiegend, als daßsie sich so einfach aus der Welt schaffen ließen.

Wir wollen nun noch einmal die Punkte festhalten,die experimentell hinlänglich erwiesen sind, ohne unsnoch weiter über das »Ä-r«-Problem den Kopf zu zer-brechen.

1. Im leeren Raum ist die Lichtgeschwindigkeitstets konstant. Sie hängt weder von der Bewegung derLichtquelle noch von der des Beob achters ab.

2. In zwei gleichförmig gegeneinander bewegtenSystemen herrschen genau dieselben Naturgesetze. Esgibt keine Möglichkeit, eine absolute gleichförmigeBewegung zu konstatieren.

Wir kennen viele Experimente, mit denen man

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2.236 Einstein/Infeld-Evolution, 176Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

diese beiden Feststellungen bestätigen kann. Kein ein-ziges zeitigt irgendwelche Widersprüche zu dem untereins und zwei Gesagten. Punkt eins enthält eine Defi-nition des konstanten Charakters der Lichtgeschwin-digkeit, Punkt zwei bringt die Ausdehnung des Gali-leischen Relativitätsprinzips, das ursprünglich nur fürmechanische Phänomene formuliert worden war, aufdas gesamte Naturgeschehen.

In der Mechanik war die Sache so: Wenn die Ge-schwindigkeit eines Massenpunktes relativ zu einembestimmten System soundso groß ist, dann hat sie fürein gleichförmig gegen das erste bewegte Systemeinen anderen Wert, was sich aus den einfachen me-chanischen Transformationsregeln ergibt, die uns imübrigen auch schon rein intuitiv als richtig erscheinen(man denke nur an den Mann, der sich relativ zueinem Schiff bzw. zur Küste bewegt). Hier kann alsokein Fehler vorliegen; nur verträgt sich dieses Trans-formationsgesetz nicht mit der Konstanz der Lichtge-schwindigkeit. Wenn wir also als drittes Prinzip hin-zufügen:

3. Positionen und Geschwindigkeiten werdengemäß der klassischen Transformation von einemInertialsystem in ein anderes übertragen – dann liegtder Widerspruch klar zutage. Wir können die Punkteeins, zwei und drei nicht auf einen Nenner bringen.

Die klassische Transformation scheint zu einleuch-

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2.237 Einstein/Infeld-Evolution, 177Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tend und zu trivial zu sein, als daß wir uns von einemVersuch, sie zu ändern, etwas versprechen könnten.Punkt eins und zwei umzumodeln, haben wir schonversucht, konnten die dabei erzielten Ergebnisse abernicht mit dem Experiment vereinbaren. Alle Theorien,die eine Bewegung des »Ä-rs« verlangten, liefen jaauf eine Abänderung von Punkt eins und zwei hinaus,wobei jedoch, wie gesagt, nichts herauskam. Deutli-cher denn je kommt uns die Schwere dieses Dilemmaszu Bewußtsein. Wir brauchen einen neuen Fingerzeig,und wir haben ihn, wenn wir die beiden Grundannah-men eins und zwei akzeptieren, Annahme drei aber,so merkwürdig es uns auch vorkommt, einfach fal-lenlassen. Die neue Spur nehmen wir mit einer Ana-lyse der elementarsten und primitivsten Grundbegriffeauf, und wir werden zeigen, wie die dabei gewonne-nen neuen Erkenntnisse uns nötigen, alte Ansichtenüber Bord zu werfen, wie sie aber gleichzeitig alleSchwierigkeiten aus dem Wege räumen.

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2.238 Einstein/Infeld-Evolution, 177Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Die Relativität von Zeit und Abstand

Unsere neuen Annahmen lauten:1. Die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum ist für

alle gleichförmig gegeneinander bewegten Systemegleich groß.

2. In allen gleichförmig gegeneinander bewegtenSystemen gelten durchweg die gleichen Naturgeset-ze.

Von diesen beiden Postulaten geht die Relativitäts-theorie aus. Der klassischen Transformation wollenwir uns von nun an nicht mehr bedienen, da wir wis-sen, daß sie sich mit unseren Annahmen nicht verein-baren läßt.

Wir müssen uns hier, wie überall in der Wissen-schaft, von alteingewurzelten, oft nur gedankenlosübernommenen Vorurteilen frei machen. Da sich ausAbänderungen der Punkte eins und zwei, wie wir ge-sehen haben, Widersprüche zu den Erfahrungstatsa-chen ergeben, müssen wir den Mut aufbringen, sie un-umschränkt zu »ratifizieren« und den Hebel an dereinzigen schwachen Stelle unseres alten Gedankenge-bäudes ansetzen. Wir werden also das Verfahren fürdie Übertragung von Positionen und Geschwindigkei-ten von einem System in ein anderes gründlich revi-dieren. Dazu müssen wir zunächst unsere Schlüsse

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2.239 Einstein/Infeld-Evolution, 178Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

aus Punkt eins und zwei ziehen, um zu ergründen, wound inwiefern diese Annahmen in Widerspruch zurklassischen Transformation stehen, um dann schließ-lich aus den dabei erzielten Ergebnissen die physikali-schen Konsequenzen zu ziehen.

Wieder nehmen wir die bewegte Kabine und diebeiden Beobachter zu Hilfe. Wieder wird vom Mittel-punkt der Kabine aus ein Lichtsignal gesendet, undnoch einmal legen wir den beiden Personen die Fragevor, mit welchen Beobachtungsergebnissen zu rech-nen ist, wenn wir nur unsere beiden Prinzipien zu-grunde legen und alles außer Betracht lassen, wasvorhin über das Medium gesagt wurde, in dem siesich als Licht fortpflanzt. Sie werden folgendes zurAntwort geben:

Innenbeobachter: Das vom Mittelpunkt der Kabi-ne ausgehende Lichtsignal wird die Wände gleichzei-tig erreichen, da sie alle gleich weit von der Licht-quelle entfernt sind und die Lichtgeschwindigkeit inallen Richtungen gleich groß ist.

Außenbeobachter: In meinem System ist die Licht-geschwindigkeit genauso groß wie in dem des in derKabine mitfahrenden Beobachters. Für mich spielt eskeine Rolle, ob die Lichtquelle sich in meinem Sy-stem bewegt oder nicht, da die Bewegung sich auf dieLichtgeschwindigkeit nicht auswirkt. Ich sehe einLichtsignal, das sich mit einer in alle Richtungen glei-

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2.240 Einstein/Infeld-Evolution, 178Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

chen Normalgeschwindigkeit ausbreitet. Eine Wandist bestrebt, vor dem Lichtsignal »davonzulaufen«,während die entgegengesetzte Wand es einzuholensucht. Folglich wird die entweichende Wand einwenig später als die nachrückende von dem Lichtsi-gnal getroffen. Wenn diese Differenz auch nur sehrklein sein kann, solange die Geschwindigkeit der Ka-bine, verglichen mit der des Lichts, sehr gering bleibt,wird das Signal diese beiden einander entgegengesetz-ten, senkrecht zur Bewegungsrichtung liegenden Ka-binenwände doch nicht ganz genau gleichzeitig tref-fen.

Vergleichen wir die Vorhersage unserer beiden Be-obachter miteinander, so kommen wir zu einem Er-gebnis, das den scheinbar so wohlfundierten Begriffender klassischen Physik diametral entgegengesetzt ist.Die beiden Ereignisse, das heißt das Eintreffen derbeiden Lichtstrahlen an den beiden Wänden, erfolgenfür den Innenbeobachter gleichzeitig, für den außenpostierten dagegen nicht. In der klassischen Physikhaben wir mit einer Uhr und einem einheitlichen Zeit-ablauf für alle Beobachter in allen Systemen gearbei-tet. Zeit und somit Worte wie »gleichzeitig«, »frü-her«, »später« und so weiter hatten einen von dem je-weiligen System unabhängigen absoluten Sinn. ZweiEreignisse, die in einem System gleichzeitig stattfan-den, mußten zwangsläufig auch in allen anderen Sy-

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2.241 Einstein/Infeld-Evolution, 179Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

stemen gleichzeitig sein.Die Annahmen eins und zwei und somit die Relati-

vitätstheorie zwingen uns, diesen Standpunkt aufzu-geben; denn wir haben ja eben gesehen, daß zwei Er-eignisse, die in dem einen System gleichzeitig sind,für ein anderes System zu verschiedenen Zeiten statt-finden. An uns ist es jetzt, diese Schlußfolgerungen zuverarbeiten, die Tragweite des Satzes: »Zwei Ereig-nisse, die in einem System gleichzeitig sind, brauchenin einem anderen nicht gleichzeitig zu sein«, in ihremvollen Umfange zu erfassen.

Was verstehen wir überhaupt unter zwei für ein Sy-stem gleichzeitigen Ereignissen? Intuitiv glaubt wohljeder zu wissen, was damit gemeint ist, doch wollenwir lieber Vorsicht üben und uns um strenge Defini-tionen bemühen; denn wir wissen ja nun schon, wiegefährlich es ist, der Intuition zuviel Gewicht beizu-messen. Zuallererst wollen wir daher die überaus tri-viale Frage stellen:

Was ist eine Uhr?Der primitive subjektive Zeitsinn ermöglicht uns

die Ordnung unserer Eindrücke, so daß wir sagenkönnen, dieses habe früher, jenes dagegen späterstattgefunden. Um die Ausdehnung eines zwischenzwei Ereignissen liegenden Intervalls jedoch mit,sagen wir, zehn Sekunden bestimmen zu können, be-darf es einer Uhr. Die Zeitmessung mittels einer Uhr

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bringt eine Objektivierung des Zeitbegriffs mit sich.Man kann natürlich alle möglichen physikalischenVorgänge als Uhr benutzen, vorausgesetzt, daß siesich beliebig oft in genau der gleichen Weise wieder-holen lassen. Wenn wir das Intervall zwischen An-fang und Ende eines solchen Vorganges als Zeitein-heit nehmen, können wir durch Wiederholung diesesphysikalischen Phänomens beliebig lange Zeiträumemessen. Alle Uhren, angefangen vom einfachen Stun-denglas bis zu den kompliziertesten Zeitmessern, sindnach diesem Prinzip gebaut. Bei der Sanduhr wird dieZeit, die der Sand braucht, um aus dem oberen Behäl-ter in den unteren zu rinnen, als Einheit genommen,und wenn man das Glas umdreht, beginnt der gleichephysikalische Vorgang wieder von vorn.

Denken wir uns nun an zwei weit voneinander ent-fernten Punkten je eine vollkommene Uhr. Beide sol-len unbeschadet der Sorgfalt, mit der wir diesen Um-stand verifizieren, genau die gleiche Zeit anzeigen.Was heißt das nun überhaupt? Wie können wir fest-stellen, ob weit voneinander entfernte Uhren wirklichimmer genau die gleiche Zeit anzeigen? Eine Mög-lichkeit wäre die Zuhilfenahme von Fernsehgeräten,wobei gleich bemerkt wird, daß die Television hiernur als Beispiel herangezogen wird, ohne einen we-sentlichen Punkt unseres Gedankenganges zu bilden.Wenn ich mich neben der einen Uhr aufstelle und die

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andere über den Fernsehfunk beobachte, dann kannich eigentlich ganz gut sagen, ob sie beide gleichzei-tig dieselbe Zeit anzeigen. Doch wäre das bei nähe-rem Zusehen kein verläßlicher Nachweis; denn dasFernsehbild wird ja durch elektromagnetische Wellenübermittelt, die an die Lichtgeschwindigkeit gebun-den sind. Im Fernsehempfänger sehe ich also ein Bild,das einen kleinen Augenblick zuvor gesendet wordenist, während ich auf der neben mir liegenden Uhrgenau das sehe, was für den betreffenden Momentgilt. Diese Schwierigkeit läßt sich nun freilich leichtüberwinden. Ich brauche mich nur an einem von bei-den Uhren gleich weit entfernten Punkt aufzustellenund dann von dort aus beide durch den Fernsehfunkzu betrachten. Wenn die Signale gleichzeitig gesendetwerden, treffen sie bei dieser Anordnung auch im glei-chen Augenblick bei mir ein. Wenn aber zwei guteUhren, die von einem gleich weit von ihnen entferntenPunkt aus beobachtet werden, immer die gleiche Zeitanzeigen, so sind sie für die zeitliche Bestimmungräumlich weit auseinanderliegender Ereignisse wun-derbar geeignet.

In der Mechanik haben wir nur mit einer Uhr gear-beitet, doch war das nicht sehr zweckmäßig, weil wiralle Messungen in der unmittelbaren Nähe ein undderselben Uhr vornehmen mußten. Wenn wir nun al-lerdings eine weit entfernte Uhr, zum Beispiel im

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Fernsehgerät, betrachten, so dürfen wir nie vergessen,daß wir immer Vorgänge sehen, die in Wirklichkeitschon vor einer gewissen Zeit stattgefunden haben,wie uns ja auch das Licht der Sonne erst acht Minutennach seiner Ausstrahlung erreicht. Bei allen Zeitable-sungen müssen wir also je nach unserem Abstand vonder Uhr gewisse Korrekturen vornehmen.

Aus diesem Grunde ist es nicht ratsam, sich miteiner Uhr zu begnügen. Da wir aber nun wissen, wieman feststellt, ob zwei oder mehr Uhren gleichzeitigdieselbe Zeit anzeigen und gleich schnell gehen, kön-nen wir uns für ein bestimmtes System beliebig vieleUhren denken. Mit jeder Uhr können wir den Zeit-punkt von Ereignissen bestimmen, die in ihrer unmit-telbaren Nachbarschaft stattfinden. Alle Uhren ruhenrelativ zu dem betreffenden System. Es sind somit»gute« Uhren, und sie sind auch synchronisiert, dasheißt, sie zeigen alle untereinander dieselbe Zeit an.

An der Gruppierung unserer Uhren ist absolutnichts Ungewöhnliches oder Merkwürdiges. Statt miteiner Uhr arbeiten wir einfach mit mehreren synchro-nisierten Zeitmessern und können auf diese Weiseohne weiteres sagen, ob zwei an weit voneinanderentfernten Orten stattfindende Ereignisse für ein be-stimmtes System gleichzeitig sind oder nicht. Sie sindes, wenn die jeweils in der Nähe befindlichen syn-chronisierten Uhren in dem Augenblick, wo das Er-

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eignis eintritt, die gleiche Zeit anzeigen. Somit hat dieFeststellung, ein Ereignis habe früher stattgefundenals ein anderes, räumlich weit entferntes, nunmehreine ganz klare Definition erfahren. Wir können allederartigen Zeitrelationen mit Hilfe der in unserem Sy-stem ruhenden synchronisierten Uhren bestimmen.

Bisher stimmt noch alles mit der klassischen Me-chanik überein, und es hat sich auch noch kein einzi-ger Widerspruch zur klassischen Transformation er-geben.

Zwecks Feststellung der Gleichzeitigkeit von Er-eignissen sollen die Uhren mit Hilfe von Signalensynchronisiert werden, und unsere Versuchsanord-nung ist nur dann brauchbar, wenn diese Signale sichmit der Lichtgeschwindigkeit fortpflanzen, die in derRelativitätstheorie ja eine so überragende Rolle spielt.

Wenn wir nun neuerlich auf das so überaus wichti-ge Problem der beiden gleichförmig gegeneinanderbewegten Systeme eingehen wollen, müssen wir unswieder zwei Stäbe denken, die aber diesmal beide mitUhren versehen sind. Jeder der beiden in den gegen-einander bewegten Systemen postierten Beobachterhat jetzt also einen eigenen Stab mit dem dazugehöri-gen, fest damit verbundenen Satz Uhren.

Bei den Messungen, wie wir sie im Rahmen derklassischen Mechanik besprochen haben, genügteeine Uhr für alle Systeme. Hier haben wir nun in

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jedem System mehrere Uhren. Das soll uns aber nichtweiter stören. Zwar genügte damals auch eine Uhr,doch kann niemand etwas dagegen einwenden, wennwir mit mehreren arbeiten, solange sie sich so verhal-ten, wie es sich für synchronisierte Uhren gehört.

Jetzt werden wir gleich sehen, wo der Haken liegt,das heißt, inwiefern die klassische Transformation inWiderspruch zur Relativitätstheorie steht. Was ge-schieht, so fragen wir nämlich jetzt, wenn zwei SatzUhren sich gleichförmig gegeneinander bewegen? Derklassische Physiker würde antworten: Nichts, siegehen genauso wie vorher. Wir können zur Zeitbe-stimmung sowohl ruhende als auch bewegte Uhrenverwenden. Nach der klassischen Physik sind zweiEreignisse, die in einem System gleichzeitig sind,auch in allen anderen Systemen gleichzeitig.

Das ist allerdings nicht die einzig mögliche Ant-wort. Wir können uns genausogut vorstellen, daß einebewegte Uhr schneller oder langsamer geht als eineruhende. Wir wollen diese Möglichkeit jetzt einmaldurchsprechen, dabei aber die Frage, ob Uhren nunauch wirklich in der Bewegung anders gehen odernicht, vorläufig noch offenlassen.

Was bedeutet es, wenn wir sagen, eine bewegteUhr geht anders? Nehmen wir der Einfachheit halberan, im oberen System hätten wir nur eine Uhr, im un-teren dagegen mehrere aufgestellt. Alle haben den

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gleichen Mechanismus, und die unteren sind synchro-nisiert, das heißt, sie zeigen im gleichen Augenblickimmer dieselbe Zeit an. Figur 56 zeigt drei Phasen,welche die beiden gegeneinander bewegten Systemenacheinander durchlaufen.

Fig. 56

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In der ersten Skizze haben die Zeiger der oberen undunteren Uhren die gleiche Stellung, weil wir sie so ge-richtet haben. Sie zeigen alle die gleiche Zeit an. Inder zweiten Skizze ist die relative Lage der beiden Sy-steme für einen späteren Zeitpunkt dargestellt. Im un-teren System zeigen nach wie vor alle Uhren unterein-ander die gleiche Zeit an, doch fällt die im oberen Sy-stem diesmal aus dem Rahmen. Sie geht anders undzeigt somit eine andere Zeit an, weil sie sich relativzum unteren System bewegt. In der dritten Skizzesehen wir, wie die Zeigerstellungen einige Zeit späternoch mehr differieren.

Ein im unteren System ruhender Beobachter würdesomit konstatieren, daß eine bewegte Uhr anders geht.Natürlich kommen wir zu demselben Ergebnis, wennwir die Uhr relativ zu einem im oberen System ruhen-den Beobachter bewegen. Wir müßten dann nur dieVersuchsanordnung umkehren und im oberen Systemmehrere Uhren, im unteren dagegen nur eine aufstel-len. Jedenfalls müssen ja in beiden gegeneinander be-wegten Systemen dieselben Naturgesetze herrschen.

In der klassischen Mechanik wurde stillschweigendangenommen, daß eine bewegte Uhr nicht anders gehtals eine ruhende. Das schien so klar zu sein, daß manes gar nicht für nötig hielt, auch nur ein Wort darüberzu verlieren. Eigentlich dürfen wir aber gar nichts fürallzu selbstverständlich halten. Wenn wir ganze Ar-

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beit leisten wollen, müssen wir alle Voraussetzungen,die in der Physik bislang für selbstverständlich gehal-ten wurden, einer eingehenden Überprüfung unterzie-hen.

Man darf eine Annahme nicht für unsinnig halten,nur weil sie sich vielleicht nicht mit der klassischenPhysik vereinbaren läßt. Es ist durchaus denkbar, daßeine bewegte Uhr anders geht, solange das Gesetz,dem diese Veränderung unterliegt, einheitlich für alleInertialsysteme gilt.

Noch ein Beispiel: Denken wir uns einen Meter-stab, also einen Stab, der einen Meter lang ist, solan-ge er in einem bestimmten System ruht. Was ge-schieht aber, wenn er sich gleichförmig an dem ande-ren Stab entlangbewegt, der das System bildet? Ist erdann noch immer einen Meter lang? Dazu müssen wirnatürlich erst einmal wissen, wie wir seine Längeüberhaupt messen sollen. Solange der Stab noch ruht,fallen seine Enden mit einem Meter voneinander ent-fernten Marken auf dem Koordinatensystem zusam-men. Daraus schließen wir, daß er im Zustande derRuhe einen Meter lang ist. Wie sollen wir ihn aber inder Bewegung messen? Nun, es ginge folgenderma-ßen: in einem bestimmten Augenblick machen zweiBeobachter gleichzeitig – Momentaufnahmen; jederknipst ein Ende des Meterstabes. Da die Bildergleichzeitig aufgenommen werden, ergibt sich die

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Länge des bewegten Stabes aus der Differenz derMarken auf dem Systemstab, mit denen die beidenEnden des ersteren zusammenfallen. Zwei Beobachterbrauchen wir deshalb, weil es sich um zwei gleichzei-tige Ereignisse handelt, die in verschiedenen Teilendes Systems stattfinden. Es muß keineswegs sein, daßdiese Messung zu demselben Ergebnis führt wie diean dem ruhenden Stab vorgenommene. Da die Foto-grafien gleichzeitig aufgenommen werden mußten unddie Gleichzeitigkeit ja, wie wir bereits gesehen haben,ein relativer, vom System abhängiger Begriff ist, er-scheint es durchaus als möglich, daß die Ergebnisseeiner solchen Messung in verschiedenen gegeneinan-der bewegten Systemen verschieden ausfallen.

Nicht genug damit, daß bewegte Uhren andersgehen als ruhende, wollen wir nun sogar behaupten,daß ein bewegter Stab seine Länge ändert; nur müs-sen diese Veränderungen sich nach Gesetzen vollzie-hen, die einheitlich für alle Inertialsysteme gelten.

Vorläufig sind das alles noch absolut hypothetischeGedanken. Nichts gibt uns einstweilen das Recht, der-artige Verhältnisse tatsächlich als gegeben anzuneh-men.

Fassen wir noch einmal zusammen: Die Lichtge-schwindigkeit ist für alle Systeme gleich groß. DieseTatsache läßt sich unter keinen Umständen mit derklassischen Transformation vereinbaren. Irgendwie

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müssen wir aber aus dem Dilemma herauskommen,und können wir den Hebel nicht vielleicht gleich hieransetzen? Können wir nicht Veränderungen im Gangbewegter Uhren und in der Länge bewegter Stäbe po-stulieren, die so beschaffen sind, daß die Konstanzder Lichtgeschwindigkeit unmittelbar daraus folgt?Nun, das können wir tatsächlich! Es ist dies derPunkt, an dem sich der Weg der Relativitätstheorieerstmalig eindeutig von dem der klassischen Physikscheidet. Wir können auch von der anderen Seite andas Problem herangehen und sagen: Wenn die Licht-geschwindigkeit für alle Systeme gleich groß ist, dannmüssen bewegte Stäbe ihre Länge und bewegte Uhrenihren Gang ändern, und diese Veränderungen müssenganz bestimmten Gesetzen unterliegen.

Es ist gar nichts Mysteriöses oder Widersinnigesan alldem. In der klassischen Physik wurde es seitjeher für selbstverständlich gehalten, daß Uhren in derBewegung genauso schnell gehen wie in der Ruheund daß bewegte Stäbe immer die gleiche Längehaben, ob sie sich nun bewegen oder nicht. Wenn dieLichtgeschwindigkeit aber wirklich für alle Systemegleich groß und wenn die Relativitätstheorie richtigist, dann müssen wir uns wohl von dieser Annahmefrei machen. Es ist zwar nicht so einfach, sich von alt-eingewurzelten Vorurteilen loszureißen, doch bleibtuns keine Wahl; denn im Hinblick auf die Relativi-

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2.252 Einstein/Infeld-Evolution, 185Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tätstheorie müssen die alten Vorstellungen willkürlicherscheinen. Woraus leiten wir das Recht ab, an einenfür alle Beobachter in allen Systemen gleichmäßigen,absoluten Zeitablauf zu glauben, wie wir es noch we-nige Seiten weiter oben getan haben? Warum sollte esunveränderliche Entfernungen geben? Die Zeit wirdmit Uhren gemessen, räumliche Koordinaten be-stimmt man mit Stäben, und es ist doch durchausdenkbar, daß die Ergebnisse derartiger Messungendavon abhängen, wie diese Uhren und Stäbe sich inder Bewegung verhalten. Nichts deutet aber daraufhin, daß sie sich so verhalten, wie wir es gern habenmöchten. Überdies hat die Beobachtung der mit demelektromagnetischen Feld zusammenhängenden Er-scheinungen indirekt den Beweis dafür erbracht, daßeine Uhr in der Bewegung tatsächlich anders geht unddaß ein Stab seine Länge wirklich ändert, was wirdoch aus der Untersuchung mechanischer Phänomenenicht entnehmen zu können glaubten. Wir müssen unsnun aber an den Gedanken einer je nach dem Systemverschiedenen Zeit gewöhnen; denn damit kommenwir am besten aus unserem Dilemma heraus. An denwissenschaftlichen Fortschritten, die sich aus der Re-lativitätstheorie ergeben haben, kann man sogarsehen, daß dieser neue Aspekt nicht einmal alsMalum necessarium aufgefaßt werden darf; denndafür sind die Vorzüge dieser Theorie viel zu augen-

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fällig.Unsere bisherigen Ausführungen galten den Gedan-

kengängen, die zu den Grundvoraussetzungen der Re-lativitätstheorie geführt haben. Es sollte gezeigt wer-den, wie diese Theorie uns nötigt, die klassischeTransformation im Sinne einer neuartigen Auffassungvon Raum und Zeit zu revidieren und abzuändern.Nun wollen wir diese Grundgedanken, auf denen sichein gänzlich neues physikalisches und philosophi-sches Weltbild aufbaut, näher beleuchten. Die Gedan-ken sind einfach, doch reichen sie in der hier dargebo-tenen Form nur für qualitative, nicht aber für quanti-tative Schlüsse aus. Wieder müssen wir zu unseremalten Verfahren greifen und uns auf eine Erläuterungder Hauptprinzipien beschränken, während eine Reiheanderer Punkte im Rahmen dieser Darstellung unbe-wiesen bleiben muß.

In welcher Weise sich die Auffassung des altenPhysikers, den wir A nennen wollen und der noch andie klassische Transformation glaubt, von der des mo-dernen, M, unterscheidet, der auf dem Boden der Re-lativitätstheorie steht, wollen wir an dem folgendenDialog zeigen.

A: Ich bin überzeugt, daß für die Mechanik dasGalileische Relativitätsprinzip gilt, weil die Gesetzeder Mechanik ja in zwei gleichförmig gegeneinanderbewegten Systemen gleich oder, mit anderen Worten,

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im Sinne der klassischen Transformation invariabelsind.

M: Das Relativitätsprinzip müßte man aber auf alleVorgänge in unserer materiellen Welt ausdehnen kön-nen. Nicht nur die Gesetze der Mechanik, sondernsämtliche Naturgesetze müssen in allen gleichförmiggegeneinander bewegten Systemen dieselben sein.

A: Wie soll es aber zugehen, daß in gegeneinanderbewegten Systemen alle Naturgesetze gleich sind?Die Feldgleichungen, also die Maxwellschen Glei-chungen, sind im Hinblick auf die klassische Trans-formation keineswegs invariabel. Wir brauchen nuran die Lichtgeschwindigkeit zu denken. Nach derklassischen Transformation dürfte diese Geschwin-digkeit in zwei gegeneinander bewegten Systemennicht gleich groß sein.

M: Daraus ergibt sich lediglich, daß das Prinzipder klassischen Transformation auf diesen Fall nichtangewandt werden darf und daß der Zusammenhangzwischen zwei Systemen auf andere Art und Weisehergestellt werden muß. Wir dürfen Koordination undGeschwindigkeit eben gar nicht in dem Sinne mitein-ander verknüpfen, wie es diese Transformationsgeset-ze verlangen. Es gilt, neue Regeln an ihre Stelle zusetzen, die von den Grundvoraussetzungen der Relati-vitätstheorie abgeleitet sind. Wir wollen uns hiernicht weiter mit dem mathematischen Ausdruck für

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dieses neue Transformationsgesetz aufhalten, wollenuns damit zufriedengeben, daß es eben anders aus-sieht als das klassische und es als Lorentz-Transfor-mation bezeichnen. Es ließe sich zeigen, daß dieMaxwellschen Gleichungen, das heißt die Feldgeset-ze, im Sinne der Lorentz-Transformation in der glei-chen Weise invariabel sind wie die Gesetze der Me-chanik bezüglich der klassischen Transformation. Er-innern wir uns noch einmal daran, wie die Verhältnis-se in der klassischen Physik lagen. Wir hatten Trans-formationsgesetze für Koordinaten und Geschwindig-keiten, aber die Gesetze der Mechanik blieben fürzwei gleichförmig gegeneinander bewegte Systemegleich. Wir hatten Transformationsgesetze für räumli-che, nicht aber für zeitliche Größen, da die Zeit füralle Systeme gleich schnell verstreichen sollte. In derRelativitätstheorie sieht es nun allerdings anders aus:hier haben wir Transformationsgesetze für Raum, Zeitund Geschwindigkeit, die sich von den klassischenwesentlich unterscheiden. Die Naturgesetze bleibennach wie vor für alle gleichförmig gegeneinander be-wegten Systeme dieselben, und zwar nicht, wie früher,hinsichtlich der klassischen Transformation, sondernim Sinne des neuen Umwandlungsverfahrens, der so-genannten Lorentz-Transformation. In allen Inertial-systemen herrschen die gleichen Naturgesetze, undder Übergang von einem System in das andere wird

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durch die Lorentz-Transformation geregelt.A: Ich will Ihren Ausführungen Glauben schenken,

doch würde es mich interessieren, inwiefern die Lo-rentz-Transformation sich von der klassischen unter-scheidet.

M: Ihre Frage läßt sich am besten folgendermaßenbeantworten: Nennen Sie mir immer irgendein Cha-rakteristikum der klassischen Transformation, und ichwerde Ihnen dann klarzumachen versuchen, ob undinwiefern es bei der Lorentz-Transformation eine Ver-änderung erfährt oder ob es so bleibt, wie es ist.

A: Wenn in irgendeinem Punkt meines Systems ineinem bestimmten Augenblick irgend etwas geschieht,dann wird der Beobachter in einem anderen, relativ zudem meinen gleichförmig bewegten System das Ereig-nis zwar räumlich durch andere Koordinaten bezeich-nen, doch bleibt der Zeitpunkt auch für ihn der glei-che. Wir haben ja für alle Systeme die gleiche Uhr,und es spielt gar keine Rolle, ob sie sich bewegt odernicht. Sind Sie auch dieser Meinung?

M: Nein, keineswegs. Jedes System muß mit seineneigenen, in ihm ruhenden Uhren ausgestattet werden,da die Bewegung den Gang verändert. Zwei in ver-schiedenen Systemen befindliche Beobachter werdennicht nur verschiedene Koordinaten für die räumlicheLage erhalten, sie müssen auch für den Zeitpunkteines Ereignisses verschiedene Werte herausbekom-

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men.A: Dann wäre also die Zeit keine Invariante mehr?

Bei der klassischen Transformation gilt für alle Syste-me immer die gleiche Zeit, nach der Lorentz-Transfor-mation müßte sie sich aber verändern und in gewisserBeziehung den Charakter der Koordinaten annehmen,die wir von der alten Transformation her kennen. Ichbin gespannt, wie es mit der Entfernung steht. Nachder klassischen Transformation hat ein fester Stab inder Bewegung wie in der Ruhe immer die gleicheLänge. Ist das nun auch noch so?

Fig. 57

M: O nein! Aus der Lorentz-Transformation ergibtsich tatsächlich, daß ein bewegter Stab sich in der Be-wegungsrichtung mit zunehmender Geschwindigkeitimmer stärker zusammenzieht. Je schneller er sich be-wegt, desto kürzer erscheint er. Das gilt allerdings,wie gesagt, nur für die Bewegungsrichtung. Sie sehenin meiner Skizze einen bewegten Stab, der auf die

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Hälfte seiner Länge zusammenschrumpft, wenn eretwa 90 Prozent der Lichtgeschwindigkeit erreicht.Rechtwinklig zur Bewegungsrichtung gibt es aller-dings keine Kontraktion, wie ich es in der nächstenSkizze deutlich zu machen versucht habe.

A: Das heißt also, daß der Gang einer bewegtenUhr und die Länge eines bewegten Stabes von der Ge-schwindigkeit des betreffenden Gegenstands abhän-gen sollen. Wie sieht nun aber das Abhängigkeitsver-hältnis aus?

M: Die Abweichungen treten immer deutlicher her-vor, je größer die Geschwindigkeit wird. Aus der Lo-rentz-Transformation ergibt sich, daß ein mit Lichtge-schwindigkeit bewegter Stab vollkommen verschwin-den müßte. Ganz ähnlich wird auch der Gang einerbewegten Uhr im Vergleich zu den Uhren auf dem ru-henden Stab, an denen sie vorbeikommt, immer lang-samer, je schneller sie sich bewegt, bis sie schließlichstehenbleibt, wenn sie die Lichtgeschwindigkeit er-reicht – immer vorausgesetzt, daß wir es mit einer»guten« Uhr zu tun haben.

A: Das steht aber doch offensichtlich in Wider-spruch zu allen Erfahrungstatsachen. Wir wissen dochschließlich, daß ein Auto nicht kürzer wird, wenn esfährt, und auch, daß der Fahrer beim Vergleich seiner»guten« Uhr mit den Normaluhren, an denen er vor-beikommt, stets feststellen wird, daß sie einwandfrei

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geht; was doch alles gegen Ihre Behauptung spricht.

Fig. 58

M: Gewiß, doch sind alle diese, auf mechanischemWege erreichbaren Geschwindigkeiten im Vergleichzu der des Lichtes so außerordentlich gering, daß eslächerlich erscheint, die Relativitätstheorie auf derar-tige Phänomene anwenden zu wollen. Der Autofahrerkann sich nach wie vor seelenruhig an die klassischePhysik halten, selbst wenn er noch hunderttausendmalschneller führe. Nur bei Geschwindigkeiten, die andie des Lichtes herankommen, dürfen wir mit Diskre-panzen zwischen Experiment und klassischer Trans-formation rechnen. Die Richtigkeit der Lorentz-Trans-formation läßt sich nur bei sehr großen Geschwindig-keiten nachprüfen.

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A: Es bleibt aber noch immer eine Schwierigkeit.Nach der mechanischen Auffassung sind auch Körperdenkbar, die sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewe-gen. Ein Körper, der sich relativ zu einem fahrendenSchiff mit Lichtgeschwindigkeit bewegt, muß relativzur Küste Überlichtgeschwindigkeit haben. Was wirddann aber aus dem Stab, der ja schon bei Erreichender Lichtgeschwindigkeit zu nichts wurde? Man kannsich doch wohl kaum vorstellen, daß er bei Über-schreitung der Lichtgeschwindigkeit eine negativeLänge annimmt.

M: Es besteht absolut kein Anlaß zu derartig sarka-stischen Bemerkungen. Nach der Relativitätstheoriekann nämlich kein materieller Körper die Lichtge-schwindigkeit überschreiten, da sie für diese Körperdie größtmögliche Geschwindigkeit darstellt. Wennein Körper sich relativ zu einem Schiff mit Lichtge-schwindigkeit bewegt, so hat er relativ zur Küstegleichfalls Lichtgeschwindigkeit. Das einfache me-chanische Gesetz für das Addieren und Subtrahierenvon Geschwindigkeiten besitzt hier keine Geltungoder, genauer gesagt: es gilt auch für kleine Ge-schwindigkeiten eigentlich nur annäherungsweise,während es auf solche, die an die des Lichts heran-kommen, nicht mehr anwendbar ist. Der Wert derLichtgeschwindigkeit ergibt sich eindeutig aus derLorentz-Transformation. Es ist ein Grenzwert, also

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etwas Ähnliches wie die unendlich große Geschwin-digkeit in der klassischen Mechanik. Die Relativitäts-theorie stellt eine Verallgemeinerung dar und steht ansich nicht in Widerspruch zur klassischen Transfor-mation und zur klassischen Mechanik. Im Gegenteil,wir erhalten auch hier wieder die alten Begriffe, nurstellen sie jetzt Grenzfälle für sehr kleine Geschwin-digkeiten dar. Die neue Theorie verschafft uns Klar-heit darüber, für welche Fälle die klassische Physikausreicht und wo ihre Grenzen liegen. Wollte man dieRelativitätstheorie auf die Bewegung von Autos,Schiffen und Eisenbahnzügen anwenden, so wäre dasgenauso lächerlich, wie wenn jemand mit einer Re-chenmaschine arbeitete, wo er auch mit dem kleinenEinmaleins auskommt.

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Relativitätstheorie und Mechanik

Die Relativitätstheorie kam, weil sie kommen mußte.Sie ergibt sich zwangsläufig aus den Widersprüchenin der alten Theorie, die sich weder ignorieren nochbeseitigen lassen. Die Stärke der neuen Lehre liegt inder konsequenten und unkomplizierten Art, womitsie, ausgehend von ein paar ohne weiteres einleuch-tenden Postulaten, alle diese Schwierigkeiten meistert.

Wenn die Theorie auch vom Kraftfeldproblem heraufgebaut wurde, muß doch von ihr gefordert werden,daß sie sich auf alle physikalischen Gesetze erstreckt.Darin scheint allerdings eine neue Schwierigkeit zuliegen. Feldgesetze einerseits und mechanische Geset-ze andererseits sind in ihrer Art grundverschieden.Die Gleichungen des elektromagnetischen Feldes sindbezüglich der Lorentz-Transformation, die mechani-schen Gleichungen dagegen im Sinne der klassischenTransformation invariant. Die Relativitätstheorie ver-langt aber, daß alle Naturgesetze im Sinne der Lo-rentz-Transformation, nicht aber bezüglich der klassi-schen Transformation invariant seien. Die letzterewird nur noch als Sonder- und Grenzfall der Lorentz-Transformation gedacht, das heißt, sie ist dann an-wendbar, wenn die Relativgeschwindigkeit zweier Sy-steme sehr klein ist. Stimmt das, so muß die klassi-

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sche Mechanik dahingehend revidiert werden, daß sieder Forderung nach Invarianz im Sinne der Lorentz-Transformation gerecht wird, oder, mit anderen Wor-ten, die klassische Mechanik hat keine Geltung, wennes sich um Geschwindigkeiten handelt, die an die desLichts herankommen. Es kann nur eine einzige Trans-formation, nur einen Übergang von einem System inein anderes geben, und das ist die Lorentz-Transfor-mation.

Es hat sich als recht einfach erwiesen, die klassi-sche Mechanik in der Weise abzuändern, daß sieweder zur Relativitätstheorie noch zu der Fülle vonMaterial in Widerspruch steht, das aus der Beobach-tung stammt und von der klassischen Mechanik be-reits gedeutet wurde. Die alte Mechanik gilt eben nurfür kleine Geschwindigkeiten und bildet einen Grenz-fall der neuen.

Es wäre nun ganz interessant, einmal näher aufeinen Fall einzugehen, für den die Relativitätstheorieeine Abänderung der klassischen Mechanik fordert.Vielleicht gelangen wir an Hand eines solchen Bei-spiels zu Schlüssen, die experimentell einwandfreinachgeprüft werden können. Denken wir uns einenKörper mit bestimmter Masse, der sich geradlinig be-wegt und auf den in der Bewegungsrichtung eine äu-ßere Kraft einwirkt. Die Kraft ist, wie wir ja wissen,proportional der Geschwindigkeitsänderung oder, um

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es noch deutlicher zu machen: es spielt keine Rolle,ob ein bestimmter Körper, beispielsweise innerhalbeiner Sekunde von 100 auf 101 Meter pro Sekunde,von 100 Kilometern auf 100 Kilometer und einenMeter pro Sekunde oder von 290 000 Kilometern auf290000 Kilometer und einen Meter pro Sekunde be-schleunigt wird. Die gleiche Geschwindigkeitsände-rung innerhalb der gleichen Zeitspanne erfordert beiein und demselben Körper immer die gleiche Kraft.

Behält dieser Satz auch im Rahmen der Relativi-tätstheorie seine Gültigkeit? Keineswegs! Er gilt nurfür kleine Geschwindigkeiten. Wie muß er nun abernach der Relativitätstheorie für große Geschwindig-keiten lauten, die der des Lichtes nahekommen? Nun,wenn die Geschwindigkeit groß ist, werden außeror-dentlich starke Kräfte gebraucht, um sie noch weiterzu steigern. Es ist absolut nicht dasselbe, ob eine Ge-schwindigkeit von etwa 100 Metern pro Sekunde odereine solche, die der Lichtgeschwindigkeit angenähertist, um einen Meter pro Sekunde gesteigert werdensoll. Je dichter die Geschwindigkeit an die des Lichtsherankommt, desto schwerer läßt sie sich steigern.Wenn sie schließlich die Lichtgeschwindigkeit er-reicht, kann sie gar nicht mehr vergrößert werden. Diedurch die Relativitätstheorie bedingten Abänderungensind also gar nicht so befremdend. Die Lichtge-schwindigkeit bildet die obere Geschwindigkeitsgren-

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ze schlechthin. Keine endliche Kraft, so groß sie auchsein mag, ist imstande, eine Geschwindigkeitssteige-rung über dieses Maß hinaus zu bewirken. Statt desalten mechanischen Gesetzes für die Verknüpfungvon Kraft und Geschwindigkeitsänderung haben wirjetzt ein komplizierteres. Von der Relativitätstheorieher erscheint die klassische Mechanik als primitiv,weil wir es dort bei fast allen Beobachtungen mit Ge-schwindigkeiten zu tun haben, die wesentlich unterder des Lichtes liegen.

Ein ruhender Körper hat eine bestimmte Masse, diesogenannte Ruhmasse. Wir wissen aus der Mechanik,daß jeder Körper sich einer Geschwindigkeitsände-rung widersetzt. Je größer die Masse, um so stärkerder Widerstand und umgekehrt. In der Relativitäts-theorie kommt aber noch etwas hinzu: hier widersetztsich der Körper nicht nur dann stärker, wenn seineRuhmasse, sondern auch, wenn seine Geschwindig-keit größer ist. Körper, die sich mit Geschwindigkei-ten fortbewegen, die der des Lichtes angenähert sind,müssen äußeren Kräften also einen beträchtlich zähe-ren Widerstand entgegensetzen. In der klassischenMechanik ist der Widerstand eines bestimmten Kör-pers etwas Unveränderliches, da er ja von der Masseallein bestimmt wird. In der Relativitätstheorie hängter nun aber von zwei Faktoren, Ruhmasse und Ge-schwindigkeit, ab. Nähert sich die Geschwindigkeit

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der des Lichtes, so wird der Widerstand unendlichgroß.

Diese Resultate erlauben uns eine experimentelleNachprüfung der Theorie. Unsere Frage lautet: Wi-dersetzen sich Projektile, die sich annähernd mitLichtgeschwindigkeit bewegen, wirklich dem Einflußeiner äußeren Kraft in der Weise, wie die Theorie esverlangt? Da die diesbezüglichen Sätze der Relativi-tätstheorie quantitativer Natur sind, können wir siebestätigen oder widerlegen, sofern es uns gelingt, ir-gendwelchen Projektilen annähernd Lichtgeschwin-digkeit zu verleihen.

Nun, wir finden in der Natur tatsächlich Projektilemit derartigen Geschwindigkeiten. Die Atome radio-aktiver Substanzen, des Radiums zum Beispiel, feu-ern gleich Kanonen Geschosse ab, die eine enormeGeschwindigkeit erreichen. Wenn wir uns hier auchnicht zu sehr in Einzelheiten verlieren können, wollenwir doch wenigstens eine der hochbedeutsamen Hypo-thesen anführen, wie sie heute von den modernen Phy-sikern und Chemikern vertreten werden: Die ganze imUniversum enthaltene Materie setzt sich aus Elemen-tarteilchen zusammen, von denen es nur ganz wenigeArten gibt. Es ist wie in einer Stadt, die aus verschie-den großen, verschiedenartig gebauten und architekto-nisch unterschiedlichen Gebäuden besteht, währendtrotzdem alle durch die Bank, vom kleinsten Schup-

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pen bis zum höchsten Wolkenkratzer, aus den glei-chen Ziegelsteinen bestehen, die sich in ganz wenigeverschiedene Sorten einteilen lassen. So bauen sichalle bekannten chemischen Elemente unserer materiel-len Welt, angefangen vom leichtesten, dem Wasser-stoff, bis zum schwersten, Uran, aus denselben Bau-steinen, das heißt aus gleichartigen Elementarteilchen,auf. Die schwersten Elemente, die kompliziertesten»Bauwerke«, sind unbeständig und zerfallen; wirsagen: sie sind radioaktiv. Einige dieser Bausteine,nämlich die Elementarteilchen, aus denen sich die ra-dioaktiven Atome zusammensetzen, werden gelegent-lich mit sehr großer Geschwindigkeit fortgeschleu-dert, wobei sie fast die Lichtgeschwindigkeit errei-chen. Das Atom eines Elements, sagen wir, des Radi-ums, hat, soviel wir heute auf Grund zahlreicher Ex-perimente sagen können, eine komplizierte Struktur,und der radioaktive Zerfall ist einer der Vorgänge, ausdenen wir entnehmen können, daß die Atome sich ausnoch wesentlich einfacheren Bausteinen, nämlich denElementarteilchen, zusammensetzen.

Mittels sehr kunstvoller und raffinierter Versuchekönnen wir nun feststellen, in welcher Weise die Par-tikeln sich dem Einfluß einer äußeren Kraft widerset-zen, und diese Experimente zeigen, daß der Wider-stand tatsächlich in der von der Relativitätstheorievorhergesagten Weise mit der Geschwindigkeit zu-

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sammenhängt. Auch in vielen anderen Fällen, wo sicheine Abhängigkeit des Widerstandes von der Ge-schwindigkeit nachweisen läßt, stimmen die Ver-suchsergebnisse vollkommen mit der Theorie überein.Auch hier wieder das charakteristische Bild derschöpferischen wissenschaftlichen Arbeit: BestimmteGesetzmäßigkeiten werden von der Theorie vorausge-sagt und dann durch das Experiment bestätigt.

Dieses Ergebnis bringt uns auf eine weitere wichti-ge Verallgemeinerung. Ein ruhender Körper hatMasse, aber keine kinetische, also Bewegungsenergie.Ein bewegter Körper hat beides, Masse und kineti-sche Energie, und da er sich einer Geschwindigkeits-änderung heftiger widersetzt als ein ruhender Körper,sieht es so aus, als verstärke die kinetische Energieseine Widerstandsfähigkeit. Wenn zwei Körper diegleiche Ruhmasse haben, dann setzt derjenige mit dergrößeren kinetischen Energie dem Einfluß einer äuße-ren Kraft den stärkeren Widerstand entgegen.

Denken wir uns eine Kiste mit Kugeln. Sowohl dieKiste als auch die Kugeln sollen in unserem Systemruhen. Um sie in Bewegung zu setzen, das heißt ihreGeschwindigkeit zu ändern, bedarf es einer Kraft.Wird die gleiche Kraft aber eine genauso große Ge-schwindigkeitssteigerung im gleichen Zeitraum zu-stande bringen, wenn die Kugeln innerhalb der Kistenach Art der Moleküle in einem Gas mit einer Durch-

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2.269 Einstein/Infeld-Evolution, 194Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

schnittsgeschwindigkeit, die an die des Lichtes heran-kommt, wild durcheinanderschießen? O nein, sondernes wird eine größere Kraft benötigt, weil die kineti-sche Energie der Kugeln angewachsen ist und die Wi-derstandskraft der Kiste dadurch erhöht hat. Energie,jedenfalls kinetische Energie, widersetzt sich der Be-wegung in der gleichen Weise wie wägbare Masse.Gilt das nun auch für die anderen Energiearten?

Die Relativitätstheorie leitet aus ihrer Grundvor-aussetzung eine klare und überzeugende Antwort aufdiese Frage ab, eine Antwort, die wiederum quantita-tiven Charakter hat: Alle Energie widersetzt sich Be-wegungsänderungen; alle Energie verhält sich wieMaterie; ein Stück Eisen wiegt im rotglühenden Zu-stand mehr, als wenn es kalt ist; die den Weltraumdurchquerende Strahlung, beispielsweise Sonnen-strahlung, enthält Energie und hat folglich Masse; dieSonne und alle Sterne geben mit ihren Strahlen Masseab. Dieser seinem Wesen nach ganz allgemeineSchluß muß als bedeutende Errungenschaft der Rela-tivitätstheorie gewertet werden. Er läßt sich mit allenGesetzmäßigkeiten vereinbaren, die man bisher dar-aufhin geprüft hat.

Die klassische Physik führte zwei Substanzbegriffeein: Materie und Energie. Die Materie wurde als wäg-bar, die Energie als schwerelos angesehen. Wir hattenin der klassischen Physik auch zwei Erhaltungsgeset-

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2.270 Einstein/Infeld-Evolution, 195Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ze: eines für die Materie und eines für die Energie.Schon einmal haben wir die Frage gestellt, ob die mo-derne Physik noch an diesen beiden Substanzbegriffenund an den zweierlei Erhaltungsgesetzen festhält.

Die Antwort lautet: »Nein.« Nach der Relativitäts-theorie gibt es keinen grundsätzlichen Unterschiedzwischen Masse und Energie. Energie hat Masse, undMasse verkörpert Energie. Statt zwei Erhaltungsge-setzen haben wir nur noch eines, das der Masse-Ener-gie. Diese neue Auffassung hat sich in der weiterenEntwicklung der Physik sehr gut bewährt und als äu-ßerst fruchtbar erwiesen.

Man muß sich fragen, wieso die Tatsache, daßEnergie Masse und Masse Energie besitzt, so langeverborgen bleiben konnte. Ist ein heißes Stück Eisendenn wirklich schwerer als ein kaltes? Jetzt müssenwir diese Frage mit »Ja« beantworten, während es imersten Teil des Buches noch »Nein« hieß. Sicherlichberechtigt uns die dazwischenliegende große Seiten-zahl allein nicht dazu, plötzlich das Gegenteil vondem zu behaupten, was wir damals als richtig erkann-ten.

Im Grunde genommen haben wir es hier mit einerganz ähnlichen Schwierigkeit zu tun wie vorhin. Dievon der Relativitätstheorie vorhergesagte Massenver-änderung ist nämlich unmeßbar gering und läßt sichselbst mit den empfindlichsten Waagen nicht direkt

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2.271 Einstein/Infeld-Evolution, 195Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

feststellen. Dennoch gibt es zahlreiche, wenn auch in-direkte Mittel und Wege, um einwandfrei nachzuwei-sen, daß Energie nicht schwerelos ist.

Dieser Mangel an unmittelbaren Beweisen erklärtsich aus dem sehr kleinen Verhältnis, nach dem sichdie Umwandlung von Materie in Energie vollzieht.Die Energie verhält sich zur Masse etwa so wie eineabgewertete Währung zu einer sehr stabilen. Ein Bei-spiel soll uns das verdeutlichen: Die Wärmemenge,die benötigt wird, um 30000 Tonnen Wasser inDampf umzuwandeln, wiegt nur etwa ein Gramm!Die Energie wurde also einfach deshalb so lange fürschwerelos gehalten, weil sie so überaus wenig Massebesitzt.

Die alte Energie-Substanz ist somit das zweiteOpfer der Relativitätstheorie. Das erste war ja schondas Medium, in dem sich die Lichtwellen fortpflanzensollten.

Die Auswirkungen der Relativitätstheorie gehenweit über das Problem hinaus, dem die neue Lehreihre Entstehung verdankt. So beseitigt sie auch allemit der Feldtheorie zusammenhängenden Schwierig-keiten und Widersprüche; sie bringt allgemeinere me-chanische Gesetze; sie setzt ein einziges Umwand-lungsgesetz an die Stelle von zweien und räumt mitunserer klassischen Vorstellung von der absolutenZeit auf. Sie gilt auch keineswegs etwa nur für ein

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2.272 Einstein/Infeld-Evolution, 195Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Teilgebiet der Physik; sie bildet vielmehr einen gro-ßen Rahmen für das gesamte Naturgeschehen.

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2.273 Einstein/Infeld-Evolution, 196Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Das Raum-Zeit-Kontinuum

»Am 14. Juli 1789 ist in Paris die Französische Re-volution ausgebrochen.« Dieser Satz enthält die An-gaben über Schauplatz und Zeitpunkt eines Ereignis-ses. Jemandem, der nicht weiß, was das Wort »Paris«bedeutet, und zum erstenmal diesen Satz hört, könnteman folgenden Kommentar dazu geben: Paris ist eineStadt auf der Erde, die auf 2 Grad östlicher Länge und49 Grad nördlicher Breite liegt. Mit diesen beidenZahlen ist der Ort festgelegt, und der Ausdruck »14.Juli 1789« bezeichnet den Zeitpunkt, zu dem das Er-eignis stattgefunden hat.

Fig. 59

In der Physik kommt es nun noch bedeutend mehr alsin der Geschichte auf genaue Orts- und Zeitangabenan, weil diese Daten die Grundlage für eine quantita-

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2.274 Einstein/Infeld-Evolution, 197Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tive Beschreibung von Vorgängen bilden.Der Einfachheit halber haben wir uns bisher nur

immer mit geradliniger Bewegung befaßt. Ein starrerStab mit nur einem Ende war unser System. Wir wol-len auch jetzt an dieser Einschränkung festhalten unduns auf diesem Stab zwei verschiedene Punkte her-ausgreifen. Die Lage jedes der beiden Punkte läßt sichdurch eine einzige Zahl, seine Koordinate, bestim-men. Wenn es heißt, ein Punkt habe die Koordinate3,50 Meter, so ist damit gesagt, daß er 3,50 Metervon dem einzigen Ende des Stabes entfernt ist. Umge-kehrt kann ich, wenn mir jemand eine Zahl mit dazu-gehöriger Maßeinheit angibt, stets den Punkt finden,auf den sich diese Zahl bezieht. Wir können alsosagen: Für jede Zahl gibt es einen bestimmten Punktauf dem Stab, und zu jedem Punkt gehört eine be-stimmte Zahl. Die Mathematiker drücken diesenSachverhalt folgendermaßen aus: Alle Punkte des Sta-bes bilden ein eindimensionales Kontinuum. Mankann sich die Punkte beliebig einander angenähertdenken. Die Etappen, in die wir den Abstand zwi-schen zwei weit voneinander entfernten Punkten zerle-gen, können wir beliebig klein wählen, und eben dieseMöglichkeit, den Abstand zwischen weit voneinanderentfernten Punkten in beliebig kleine Etappen zerle-gen zu können, ist das Charakteristische des Kontinu-ums.

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2.275 Einstein/Infeld-Evolution, 197Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Fig. 60

Ein weiteres Beispiel: Denken wir uns eine Ebeneoder, falls etwas Konkreteres gewünscht wird, einerechteckige Tischplatte. Die Lage eines Punktes aufdiesem Tisch läßt sich durch zwei Zahlen ausdrükken,nicht mehr durch eine allein wie vorhin. Diese beidenZahlen bezeichnen die Abstände des Punktes vonzwei aufeinander senkrecht stehende Tischkanten. Zujedem Punkt der Ebene gehören zwei bestimmte Zah-len, und für jedes Zahlenpaar gibt es einen bestimm-ten Punkt. Mit anderen Worten: die Ebene ist einzweidimensionales Kontinuum. Alle Punkte derEbene kann man sich beliebig einander angenähertdenken, und zwei weit voneinander entfernte Punktelassen sich durch eine Kurve verbinden, die man inbeliebig kleine Etappen zerlegen kann. Somit ist dieMöglichkeit, den Abstand zweier weit voneinander

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2.276 Einstein/Infeld-Evolution, 198Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

entfernter Punkte in beliebig kleine Etappen zerlegenzu können, auch für das zweidimensionale Kontinu-um charakteristisch, bei dem jeder Punkt durch zweiZahlen bestimmt wird.

Noch ein Beispiel: Nehmen wir jetzt einmal dasZimmer, in dem wir sitzen, als Koordinatensystem.Wenn wir alle Lagebestimmungen auf die starrenWände des Raumes beziehen, dann läßt sich zum Bei-spiel die Position des unteren Endes der Lampe, so-fern sie ruhig hängt, durch drei Zahlen ausdrücken,von denen sich zwei auf die Entfernung zu zwei verti-kalen Wänden beziehen, während die dritte den Ab-stand vom Fußboden bzw. von der Decke bezeichnet.Zu jedem Punkt im Raum gehören also drei bestimm-te Zahlen, und für je drei zusammengehörige Zahlengibt es einen bestimmten Punkt. Der Raum ist alsoein dreidimensionales Kontinuum. Die Punkte desRaumes können einander beliebig angenähert gedachtwerden, und so ist die Möglichkeit, die Etappen einergedachten Verbindung zwischen weit voneinanderentfernten Punkten beliebig klein wählen zu können,auch für das dreidimensionale Kontinuum charakteri-stisch, bei dem jeder Punkt durch drei Zahlen be-stimmt wird.

Alles das hat aber kaum etwas mit Physik zu tun.Wollen wir zu diesem Wissenschaftszweig zurück-kehren, müssen wir uns wieder mit der Bewegung von

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2.277 Einstein/Infeld-Evolution, 198Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Materieteilchen befassen. Wenn Naturereignisse, phy-sikalische Vorgänge, beobachtet und vorhergesagtwerden sollen, müssen wir nicht nur den Ort, sondernauch den Zeitpunkt in Betracht ziehen. Versuchen wires zunächst wieder mit einem ganz einfachen Bei-spiel:

Ein kleiner Stein, den wir als Partikel betrachtenwollen, fällt von einem 80 Meter hohen Turm herun-ter. Schon seit Galilei können wir für jeden beliebigenZeitpunkt nach Beginn des freien Falles die Koordi-nate des Steines vorausberechnen. Der »Fahrplan«mit den Positionen des Steines nach 0, 1, 2, 3 und 4Sekunden sieht folgendermaßen aus:

Zeit Höhe vom Erdbodenin Sekunden in Metern

0 80 1 75 2 60 3 35 4 0

In diesem »Fahrplan« sind fünf durch je zwei Zahlen,nämlich ihre Zeit- und Raumkoordinaten, bezeichneteEreignisse enthalten. Das erste davon ist der Fallbe-ginn in 80 Meter Höhe über dem Erdboden, wo dieFallzeit noch gleich Null ist. Das zweite tritt dann ein,

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2.278 Einstein/Infeld-Evolution, 199Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

wenn der Stein an der 75-Meter-Marke unseres star-ren Maßstabes (in diesem Falle des Turms) vorbei-kommt. Das ist nach Ablauf der ersten Sekunde derFall. Das letzte Ereignis ist dann schließlich der Auf-schlag des Steines auf den Erdboden.

Wir können die Daten aus diesem »Fahrplan« nunaber auch auf andere Art und Weise darstellen, indemwir die fünf Zahlenpaare als Punkte in einer Ebenevermerken. Dazu müssen wir uns allerdings zunächstüber den Maßstab einig werden. Für einen Meter undfür eine Sekunde nehmen wir uns je einen Abschnitt,etwa so:

Fig. 61

Nun zeichnen wir zwei aufeinander senkrecht stehen-de Linien und nennen die horizontale beispielsweiseZeitachse und die vertikale Raumachse. Es leuchtetohne weiteres ein, daß unser »Fahrplan« sich in dieserRaum-Zeit-Ebene durch fünf Punkte darstellen läßt.

Die Abstände der Punkte von der Raumachse sindgleich den Zeitkoordinaten aus der ersten Spalte unse-res »Fahrplans«, während die Abstände von der Zeit-achse den Raumkoordinaten entsprechen.

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2.279 Einstein/Infeld-Evolution, 200Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Fig. 62

Man kann also ein und dieselbe Sache auf zweigrundverschiedene Arten wiedergeben, einmal als Ta-belle, als »Fahrplan«, und zum anderen in Form vonPunkten in einer Ebene. Eine Darstellungsart läßt sichaus der anderen ableiten, und es ist reine Ge-schmackssache, an welches Verfahren wir uns haltenwollen; denn beide sind absolut gleichwertig.

Gehen wir jetzt noch einen Schritt weiter. Denkenwir uns einen verbesserten »Fahrplan«, in dem diePositionen nicht nur für jede ganze Sekunde, sondern,sagen wir, für hundertstel oder tausendstel Sekundenangegeben sind. Wir erhalten dann eine Raum-Zeit-Ebene mit einer Unzahl von Punkten, und wenn dieLage des Fallkörpers schließlich für jeden Momentangegeben oder, wie die Mathematiker sagen, wenn

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2.280 Einstein/Infeld-Evolution, 201Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

die Raumkoordinate als Funktion der Zeit gedachtwird, dann entsteht aus unserer Punktfolge eine zu-sammenhängende Linie. Unsere nächste Skizze liefertuns also nicht nur, wie die bisherigen Darstellungen,gewisse fragmentarische Aufschlüsse über die Fallbe-wegung, sondern ein lückenloses Bild von ihrem ge-samten Verlauf.

Fig. 63

Die Bewegung entlang des starren Maßstabes (desTurms), also die Bewegung in einem eindimensiona-len Raum, ist hier als Kurve in einem zweidimensio-nalen Raum-Zeit-Kontinuum dargestellt. Jedem Punktunseres Raum-Zeit-Kontinuum ist ein Zahlenpaar zu-geordnet. Die eine Zahl ist die Zeit-, die andere die

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2.281 Einstein/Infeld-Evolution, 201Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Raumkoordinate. Umgekehrt gibt es in unserer Raum-Zeit-Ebene für jedes ein bestimmtes Ereignis bezeich-nendes Zahlenpaar einen bestimmten Punkt. Zwei ne-beneinanderliegende Punkte entsprechen zwei Ereig-nissen, die räumlich und zeitlich ein klein wenig ge-geneinander verschoben sind.

Gegen diese Darstellungsweise läßt sich der Ein-wand erheben, es habe wenig Sinn, Zeiteinheitendurch Strecken wiederzugeben und sie auf dieseWeise mechanisch mit dem Raum zu verquicken, umaus den beiden eindimensionalen Kontinua ein zwei-dimensionales zu machen. Dann müßte man aber alleanderen graphischen Darstellungen ebenfalls ableh-nen, also etwa die Kurve für die Temperaturschwan-kungen in New York im letzten Sommer oder die fürdie Lebenshaltungskosten während der letzten Jahre;denn alle diese Kurven werden nach dem gleichenPrinzip angefertigt. In den Temperaturkurven zumBeispiel wird das eindimensionale Temperaturkonti-nuum mit dem ebenfalls eindimensionalen Zeitkonti-nuum zu einem zweidimensionalen Temperatur-Zeit-Kontinuum zusammengefaßt.

Kehren wir wieder zu unserem Teilchen zurück,das von dem 80 Meter hohen Turm herunterfällt. Diegraphische Darstellung seiner Bewegung erweist sichals sehr brauchbar, da sie uns Aufschluß gibt über diePosition der Partikel in jedem beliebigen Moment.

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2.282 Einstein/Infeld-Evolution, 202Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Für diese Bewegung, über deren Ablauf wir uns nunim klaren sind, gibt es aber zwei verschiedene Ausle-gungen.

Die eine Auffassung ist die uns bereits bekannte,wonach die Partikel ihre Position im eindimensiona-len Raum im Laufe der Zeit ändert. Die Bewegung isthier als Abfolge von Ereignissen im eindimensionalenRaumkontinuum gedacht. Raum und Zeit werdennicht miteinander verquickt, und das Ergebnis ist einedynamische Vorstellung von Positionen, die sich inder Zeit ändern.

Wir können die gleiche Bewegung aber auch an-ders, nämlich statisch, auffassen, wenn wir dabei vonder Kurve in ihrem zweidimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum ausgehen. Hier wird die Bewegung alsetwas Seiendes dargestellt, etwas, was in dem zweidi-mensionalen Raum-Zeit-Kontinuum effektiv existiertund nicht bloß als etwas Veränderliches im eindimen-sionalen Raum.

Beide Auffassungen sind vollkommen gleichwertig,und immer ist es reine Form- bzw. Geschmackssache,welche wir vorziehen wollen.

Alles, was bisher über die beiden Auffassungenvon der Bewegung gesagt worden ist, hat noch abso-lut gar nichts mit der Relativitätstheorie zu tun. Esbleibt sich, wie gesagt, vollkommen gleich, mit wel-cher Darstellungsweise wir arbeiten, wenn die klassi-

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2.283 Einstein/Infeld-Evolution, 202Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sche Physik auch mehr für die dynamische Auslegungwar und in der Bewegung eher eine Kette von räumli-chen Ereignissen sehen wollte, ohne ihr im Räumlich-Zeitlichen eine Realität anzuerkennen. Hier hat dieRelativitätstheorie nun allerdings gründlich Wandelgeschafft. Nach dieser Lehre ist die statische Dar-stellung nämlich entschieden vorzuziehen, weil dieAuffassung, Bewegung sei etwas im Räumlich-Zeitli-chen effektiv Vorhandenes, ein zweckmäßigeres undobjektiveres Bild der Wirklichkeit abgibt. Es bleibnun allerdings noch die Frage zu beantworten, warumdie beiden Auffassungen von der Relativitätstheorieher gesehen nicht mehr gleichwertig sind, obwohl siees in der klassischen Physik noch waren.

Wenn wir jedoch wieder unsere beiden Systeme zuHilfe nehmen, die sich gleichförmig nebeneinanderbewegen, so werden wir gleich sehen, wie das zusam-menhängt.

Nach den Lehren der klassischen Physik erhaltendie Beobachter in zwei gleichförmig gegeneinanderbewegten Systemen für ein bestimmtes Ereignis ver-schiedene Raumkoordinaten, doch ein und dieselbeZeitkoordinate. In unserem Beispiel hat die Partikelbeim Aufschlag auf den Erdboden, bezogen auf dasvon uns gewählte System, die Zeitkoordinate 4 unddie Raumkoordinate 0. Nach der klassischen Mecha-nik nun wird die Fallzeit des Steines auch für einen

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2.284 Einstein/Infeld-Evolution, 203Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

anderen Beobachter, der sich gleichförmig gegen die-ses System bewegt, 4 Sekunden betragen. Allerdingsmuß dieser Beobachter grundsätzlich andere Raumko-ordinaten für den Aufschlag herausbekommen, da erden Auftreffpunkt ja auf sein System bezieht. DieZeitkoordinate wird jedoch für ihn und für alle ande-ren, gleichförmig gegeneinander bewegten Beobachterdieselbe bleiben. Die klassische Physik kennt ebennur eine »absolute« Zeit, die für alle Beobachtergleich schnell verstreicht. Das zweidimensionaleKontinuum läßt sich für jedes System in zwei eindi-mensionale Kontinua, nämlich Zeit und Raum, zerle-gen, und da die Zeit ja als »absolut« gedacht wird, istdieses Herüberwechseln von der statischen zur dyna-mischen Auslegung der Bewegung in der klassischenPhysik als durchaus sinnvoll anzusehen.

Nun haben wir uns allerdings bereits zu der Über-zeugung durchgerungen gehabt, daß die klassischeTransformation nicht auf alle physikalischen Erschei-nungen angewandt werden darf. In der Praxis kannman sie, soweit es sich um geringe Geschwindigkei-ten handelt, zwar nach wie vor gebrauchen, doch istsie für die Klärung physikalischer Grundfragen ebenuntauglich.

Nach der Relativitätstheorie ist der Zeitpunkt desAufschlages unseres Steines auf den Erdboden nunnicht für alle Beobachter das gleiche. In zwei ver-

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2.285 Einstein/Infeld-Evolution, 203Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

schiedenen Systemen fällt nicht nur die Raum-, son-dern auch die Zeitkoordinate anders aus, und wenndie Relativgeschwindigkeit an die des Lichtes heran-kommt, werden die Zeitkoordinaten sogar beträchtlichdifferieren. Jetzt läßt sich das zweidimensionale Kon-tinuum natürlich nicht mehr, wie in der klassischenPhysik, in zwei eindimensionale Kontinua aufspalten.Wir dürfen Raum und Zeit bei der Bestimmung derRaum-Zeit-Koordinaten für ein anderes System nichtmehr getrennt für sich betrachten, und die Aufspal-tung des zweidimensionalen Kontinuums in zwei ein-dimensionale Kontinua wäre somit von der Relativi-tätstheorie aus gesehen etwas ganz Unmotiviertes undWidersinniges.

Es ist nun ganz einfach, das eben Gesagte in derWeise zu verallgemeinern, daß es auch auf die nicht-geradlinige Bewegung paßt. Bei der Beschreibungwirklicher Naturereignisse kommen wir natürlichnicht mit zwei Zahlen aus; wir brauchen vier. Derphysikalische Raum, wie er sich uns durch Objekteund deren Bewegungen darbietet, hat drei Dimensio-nen, und so werden alle Lagebestimmungen durchdrei Zahlen ausgedrückt. Die vierte Zahl dient derFestlegung des Momentes, in dem sich ein bestimm-tes Ereignis abspielt, und so wird jedes Ereignisdurch vier Werte bezeichnet, wie es auch zu je vierZahlen immer ein bestimmtes Ereignis gibt. Das phy-

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2.286 Einstein/Infeld-Evolution, 204Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sikalische Weltgeschehen bildet dann ein vierdimen-sionales Kontinuum. Daran ist gar nichts Mysteriö-ses; denn die Feststellung gilt für die klassische Phy-sik genauso wie für die Relativitätstheorie. Erst beider Betrachtung zweier gegeneinander bewegter Sy-steme ergibt sich wieder eine Unterschiedlichkeit.Wenn in einer bewegten Kabine ein Ereignis stattfin-det, dessen Raum-Zeit-Koordinaten von Innen- undAußenbeobachtern bestimmt werden sollen, so wirdder klassische Physiker die vierdimensionalen Konti-nua wiederum in dreidimensionale Raum- und eindi-mensionale Zeitkontinua zerlegen. Der Physiker voneinst gibt sich nur mit der räumlichen Transformationab, da die Zeit ja für ihn absolut ist. Er sieht in derAufspaltung der vierdimensionalen Weltkontinua inRaum und Zeit etwas Selbstverständliches. Geht manaber von der Relativitätstheorie aus, so verändert sichnicht nur der Raum, sondern auch die Zeit, sobald dasSystem gewechselt wird, und die Lorentz-Transforma-tion gibt Aufschluß über die Transformationsmerkma-le des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums un-seres vierdimensionalen Weltgeschehens.

Dieses Geschehen läßt sich einmal dynamisch alsWandlungsprozeß im dreidimensionalen Raum, zumanderen aber auch statisch als vierdimensionalesRaum-Zeit-Kontinuum auffassen. Für die klassischePhysik sind diese beiden Auffassungen, die dynami-

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2.287 Einstein/Infeld-Evolution, 204Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sche und die statische, gleichwertig; doch ist für dieRelativitätstheorie die statische die zweckmäßigereund objektivere. Allerdings können wir, wenn wirwollen, auch im Rahmen der Relativitätstheorie nachwie vor mit der dynamischen Darstellungsweise arbei-ten, nur müssen wir dann immer bedenken, daß derZerlegung in Zeit und Raum keine objektive Bedeu-tung zukommt, da die Zeit ja für uns nicht mehr abso-lut ist. So werden wir uns auch auf den folgenden Sei-ten weiterhin der dynamischen und nicht der stati-schen Ausdrucksweise bedienen, nur müssen wir unsimmer vor Augen halten, wo ihre Grenzen liegen.

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Allgemeine Relativitätstheorie

Ein Punkt ist noch immer ungeklärt, eine der grundle-genden Fragen nach wie vor ungelöst: Gibt es einInertialsystem? Wir haben mancherlei über die Natur-gesetze in Erfahrung gebracht – daß sie im Sinne derLorentz-Transformation unveränderlich sind und daßsie in allen gleichförmig gegeneinander bewegten In-ertialsystemen herrschen. Nun haben wir zwar die Ge-setze, wissen aber nicht, auf welches Koordinatenge-rüst wir sie beziehen sollen.

Damit wir die Situation besser überblicken können,wollen wir dem klassischen Physiker noch einige ein-fache Fragen vorlegen:

»Was ist ein Inertialsystem?«»Eines, in dem die Gesetze der Mechanik herr-

schen. Ein Körper, auf den keine äußeren Kräfte ein-wirken, bewegt sich in einem solchen System gleich-förmig. Dadurch unterscheidet sich ein Inertialsystemvon einem anderen.«

»Was bedeutet es aber, wenn wir sagen, daß aufeinen Körper keine äußeren Kräfte einwirken?«

»Eben nichts weiter, als daß der Körper sich ineinem Inertialsystem gleichförmig bewegt.«

Hier könnten wir wieder von vorn anfangen undnoch einmal fragen: »Was ist ein Inertialsystem?« Da

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2.289 Einstein/Infeld-Evolution, 205Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

aber kaum Aussicht besteht, diesmal eine bessere Lö-sung als eben zu finden, wollen wir zusehen, ob unsvielleicht eine Abwandlung der Frage konkretere Auf-schlüsse bringt:

»Ist ein fest mit der Erde verbundenes System einInertialsystem?«

»Nein, die Gesetze der Mechanik gelten ja auf derErde infolge ihrer Rotation nicht unumschränkt. Zwarkönnte ein mit der Sonne fest verbundenes System inbezug auf viele Probleme als Inertialsystem gelten,doch da auch sie rotiert, kommen wir damit ebenso-wenig zum Ziel.«

»Welches ist nun also Ihr Inertialsystem, und inwelchem Bewegungszustand soll es sich befinden?«

»Es ist eine bloße Zweckfiktion, und ich weißnicht, wie es sich realisieren läßt. Nur wenn ich michvon allen materiellen Körpern weit genug entfernenund von allen äußeren Einflüssen frei machen könnte,wäre mein System ein Inertialsystem.«

»Was verstehen Sie unter einem von allen äußerenEinflüssen freien System?«

»Ein Inertialsystem.«Wieder sind wir bei unserer ersten Frage ange-

langt!Diese Unterredung führt uns ein überaus schweres

Dilemma der klassischen Physik vor Augen. Wirhaben Gesetze, wissen jedoch nicht, auf welches Ko-

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2.290 Einstein/Infeld-Evolution, 206Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ordinatengerüst wir sie beziehen sollen; und soscheint unser ganzes physikalisches Gedankengebäu-de auf Sand gebaut zu sein.

Wir können an diese schwierige Frage aber auchnoch von einer anderen Seite herangehen. Versuchenwir, uns einmal vorzustellen, daß es im ganzen Uni-versum nur einen einzigen Körper gäbe. Dieser sollunser System bilden. Das System beginnt zu rotieren.Nach der klassischen Mechanik gelten für einen rotie-renden Körper andere Gesetze als für einen nicht ro-tierenden. Während das Trägheitsprinzip also in demeinen Falle in Kraft ist, soll es im anderen nicht gel-ten. Das hört sich aber überaus fragwürdig an. Wennes im ganzen Universum nur einen einzigen Körpergibt – kann man bei diesem dann überhaupt noch vonBewegung sprechen? Unter Bewegung verstehen wirdoch eigentlich immer eine Lageveränderung in bezugauf einen zweiten Körper. Der gesunde Menschenver-stand sagt einem, daß es bei beziehungslosen Körpernüberhaupt keine Bewegung geben kann. Die klassi-sche Mechanik trägt dem gesunden Menschenverstandaber in diesem Punkt absolut nicht Rechnung. New-ton stellte folgende Überlegung an: Wo das Träg-heitsprinzip Geltung hat, handelt es sich um ein ru-hendes oder gleichförmig bewegtes System, wo dasnicht der Fall ist, dagegen um ein ungleichförmig be-wegtes. Unser Urteil darüber, ob ein Körper ruht oder

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2.291 Einstein/Infeld-Evolution, 206Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sich bewegt, hängt also davon ab, ob in einem festdamit verbundenen System sämtliche physikalischenGesetze gelten oder nicht.

Nehmen wir einmal zwei Körper wie die Sonneund die Erde. Auch hier ist die von uns beobachteteBewegung relativ. Sie läßt sich in der Weise be-schreiben, daß wir unser System mit einem von bei-den verbinden. Es ist das große Verdienst des Koper-nikus, dieses System von der Erde auf die Sonne ver-legt zu haben. Da die Bewegung jedoch relativ ist undeigentlich jedes Bezugssystem zugrunde gelegt wer-den kann, ist aber andererseits auch wieder nicht ein-zusehen, warum überhaupt das eine oder das anderebevorzugt werden sollte.

Hier schaltet sich wieder die Physik als Korrektivder vom gesunden Menschenverstand geleiteten An-sicht ein. Da das mit der Sonne verbundene Systemnämlich noch eher als Inertialsystem bezeichnet wer-den kann als das terrestrische, erscheint es doch wie-der vorteilhaft, sich an das System des Kopernikusund nicht an das Ptolemäische zu halten. Die überra-gende Bedeutung der Kopernikanischen Entdeckungläßt sich nur von der Physik her richtig würdigen;denn für die Beschreibung der Planetenbahnen ist einfest mit der Sonne verbundenes System von Natur ausbedeutend geeigneter.

In der klassischen Physik gibt es keine absolute

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2.292 Einstein/Infeld-Evolution, 207Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gleichförmige Bewegung. Wenn zwei Systeme sichgleichförmig gegeneinander bewegen, dann hat es kei-nen Sinn zu sagen: »Dieses System ruht, und jenesbewegt sich.« Wenn jedoch zwei Systeme ungleich-förmig gegeneinander bewegt werden, dann kann mansehr wohl sagen: »Dieser Körper bewegt sich, undjener ruht (bzw. bewegt sich gleichförmig).« Der Be-griff »absolute Bewegung« bedeutet dann nämlichetwas ganz Bestimmtes. Hier tut sich zwischen demvom gesunden Menschenverstand geleiteten Empfin-den und der klassischen Physik eine tiefe Kluft auf.Die erwähnten Schwierigkeiten, die des Inertialsy-stems und die der absoluten Bewegung, sind auf dasengste miteinander verknüpft; denn eine absolute Be-wegung kann es nur geben, wenn ein Inertialsystemexistiert, für das die Naturgesetze gelten.

Es sieht fast so aus, als gäbe es aus diesem Dilem-ma keinen Ausweg, als käme keine physikalischeTheorie um diesen Widerspruch herum. Den Kern-punkt des Problems bildet der Umstand, daß die Na-turgesetze nur für eine Sonderklasse von Systemen,nämlich für die Inertialsysteme, gelten sollen. Es läßtsich nur dann lösen, wenn es uns gelingt, physikali-sche Gesetze aufzustellen, die für alle Systeme gelten,und zwar nicht nur für die gleichförmig, sondern auchfür die beliebig gegeneinander bewegten. Geht das, sokönnen wir die Naturgesetze auf jedes beliebige Sy-

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2.293 Einstein/Infeld-Evolution, 207Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

stem anwenden, und die Frage, ob das Ptolemäischeoder Kopernikanische Weltbild das richtige sei, umdie in den Anfängen der Naturwissenschaft ein so hef-tiger Streit entbrannte, wäre völlig gegenstandslos ge-worden. Es bliebe sich dann gleich, welches Systemman zugrunde legte, und es wäre reine Formsache, obwir sagen: »Die Sonne ruht, und die Erde bewegtsich« oder »Die Sonne bewegt sich, und die Erderuht.«

Können wir aber wirklich eine für alle Systeme gel-tende relativistische Physik ausarbeiten, eine Physik,in der kein Raum mehr ist für absolute Bewegung, inder es nur noch relative Bewegung gibt? Nun ja, wirkönnen es tatsächlich!

Es gibt zumindest einen Anhalt, wenn auch nureinen sehr dürftigen, dafür, wie wir bei der Ausarbei-tung der neuen Physik vorzugehen haben. Eine wahr-haft relativistische Physik muß auf alle Systeme pas-sen und somit auch auf den Sonderfall des Inertialsy-stems. Für das Inertialsystem kennen wir ja schon dieGesetze, und die neuen, allgemeinen, für alle Systemegeltenden Gesetze müssen sich für den Sonderfall desInertialsystems eben auf jene alten, bereits bekanntenGesetze zurückführen lassen.

Das Problem der Formulierung physikalischer Ge-setze für alle Systeme wurde in der sogenannten all-gemeinen Relativitätstheorie gelöst. Die zuvor be-

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handelte Theorie dagegen, die sich nur auf Inertialsy-steme bezieht, wird als spezielle Relativitätstheoriebezeichnet. Natürlich können die beiden Theorien ein-ander nicht widersprechen, da die alten Gesetze derspeziellen Relativitätstheorie in den allgemeinen Ge-setzen für Inertialsysteme nach wie vor enthalten seinmüssen. Während das Inertialsystem aber bisher daseinzige war, für das es physikalische Gesetze gab,stellt es jetzt nur noch einen speziellen Grenzfall dar,weil die neuen Gesetze für alle beliebig gegeneinan-der bewegten Systeme gelten.

Damit haben wir erst einmal das Programm für dieallgemeine Relativitätstheorie. Wenn wir allerdingsdie Gedankengänge skizzieren wollen, die mit ihrereigentlichen Aufstellung verbunden waren, müssenwir auf Grund der neuen Schwierigkeiten, die sichdem Vordringen der Wissenschaft hier entgegenge-stellt haben, noch mehr als zuvor zu abstrakten Über-legungen unsere Zuflucht nehmen. Es harren unsernoch manche ungeahnte Abenteuer. Unser höchstesZiel bleibt es aber nach wie vor, einen besseren Ein-blick in das Naturgeschehen zu gewinnen. Immer wie-der werden der Kette von logischen Schlüssen, dieTheorie und Beobachtung miteinander verbindet, neueGlieder angefügt, und um alle überflüssigen und ge-waltsamen Annahmen aus dem Weg räumen, Theorieund Experiment auf einen Nenner bringen und ein

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immer größeres Feld von Gesetzmäßigkeiten in unserSystem einbeziehen zu können, müssen wir dieseKette mehr und mehr verlängern.

Je einfacher und elementarer unsere Annahmensind, um so komplizierter wird die mathematische Be-weisführung. Immer länger, schmaler und schwierigerwerden die Pfade, die von der Theorie zur Beobach-tung führen. Es mag paradox klingen, aber man könn-te sagen, daß die moderne Physik im Grunde einfa-cher ist als die alte, daß sie aber gerade deshalbschwieriger und komplizierter erscheinen muß. Jemehr wir unsere Vorstellung von der äußeren Weltvereinfachen und je mehr Gesetzmäßigkeiten wir indieses Bild mit einbeziehen, um so deutlicher wirduns die harmonische Struktur des Alls.

Unser neuer Gedanke ist einfach: Wir wollen einePhysik ausarbeiten, die für alle Systeme gilt. DieseAufgabe bringt formelle Komplikationen mit sich,und wir sehen uns genötigt, zu anderen als den bishergebräuchlichen mathematischen Mitteln zu greifen.Hier wollen wir aber nur darauf eingehen, was im Zu-sammenhang mit der Ausführung unseres Vorhabensüber die beiden Hauptprobleme, Gravitation undGeometrie, zu sagen ist.

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Der Aufzug

Das Trägheitsgesetz bezeichnet den ersten großenFortschritt der Physik, eigentlich sogar ihre Geburts-stunde. Es ergab sich aus der Analyse eines idealisier-ten Experiments mit einem Körper, der sich unaufhör-lich fortbewegt, ohne durch Reibung oder andere äu-ßere Kräfte daran gehindert zu werden. An diesemBeispiel wie an vielen weiteren sahen wir, welchegroße Bedeutung dem idealisierten, rein theoretischenExperiment zukommt. Auch hier wollen wir wiedermit idealisierten Experimenten arbeiten, und wenndiese uns auch seltsam vorkommen mögen, werdensie es uns doch gestatten, von der Relativitätstheoriewenigstens soviel zu verstehen, wie es bei unseremeinfachen Verfahren überhaupt möglich ist.

Weiter oben haben wir mit einer gleichförmig be-wegten Kabine experimentiert. Hier wollen wir sienun zur Abwechslung einmal durch einen fallendenAufzugskasten ersetzen.

Ein großer Aufzugskasten befindet sich im Dachge-schoß eines überdimensionalen Wolkenkratzers.Plötzlich reißt das Seil, und der Aufzug saust frei indie Tiefe. Drinnen befinden sich Beobachter, die wäh-rend des Absturzes experimentieren. Luftwiderstandund Reibung können wir aus dem Spiel lassen, weil

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wir ja idealisierte Verhältnisse zugrunde legen. Einerder Beobachter nimmt ein Taschentuch und eine Uhrheraus und läßt beides los. Was geschieht mit den Ge-genständen? Für einen draußen postierten Beobachter,der durch ein Fenster in den Aufzug hineinsehenkann, fallen Taschentuch und Uhr vollkommengleichmäßig, also mit der gleichen Beschleunigung.Wir erinnern uns, daß die Beschleunigung eines fal-lenden Körpers von seiner Masse völlig unabhängigist. Aus dieser Tatsache ergab sich ja die Äquivalenzvon schwerer und träger Masse (S. 54 f). Wir erinnernuns weiter daran, daß die Äquivalenz von schwererund träger Masse im Rahmen der klassischen Mecha-nik als etwas rein Zufälliges gewertet wurde und ohneEinfluß auf ihre Struktur blieb. Hier allerdings kommtdieser Äquivalenz, die in der gleichen Beschleuni-gung aller fallenden Körper zum Ausdruck kommt,entscheidende Bedeutung zu, bildet sie doch dieGrundlage unseres ganzen Gedankenganges.

Kehren wir wieder zu unseren fallenden Gegenstän-den, dem Taschentuch und der Uhr, zurück. Für denAußenbeobachter fallen sie beide mit gleicher Be-schleunigung. Dasselbe gilt für den Aufzugskastensamt seinen Wänden, seiner Decke und seinem Fuß-boden. Folglich wird sich auch der Abstand der bei-den Gegenstände vom Fußboden nicht ändern. Fürden Innenbeobachter bleiben sie genau dort, wo er sie

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losgelassen hat. Das Schwerefeld kann der Innenbe-obachter ruhig ignorieren, da der Ursprung desselbenaußerhalb seines Systems liegt. Er stellt nur fest, daßim Aufzugskasten keine Kräfte auf die beiden Gegen-stände einwirken. Sie ruhen genauso, als befänden siesich in einem Inertialsystem. Es geht merkwürdig zuin diesem Aufzug! Wenn der Beobachter zum Bei-spiel einem Körper einen Stoß gibt, ganz gleich inwelcher Richtung – sagen wir einmal nach oben oderunten –, so bewegt dieser sich so lange gleichförmigweiter, bis er gegen die Decke bzw. den Fußbodendes Aufzugs stößt; kurz und gut: für den Beobachterin dem Aufzug haben die Gesetze der klassischen Me-chanik Geltung. Alle Körper verhalten sich genauso,wie es nach dem Trägheitsgesetz von ihnen erwartetwird. Unser neues, fest mit dem frei fallenden Aufzugverbundenes System unterscheidet sich von einemvollkommenen Inertialsystem nur in einer Hinsicht: ineinem Inertialsystem behält ein gleichförmig bewegterKörper, auf den keine Kräfte einwirken, nämlich ewigdiesen Zustand bei; denn das Inertialsystem der klas-sischen Physik hat weder räumliche noch zeitlicheGrenzen, und das ist nun eben bei unserem Beobach-ter in dem Aufzug nicht der Fall. Den Trägheitser-scheinungen seines Systems sind vielmehr räumlicheund zeitliche Grenzen gesetzt. Früher oder später wirdein darin gleichförmig bewegter Körper gegen die

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Aufzugswände stoßen, womit dann die gleichförmigeBewegung ihr Ende findet; und schließlich wird jaauch der ganze Aufzug früher oder später auf die Erdeaufschlagen, und dann bleibt von den Beobachternund ihren Experimenten überhaupt nichts mehr übrig.Das Aufzugssystem ist also nur eine »Taschenausga-be« eines echten Inertialsystems.

Der räumlich begrenzte Charakter des Systems istandererseits aber auch wieder eine Vorbedingung fürunser Experiment. Wenn der Aufzug nämlich so breitwäre, daß er vom Nordpol bis zum Äquator reichte,und wenn das Taschentuch über dem Nordpol, dieUhr dagegen über dem Äquator losgelassen würde,dann hätten die beiden Gegenstände für den Außen-beobachter keineswegs die gleiche Beschleunigungund würden daher nicht relativ zueinander ruhen.Damit wäre aber unsere ganze Überlegung über denHaufen geworfen. Die Abmessungen des Aufzugska-stens müssen also in der Weise begrenzt sein, daß alleKörper darin relativ zum Außenbeobachter praktischdie gleiche Beschleunigung haben.

Mit dieser Einschränkung ist das System für denInnenbeobachter ein Inertialsystem. So bekommen wirdoch wenigstens ungefähr eine Vorstellung von einemSystem, auf das alle physikalischen Gesetze zutreffen,wenn es auch zeitlich und räumlich begrenzt ist. Den-ken wir uns nun noch ein weiteres System, einen

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zweiten, relativ zu dem frei fallenden Kasten gleich-förmig bewegten Aufzug hinzu, dann haben wir zweiSysteme, die beide im Rahmen ihrer räumlichen Be-grenzung Inertialsysteme sind. In beiden herrschendurchweg die gleichen Gesetze, und die Umrech-nungsformel für den Übergang von einem in das an-dere wird durch die Lorentz-Transformation geliefert.

Überlegen wir uns einmal, wie die beiden Beob-achter, der draußen und der drinnen, die Vorgänge imAufzugskasten schildern würden.

Der Außenbeobachter konstatiert die Bewegungdes Aufzugskastens und aller darin befindlichen Ge-genstände und bemerkt, daß diese Bewegung demNewtonschen Gravitationsgesetz unterliegt. Für ihnist die Bewegung nicht gleichförmig, sondern be-schleunigt, was er dem Schwerefeld der Erde zu-schreibt.

Eine Generation von Physikern, die in dem Auf-zugskasten geboren und groß geworden wären, würdejedoch zu ganz anderen Resultaten gelangen. DieseLeute müßten glauben, sie lebten in einem Inertialsy-stem, und sie würden daher alle Naturgesetze aufihren Aufzugskasten beziehen und mit Recht sagen,daß diese in ihrem System eine besonders einfacheForm annehmen. Es wäre nur natürlich, wenn sie dar-aus schlössen, daß ihr Aufzug ruhe und ihr Systemein Inertialsystem sei.

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Um diese Diskrepanz zwischen den Feststellungender beiden Beobachter innerhalb und außerhalb desAufzugs kommen wir nicht herum. Jeder bezieht alleVorgänge mit vollem Recht auf sein eigenes System,und beide Darstellungen lassen sich so abfassen, daßdie eine so folgerichtig erscheint wie die andere.

Dieses Beispiel lehrt, daß es durchaus möglich ist,physikalische Phänomene auf zwei verschiedene Sy-steme zu beziehen und trotzdem konsequent zu be-schreiben, selbst wenn die Systeme nicht gleichförmiggegeneinander bewegt werden. Dazu müssen wir al-lerdings als eine Art Brücke zwischen den beiden Sy-stemen die Massenanziehung in Anspruch nehmen.Das Schwerefeld existiert nur für den Außenbeobach-ter, für den Insassen des Aufzugs dagegen nicht. DerAußenbeobachter konstatiert eine beschleunigte Be-wegung des Aufzugskastens, die er dem Schwerefeldzuschreibt, während der drinnen seinen Aufzug für ru-hend hält und von einem Schwerefeld nichts weiß.Der Hauptpfeiler dieser »Brücke« aber, die uns eineBeschreibung der Vorgänge von beiden Systemen ausgestattet, ist die so hochbedeutsame Tatsache derÄquivalenz von schwerer und träger Masse. Ohnediese Erkenntnis, die der klassischen Mechanik nochfehlte, würde unsere Überlegung zu gar nichts führen.

Auch über diesen Punkt wollen wir uns an Handeines idealisierten Experiments Klarheit verschaffen.

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Wir denken uns ein Inertialsystem, in dem das Träg-heitsgesetz unumschränkte Geltung hat. Wir habenbereits geschildert, was sich in einem Aufzug ab-spielt, der in einem solchen Inertialsystem ruht. Jetztändern wir aber die Versuchsanordnung: Jemand be-festigt draußen ein Seil und zieht den Kasten mitgleichbleibender Kraft in der aus der Skizze ersichtli-chen Richtung fort. Wie er das macht, tut nichts zurSache. Da in diesem System die Gesetze der Mecha-nik gelten, wird der Aufzug in der Bewegungsrich-tung stetig beschleunigt. Wieder wollen wir zusehen,was die beiden Beobachter zu den Vorgängen sagen,die sie in dem Aufzug beobachten.

Fig. 64

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Außenbeobachter: Mein System ist ein Inertialsy-stem. Der Aufzug bewegt sich mit konstanter Be-schleunigung, da eine gleichbleibende Kraft auf ihneinwirkt. Die Beobachter drinnen nehmen an einer ab-soluten Bewegung teil, so daß die Gesetze der Mecha-nik für sie keine Geltung haben. Sie sind nicht derMeinung, daß Körper, auf die keine Kräfte einwirken,sich im Ruhezustand befinden. Wenn man einen Kör-per losläßt, stößt er gleich mit dem Fußboden desAufzugs zusammen, da dieser sich nach oben, auf denKörper zu, bewegt. Dieser Vorgang spielt sich immerin genau der gleichen Weise ab, ob man nun bei-spielsweise eine Uhr oder ein Taschentuch nimmt. Eskommt mir sehr merkwürdig vor, daß der Beobachterdrinnen immer am »Fußboden« haftenbleibt; dennsowie er hochspringt, hat ihn der Fußboden auchschon wieder eingeholt.

Innenbeobachter: Ich habe keinen Grund zu derAnnahme, daß mein Aufzug sich im Zustande der ab-soluten Bewegung befindet. Ich gebe zu, daß meinSystem, das ja mit dem Aufzug fest verbunden ist,nicht als Inertialsystem bezeichnet werden kann, dochwüßte ich nicht, was auf eine absolute Bewegung hin-deuten sollte. Uhr, Taschentuch und alle sonstigenGegenstände fallen zu Boden, weil der ganze Aufzugsich in einem Schwerefeld befindet. Ich kann bei mirgenau die gleichen Bewegungsarten beobachten, die

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der Erdbewohner kennt. Er deutet sie sehr einfach,indem er sie einem Schwerefeld zuschreibt, und beimir ist es eben genauso.

Beide Darstellungen, die des Außen- wie die desInnenbeobachters, sind in ihrer Art absolut folgerich-tig, und wir haben keine Möglichkeit zu entscheiden,welche die richtige ist. Es bleibt sich auch gleich,wovon wir bei der Beschreibung der Vorgänge imAufzug ausgehen wollen, von der ungleichförmigenBewegung ohne Schwerefeld, die der Außenbeobach-ter konstatiert hat, oder vom Ruhezustand im Schwe-refeld, von der der Innenbeobachter spricht.

Nun glaubt der Außenbeobachter zwar, der Aufzugbefände sich im Zustande der »absoluten« ungleich-förmigen Bewegung, doch kann man eine Bewegung,die durch die Annahme eines wirkenden Schwerefel-des annulliert wird, andererseits wohl kaum als abso-lut ansehen.

Vielleicht gibt es doch einen Ausweg aus der durchdiese beiden verschiedenen Auffassungen entstande-nen Zwiespältigkeit. Vielleicht finden wir noch einenAnhaltspunkt, der uns Aufschluß darüber gibt, welcheAuslegung wir gelten lassen sollen. Denken wir unsjetzt einmal einen Lichtstrahl, der durch ein Seitenfen-ster waagerecht in den Aufzug einfällt und natürlichnach einem sehr kurzen Moment schon die gegen-überliegende Wand erreicht.

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Fig. 65

Wieder müssen unsere Beobachter mittun und unssagen, welchen Verlauf der Lichtstrahl ihrer Meinungnach nehmen wird.

Der Außenbeobachter, der davon überzeugt ist,daß der Aufzug sich beschleunigt bewegt, würdesagen: Der Lichtstrahl geht durch das Fenster hineinund bewegt sich geradlinig, mit konstanter Geschwin-digkeit, auf die gegenüberliegende Wand zu. Da derAufzug jedoch steigt, verändert er während der Zeit,die der Lichtstrahl braucht, um die Wand zu errei-chen, seine Lage. Folglich wird der Lichtstrahl dieWand an einer Stelle treffen, die dem Einfallspunktnicht genau gegenüber, sondern ein wenig tiefer liegt.Die Verschiebung wird sehr gering sein, doch ist siejedenfalls da, und der Lichtstrahl bewegt sich somit

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relativ zum Aufzug nicht geradlinig, sondern be-schreibt eine leicht gekrümmte Linie. Wie groß dieseAbweichung von der Geraden ist, hängt von dem Wegab, den der Aufzug während der Zeit zurücklegt, dieder Lichtstrahl zur Durchquerung des Kastensbraucht.

Der Innenbeobachter, der in dem Glauben lebt, aufalle Gegenstände im Aufzug wirke ein Schwerefeldein, würde folgendes vorbringen: Von einer beschleu-nigten Bewegung des Aufzugs kann nicht die Redesein. Ich nehme vielmehr an, daß er sich in einemSchwerefeld befindet. Lichtstrahlen sind schwerelosund werden daher von Schwerefeldern nicht beein-flußt. Wenn der Strahl horizontal ankommt, wird erdie Wand in einem Punkt treffen, der dem Einfalls-punkt genau gegenüberliegt.

Nach dem Gesagten hat es den Anschein, als müßteder Streitfall sich entscheiden lassen, da der Versuch,je nachdem, ob es sich um eine beschleunigte Bewe-gung ohne Schwerefeld oder um ein Ruhen im Schwe-refeld handelt, anders ausfallen würde. Können wir je-doch keinem der beiden Beobachter einen Denkfehlernachweisen, wären wir genötigt, von unserem vorhindargelegten Standpunkt abzugehen, und wir könnteneben doch nicht alle Vorgänge auf zwei verschiedeneArten – einmal mit und einmal ohne Schwerefeld undbeide Male folgerichtig – beschreiben.

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Zum Glück ist dem Insassen des Aufzugs einschwerer Fehler unterlaufen, so daß wir doch bei un-serer Feststellung von vorhin bleiben können. Ersagte nämlich: »Ein Lichtstrahl ist schwerelos undwird somit vom Schwerefeld nicht beeinflußt.« Daskann aber nicht stimmen; denn ein Lichtstrahl besitztEnergie, und Energie besitzt Masse. Auch die trägeMasse wird aber vom Schwerefeld angezogen, daträge und schwere Masse ja gleichwertig ist. EinLichtstrahl muß im Schwerefeld also genauso von sei-ner geradlinigen Bahn abgelenkt werden wie ein Kör-per, der mit Lichtgeschwindigkeit eine waagerechteBahn beschreibt. Wenn der Insasse des Aufzugs sei-nen Irrtum richtigstellt und die Ablenkung der Licht-strahlen im Schwerefeld berücksichtigt, kommt er zugenau den gleichen Resultaten wie der Außenbeo-bachter.

Das Schwerefeld der Erde ist natürlich zu schwach,als daß man die Ablenkung der Lichtstrahlen darin di-rekt durch das Experiment nachweisen könnte. Dieberühmten Beobachtungen jedoch, die man bei ver-schiedenen Sonnenfinsternissen angestellt hat, erwie-sen eindeutig, wenn auch auf indirektem Wege, daßdie Lichtstrahlen tatsächlich von Schwerefeldern be-einflußt werden.

Diese Beispiele erfüllen uns mit neuer Zuversicht.Es muß uns doch noch gelingen, eine relativistische

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2.308 Einstein/Infeld-Evolution, 216Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Physik auszuarbeiten. Vorerst haben wir uns aller-dings gründlich mit dem Problem der Massenanzie-hung auseinanderzusetzen.

An dem Beispiel mit dem Aufzug haben wir gese-hen, daß beide Darstellungen folgerichtig sind. Es istganz gleich, ob wir eine ungleichförmige Bewegungvoraussetzen oder nicht. Wenn wir ein Schwerefeldannehmen, brauchen wir keine »absolute« Bewegungmehr. Dann hat aber auch die ungleichförmige Bewe-gung nichts Absolutes mehr an sich. Wenn wir dasSchwerefeld haben, können wir die ungleichförmigeBewegung vollkommen fallenlassen.

Wir wollen die Trugbilder »absolute Bewegung«und »Inertialsystem« nunmehr endgültig aus der Phy-sik verbannen und an die Ausarbeitung einer neuenrelativistischen Physik gehen. Unsere idealisierten Ex-perimente zeigen, wie eng das Problem der allgemei-nen Relativitätstheorie mit dem der Massenanziehungzusammenhängt und warum die Äquivalenz vonschwerer und träger Masse für dieses Verhältnis vonso grundlegender Bedeutung ist. Es versteht sich, daßdie in der allgemeinen Relativitätstheorie enthalteneLösung des Schwerkraftproblems von der Newton-schen abweichen muß. Auch die Gesetze der Massen-anziehung werden wir wie alle anderen Naturgesetzeso zu formulieren haben, daß sie für alle denkbarenSysteme Geltung haben, während die Gesetze der

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klassischen Mechanik Newtonscher Prägung nur aufInertialsysteme anwendbar sind.

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Geometrische Experimente

Unser nächstes Beispiel ist noch phantastischer alsdas mit dem fallenden Aufzug. Wir müssen an einneues Problem herangehen, an die Verknüpfung derallgemeinen Relativitätstheorie mit der Geometrie.Beginnen wir mit der Schilderung einer Welt, in dernur zweidimensionale – und nicht, wie in der unsri-gen, dreidimensionale – Wesen leben. Das Kino hatuns an den Anblick zweidimensionaler Wesen ge-wöhnt, die auf einer zweidimensionalen Leinwandagieren. Jetzt stellen wir uns vor, daß diese Schatten-gestalten, also die Schauspieler auf der Leinwand,wirklich existieren, daß sie denken und eine eigeneWissenschaft ausbilden können und daß die zweidi-mensionale Leinwand für sie ein geometrischer Raumist. Diese Wesen sind nicht in der Lage, sich einendreidimensionalen Raum plastisch vorzustellen, wiewir uns ja auch kein Bild von einer vierdimensionalenWelt machen können. Sie sind imstande, eine Geradezu biegen, sie wissen, was ein Kreis ist, aber sie kön-nen keine Kugel konstruieren, weil sie dazu aus ihrerzweidimensionalen Leinwand heraustreten müßten.Wir sind in einer ähnlichen Lage. Wir können Linienund Flächen biegen und krümmen, aber einen geboge-nen und gekrümmten dreidimensionalen Raum kön-

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nen wir uns kaum ausmalen.Wenn unsere Schattengestalten nun wirklich leben,

denken und existieren, so können sie sich schließlicheine Kenntnis der zweidimensionalen euklidischenGeometrie aneignen. Damit könnten sie zum Beispielbeweisen, daß die Winkelsumme im Dreieck 180Grad beträgt. Sie könnten ferner zwei Kreise mit ge-meinsamem Mittelpunkt konstruieren, einen sehr klei-nen und einen großen, und sie würden dann feststel-len, daß das Verhältnis der Umfänge zweier solcherKreise gleich dem Verhältnis ihrer Radien ist – einErgebnis, das wiederum für die euklidische Geometriecharakteristisch ist. Wenn die Leinwand unendlichgroß wäre, würden diese Schattengestalten schließlicherkennen, daß sie niemals zu ihrem Ausgangspunktzurückkehren könnten, wenn sie sich geradlinig fort-bewegten.

Denken wir uns diese zweidimensionalen Wesennun einmal in veränderte Verhältnisse versetzt. Stel-len wir uns vor, daß jemand sie von außen, von der»dritten Dimension« her, von der Leinwand herunter-nimmt und auf die Oberfläche einer Kugel mit sehrgroßem Radius setzt. Wenn die Schattengestalten imVerhältnis zu der ganzen Oberfläche sehr klein sind,wenn sie kein Fernverkehrsmittel haben und sichnicht sehr weit fortbewegen können, so werden sievon der Veränderung überhaupt nichts merken. Die

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2.312 Einstein/Infeld-Evolution, 217Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Winkelsumme in kleinen Dreiecken beträgt nach wievor 180 Grad. Zwei kleine Kreise mit gemeinsamemMittelpunkt weisen noch immer ein gleiches Verhält-nis der Radien zu den Umfängen auf, und eine gerad-linige Fortbewegung führt sie niemals zu ihrem Aus-gangspunkt zurück.

Nun sollen diese Schattenwesen aber im Laufe derZeit ihr theoretisches und technisches Wissen vervoll-kommnen. Nehmen wir an, sie entwickeln ein Ver-kehrsmittel, das sie in den Stand setzt, rasch großeEntfernungen zurückzulegen. Sie werden dann fest-stellen, daß sie schließlich doch einmal zu ihrem Aus-gangspunkt zurückkehren, wenn sie sich geradlinigfortbewegen. »Geradlinig« heißt: entlang des größtenKreises der Kugel. Sie werden ferner erkennen, daßdas Verhältnis zweier Kreise mit gemeinsamem Mit-telpunkt nicht gleich dem Verhältnis der Radien ist,sofern der eine Radius klein und der andere groß ist.

Wenn unsere zweidimensionalen Geschöpfe kon-servativ sind, wenn sie seit Generationen – seit derZeit, da sie noch nicht weit reisen konnten und dadiese Geometrie noch mit den beobachteten Tatsachenübereinstimmte – im Sinne der euklidischen Geome-trie zu denken gelernt haben, dann werden sie be-stimmt alles tun, was in ihrer Macht steht, um trotzihrer Meßergebnisse daran festzuhalten. Sie könnenversuchen, diese Unstimmigkeiten auf die Physik ab-

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zuwälzen, könnten irgendwelche physikalischen Ursa-chen, sagen wir Temperaturunterschiede, heranziehenund sagen, diese führten zu einer Deformation der Li-nien und zu Abweichungen von der euklidischen Geo-metrie. Früher oder später werden sie aber doch fest-stellen müssen, daß man diese Dinge auf andere Artund Weise viel logischer und einleuchtender erklärenkann. Sie werden schließlich erkennen, daß ihre Weltdurchaus endlich, aber nach anderen geometrischenPrinzipien als denen gebaut ist, die man sie gelehrthat. Sie werden sie als zweidimensionale Kugelflächeverstehen lernen, wenn sie sich das auch nicht pla-stisch vorstellen können. Bald werden sie mit neuengeometrischen Prinzipien bekannt, die zwar von ande-rer Art sind als die euklidischen, dabei aber doch ge-nauso folgerichtig und logisch wie diese auf die Ver-hältnisse in ihrer zweidimensionalen Welt zugeschnit-ten werden können. Eine neue Generation, der mangleich von vornherein die sphärische Geometrie bei-bringt, wird die alte euklidische kompliziert und un-natürlich finden, da sie sich ja nicht mit den beobach-teten Tatsachen verträgt.

Nun aber zurück zu den dreidimensionalen Wesenin unserer Welt.

Was heißt es, wenn wir sagen, unser dreidimensio-naler Raum sei ein euklidischer? Nun, nichts weiter,als daß alle logisch einwandfrei bewiesenen Sätze der

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euklidischen Geometrie sich durch das praktische Ex-periment erhärten lassen müssen. Aus starren Körpernoder Lichtstrahlen können wir Objekte konstruieren,die den idealisierten Figuren der euklidischen Geome-trie gleichen. So entspricht die Kante eines Lineals,entspricht ein Lichtstrahl der Geraden, beträgt dieWinkelsumme eines aus dünnen, festen Stäben gebau-ten Dreiecks 180 Grad und ist das Verhältnis der Ra-dien zweier aus dünnem, nicht biegsamem Draht her-gestellter Kreise mit gemeinsamem Mittelpunkt gleichdem Verhältnis ihrer Umfänge. So gesehen, wird dieeuklidische Geometrie zu einem allerdings sehr sim-plen Sachgebiet der Physik.

Wir können uns aber auch vorstellen, daß sich indieser Beziehung Diskrepanzen zeigen, zum Beispiel,daß die Winkelsumme in einem großen Dreieck ausStäben, die bisher aus verschiedenen Gründen fürstarr gehalten wurden, nicht mehr 180 Grad beträgt.Da die konkrete Darstellung von Figuren der euklidi-schen Geometrie aus festen Körpern uns mittlerweileschon zur Selbstverständlichkeit geworden ist, werdenwir vielleicht nach irgendeiner physikalischen Kraftforschen, der man derartige unvorhergesehene Unre-gelmäßigkeiten zuschreiben könnte. Wir werden wei-ters die physikalischen Gesetze, denen diese Kraft un-terworfen ist, und ihren Einfluß auf andere Vorgängezu ergründen suchen. Vielleicht könnten wir sagen,

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um die euklidische Geometrie zu retten, die Objekteseien nicht wirklich starr und entsprächen somit nichtgenau den Begriffen der euklidischen Geometrie. Wirkönnten auch zusehen, ob wir nicht vielleicht geeigne-tere Gegenstände finden, deren Verhalten sich ganzund gar mit den Forderungen der euklidischen Geo-metrie vereinbaren läßt. Sollte es uns allerdings auchdann nicht gelingen, euklidische Geometrie und Phy-sik zu einem einfachen, harmonischen Ganzen zu ver-schmelzen, dann müßten wir den Gedanken, daßunser Raum euklidisch sei, eben aufgeben und uns umein einleuchtenderes Weltbild bemühen, das im Hin-blick auf den geometrischen Charakter des Raumesauf allgemeineren Annahmen beruht. Daß wir umdiese Maßnahme nicht herumkommen, läßt sich aneinem idealisierten Experiment klarmachen, aus demsich einwandfrei ergibt, daß eine wahrhaft relativisti-sche Physik nicht auf der euklidischen Geometrie auf-gebaut werden kann. Wir wollen in unseren Gedan-kengang all das einbeziehen, was wir bereits über In-ertialsysteme und die spezielle Relativitätstheorie inErfahrung gebracht haben.

Denken wir uns eine große Scheibe, auf der zweiKreise mit gemeinsamem Mittelpunkt, ein sehr klei-ner und ein sehr großer, eingezeichnet sind. DieScheibe rotiert schnell, und zwar relativ zu einem vonihr unabhängigen Beobachter.

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Fig. 66

Ein zweiter Beobachter soll sich auf der Scheibeselbst befinden. Weiter wollen wir annehmen, daß dasSystem des Außenbeobachters ein Inertialsystem sei.Der Außenbeobachter zeichnet nun in sein Inertialsy-stem ebenfalls zwei Kreise ein, einen großen und aucheinen kleinen, die sich mit den beiden anderen voll-kommen decken, jedoch in seinem System ruhen. Inseinem System, das ja ein Inertialsystem ist, gilt dieeuklidische Geometrie unumschränkt, und so wird erfeststellen, daß das Verhältnis der Umfänge gleichdem der Radien ist. Aber zu welchem Ergebnis ge-langt nun der Beobachter auf der Scheibe? Im Sinneder klassischen Physik und auch der speziellen Relati-vitätstheorie ist sein System »tabu«. Wollen wir die

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2.317 Einstein/Infeld-Evolution, 220Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

physikalischen Gesetze jedoch so umarbeiten, daß siefür alle denkbaren Systeme gelten, dann müssen wirden Beobachter auf der Scheibe genauso ernst nehmenwie den in dem Inertialsystem. Sehen wir uns einmalvon außen an, wie der Beobachter auf der Scheibe dieUmfänge und Radien der Kreise auf der rotierendenScheibe mißt. Er benutzt denselben kleinen Maßstabwie der Außenbeobachter, das heißt, er läßt sich vondem Außenbeobachter dessen Stab herüberreichenoder nimmt zumindest einen von zwei Stäben, diegenau gleich lang sind, wenn sie in ein und demselbenSystem ruhen.

Wenn der Innenbeobachter nun darangeht, zu-nächst Radius und Umfang des kleinen Kreises zumessen, so muß er dasselbe herausbekommen wie derAußenbeobachter; denn die Rotationsachse der Schei-be geht durch ihren Mittelpunkt, und die in der Nähedes Mittelpunktes gelegenen Teile der Scheibe drehensich daher sehr langsam. Wenn der Kreis nur kleingenug ist, können wir ohne weiteres mit der klassi-schen Mechanik arbeiten und die spezielle Relativi-tätstheorie einstweilen noch aus dem Spiel lassen. Dader Stab also in diesem Falle für den Außenbeobach-ter genauso lang ist wie für den Innenbeobachter, wer-den beide zu dem gleichen Meßergebnis gelangen.Nun will der Beobachter auf der Scheibe den Radiusdes großen Kreises messen. Wenn der Stab an den

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2.318 Einstein/Infeld-Evolution, 221Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Radius gelegt wird, bewegt er sich für den Außenbeo-bachter. Er zieht sich allerdings nicht zusammen undwird daher beiden Beobachtern gleich lang erschei-nen; denn die Bewegung verläuft ja senkrecht zu sei-ner Längserstreckung. Drei Messungen fallen also beibeiden Beobachtern gleich aus: die der beiden Radienund die des kleinen Kreisumfanges. Bei der viertenMessung sieht die Sache allerdings anders aus; dennder große Kreisumfang hat für jeden der beiden Beob-achter eine andere Länge. Wird der Stab auf den äu-ßeren Kreis gelegt, so zeigt er in die Bewegungsrich-tung und erscheint dem Außenbeobachter somit imVergleich zu seinem ruhenden Stab verkürzt. Dies istdarauf zurückzuführen, daß die Geschwindigkeitaußen natürlich bedeutend größer ist als im Bereichdes Innenkreises, so daß die Kontraktion hier berück-sichtigt werden muß. Wenn wir also die Erkenntnissein unseren Gedankengang einbauen, die wir der spezi-ellen Relativitätstheorie zu verdanken haben, so kom-men wir zu dem Schluß, daß die beiden Beobachterfür die Länge des großen Kreisumfanges verschiedeneWerte finden müssen. Wenn aber auch nur eine einzi-ge der vier Längenbestimmungen bei einem der bei-den Beobachter anders ausfällt, kann das Verhältnisder beiden Radien für den Innenbeobachter nicht, wiefür den äußeren, gleich dem der Umfänge sein. Dasheißt aber, daß der Beobachter auf der Scheibe die

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2.319 Einstein/Infeld-Evolution, 221Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Sätze der euklidischen Geometrie in seinem Systemnicht bestätigt findet.

In dieser Situation könnte der Innenbeobachtersagen, daß er sich mit Systemen, in denen die euklidi-sche Geometrie keine Geltung hat, gar nicht abzuge-ben gedenke. An dem Versagen der euklidischen Geo-metrie sei die absolute Rotationsbewegung der Schei-be schuld, die sein System zu einem »schlechten« undunzulässigen mache. Diese Auffassung verträgt sichnun allerdings wieder nicht mit dem Grundgedankender allgemeinen Relativitätstheorie. Wollen wir aberandererseits die absolute Bewegung ablehnen und andem Gedanken der allgemeinen Relativitätstheoriefesthalten, dann muß die Physik auf einer allgemeine-ren als der euklidischen Geometrie aufgebaut werden.Wenn wirklich alle Systeme gleichwertig sein sollen,können wir uns dieser Konsequenz nicht entziehen.

Nun bleiben die von der allgemeinen Relativitäts-theorie geforderten Abänderungen aber keineswegsauf das Räumliche beschränkt. Im Rahmen der spezi-ellen Relativitätstheorie haben wir noch mit Uhren ge-arbeitet, die in ihrem jeweiligen System ruhten, gleichschnell gingen und synchronisiert waren, das heißt imgleichen Augenblick alle dieselbe Zeit anzeigten. Wasgeschieht nun aber in anderen als den Inertialsystemenmit den Uhren? Wieder kommen wir auf das ideali-sierte Experiment mit der Scheibe zurück. Der Au-

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2.320 Einstein/Infeld-Evolution, 222Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ßenbeobachter hat in seinem Inertialsystem idealeUhren, die alle gleich schnell gehen und synchroni-siert sind. Der Innenbeobachter nimmt nun zweiUhren der gleichen Art und legt eine davon auf denkleinen inneren und die andere auf den großen äuße-ren Kreis. Die Uhr auf dem Innenkreis bewegt sich re-lativ zum Außenbeobachter sehr langsam, so daß wirohne weiteres sagen können, sie ginge genausoschnell wie die Uhren außerhalb der Scheibe. Die aufdem großen Kreis entwickelt jedoch eine beträchtlicheGeschwindigkeit und wird demgemäß anders gehenals die des Außenbeobachters und auch als die aufdem kleinen Kreis. Die beiden rotierenden Uhrengehen also verschieden schnell, und wir sehen, daßwir bei Berücksichtigung der Errungenschaften derspeziellen Relativitätstheorie in unserem rotierendenSystem nichts nach dem Muster des Inertialsystemseinrichten können.

Um darüber ins klare zu kommen, welche Schlüssesich aus diesem und den zuvor geschilderten ideali-sierten Experimenten ziehen lassen, wollen wir nocheinmal den alten Physiker, A, der noch auf demBoden der klassischen Physik steht, mit dem moder-nen, M, sprechen lassen, der bereits die allgemeineRelativitätstheorie kennt. A ist gleichzeitig der Au-ßenbeobachter in dem Inertialsystem, während M sichauf der rotierenden Scheibe befindet.

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A: In Ihrem System hat die euklidische Geometriekeine Geltung. Ich habe Ihre Messungen mit angese-hen und gebe zu, daß das Verhältnis der beiden Um-fänge in Ihrem System nicht gleich dem der beidenRadien ist. Daraus folgt aber nur, daß man Ihr Systemnicht als Bezugssystem wählen darf. Mein System da-gegen ist ein Inertialsystem, und so kann ich ohneweiteres mit der euklidischen Geometrie arbeiten. IhreScheibe befindet sich im Zustand der absoluten Bewe-gung und stellt somit im Sinne der klassischen Physikein unstatthaftes System dar, auf das die Gesetze derMechanik nicht zutreffen.

M: Von absoluter Bewegung will ich nichts wis-sen. Mein System ist genauso »gut« wie Ihres. Ichhabe meinerseits nämlich das Empfinden gehabt, alshätten Sie sich relativ zu meiner Scheibe gedreht. Nie-mand kann mich daran hindern, alle Bewegungen aufmeine Scheibe zu beziehen.

A: Haben Sie denn gar nicht gespürt, wie Sie stän-dig von einer eigentümlichen Kraft vom MittelpunktIhrer Scheibe weggezogen worden sind? Wenn IhreScheibe nicht den Charakter eines rasch herumwir-belnden Karussells hätte, dann hätten Sie sicherlichauch nicht die beiden besagten Dinge beobachtenkönnen; weder die Kraft, die Sie nach außen drängte,noch den Umstand, daß die euklidische Geometriesich auf Ihr System nicht anwenden läßt. Reicht das

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2.322 Einstein/Infeld-Evolution, 223Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

nicht aus, um Sie zu überzeugen, daß Ihr System sichabsolut bewegt?

M: Keineswegs! Freilich habe ich die beiden Dingebemerkt, von denen Sie sprechen, doch schreibe ichsie einem eigenartigen Schwerefeld zu, das auf meineScheibe einwirkt. Das Schwerefeld, das gegen den äu-ßeren Rand meiner Scheibe gerichtet ist, deformiertmeine festen Stäbe und ändert den Gang meinerUhren. Schwerefeld, nichteuklidische Geometrie, ver-schieden gehende Uhren – alles das hängt für micheng zusammen. Wenn ich alle Systeme als gleichwer-tig ansehe, dann muß ich zur gleichen Zeit ein ent-sprechendes Schwerefeld samt seinen Auswirkungenauf feste Stäbe und Uhren postulieren.

A: Sind Sie sich aber auch über die Schwierigkei-ten im klaren, die sich aus Ihrer allgemeinen Relativi-tätstheorie ergeben? Ich werde Ihnen an einem einfa-chen, nichtphysikalischen Beispiel zeigen, was ichmeine. Denken wir uns eine idealisierte amerikanischeStadt mit parallelen Hauptstraßen und rechtwinkligdazu verlaufenden, ebenfalls parallelen Nebenstraßen.Alle Haupt- und Nebenstraßen sind in regelmäßigenAbständen angeordnet. Unter dieser Voraussetzungmüssen alle Häuserblocks genau gleich groß sein, undich kann somit ohne weiteres die Lage jedes beliebi-gen Blocks angeben. Eine solche Konstruktion wäreohne euklidische Geometrie undenkbar. Unsere Erde

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2.323 Einstein/Infeld-Evolution, 224Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

können wir zum Beispiel nicht mit einem derartigenGitter überziehen, worüber uns ein einziger Blick aufden Globus belehrt. Aber auch auf Ihrer Scheibe gehtdas nicht. Sie geben an, Ihre Stäbe würden durch dasSchwerefeld deformiert. Die Tatsache, daß es Ihnennicht gelungen ist, das euklidische Theorem von derGleichheit der Verhältnisbeziehungen der Radien undUmfänge zu bestätigen, zeigt deutlich, daß Sie beidem Versuch, größere Gebiete Ihrer Scheibe miteinem regelmäßigen Netz zu überziehen, früher oderspäter auf Schwierigkeiten stoßen und feststellenmüssen, daß Sie damit nicht zu Rande kommen. DieGeometrie Ihrer rotierenden Scheibe ähnelt derjenigeneiner gekrümmten Fläche, auf der man ja natürlichauch nichts mit einem Netz der geschilderten Art an-fangen kann, wenn man es über einen entsprechendgroßen Teil derselben ausdehnen will. Nun noch einmehr physikalisches Beispiel: Auf eine unregelmäßigerwärmte Ebene soll ein aus kleinen Eisenstäben (diesich ja bekanntlich bei Erwärmung ausdehnen) beste-hendes regelmäßiges Gitter aufgelegt werden, wie esin Figur 67 dargestellt ist. Geht das? Natürlich nicht!Hier bereiten uns die Temperaturdifferenzen die glei-chen Schwierigkeiten, an denen bei Ihren Stäben das»Schwerefeld«, wie Sie es nennen, schuld sein soll.

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2.324 Einstein/Infeld-Evolution, 224Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Fig. 67

M: Das alles stört mich aber nicht besonders. DasNetz wird für die Lagebestimmung von Punkten ge-braucht, wie man mit der Uhr die Reihenfolge von Er-eignissen festlegt. Es braucht aber gar nicht nach demMuster einer amerikanischen Stadt angelegt zu sein,es geht auch mit dem Straßennetz einer alteuropäi-schen, um bei unserem Vergleich zu bleiben. StellenSie sich Ihr idealisiertes Straßennetz nur einmal inPlastilin geformt vor, und nehmen Sie an, dieses Ge-bilde würde deformiert. Auch dann kann ich abernoch die Blocks abzählen und die Haupt- und Neben-straßen erkennen, nur sind sie nicht mehr geradlinigund nicht mehr in regelmäßigen Abständen angeord-net. Genauso kann man auf unserer Erdkugel die Lagevon Punkten nach ihrer geographischen Länge und

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2.325 Einstein/Infeld-Evolution, 225Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Breite angeben, obwohl wir kein Gitter nach Art desamerikanischen Straßennetzes dazu verwenden.

Fig. 68

A: Ich sehe aber immer noch eine Schwierigkeit.Sie sind genötigt, mit Ihrem »europäischen Stadt-plan« zu arbeiten. Ich gebe zu, daß Sie damit Punkteoder Ereignisse schematisieren können, doch werdenSie auf diese Weise sämtliche Entfernungsmessungenüber den Haufen werfen. Ihre Anlage läßt nämlich imGegensatz zu der meinen keine Schlüsse auf die me-trischen Eigenschaften des Raumes zu. Ein Beispiel:In meiner amerikanischen Stadt weiß ich, daß ichzehn Blocks weit zu gehen habe, wenn ich das Dop-pelte der Gesamtlänge von fünf Blocks zurücklegenwill. Ich weiß ja, daß alle Blocks gleich lang sind,und so kann ich die Entfernungen unmittelbar vonmeiner Konstruktion ablesen.

M: Das ist richtig. Bei meinem »europäischen

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2.326 Einstein/Infeld-Evolution, 225Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Stadtplan« kann ich Entfernungen nicht einfach durchdie Anzahl der deformierten Blocks ausdrücken. Ichbrauche noch etwas dazu, nämlich eine Kenntnis dergeometrischen Eigenschaften meiner Fläche. Es ist jaallgemein bekannt, daß zehn Längengerade am Äqua-tor entfernungsmäßig nicht dasselbe sind wie zehnGrade in der Nähe des Nordpols. Jeder Navigatorweiß jedoch, wie man die Entfernung zwischen zweiPunkten der Erdoberfläche bestimmt, weil er ebenihre geometrischen Eigenschaften kennt. Er macht dasentweder durch Berechnung nach den Prinzipien dersphärischen Trigonometrie oder experimentell, indemer die betreffende Strecke mit gleichmäßiger Ge-schwindigkeit per Schiff abfährt. Bei Ihrer »amerika-nischen Stadt« liegt die Sache sehr einfach, weil jaalle Haupt- und Nebenstraßen in regelmäßigen Ab-ständen angeordnet sind. Im Falle der Erdoberflächeist es etwas schwieriger; denn die Meridiane, die amÄquator verhältnismäßig weit voneinander entferntsind, schneiden sich an den Polen. Genauso braucheich in meiner »europäischen Stadt« für die Bestim-mung von Entfernungen noch zusätzliche Angaben,die bei Ihrer »amerikanischen Stadt« wegfallen. Diesezusätzlichen Angaben kann ich mir dadurch verschaf-fen, daß ich in jedem einzelnen Falle die geometri-schen Eigenschaften meines Kontinuums untersuche.

A: Das alles beweist aber nur, wie unzweckmäßig

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2.327 Einstein/Infeld-Evolution, 226Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

und erschwerend es ist, die euklidische Geometrie mitihrer einfachen Struktur gegen das verwickelte Gerüsteinzutauschen, das Sie verwenden wollen. Ist daswirklich notwendig?

M: Ich fürchte, ja; jedenfalls wenn wir unsere Phy-sik auf alle Systeme anwenden wollen, ohne mit demmysteriösen Inertialsystem zu arbeiten. Ich sehe ein,daß mein mathematisches Rüstzeug komplizierter istals das Ihre, dafür sind aber meine physikalischen An-nahmen einfacher und sinnvoller.

In dieser Diskussion war nur von zweidimensiona-len Kontinua die Rede. Bei der allgemeinen Relativi-tätstheorie liegt der Fall allerdings noch komplizier-ter, weil wir es da nicht mit einem zweidimensiona-len, sondern mit dem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum zu tun haben. Die Grundprinzipien blei-ben allerdings die gleichen. In der allgemeinen Relati-vitätstheorie können wir nicht wie bei der speziellenmit dem mechanischen Gerüst aus Parallelen undrechtwinklig dazu angeordneten Stäben sowie mitsynchronisierten Uhren arbeiten. In einem beliebigenSystem lassen sich die räumlichen und zeitlichen Ko-ordinaten eines Ereignisses nicht mehr mit festen Stä-ben und gleich schnell gehenden synchronisiertenUhren bestimmen, was im Inertialsystem der speziel-len Relativitätstheorie noch möglich war. Aber auchmit unseren nichteuklidischen Stäben und ungleich

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2.328 Einstein/Infeld-Evolution, 226Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

gehenden Uhren können wir die Ereignisse schema-tisch ordnen; regelrechte Messungen mit festen Stä-ben und vollkommen gleich schnell gehenden undsynchronisierten Uhren kann man jedoch nur in einemörtlich begrenzten Inertialsystem vornehmen. Auf einsolches kann man auch die gesamte spezielle Relativi-tätstheorie ohne weiteres anwenden, doch hat unser»gutes« System eben nur lokalen Charakter; seine In-ertialeigenschaften sind räumlich und zeitlich be-grenzt. Selbst von unserem beliebigen System auskönnen wir die Ergebnisse der in einem lokalen Iner-tialsystem vorgenommenen Messungen vorhersagen,nur bedarf es dazu einer Kenntnis der geometrischenBeschaffenheit unseres Raum-Zeit-Kontinuums.

Die besprochenen idealisierten Experimente ver-mitteln uns natürlich nur einen allgemeinen Eindruckvom Wesen der neuen relativistischen Physik. Sie zei-gen uns, daß die Massenanziehung das Grundproblemdarstellt, und ferner, daß die allgemeine Relativitäts-theorie zu einer weiteren Verallgemeinerung der Be-griffe »Raum« und »Zeit« führt.

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2.329 Einstein/Infeld-Evolution, 227Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Der Gedanke der allgemeinen Relativität und seineVerifikation

Die allgemeine Relativitätstheorie stellt einen Ver-such zur Aufstellung physikalischer Gesetze dar, diefür alle Systeme gelten. Das Grundproblem ist das derMassenanziehung, und die Theorie ist der erste ernst-zunehmende Ansatz zu einer Neuformulierung desGravitationsgesetzes seit Newton. Ist eine solcheNeuformulierung nun aber wirklich notwendig? Wirhaben doch gesehen, was mit der Lehre Newtons allesgeleistet wurde und welchen gewaltigen Aufschwungdie Astronomie seinem Gravitationsgesetz zu verdan-ken hat. Noch heute bildet das Newtonsche Gesetz dieGrundlage für alle astronomischen Berechnungen.Was hat es dann aber mit den Einwänden auf sich, diegegen die alte Theorie erhoben werden? Nun, New-tons Gesetze gelten nur für das Inertialsystem derklassischen Physik, für Systeme also, die ja die Eigen-art haben, daß die Gesetze der Mechanik darin unum-schränkte Geltung haben. Die zwischen zwei Massenwirkende Kraft hängt von ihrem gegenseitigen Ab-stand ab. Die Verhältnisbeziehung zwischen Kraftund Abstand ist, wie wir schon wissen, im Sinne derklassischen Transformation invariant. Dieses Gesetzfügt sich jedoch nicht in den Rahmen der speziellen

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2.330 Einstein/Infeld-Evolution, 228Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Relativitätstheorie, derzufolge der Abstand, im Sinneder Lorentz-Transformation, nicht invariant ist. Wirkönnten versuchen – wie wir es bei den Bewegungs-gesetzen mit so gutem Erfolg getan haben –, das Gra-vitationsgesetz so zu verallgemeinern, daß es sich mitder speziellen Relativitätstheorie vereinbaren läßt,oder, anders ausgedrückt, es so zu formulieren, daß esim Sinne der Lorentz-Transformation – und nicht derklassischen – invariant ist. Das Newtonsche Gravita-tionsgesetz hat jedoch allen unseren Bemühungen, eszu vereinfachen und in die spezielle Relativitätstheo-rie einzugliedern, hartnäckig getrotzt. Aber selbstwenn uns das gelänge, wären wir noch nicht am Ziel.Dann bliebe noch immer der Übergang vom Inertial-system der speziellen Relativitätstheorie zum eigen-willigen System der allgemeinen Relativitätstheorie.Die idealisierten Versuche mit dem fallenden Aufzugzeigen andererseits mit aller Deutlichkeit, daß ohneeine Lösung des Gravitationsproblems keine Formu-lierung der allgemeinen Relativitätstheorie möglichist. Aus unserer Überlegung ist auch ersichtlich,warum das Gravitationsproblem in der allgemeinenRelativitätstheorie anders gelöst werden muß als inder klassischen Physik.

Wir haben uns bemüht, den Weg zu zeigen, der zurallgemeinen Relativitätstheorie hinführt, und dieGründe anzugeben, die uns zwingen, unsere alten An-

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2.331 Einstein/Infeld-Evolution, 228Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sichten nochmals zu revidieren. Ohne auf formelleFragen näher einzugehen, wollen wir uns jetzt einigePunkte der neuen Gravitationstheorie vornehmen undsie mit den entsprechenden Aspekten der alten ver-gleichen. Nach all dem, was wir schon besprochenhaben, dürfte es uns nicht übermäßig schwerfallen,die zwischen beiden Theorien bestehenden Unter-schiede ihrem Wesen nach zu erfassen.

1. Die Gravitationsgleichungen der allgemeinenRelativitätstheorie können auf jedes beliebige Systemangewandt werden. Wenn wir trotzdem in bestimmtenFällen ein bestimmtes System wählen, so geschiehtdas nur aus Zweckmäßigkeitsgründen. Theoretischsind alle Systeme zulässig. Wenn wir die Massenan-ziehung aus dem Spiel lassen, kommen wir ganz auto-matisch auf das Inertialsystem der speziellen Relativi-tätstheorie zurück.

2. Newtons Gravitationsgesetz stellt den Zusam-menhang her zwischen der Bewegung eines Körpersan einem bestimmten Ort und in einem bestimmtenZeitpunkt und dem gleichzeitig wirksamen Einflußeines anderen, weit entfernten Körpers. Dieses Gesetzliegt der ganzen mechanistischen Denkweise gleich-sam als Muster zugrunde. Das mechanistische Den-ken wurde aber dann ad absurdum geführt, und inMaxwells Gleichungen fanden wir ein neues Musterfür die Aufstellung von Naturgesetzen. Die Maxwell-

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2.332 Einstein/Infeld-Evolution, 229Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

schen Gleichungen sind strukturelle Gesetze. Sie stel-len den Zusammenhang her zwischen Vorgängen, diesich in einem bestimmten Punkt und einem bestimm-ten Augenblick abspielen, und Ereignissen, die einwenig später in der unmittelbaren Nachbarschaft ein-treten. Es sind Gesetze für die Wandlungen des elek-tromagnetischen Feldes. Unsere neuen Gravitations-gleichungen nun sind ebenfalls strukturelle Gesetze;nur gelten sie für Veränderungen des Schwerefeldes.Vom Formellen ausgehend, könnten wir sagen, derÜbergang von Newtons Gravitationsgesetz zur allge-meinen Relativitätstheorie ähnele in gewisser Weisedem von der Theorie der elektrischen Fluida und Cou-lombs Gesetz zur Maxwellschen Theorie.

3. Unsere Welt ist nichteuklidisch. Ihre geometri-sche Beschaffenheit wird durch Massen und derenGeschwindigkeiten bestimmt. Die Gra vitationsglei-chungen der allgemeinen Relativitätstheorie sind einVer such zur Bestimmung der geometrischen Eigen-schaften unserer Welt.

Nehmen wir einmal versuchsweise an, es wäre unsgelungen, das Programm der allgemeinen Relativitäts-theorie konsequent durchzuführen. Laufen wir dabeinicht Gefahr, uns mit unseren Spekulationen zu weitvon der Wirklichkeit zu entfernen? Wir wissen doch,wie gut man mit der alten Theorie die astronomischenBeobachtungen deuten kann. Gibt es nicht eine Mög-

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2.333 Einstein/Infeld-Evolution, 229Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

lichkeit zur Überbrückung der Kluft, die sich zwi-schen der neuen Theorie und der Beobachtung auftut?Nun, jede Spekulation muß experimentell nachgeprüftwerden, und die Resultate, so verlockend sie auchsein mögen, sind unbrauchbar, wenn sie sich mit denTatsachen nicht vereinbaren lassen. Wie hat die neueGravitationstheorie diese Prüfung bestanden? DieAntwort läßt sich in einen einzigen Satz fassen: Diealte Theorie ist ein spezieller Grenzfall der neuen.Wenn die Gravitationskräfte verhältnismäßigschwach sind, so erweist sich das Newtonsche Gesetzals brauchbare Annäherung an die neuen Gravitati-onsgesetze. Somit können alle Beobachtungen, die fürdie Richtigkeit der klassischen Theorie zeugen, auchals Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheoriegewertet werden. Aus der neuen Theorie läßt sich, ob-wohl sie eine Stufe höher steht, auch die alte wiederableiten.

Selbst wenn keine zusätzlichen Beobachtungen fürdie neue Theorie sprächen, wenn sie keine bessereDeutung des Naturgesetzes böte als die alte, sondernnur eine gleichwertige, müßten wir uns doch, hättenwir die freie Wahl zwischen beiden, für die neue ent-scheiden. Die Gleichungen der neuen Theorie sind informeller Hinsicht komplizierter, doch basieren sie,was ihre Grundprinzipien anbelangt, auf viel einfa-cheren Voraussetzungen. Die beiden Schreckgespen-

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2.334 Einstein/Infeld-Evolution, 230Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

ster – absolute Zeit und Inertialsystem – sind gebannt,die Äquivalenz von schwerer und träger Masse ist be-rücksichtigt, und es bedarf bezüglich der Gravitati-onskräfte und ihrer Abhängigkeit von der Entfernungkeines Postulats mehr. Die Gravitationsgleichungenhaben wie alle physikalischen Gesetze seit dem Auf-kommen der Feldtheorie mit allen ihren großen Errun-genschaften die Form struktureller Gesetze.

Aus den neuen Gravitationsgesetzen lassen sichaber auch einige neue Folgerungen ableiten, die dasNewtonsche Gesetz uns vorenthält. Eine davon, dieAblenkung der Lichtstrahlen im Schwerefeld, habenwir bereits erwähnt, zwei weitere sollen jetzt bespro-chen werden.

Wenn die alten Gesetze für Fälle, bei denen es sichum schwache Gravitationskräfte handelt, aus denneuen hervorgehen, kann man nur dort mit Abwei-chungen von Newtons Gravitationsgesetz rechnen, wodiese Kräfte verhältnismäßig groß sind. Nehmen wireinmal unser Sonnensystem. Die Planeten bewegensich gleich unserer Erde auf elliptischen Bahnen umdie Sonne. Merkur ist der Sonne am nächsten, und dieMassenanziehung muß zwischen diesen beiden Him-melskörpern daher stärker sein als zwischen allen an-deren Planeten und der Sonne. Wenn es überhaupteine Hoffnung gibt, Abweichungen vom NewtonschenGesetz irgendwo bestätigt zu finden, dann hier beim

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Merkur. Nach der klassischen Theorie sollte die Bahndes Merkur genauso aussehen wie die jedes anderenPlaneten auch, nur daß sie in größerer Sonnennäheverläuft. Nach der allgemeinen Relativitätstheoriemüßte sie sich aber auch in anderer Beziehung vondenen der anderen Planeten unterscheiden. Es müßtenämlich, abgesehen von dem eigentlichen Umlauf desMerkur um die Sonne, noch eine Rotation seiner el-liptischen Bahn relativ zu dem mit der Sonne fest ver-bundenen System zu beobachten sein – ein Effekt, dersogar seinem Ausmaß nach von der allgemeinen Rela-tivitätstheorie genau vorhergesagt wird: die Merkur-bahn muß in drei Millionen Jahren eine Umdrehungvollendet haben!

Fig. 69

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Daran sieht man, wie klein dieser Effekt ist und einwie aussichtsloses Beginnen es wäre, ihn bei den wei-ter von der Sonne entfernten Planeten nachweisen zuwollen.

Die Abweichung der Merkurbahn von der Ellipsen-form war nun sogar schon vor dem Aufkommen derallgemeinen Relativitätstheorie bekannt, nur wußteman sie sich bis dahin nicht zu erklären. Die allge-meine Relativitätstheorie andererseits wurde ohnejede Bezugnahme auf dieses Spezialproblem entwik-kelt. Erst später kam man, ausgehend von den neuenGravitationsgleichungen, zu dem Schluß, daß die el-lipsenförmigen Planetenbahnen rotieren müssen, undso konnte beim Merkur die bereits beobachtete Ab-weichung von der nach dem Newtonschen Gesetz vor-geschriebenen Bewegung theoretisch gedeutet werden.

Es gibt aber noch eine Schlußfolgerung aus der all-gemeinen Relativitätstheorie, die bereits experimen-tell bestätigt werden konnte. Wir haben gesehen, daßeine auf dem großen Kreis der vorhin besprochenenrotierenden Scheibe plazierte Uhr anders geht als eineauf dem kleinen liegende. Genauso müßte nach derRelativitätstheorie ein und dieselbe Uhr auf der Sonneanders gehen als auf der Erde, da der Einfluß desSchwerefeldes sich auf der Sonne selbst viel stärkerauswirkt als bei uns.

Wir sprachen auf S. 110 darüber, daß glühendes

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2.337 Einstein/Infeld-Evolution, 231Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Natrium homogenes gelbes Licht einheitlicher Wel-lenlänge ausstrahlt. Diese Strahlung ist der sichtbareAusdruck eines rhythmischen atomaren Vorganges.Das Atom stellt sozusagen eine Uhr dar, deren Gangdurch die Wellenlänge des ausgestrahlten Lichtes an-gezeigt wird. Nach der allgemeinen Relativitätstheo-rie müßte nun das von einem beispielsweise auf derSonne befindlichen Natriumatom ausgestrahlte Lichteine, etwas größere Wellenlänge haben als das einesgleichen Atoms bei uns auf der Erde.

Die experimentelle Nachprüfung von Erkenntnis-sen, die sich aus der allgemeinen Relativitätstheorieergeben, ist eine überaus schwierige Aufgabe, die kei-neswegs als abgeschlossen betrachtet werden darf. Daes uns hier aber nur um die Grundgedanken geht, wol-len wir in diese Dinge nicht tiefer eindringen und nursagen, daß alle bisher angestellten diesbezüglichenBeobachtungen die aus der allgemeinen Relativitäts-theorie gezogenen Schlüsse zu bestätigen scheinen.

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Feld und Materie

Wir haben gesehen, wie und warum das mechanisti-sche Denken versagte. Es hatte sich als unmöglich er-wiesen, alle Phänomene auf einfache, zwischen unver-änderlichen Partikeln waltende Kräfte zurückzufüh-ren. Unsere ersten Versuche, den engen Raum des me-chanistischen Denkens zu sprengen und Feldbegriffeeinzuführen, lieferten uns auf dem Gebiet des Elektro-magnetismus überaus brauchbare Ergebnisse. So wur-den die strukturellen Gesetze des elektromagnetischenFeldes formuliert – Gesetze, die den Zusammenhangherstellen zwichen Vorgängen, die einander räumlichund zeitlich sehr dicht benachbart sind. Diese Gesetzelassen sich mit der speziellen Relativitätstheorie ver-einbaren, da sie im Hinblick auf die Lorentz-Trans-formation unveränderlich sind. Später verlangte dieallgemeine Relativitätstheorie dann die Aufstellungneuer Gravitationsgesetze. Auch diese sind strukturel-ler Natur; sie beziehen sich auf das Schwerefeld zwi-schen Materieteilchen. Es erwies sich auch als ein-fach, die Maxwellschen Gesetze in der Weise zu ver-allgemeinern, daß sie wie die Gravitationsgesetze derallgemeinen Relativitätstheorie auf jedes beliebigeSystem angewandt werden können.

Wir haben es nun mit zwei Gegebenheiten zu tun:

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Materie und Feld. Es kann nicht mehr die Rededavon sein, die ganze Physik auf dem Materiebegriffallein aufzubauen, wie es die Physiker des beginnen-den neunzehnten Jahrhunderts noch getan haben. Vor-läufig müssen wir beide Begriffe akzeptieren. Könnenwir uns Materie und Feld nun aber als zwei für sichbestehende, wesensverschiedene Gegebenheiten den-ken? Wenn wir ein kleines Materieteilchen nehmen,könnten wir ja vielleicht sagen – so naiv diese Vor-stellung auch sein mag –, daß die Partikel dort, wo sieaufhört und das Schwerefeld anfängt, eine klar defi-nierbare Oberfläche habe. Dieser Vorstellung gemäßwäre das Gebiet, in dem die Feldgesetze gelten, klarund übergangslos von der materiellen Region ge-trennt. Wie unterscheiden sich Materie und Feld dannaber in physikalischer Hinsicht? Bevor wir nochetwas von der Relativitätstheorie wußten, hätten wirdarauf vielleicht folgendermaßen antworten können:Materie besitzt Masse, das Feld dagegen nicht. DasFeld repräsentiert Energie, die Materie dagegenMasse. Wir wissen aber schon, daß eine solche Ant-wort im Lichte der inzwischen gewonnenen Erkennt-nisse unzulänglich wäre. Die Relativitätstheorie hatuns gelehrt, daß die Materie als ungeheure Zusam-menballung von Energie aufgefaßt werden kann, wäh-rend die Energie andererseits auch materiellen Cha-rakter hat. Auf diese Art können wir also keine Unter-

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scheidung zwischen Materie und Feld treffen, daMasse und Energie eben in qualitativer Hinsicht garnicht verschieden sind. Zwar ist bei weitem der größteTeil der Energie in der Materie konzentriert, doch be-sitzt das die Partikeln umgebende Feld ebenfallsEnergie, wenn es sich dabei auch um ganz bedeutendgeringere Mengen handelt. Wir könnten demgemäßsagen: Materie ist dort, wo sehr viel Energie konzen-triert ist; ein Feld ist dort, wo wenig Energie ist.Wenn das aber stimmt, dann ist der Unterschied zwi-schen Materie und Feld eher quantitativer als qualita-tiver Natur. Es hat dann keinen Sinn mehr, Materieund Feld als zwei grundverschiedene Dinge zu be-trachten, und wir dürfen auch nicht von einer klar de-finierbaren Oberfläche, einer Scheidewand, zwischenFeld und Materie sprechen.

Die gleiche Schwierigkeit ergibt sich im Zusam-menhang mit der Ladung und ihrem Feld. Es scheintunmöglich zu sein, ein einleuchtendes qualitativesKriterium für die Unterscheidung zwischen Materieund Feld bzw. Ladung und Feld zu finden.

Unsere Strukturgesetze, also die Maxwellschen unddie der Gravitation, versagen, wo es sich um sehrgroße Energieansammlungen handelt oder, um es an-ders auszudrücken, am Ursprung der Felder, also beielektrischen Ladungen bzw. materiellen Körpern.Können wir unsere Gleichungen nun nicht vielleicht

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ein wenig modifizieren, so daß sie überall Geltunghaben, selbst in Regionen, in denen ungeheure Ener-giemengen zusammengestellt sind?

Wir können die Physik zwar nicht auf dem Mate-riebegriff allein aufbauen, doch muß auch die Unter-scheidung zwischen Materie und Feld in dem Mo-ment, wo man sich über die Äquivalenz von Masseund Energie klargeworden ist, als etwas Unnatürli-ches und unklar Definiertes erscheinen. Können wirden Materiebegriff nicht einfach fallenlassen und einereine Feldphysik entwickeln? Was unseren Sinnen alsMaterie erscheint, ist in Wirklichkeit nur eine Zusam-menballung von Energie auf verhältnismäßig engemRaum. Wir könnten die Materiekörper auch als Re-gionen im Raum betrachten, in denen das Feld außer-ordentlich stark ist. Daraus ließe sich ein gänzlichneues philosophisches Weltbild entwickeln, das letzt-lich zu einer Deutung aller Naturvorgänge mittelsstruktureller Gesetze führen müßte, die überall undimmer gelten. Ein durch die Luft geworfener Stein istin diesem Sinne ein veränderliches Feld, bei dem dieStelle mit der größten Feldintensität sich mit derFluggeschwindigkeit des Steines durch den Raum be-wegt. In einer solchen neuen Physik wäre kein Raummehr für beides: Feld und Materie; das Feld wäre alsdas einzig Reale anzusehen. Diese neue Auffassungdrängt sich uns förmlich auf, wenn wir uns die großen

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Leistungen vor Augen halten, die wir mit der Feld-physik schon vollbracht haben; wenn wir an den ge-lungenen Versuch denken, die Gesetze der Elektrizi-tät, des Magnetismus und der Gravitation in die Formvon strukturellen Gesetzen zu bringen, und wenn wirdie Äquivalenz von Masse und Energie berücksichti-gen. Letzten Endes haben wir unsere Aufgabe alsodarin zu sehen, die Feldgesetze so umzumodeln, daßsie auch dort nicht versagen, wo gewaltige Energie-mengen konzentriert sind.

Bislang ist es uns allerdings noch nicht gelungen,diesen Gedanken zu einer überzeugenden und folge-richtigen Theorie zu verarbeiten. Die Entscheidungdarüber, ob eine Lösung dieses Problems im Bereichdes Möglichen liegt oder nicht, bleibt der Zukunftvorbehalten. Vorläufig müssen wir noch bei allen un-seren theoretischen Konzeptionen zwei Dinge als ge-geben hinnehmen – Feld und Materie.

Es gleiben noch immer grundlegende Probleme zulösen. Zwar wissen wir bereits, daß es von den Parti-keln, aus denen sich die Materie zusammensetzt, nurganz wenige Arten gibt. Wie bauen sich die verschie-denen Formen der Materie nun aber aus diesen Ele-mentarteilchen auf? Wie äußert sich die Wechselwir-kung zwischen den Elementarpartikeln und dem Feld?Im Zuge der Bemühungen um eine Lösung dieser Fra-gen wurde der Physik wiederum neues Gedankengut

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2.343 Einstein/Infeld-Evolution, 235Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

zugeführt, das seinen Niederschlag in der sogenanntenQuantentheorie gefunden hat.

Wir fassen zusammen:Ein neuer Begriff taucht in der Physik auf, der be-deutendste Gedanke seit Newton: das Feld. Die Er-kenntnis, daß es bei der Beschreibung physikali-scher Vorgänge weder auf die Ladungen noch aufdie Partikeln, sondern vielmehr auf das in demRaum zwischen Ladungen und Partikeln liegendeFeld ankommt, darf als wissenschaftliche Großtatangesprochen werden. Der Feldbegriff bewährt sichaußerordentlich gut und führt zur Formulierung derMaxwellschen Gleichungen, welche die Struktur deselektromagnetischen Feldes angeben und sowohl dieelektrischen als auch die optischen Phänomene um-fassen.

Die Relativitätstheorie ergibt sich aus den Feld-problemen. Die Widersprüche und Ungereimtheitenin der alten Theorie nötigen uns, dem Raum-Zeit-Kontinuum, in dem sich alle Vorgänge unserer ma-teriellen Welt abspielen, neue Eigenschaften zuzu-schreiben.

Die Relativitätstheorie kristallisiert sich in zweiPhasen heraus. Die erste wird durch die sogenanntespezielle Relativitätstheorie verkörpert, die nur aufInertialsysteme, das heißt auf solche anwendbar ist,

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in denen das von Newton aufgestellte Trägheitsge-setz Geltung hat. Die spezielle Relativitätstheorieberuht auf zwei grundlegenden Annahmen:

1. In allen gleichförmig gegeneinander bewegtenKoordinatensystemen gelten die gleichen physikali-schen Gesetze.

2. Die Lichtgeschwindigkeit ist immer konstant.Aus diesen Annahmen, die experimentell voll und

ganz bestätigt werden konnten, werden die Eigen-schaften bewegter Stäbe und Uhren, nämlich ihremit der Geschwindigkeit zusammenhängenden Län-gen- bzw. Gangänderungen, abgeleitet. Die Relativi-tätstheorie bringt eine Abänderung der mechani-schen Gesetzte mit sich. Die alten Gesetze verlierenihre Gültigkeit für Teilchen, deren Geschwindigkeitder des Lichtes angenähert ist. Auch die aus der Re-lativitätstheorie entwickelten neuen Gesetze für be-wegte Körper konnten experimentell einwandfrei be-stätigt werden. Eine weitere Folgerung aus der (spe-ziellen) Relativitätstheorie ist der Zusammenhangzwischen Masse und Energie. Masse ist Energie,und Energie besitzt Masse. Die beiden Erhaltungs-gesetze für Masse und für Energie werden in der Re-lativitätstheorie zu einem einzigen, dem Gesetz vonder Erhaltung der Masse-Energie, zusammengefaßt.

Die allgemeine Relativitätstheorie liefert einenoch tiefer gehende Analyse des Raum-Zeit-Konti-

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2.345 Einstein/Infeld-Evolution, 236Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

nuums. Die Gültigkeit der Theorie bleibt nun nichtmehr auf Inertialsysteme beschränkt. Das Gravitati-onsproblem wird sondiert, und es werden neuestrukturelle Gesetze für das Schwerefeld aufgestellt.Wir sehen uns dadurch genötigt, die Rolle, welchedie Geometrie bei der Beschreibung der materiellenWelt spielt, einer gründlichen Untersuchung zu un-terziehen, und schließlich lernen wir im Lichte derneuen Theorie auch den Umstand, daß schwere undträge Masse ein und dasselbe sind, als Naturnot-wendigkeit verstehen, während er in der klassischenMechanik noch für rein zufällig gehalten wurde. Dieexperimentellen Folgerungen aus der allgemeinenRelativitätstheorie wiesen nur geringfügige Abwei-chungen von denen der klassischen Mechanik auf.Sie zeigen sich der experimentellen Nachprüfung je-doch überall dort, wo ein Vergleich möglich ist,durchaus gewachsen. Die Hauptstärke der Theorieist ihre innere Logik und die Einfachheit der ihr zu-grundeliegenden Annahmen.

Dem Feldbegriff wird zwar im Rahmen der Relati-vitätstheorie sehr große physikalische Bedeutungbeigemessen, doch ist es uns vorläufig noch nichtgelungen, ihn zu einer reinen Feldphysik zu verar-beiten. Vorläufig müssen wir also noch beides alsgegeben hinnehmen: Feld und Materie.

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Die Quantentheorie

Kontinuität und Diskontinuität

Vor uns liegt eine Karte von New York und Umge-bung ausgebreitet. Wir möchten wissen, welche Orteauf der Karte per Eisenbahn erreichbar sind. Dazu su-chen wir sie aus einem Fahrplan heraus und tragen siein die Karte ein. Wenn wir aber wissen wollen, zuwelchen Punkten man per Auto gelangen kann, sobrauchen wir nur sämtliche aus der Stadt herausfüh-renden Autostraßen einzuzeichnen; denn es sind jatatsächlich alle Punkte an diesen Stellen per Auto er-reichbar: Beide Male haben wir es mit Punkteserienzu tun. Im ersten Falle sind die Punkte durch be-stimmte Abstände voneinander getrennt, da sie dieverschiedenen Bahnstationen vorstellen sollen, imzweiten bilden sie jedoch zusammenhängende Lini-en – die Chausseen. Nun möchten wir wissen, wieweit die einzelnen Punkte von New York oder, ge-nauer gesagt, von einem bestimmten Punkt in derStadt, entfernt sind. Im ersten Falle erhalten wir fürunsere Kartenpunkte Entfernungswerte, die sich unre-gelmäßig um endliche, manchmal kleinere, manchmalgrößere Beträge verändern. Wir können sagen: DieEntfernungen der verschiedenen, per Eisenbahn er-

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2.347 Einstein/Infeld-Evolution, 238Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

reichbaren Punkte von der Stadt New York lassensich nur auf diskontinuierliche Art und Weise anein-anderreihen. Die Entfernungen der per Auto erreich-baren Punkte dagegen, deren Zwischenräume wir be-liebig klein wählen können, ergeben eine kontinuier-liche Zahlenfolge. Beim Auto können wir die Entfer-nungsveränderungen beliebig verkleinern, was beimZug nicht möglich ist.

Die Förderungsleitung einer Kohlengrube kanneine kontinuierliche Veränderung erfahren; denn diegeförderte Kohlenmenge läßt sich in beliebig kleinenEtappen vermehren oder vermindern. Die Kopfzahlder Belegschaft kann sich jedoch nur diskontinuierlichverändern; denn es wäre purer Unsinn, wollte manzum Beispiel sagen: »Seit gestern ist die Zahl der Be-schäftigten um 3,783 gestiegen.«

Wenn man gefragt wird, wieviel Geld man in derTasche hat, so kann man immer nur eine Zahl mithöchstens zwei Dezimalstellen angeben. Eine Geld-summe kann sich eben nur sprungweise, diskontinu-ierlich verändern. In Amerika ist die kleinste statthaf-te Etappe oder, wie wir nun sagen wollen, ist das Ele-mentarquantum für Geld ein Cent. Für deutschesGeld ist das Elementarquantum ein Pfennig, eineMünze, deren Wert nur einen Bruchteil des amerika-nischen Elementarquantums ausmacht. Damit habenwir gleich ein Beispiel für zwei Elementarquanten,

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deren Werte man miteinander vergleichen kann. DasVehältnis ihrer Werte läßt sich durch eine bestimmteZahl ausdrücken, da das eine soundso viele Male grö-ßer ist als das andere.

Wir können sagen: Manche Größen lassen sichkontinuierlich verändern, andere dagegen nur diskon-tinuierlich, das heißt in Etappen, denen in bezug aufihre Ausdehnung eine untere Grenze gesetzt ist. Dieseunteilbaren Etappen sind die Elementarquanten derbetreffenden Größe.

Das Gewicht großer Mengen Sand kann kontinuier-lich verändert werden, obwohl dieses Material ja ausKörnern besteht. Wenn der Sand jedoch plötzlich sehrkostbar werden würde und wenn wir mit sehr emp-findlichen Waagen arbeiteten, müßten wir auch hierden Umstand berücksichtigen, daß die Masse sichstets nur um ein Vielfaches des Gewichtes einesKörnchens verändern kann. Die Masse des Sandkornswäre dann unser Elementarquantum. Dieses Beispiellehrt, wie man auch bei Größen, die gemeinhin fürkontinuierlich gehalten werden, durch präzisere Mes-sung entdecken kann, daß sie im Grunde genommendiskontinuierlich sind.

Wenn wir den Grundgedanken der Quantentheoriemit einem einzigen Satz skizzieren wollen, so könnenwir sagen: Es muß damit gerechnet werden, daß sichmanche physikalischen Größen, die bislang für kon-

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2.349 Einstein/Infeld-Evolution, 238Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tinuierlich gehalten wurden, in Wirklichkeit aus Ele-mentarquanten zusammensetzen.

Die Quantentheorie läßt sich, wie zahlreiche miteiner hochgradig verfeinerten modernen Experimen-tiertechnik durchgeführte Versuche gezeigt haben, aufeine unermeßliche Fülle von Gesetzmäßigkeiten an-wenden. Da wir hier nicht einmal alle grundlegendenExperimente anführen oder gar beschreiben können,werden wir ihre Resultate häufig einfach apodiktischhinstellen müssen. Uns kommt es wiederum nur aufdie Erläuterung der Grundgedanken an.

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Die Elementarquanten von Materie und Elektrizität

Nach der kinetischen Theorie setzt sich die Materiedurchweg aus Molekülen zusammen. Nehmen wireinmal den einfachsten Fall, das leichteste Element,den Wasserstoff. Auf S. 81 haben wir schon gesehen,wie die Untersuchung der Brownschen Bewegung zurBestimmung der Masse eines Wasserstoffmolekülsführte. Es wiegt, wie damals schon erwähnt,

0,000 000 000 000 000 000 000 0033 Gramm.Damit ist es klar, daß Masse etwas Diskontinuierli-

ches ist. Die Masse von Wasserstoff kann sich immernur um ganzzahlige Vielfache der Masse eines Was-serstoffmoleküls verändern. Bei chemischen Vorgän-gen zeigt sich jedoch, daß das Wasserstoffmolekülsich auch noch wieder in zwei Teile zerlegen läßtoder, um es anders auszudrücken, daß es sich auszwei Atomen zusammensetzt. Bei chemischen Vor-gängen spielt nicht das Molekül, sondern das Atomdie Rolle des Elementarquantums. Teilen wir dieobengenannte Zahl durch zwei, so erhalten wir dieMasse eines Wasserstoffatoms. Diese beträgt etwa

0,000 000 000 000 000 000 000 0017 Gramm.Masse ist also eine diskontinuierliche Größe, doch

brauchen wir uns bei normalen Gewichtsbestimmun-gen natürlich nicht darum zu kümmern. Selbst die

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2.351 Einstein/Infeld-Evolution, 240Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

empfindlichsten Waagen arbeiten bei weitem nicht sogenau, daß man die Diskontinuität der Massenverän-derung damit feststellen könnte.

Wenden wir uns einer anderen, bekannten Erschei-nung zu. Ein Draht wird an eine Stromquelle ange-schlossen. Der Strom durchfließt den Draht vom hö-heren zum niedrigeren Potential. Wir entsinnen uns,daß viele Erfahrungstatsachen sich mit der einfachenTheorie von den durch den Draht fließenden elektri-schen Fluida deuten lassen. Wir entsinnen uns ferner(S. 92), daß der Frage, ob wir annehmen sollen, esfließe ein positives Fluidum vom höheren zum niedri-geren Potential oder ein negatives vom niedrigerenzum höheren, keine grundsätzliche Bedeutung zu-kommt. Für den Augenblick wollen wir nun einmalalle Fortschritte, die in der Elektrizitätslehre mit demFeldbegriff erzielt wurden, außer Betracht lassen.Selbst wenn wir noch auf die elektrischen Fluida an-gewiesen wären, gäbe es, wie wir sehen werden, nochmanche ungelöste Frage. Wie schon die Bezeichnung»Fluidum« erkennen läßt, sah man den elektrischenStrom ursprünglich als eine kontinuierliche Größe an.Die Stärke der Ladung müsse sich, so glaubte mandamals, in beliebig kleinen Etappen verändern lassen.Es war nicht notwendig, elektrische Elementarquantenzu postulieren. Erst die Erkenntnisse, die wir aus derkinetischen Theorie der Materie gewonnen haben,

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2.352 Einstein/Infeld-Evolution, 240Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

bringen uns auf den Gedanken, daß auch das elektri-sche Fluidum aus Elementarquanten bestehen könnte.Eine andere, noch offene Frage ist die, ob sich beimelektrischen Strom positives oder negatives Fluidumoder gar beides bewegt.

Alle Experimente, die man zwecks Beantwortungdieser Frage angestellt hat, laufen im wesentlichen aufeine Loslösung des elektrischen Fluidums vom Drahthinaus. Man bemühte sich, das Fluidum durch denleeren Raum zu leiten, es von jeder Bindung an dieMaterie zu befreien, um dann seine Eigenschaften zuuntersuchen, die unter diesen Umständen mit äußer-ster Deutlichkeit in Erscheinung treten müssen. Be-sonders Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde indieser Richtung sehr viel experimentiert. Bevor wirdas Grundprinzip der hierbei verwendeten Versuchs-anordnungen zumindest an einem Beispiel erläutern,wollen wir jedoch erst einmal die Endergebnisse jenerExperimente nennen: Das durch den Draht fließendeFluidum ist negativ, und es strömt daher vom niedri-geren zum höheren Potential. Hätten wir das von An-fang an gewußt, als wir die Theorie der elektrischenFluida erstmalig formulierten, hätten wir die Wortebestimmt vertauscht und die Elektrizität des Hartgum-mistabes positiv, die des Glasstabes dagegen negativgenannt. Dann hätte es sich nämlich als das Zweck-mäßigste erwiesen, das durch den Draht strömende

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Fluidum als positiv anzusehen. Da wir damals jedochauf das falsche Pferd gesetzt haben, müssen wir unsnun wohl oder übel mit der unpraktischeren Lösungabfinden. Die nächste wichtige Frage ist die, ob die-ses negative Fluidum seiner Struktur nach »körnig«ist, das heißt, ob es sich aus elektrischen Quanten zu-sammensetzt oder nicht. Eine Reihe weiterer, vonein-ander unabhängiger Versuche hat nun erwiesen, daßan der Existenz von Elementarquanten der negativenElektrizität nicht gezweifelt werden kann. Das negati-ve elektrische Fluidum besteht also sozusagen ausKörnchen, wie der Seesand aus Sandkörnern oder einHaus aus Ziegelsteinen aufgebaut ist. Dieses Resultatwurde am klarsten 1896/97 von J.J. Thomson formu-liert. Die Elementarquanten der negativen Elektrizitätwerden Elektronen genannt. Jede negative elektrischeLadung setzt sich also aus einer Unmenge von Ele-mentarladungen in Elektronenform zusammen. Dienegative Ladung kann wie die Masse nur diskontinu-ierlich verändert werden. Allerdings ist die elektrischeElementarladung so winzig, daß man sie bei vielenUntersuchungen ebensogut als kontinuierliche Größebetrachten kann, was sogar oft als das Zweckmäßi-gere erscheint. So werden durch Atom- und Elektro-nentheorie diskontinuierliche physikalische Größen,die nur sprungweise veränderlich sind, in die Natur-wissenschaft eingeführt.

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Fig. 70

Man denke sich zwei parallele Metallplatten in einemluftleeren Raum. Eine Platte ist positiv, die andere ne-gativ geladen. Eine positive Prüfladung, die man zwi-schen die beiden Platten bringt, wird von der positivgeladenen Platte abgestoßen und von der negativenangezogen werden. Die Kraftlinien dieses elektrischenFeldes werden also von der positiv geladenen nachder negativen Platte zeigen. Eine Kraft, die auf einennegativ geladenen Prüfkörper einwirkt, müßte die ent-gegengesetzte Richtung haben. Wenn die Platten großgenug sind, werden die zwischen ihnen verlaufendenKraftlinien überall die gleiche Dichte aufweisen. Esspielt dann gar keine Rolle, wo der Prüfkörper aufge-stellt wird; die Kraft und somit die Kraftliniendichte

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bleibt immer gleich. Elektronen, die man in den Raumzwischen den beiden Platten bringt, verhalten sich wieRegentropfen im Schwerefeld der Erde; sie bewegensich auf parallelen Bahnen von der negativ geladenenPlatte zur positiven hinüber. Man kennt heute bereitseine ganze Reihe von Methoden, die es ermöglichen,einen Elektronenschauer in ein solches Feld zu brin-gen und gleichzurichten. Eine der einfachsten bestehtdarin, daß man zwischen den geladenen Platten einenerhitzten Draht aufhängt. Erhitzte Drähte senden näm-lich Elektronen aus, die dann von den Kraftlinien desumgebenden Feldes gleichgerichtet werden. Nach die-sem Prinzip sind zum Beispiel die Radioröhren, die jajeder kennt, gebaut.

Mit den Elektronenstrahlen hat man eine Reiheüberaus sinnreicher Experimente angestellt. So wurdeetwa der Einfluß verschiedener umgebender elektri-scher und magnetischer Felder auf den Strahlenverlaufuntersucht, und es ist sogar gelungen, einzelne Elek-tronen zu isolieren und ihre Elementarladung sowieihre Masse, das heißt den Trägheitswiderstand, zu be-stimmen, den sie dem Einfluß einer äußeren Kraft ent-gegensetzen. Hier wollen wir nur die Zahl angeben,die man für die Masse eines Elektrons gefunden hat.Sie ist etwa zweitausendmal kleiner als die einesWasserstoffatoms, so daß dieses letztere seiner Massenach, verglichen mit einem Elektron, noch gewaltig

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2.356 Einstein/Infeld-Evolution, 242Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

groß erscheint. Im Sinne einer konsequenten Feld-theorie ist die gesamte Masse, das heißt die ganzeEnergie eines Elektrons, gleich der Energie seinesFeldes. Der Großteil der diesem Feld innewohnendenKraft ist in einem sehr kleinen, kugelförmigen Raumzusammengeballt, während das Feld in größerer Ent-fernung vom »Mittelpunkt« des Elektrons im Ver-gleich dazu recht schwach ist.

Wir haben vorhin gesagt, daß das Atom eines Ele-ments ein unteilbares Elementarquantum sei. Das hatman sehr lange auch tatsächlich geglaubt, doch weißman jetzt, daß dem nicht so ist. Wieder einmal hat dieNaturwissenschaft eine neue Erkenntnis gezeitigt,welche die Grenzen der alten Anschauung offenbarwerden läßt. Es gibt heute in der ganzen Physik kaumeinen Satz, der fester auf Tatsachen gegründet ist, alsder von der komplexen Struktur des Atoms. Zunächsterkannte man, daß das Elektron, das Elementarquan-tum des negativen elektrischen Fluidums, auch mit zuden Komponenten des Atoms gehört und somit einender Bausteine darstellt, aus denen die ganze Materiesich zusammensetzt. Das vorhin angeführte Beispielmit dem Elektronen ausstrahlenden erhitzten Draht istnur eines von vielen für die Extraktion dieser Parti-keln aus der Materie. Diese Erkenntnis, welche dieFrage nach der Struktur der Materie auf das engstemit dem Elektrizitätsproblem verkettet, kann auf

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Grund einer ganzen Reihe voneinander unabhängigerExperimente als einwandfrei gesichert angesehen wer-den.

Es ist verhältnismäßig einfach, aus einem Atom ei-nige der Elektronen zu extrahieren, aus denen es sichzusammensetzt. Man kann das einmal mit Wärmemachen, wie in unserem Beispiel mit dem erhitztenDraht, dann aber auch durch Bombardierung von Ato-men mit fremden Elektronen.

Denken wir uns einen feinen rotglühenden Metall-draht, der in ein verdünntes Wasserstoffgas gebrachtwird. Der Draht sendet nach allen Richtungen Elek-tronen aus, denen unter der Einwirkung eines fremdenelektrischen Feldes eine bestimmte Geschwindigkeitverliehen werden kann. Elektronen steigern ihre Ge-schwindigkeit genauso wie Steine im Schwerefeld.Auf diese Weise erhalten wir einen Elektronenstrahl,der mit einer bestimmten Geschwindigkeit in einer be-stimmten Richtung den Raum durchmißt. Heutzutagekönnen wir sogar schon Geschwindigkeiten erzielen,die an die des Lichtes herankommen, wenn wir dieElektronen dem Einfluß sehr starker Felder aussetzen.Was geschieht nun, wenn so ein Elektronenstrahl mitbestimmter Geschwindigkeit auf Moleküle des ver-dünnten Wasserstoffs trifft? Nun, der Anprall eineshinreichend beschleunigten Elektrons wird nicht nurdas Wasserstoffmolekül in seine beiden Atome auf-

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spalten, sondern darüber hinaus auch aus einem derAtome ein Elektron herausreißen.

Nehmen wir die Tatsache, daß Elektronen Bestand-teile der Materie sind, als gegeben hin, dann kann einAtom, aus dem ein Elektron herausgerissen wurde,nicht mehr elektrisch neutral sein. War es zuvor neu-tral, so muß es jetzt aus dem Gleichgewicht gekom-men sein, da es ja um eine Elementarladung ärmer ist.Was übrigbleibt, muß positiv geladen sein. Da dieMasse eines Elektrons überdies um so vieles geringerist als die des leichtesten Atoms, können wir ohneweiteres daraus folgern, daß bei weitem der größteTeil der Atommasse nicht von Elektronen, sondernvon sonstigen Elementarpartikeln gestellt wird, diebedeutend schwerer sind als jene. Diesen schwerenTeil des Atoms nennen wir den Atomkern.

Die moderne experimentelle Physik hat auch für dieAufspaltung von Atomkernen, für die Umwandlungvon Atomen des einen Elements in die eines anderenund für die Extraktion der schweren Elementarteil-chen, aus denen sich der Kern zusammensetzt, bereitsMethoden ausgebildet. Dieses Kapitel der Physik, diesogenannte »Kernphysik«, das Gebiet also, auf demRutherford so Bedeutendes geleistet hat, ist in experi-menteller Hinsicht das interessanteste. Eine Theorie,die auf einfachen Grundgedanken basierte und diebunte Vielfalt von Gesetzmäßigkeiten im Reiche der

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Kernphysik zu einem sinnvollen Ganzen verknüpfte,gibt es allerdings noch nicht. Da es nun aber, demZweck unserer Abhandlung entsprechend, nur um all-gemeine physikalische Ideen geht, wollen wir diesesKapitel trotz seiner großen Bedeutung für die moder-ne Physik auslassen.

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Lichtquanten

Denken wir uns nun eine an der Meeresküste entlang-laufende Mauer. Fortwährend rollen die Wogen derBrandung gegen diese Mauer an, waschen etwas vonihrer Oberfläche herunter und weichen wieder zurück,um neuen Wellen das Feld zu räumen. Die Masse derMauer wird auf diese Art ständig vermindert, und wirkönnen sogar feststellen, wieviel in, sagen wir, einemJahr heruntergewaschen wird. Der gleiche Effekt läßtsich aber auch auf andere Art und Weise erzielen,zum Beispiel durch Beschuß. In diesem Falle würdebei jedem Geschoßeinschlag ein Stück abbröckeln.Wir können uns die Versuche nun zwar ganz gut sodurchgeführt denken, daß in beiden Fällen, durchWelleneinwirkung wie durch Beschuß, die gleicheMassenverminderung erzielt wird, doch würde man esder Mauer trotzdem in jedem Falle ansehen, ob der je-weilige Effekt durch die kontinuierliche Wirkung derMeereswellen oder den diskontinuierlichen Kugelre-gen hervorgerufen worden ist. Wir werden die Phäno-mene, die wir nun schildern wollen, wesentlich leich-ter verstehen können, wenn wir uns den Gegensatzzwischen Meereswellen- und Beschußeffekt stets ge-wissermaßen als Symbol vor Augen halten.

Wir haben gesehen, daß ein erhitzter Draht Elek-

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tronen abgibt. Nun wollen wir ein weiteres Verfahrenfür die Extraktion von Elektronen aus Metall schil-dern. Homogenes, zum Beispiel violettes Licht, das,wie wir wissen, einheitliche Wellenlänge hat, soll aufeine metallene Oberfläche fallen. Unter der Einwir-kung des Lichtes werden aus dem Metall Elektronenherausgerissen, so daß sich ein Elektronenschauer bil-det, der mit einer bestimmten Geschwindigkeit denRaum durchquert. Im Sinne des Energieprinzips kön-nen wir sagen: Die Lichtenergie wird teilweise in diekinetische Energie der losgerissenen Elektronen um-gewandelt. Die moderne Experimentiertechnik gestat-tet es uns, diese Elektronengeschosse zu registrierenund ihre Geschwindigkeit wie auch ihre Energie zubestimmen. Diese Extraktion von Elektronen aus Me-tall mittels Lichteinwirkung wird als photoelektri-scher Effekt bezeichnet.

Eben haben wir mit homogenem Licht bestimmterIntensität gearbeitet. Wie bei jedem Experiment müs-sen wir nunmehr unsere Versuchsanordnung abändernund festzustellen suchen, ob der beobachtete Effektdadurch irgendwie beeinflußt wird.

Zunächst wollen wir einmal die Intensität des ho-mogenen, gegen die Metallplatte gerichteten violettenLichtes ändern und zusehen, in welchem Maße dieEnergie der ausgestrahlten Elektronen von diesemFaktor abhängt. Versuchen wir einmal, die Lösung

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nicht experimentell, sondern theoretisch zu finden.Wir könnten sagen: Beim photoelektrischen Effektwird eine bestimmte Menge Strahlungsenergie in Be-wegungsenergie – verkörpert durch die fliegendenElektronen – umgewandelt. Wenn wir das Metall nunmit stärkerem Licht gleicher Wellenlänge beleuchten,müßte die Energie der ausgestrahlten Elektronen grö-ßer sein, da ja auch die Strahlung energiereicher ge-worden ist. Man sollte also annehmen, daß die Ge-schwindigkeit der losgerissenen Elektronen größerwird, wenn die Intensität des Lichtes wächst. Das Ex-periment liefert jedoch ein anderes Ergebnis. Wiedereinmal müssen wir einsehen, daß die Naturgesetzenicht immer so sind, wie wir sie gern haben möchten;wieder lernen wir einen der Fälle kennen, in denen dasVersuchsergebnis mit unseren Voraussagen unverein-bar ist, so daß wir die Theorie, von der wir ausgegan-gen sind, fallenlassen müssen. Das Experiment zeigtnämlich ein im Hinblick auf die Wellentheorie über-aus verwunderliches Resultat. Die Elektronen habenalle gleiche Geschwindigkeit und gleiche Energie. Esspielt keine Rolle, ob die Intensität des Lichtes erhöhtwird oder nicht.

Nach der Wellentheorie war dieses Versuchsergeb-nis nicht vorherzusehen, und so wird wieder einmalaus dem Widerspruch zwischen alter Lehre und Expe-riment eine neue Theorie geboren.

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Wir wollen die Wellentheorie des Lichtes nun ein-mal absichtlich engstirnig beurteilen, wollen die mitihr erzielten großen Leistungen, ihre glänzende Deu-tung der Beugungserscheinungen an sehr kleinen Ob-jekten, vollkommen ignorieren und von ihr eine plau-sible Erklärung des photoelektrischen Effektes verlan-gen. Es liegt nun aber auf der Hand, daß die Unab-hängigkeit der Elektronenenergie von der Intensitätdes Lichtes, das die Elektronen aus der Metallplattelosreißt, sich aus der Wellentheorie nicht ableitenläßt. Wir werden es daher mit einer anderen Theorieversuchen müssen. Es sei daran erinnert, daß dieNewtonsche Korpuskulartheorie, mit der man eineganze Reihe von optischen Erscheinungen deutenkann, bei der Beugung versagte; doch wollen wir überdieses Manko jetzt ganz bewußt hinwegsehen. ZuNewtons Lebzeiten kannte man den Begriff »Energie«noch nicht.

Die Lichtkorpuskeln waren nach Ansicht diesesForschers schwerelos, und jede Farbe stellte eine Sub-stanz für sich dar. Später, als der Energiebegriff auf-kam und man erkannte, daß Licht Energie besitzt, fieles dann niemandem mehr ein, die neuen Erkenntnisseauf die Korpuskulartheorie des Lichtes anzuwenden.Newtons Theorie galt als längst abgetan, und keinMensch nahm sich bis in unser Jahrhundert ernstlichihrer Wiederbelebung an.

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Wenn der Newtonschen Theorie ihre Hauptidee be-lassen bleiben soll, müssen wir annehmen, daß homo-genes Licht sich aus Energie– »Körnchen« zusam-mensetzt. Ist dem so, dann lassen sich die Lichtkor-puskeln der alten Lehre durch Lichtquanten ersetzten,die wir Photonen nennen wollen. Es sind dies kleineEnergiemengen, die den leeren Raum mit Lichtge-schwindigkeit durchmessen. Die Neubelebung derNewtonschen Theorie in dieser Form hat zur Aufstel-lung der Quantentheorie des Lichtes geführt. Nichtnur Materie und elektrische Ladungen haben eine»körnige« Struktur; für die Strahlungsenergie giltgenau dasselbe, das heißt, auch sie setzt sich ausQuanten, nämlich Lichtquanten, zusammen. NebenMateriequanten und Elektrizitätsquanten gibt es ebenauch Energiequanten.

Der Gedanke der Energiequanten wurde zu Anfangunseres Jahrhunderts erstmalig von Planck in die Phy-sik eingeführt, der damit gewisse Phänomene zu deu-ten suchte, bei denen die Verhältnisse noch viel kom-plizierter liegen als beim photoelektrischen Effekt. Andiesem konnten wir jedoch am einfachsten und klar-sten zeigen, wie notwendig eine Revision der altenVorstellungen geworden war.

Man sieht auf den ersten Blick, daß der photoelek-trische Effekt sich mit dieser Quantentheorie deutenläßt: eine Metallplatte wird von einem Photonen-

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schauer getroffen. Die von der Strahlung auf die Ma-terie ausgeübte Wirkung hat hier die Form sehr vielerEinzelaktionen, bei denen jedesmal ein Photon gegenein Atom anprallt und aus diesem ein Elektron her-ausreißt. Diese Einzelaktionen sind alle vollkommengleichartig, und folglich haben alle extrahierten Elek-tronen die gleiche Energie. Wir verstehen jetzt auch,daß eine Erhöhung der Lichtintensität, so gesehen,einer Vermehrung der einfallenden Photonen gleich-kommt. Verstärkt man also das Licht, so werden zwarmehr Elektronen aus der Metallplatte herausgerissen,doch bleibt die Energie der einzelnen Elektronen da-durch unbeeinflußt. Diese Theorie trägt den beobach-teten Tatsachen in vollem Maße Rechnung.

Was geschieht nun, wenn wir einen Lichtstrahl mitandersfarbigem homogenem Licht, sagen wir mitrotem statt violettem, gegen die Metallplatte richten?Die Antwort wollen wir uns durch das Experimentgeben lassen. Wir müssen zu diesem Zweck die Ener-gie der extrahierten Elektronen messen und mit derEnergie der von violettem Licht herausgerissenen Ele-mentarladungen vergleichen. Es stellt sich heraus, daßdie Energie eines durch rotes Licht extrahierten Elek-trons geringer ist als die eines von violettem Lichtlosgerissenen. Daraus folgt, daß die Energie derLichtquanten sich nach der Farbe richtet. Die Photo-nen von rotem Licht haben nur halb soviel Energie

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wie die von violettem, oder, um es exakter zu formu-lieren: die Energie der Lichtquanten homogener Far-ben ist umgekehrt proportional der Wellenlänge. Zwi-schen Energiequanten und Elektrizitätsquanten be-steht ein wesentlicher Unterschied. Die Lichtquantensind je nach der Wellenlänge verschieden groß, wäh-rend die Elektrizitätsquanten unveränderlich bleiben.Wenn wir noch einmal auf einen unserer früherenVergleiche zurückgreifen wollen, könnten wir sagen,daß die Lichtquanten den kleinsten Geldmünzen ent-sprechen, die ja in jedem Land verschieden sind.

Wir wollen die Wellentheorie weiterhin in der Ver-bannung lassen und annehmen, das Licht setze sichdiskontinuierlich aus Lichtquanten, nämlich aus Pho-tonen, zusammen, die mit Lichtgeschwindigkeit denRaum durchqueren. Nach unserer neuen Auffassungwerden die optischen Erscheinungen also durch Pho-tonenschauer hervorgerufen, und ein Photon ist dasElementarquantum der Lichtenergie. Lehnen wir dieWellentheorie allerdings ab, müssen wir auch den Be-griff »Wellenlänge« aufgeben. Was sollen wir aber andessen Stelle setzen? Nun, natürlich die Energie derLichtquanten! In der Terminologie der Wellentheorieabgefaßte Sätze können dann etwa folgendermaßen indie Sprache der Theorie von den Strahlenquantenübertragen werden:

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WELLENTHEORIEHomogenes Licht hat eine einheitliche Wellenlänge.Die Wellenlänge des roten Fadens des Spektrums istdoppelt so groß wie die des violetten.

QUANTENTHEORIEHomogenes Licht setzt sich aus Photonen mit einheit-licher Energie zusammen. Die Energie des Photonsvom roten Ende des Spektrums ist halb so groß wiedie vom violetten.

Die Situation läßt sich nun wie folgt umreißen: Esgibt Phänomene, die sich mit der Quantentheorie deu-ten lassen, mit der Wellentheorie dagegen nicht. EinBeispiel dafür ist der Photoeffekt, doch gibt es auchnoch andere Erscheinungen dieser Art. Andererseitskennen wir aber auch Phänomene, die man nur mitder Wellentheorie, nicht aber mit der Quantentheorieerklären kann. Ein typisches Beispiel dafür ist dieBeugung des Lichtes an kleinen Objekten. Schließlichgibt es aber sogar noch Erscheinungen, wie zum Bei-spiel die geradlinige Fortpflanzung des Lichtes, diemit beiden Theorien vereinbar sind.

Was ist das Licht nun wirklich? Hat es Wellenna-tur, oder besteht es aus Photonenschauern? Wir habenschon einmal eine ganz ähnliche Frage zu beantwor-ten gehabt. Sie lautete: Hat das Licht Wellennatur,

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oder setzt es sich aus Lichtkorpuskeln zusammen?Damals schien es nach Lage der Dinge das beste zusein, die Korpuskulartheorie des Lichtes fallenzulas-sen und die Wellentheorie zu akzeptieren, da diese fürdie Deutung aller seinerzeit bekannten Phänomenevollkommen ausreichte. Jetzt ist das Problem aller-dings bedeutend komplizierter geworden. Es siehtnicht so aus, als könnte es uns je gelingen, die opti-schen Erscheinungen mit einer der beiden Theorienallein folgerichtig zu deuten. Vielmehr hat es den An-schein, als müßten wir einmal mit der einen, ein an-dermal mit der anderen und manchmal vielleicht sogarmit beiden gleichzeitig arbeiten. Wir sehen uns voreiner neuen Schwierigkeit, haben wir es doch hier mitzwei einander widersprechenden Auslegungen realerPhänomene zu tun. Mit einer allein kann man die op-tischen Erscheinungen nicht restlos deuten, mit beidenzusammen jedoch geht es.

Wie lassen sich die beiden Auffassungen auf einenNenner bringen? Wie sollen wir uns diese grundver-schiedenen Aspekte der Optik zusammenreimen? Esist nicht leicht, mit dieser Schwierigkeit fertig zu wer-den. Wieder haben wir es mit einem Problem vongrundlegender Bedeutung zu tun.

Akzeptieren wir zunächst einmal versuchsweise diePhotonentheorie des Lichtes, und bemühen wir uns,die seinerzeit bereits von der Wellentheorie erklärten

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Gesetzmäßigkeiten von dort her zu begreifen. Aufdiese Weise werden wir die Schwierigkeiten, welchedie beiden Theorien auf den ersten Blick als unverein-bar erscheinen lassen, besser herausarbeiten können.

Wir wollen uns daran erinnern, daß ein homogenerLichtstrahl, der durch eine feine Öffnung fällt, helleund dunkle Ringe erzeugt (S. 122 f). Wie soll mandiese Erscheinung nun aber nach der Quantentheoriedes Lichtes deuten, ohne die Wellentheorie zu Hilfezu nehmen? Wir könnten erwarten, daß die Wand hellerscheint, sofern ein Photon die Öffnung im Schirmpassiert, daß sie dagegen dunkel bleibt, wenn keinesdurchgeht. Statt dessen beobachten wir aber helle unddunkle Ringe. Man könnte diese Erscheinungen nunfolgendermaßen zu erklären suchen: Vielleicht gibt eszwischen dem Rand der Öffnung und dem Photon ir-gendeine Wechselwirkung, die als Ursache für dasAuftreten der Beugungsringe in Frage käme. DieseVermutung kann natürlich noch kaum als Erklärunggewertet werden. Im besten Falle haben wir damit dasProgramm für eine Deutung skizziert und darauf hin-gewiesen, daß es eine schwache Hoffnung gibt, dieBeugung womöglich doch noch einmal auf eineWechselwirkung zwischen Materie und Photonen zu-rückführen zu können.

Selbst diese kümmerliche Hoffnung wird aber zu-schanden, wenn wir an unseren zweiten Versuch von

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damals denken. Homogenes Licht, das durch zweifeine Öffnungen fällt, ruft an der Wand helle unddunkle Streifen hervor. Wie wollen wir diesen Effektnun wieder mit der Quantentheorie des Lichtes erklä-ren? Wir werden sagen, ein Photon könne nur durcheines der beiden Löcher gehen. Wenn ein Photon vonhomogenem Licht ein Elementarteilchen des Lichtessein soll, dann können wir uns kaum vorstellen, daßes sich teilen und beide Öffnungen gleichzeitig pas-sieren kann. Geht es aber nur durch eine Öffnung,dann müßte der Effekt der gleiche sein wie beim er-sten Versuch, das heißt, es müßten statt heller unddunkler Streifen eben wieder Ringe erscheinen. Wiekommt es also, daß ein zweites Loch einen vollkom-men anderen Effekt im Gefolge hat? Offenbar machtdie Öffnung, durch die das Photon nicht hindurchgeht,aus den Ringen Streifen, und zwar selbst dann, wennes von dem anderen ein ganzes Stück entfernt ist.Wenn das Photon sich wie eine Korpuskel der klassi-schen Physik verhält, kann es nur durch eines der bei-den Löcher gehen. Dann bleiben die Beugungser-scheinungen aber nach wie vor unbegreiflich.

Die Wissenschaft nötigt uns immer wieder, neueIdeen, neue Theorien zu ersinnen, mit denen wir dieMauer der Widersprüche durchstoßen können, diesich dem weiteren Fortschritt entgegentürmt. Allebahnbrechenden Ideen in der Naturwissenschaft wur-

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den geboren aus dem dramatischen Konflikt zwischender Wirklichkeit und unseren Bemühungen, sie zu be-greifen. Hier haben wir wieder eines der Probleme voruns, zu deren Lösung es neuer Prinzipien bedarf.Bevor wir aber die Bemühungen der modernen Physikum eine Aufklärung des Widerspruchs zwischenQuanten- und Wellentheorie des Lichtes zu schildernversuchen, wollen wir noch zeigen, daß wir auf genaudie gleiche Schwierigkeit stoßen, wenn wir es stattmit Lichtquanten mit Materiequanten zu tun haben.

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Lichtspektren

Wie wir bereits wissen, setzt sich die Materie aus we-nigen Arten von Partikeln zusammen. Die Elektronenwaren die ersten Elementarteilchen, die man entdeck-te. Nun haben wir die gleichen Elektronen aber auchals Elementarquanten der negativen Elektrizität ken-nengelernt. Wir haben ferner gesehen, daß gewissePhänomene uns zu der Annahme drängen, auch dasLicht müsse sich aus Elementarquanten zusammen-setzen, die je nach der Wellenlänge verschieden großsind. Bevor wir weitergehen, müssen wir nun aber zu-nächst einige physikalische Phänomene besprechen,bei denen neben der Strahlung auch die Materie eineentscheidende Rolle spielt.

Die Sonne sendet eine Strahlung aus, die man miteinem Prisma in ihre Bestandteile zerlegen kann. DasResultat ist das kontinuierliche Sonnenspektrum, dasalle zwischen den beiden Begrenzungen des sichtba-ren Spektrums liegenden Wellenlängen umfaßt. Neh-men wir ein anderes Beispiel: Wir haben seinerzeitschon erwähnt, daß glühendes Natrium homogenesLicht ausstrahlt, also einfarbiges Licht mit einheitli-cher Wellenlänge. Wenn wir glühendes Natrium vordas Prisma halten, erblicken wir nur eine gelbe Linie.Im allgemeinen läßt sich jedoch sagen, daß das von

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einem leuchtenden Körper ausgehende Licht durchdas Prisma in mehrere Komponenten zerlegt wird, sodaß ein für den betreffenden Körper charakteristischesSpektrum entsteht.

Wenn Elektrizität in einer mit Gas gefüllten Röhrezur Entladung gebracht wird, so ist das Ergebnis eineLichtquelle, wie wir sie von den Neonröhren derLichtreklamen her kennen. Nehmen wir an, so eineRöhre würde vor einem Spektroskop aufgestellt. EinSpektroskop ist ein Instrument, das wie ein Prismawirkt, jedoch viel empfindlicher ist und daher exakterarbeitet. Es zerlegt das Licht in seine Komponenten,das heißt, es ermöglicht eine Analyse des Lichts. Son-nenlicht läßt im Spektroskop ein kontinuierlichesSpektrum erkennen, in dem alle Wellenlängen vertre-ten sind. Wird als Lichtquelle jedoch ein Gas verwen-det, durch das ein elektrischer Strom fließt, so entstehtein andersartiges Spektrum. Statt des kontinuierlichenbuntfarbigen Sonnenspektrums erscheinen auf konti-nuierlich dunklem Untergrund helle, abgesonderte Li-nien. Jede Linie entspricht, sofern sie entsprechendschmal ist, einer ganz bestimmten Farbe oder, in derTerminologie der Wellentheorie, einer bestimmtenWellenlänge. Wenn das Spektrum zum Beispielzwanzig Linien enthält, so ist jeder davon eine vonzwanzig Zahlen zugeordnet, welche die entsprechen-den Wellenlängen angeben. Die Dämpfe der verschie-

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denen Elemente haben verschiedene Liniensystemeund somit je nach den Wellenlängen, aus denen sichihr Spektrum zusammensetzt, verschiedene Zahlen-kombinationen. Es gibt kein Element, dessen Spek-trallinienmuster dem eines anderen gleicht, wie esauch keinen Menschen gibt, dessen Fingerabdrückegenauso aussehen wie die eines anderen. Als die Phy-siker darangingen, diese Linien zu katalogisieren,stellte es sich nach und nach heraus, daß sie bestimm-ten Gesetzen unterliegen, und so wurde es möglich,einige der Serien von scheinbar zusammenhanglosenWellenlängenwerten durch eine einzige mathemati-sche Formel zu ersetzen.

Das soeben Gesagte kann man nun auch in diePhotonenterminologie übertragen. Die Linien entspre-chen bestimmten Wellenlängen oder, anders ausge-drückt, Photonen mit bestimmter Energie. LeuchtendeGase geben also nicht Photonen mit allen möglichenEnergiebeträgen, sondern nur solche ab, wie sie fürdie betreffende Substanz charakteristisch sind. Das istein Beispiel mehr für die Tatsache, daß die Wirklich-keit häufig nur eine Auswahl aus der Fülle der Mög-lichkeiten darstellt.

Atome eines bestimmten Elements, zum Beispieldie des Wasserstoffs, können nur Photonen mit be-stimmten Energiebeträgen ausstrahlen. Jedes Elementhat nur ganz bestimmte Energiequanten zur Verfü-

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gung, während alle anderen in seiner Strahlung feh-len. Stellen wir uns der Einfachheit halber einmal vor,ein bestimmtes Element erzeuge nur eine einzigeSpektrallinie, sende also nur Photonen mit einheitli-chem Energiebetrag aus. Das Atom ist vor der Aus-strahlung energiereicher als nachher. Nach dem Ener-gieprinzip folgt daraus, daß das Energieniveau einesAtoms vor der Ausstrahlung höher ist als hinterherund daß die Differenz zwischen beiden Niveausgleich der Energie des ausgesandten Photons seinmuß. So läßt sich die Tatsache, daß ein Atom einesbestimmten Elements nur Strahlung mit einer einzigenWellenlänge, das heißt Photonen mit einheitlicherEnergie, aussendet, auch dahingehend formulieren,daß das Atom dieses Elements nur zwei Energieni-veaus habe und daß die Abgabe eines Photons für die-ses Atom den Übergang vom höheren zum niedrige-ren Energieniveau mit sich bringe.

Nun erscheinen aber in den Spektren der verschie-denen Elemente in der Regel mehrere Linien, dasheißt: die von einem Element abgegebenen Photonenlassen sich ihrer Energie nach in mehrere Gruppeneinteilen. Um es anders auszudrücken: Wir müssenannehmen, daß jedes Atom mehrere Energieniveaushaben kann und daß die Emission eines Photons je-weils mit dem Übergang von einem höheren zu einemniedrigeren Energieniveau des betreffenden Atoms

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verbunden ist; nur mit der Einschränkung, daß keinAtom über sämtliche denkbaren Energieniveaus ver-fügt, da in den Spektren der verschiedenen Elementenicht alle Wellenlängen bzw. Photonenenergiebeträgevorkommen. Statt zu sagen, daß das Spektrum einesjeden Atoms bestimmte Linien, bestimmte Wellenlän-gen enthält, können wir die Sache auch so sehen, daßjedes Atom über bestimmte Energieniveaus verfügtund daß die Abgabe von Lichtquanten mit dem Über-gang von einem Energieniveau zum anderen gekop-pelt ist. Die Energieniveaus werden in der Regel nichtkontinuierlich, sondern diskontinuierlich gewechselt,und wieder haben wir somit ein Beispiel dafür ken-nengelernt, daß die Wirklichkeit oft nur eine Auswahlaus der Fülle der Möglichkeiten darstellt.

Niels Bohr war es, der als erster zeigte, warum dieSpektren nur immer die für das betreffende Elementcharakteristischen Linien und keine anderen enthalten.Seine Theorie, die er 1913 aufstellte, enthält eine Dar-stellung des Atombaus, aus der man, zumindest ineinfachen Fällen, rechnerisch die Spektren der ver-schiedenen Elemente ableiten kann. Im Lichte dieserTheorie bekommen die scheinbar nichtssagenden undzusammenhanglosen Zahlen plötzlich einen Sinn.

Bohrs Theorie bildet den Übergang zu einer nochtiefer gehenden und allgemeineren Lehre, der soge-nannten Wellen- oder Quantenmechanik.

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Fig. 71

Auf den letzten Seiten dieses Buches soll nun eben-diese Theorie in ihren Grundzügen besprochen wer-den. Vorher müssen wir allerdings noch einen speziel-leren Fall von der Theorie und vom Experiment herbeleuchten.

Das sichtbare Spektrum beginnt mit violettemLicht bestimmter Wellenlänge und hört mit rotemLicht bestimmter Wellenlänge auf. Mit anderen Wor-ten: die Energie der Photonen des sichtbaren Spek-trums hält sich stets innerhalb der von den Photonene-nergiebeträgen des violetten und des roten Lichtes ge-steckten Grenzen. Diese Begrenzung liegt natürlichnur in der Beschaffenheit des menschlichen Auges be-

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gründet. Wenn ein Energieniveau jedoch um einennoch größeren Betrag gesenkt wird, so gibt das Atomein ultraviolettes Photon ab, das eine außerhalb dessichtbaren Spektrums liegende Linie erzeugt, die nichtmehr mit dem bloßen Auge, sondern nur mittels einerphotographischen Platte nachgewiesen werden kann.

Auch Röntgenstrahlen setzen sich aus Photonenzusammen, nur haben diese Photonen eine viel grö-ßere Energie als die des sichtbaren Lichtes, oder, mitanderen Worten, die Wellenlängen der Röntgenstrah-len sind mehrere tausendmal kleiner als die des sicht-baren Lichtes.

Kann man derart kleine Wellenlängen nun aberauch experimentell bestimmen? Es war schon beimnormalen Licht schwierig genug, brauchten wir dochkleine Objekte oder winzige Öffnungen dazu. ZweiLöcher, die so fein sind und so dicht beieinanderlie-gen, daß sie bei normalem Licht Beugungserscheinun-gen hervorrufen, sind noch immer nicht fein genug,liegen noch lange nicht dicht genug beieinander, umeine Beugung von Röntgenstrahlen zustande bringenzu können. Dazu müßten sie viele tausendmal kleinersein und dichter beieinanderliegen.

Wie sollen wir die Wellenlängen dieser Strahlenalso messen? Nun, die Natur selbst kommt uns da zuHilfe.

Ein Kristall ist ein Konglomerat von Atomen, die

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alle sehr dicht beieinanderliegen und sich zu einemabsolut regelmäßigen Ganzen fügen. Unsere Skizzezeigt ein einfaches Modell, das die Struktur so einesKristalls verdeutlichen soll. Statt winziger Öffnungenhaben wir hier außerordentlich kleine Objekte in Ge-stalt der Atome des betreffenden Elements, Objektealso, die dicht beieinanderliegen und absolut regelmä-ßig angeordnet sind. Die Abstände zwischen den Ato-men, die sich aus der Theorie der Kristallstruktur er-geben, sind so klein, daß man hoffen durfte, sie wür-den sich für die Beugung von Röntgenstrahlen eignen.Das Experiment ergab, daß es in der Tat möglich ist,die Wellenlängen der Röntgenstrahlen mit Hilfe die-ser dicht zusammengepferchten Objekte, nämlich derAtome in ihrer regelmäßigen dreidimensionalen kri-stallinischen Anordnung, zu beugen.

Wenn ein Bündel von Röntgenstrahlen durch einenKristall hindurchgeht und dann auf eine photographi-sche Platte fällt, so zeigt diese das Beugungsmuster.Man hat die Spektren von Röntgenstrahlen nach ver-schiedenen Methoden untersucht, um aus den Beu-gungsmustern Aufschluß über ihre Wellenlänge zu er-halten. Was wir hier in wenigen Worten gesagthaben, würde Bände füllen, wollte man alle theoreti-schen und experimentellen Einzelheiten anführen. AufTafel III ist nur ein einziges Beugungsmuster abgebil-det, das nach einer der zahlreichen Methoden herge-

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stellt wurde. Auch hier sehen wir wieder die hellenund dunklen Ringe, die so sehr für die Wellentheoriesprechen. In der Mitte ist der ungebeugte Strahl zusehen. Man würde außer diesem Lichtfleck gar nichtsweiter sehen, wenn zwischen Strahlenquelle und pho-tographischer Platte nicht der Kristall eingeschobengewesen wäre. An Hand von Photographien dieserArt kann man die in den Röntgenstrahlenspektrenvorkommenden Wellenlängen berechnen, und umge-kehrt lassen sich daraus Schlüsse auf die Struktur desKristalls ziehen, wenn die Wellenlänge bekannt ist.

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Die Wellen der Materie

Wie sollen wir uns die Tatsache erklären, daß in denSpektren der verschiedenen Elemente nur immer be-stimmte, charakteristische Wellenlängen vorkommen?

Schon oft wurde in der Physik dadurch ein ent-scheidender Fortschritt erzielt, daß man zwischenscheinbar unzusammenhängenden Phänomenen syste-matisch Parallelen gezogen hat. Wir haben im Rah-men dieser Ausführungen mehr als einmal gesehen,wie Ideen, die sich aus einem bestimmten Wissen-schaftszweig heraus entwickelt haben, später erfolg-reich auf andere Gebiete übertragen werden konnten.Die Entwicklung des mechanistischen Denkens undder auf dem Feldbegriff basierenden Auffassung bieteteine ganze Reihe von Beispielen dafür. Wenn manbereits gelöste Probleme neben die noch ungelöstenhält, so erscheinen einem die Schwierigkeiten, dienoch bewältigt werden müssen, oft in einem anderenLichte. Eine oberflächliche Analogie zu finden, mitder im Grunde gar nichts gesagt wird, ist natürlichkein Kunststück. Entdecken wir dagegen Gemeinsam-keiten von grundlegender Bedeutung, die sich hinteräußerlicher Verschiedenheit verbergen, und bauen wirdarauf dann eine neue, brauchbare Theorie, so leistenwir damit wertvolle, schöpferische Arbeit. Die Ausar-

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beitung der sogenannten Wellenmechanik, die vonLouis de Broglie und Erwin Schrödinger um 1915 be-gonnen wurde, ist ein typisches Beispiel für das Zu-standekommen einer erfolgreichen Theorie, die ineiner tiefgreifenden und glücklich gewählten Analogiewurzelt.

Fangen wir mit einem klassischen Beispiel an, dasan sich gar nichts mit moderner Physik zu tun hat.Wir ergreifen das Ende eines langen, schlaffen Gum-mischlauches oder einer sehr langen Stahlfeder undbewegen es rhythmisch auf und nieder, so daß es eineSchwingung ausführt.

Tafel III

Spektrallinien(Foto A. G. Shenstone)

Beugung von Röntgenstrahlen(Foto Lastowiecki und Gregor)

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Beugung von Elektronenwellen(Foto Loria und Klinger)

Wie wir schon an zahlreichen anderen Beispielen ge-sehen haben, entsteht unter dem Einfluß dieserSchwingung eine Welle, die sich mit einer bestimm-ten Geschwindigkeit über den ganzen Schlauch aus-breitet. Wenn wir uns den Schlauch unendlich langdenken, dann müssen die Wellengebilde, sind sie ein-mal erregt, ihre Reise ungestört bis in alle Ewigkeitfortsetzen.

Fig. 72

Nun ein anderer Fall: der Schlauch ist an beiden

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Enden befestigt. Man kann auch, wenn man will, eineGeigensaite nehmen. Was geschieht jetzt, wenn aneinem Ende des Schlauches bzw. der Saite eine Welleerzeugt wird? Nun, sie beginnt ihren Lauf wie im vo-rigen Beispiel, nur wird sie am anderen Ende zurück-geworfen, so daß wir es dann mit zwei Wellen zu tunhaben; eine entsteht durch die Schwingung, die anderedurch Reflexion. Sie bewegen sich in entgegengesetz-ten Richtungen

Fig. 73

und kommen miteinander in Konflikt. Es ist nichtschwer, die Interferenz der beiden Wellen zu verfol-gen. Das Ergebnis der Überlagerung ist eine einzige,eine sogenannte stehende Welle. Man sollte glauben,daß die Worte »stehend« und »Welle« einander wi-dersprächen, doch können sie, zu einem Begriff ver-eint, sehr wohl auf das Überlagerungsprodukt der bei-

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den Wellen angewandt werden.Das einfachste Beispiel für eine stehende Welle ist

die Bewegung einer Saite, die mit beiden Enden befe-stigt ist und wie in unserer Skizze auf und abschwingt. Eine solche Bewegung entsteht immerdann, wenn zwei in entgegengesetzter Richtung fort-schreitende Wellen einander überlagern. Das Charak-teristische an dieser Bewegung ist der Umstand, daßdie beiden Endpunkte, die sogenannten Knoten,ruhen. Die Welle steht sozusagen zwischen den bei-den Knoten still, und alle Punkte der Saite erreichengleichzeitig das Maximum bzw. das Minimum ihresAusschlages.

Fig. 74

Damit haben wir die stehende Welle allerdings nur inihrer einfachsten Form beschrieben. Es gibt auch nochandere Arten davon. So kann eine stehende Wellezum Beispiel drei Knoten haben, einen an jedem Endeund einen in der Mitte. In diesem Falle gibt es dreiPunkte, die ständig ruhen. Ein Blick auf die Skizzen

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belehrt uns darüber, daß die Wellenlänge hier nurhalb so groß ist wie bei der Welle mit den zwei Kno-ten. So können stehende Wellen auch vier, fünf undmehr Knoten haben. In allen Fällen wird die Wellen-länge durch die Anzahl der Knoten bestimmt, dieimmer durch eine ganze Zahl ausgedrückt sein mußund somit nur sprungweise veränderlich ist. Der Satz:»Die Anzahl der Knoten in der und der stehendenWelle beträgt 3,576« ist absurd; denn die Wellenlän-ge kann sich eben nur diskontinuierlich verändern. Sostoßen wir bei der Besprechung dieses an sich voll-kommen klassischen Problems also plötzlich aufDinge, die uns nun schon von der Quantentheorie hergeläufig sind. Die von einem Geigenspieler erzeugtestehende Welle ist nun allerdings noch bedeutendkomplizierter. Sie stellt nämlich eine Mischung aussehr vielen Wellen mit zwei, drei, vier, fünf und mehrKnoten und somit verschiedene Wellenlängen dar.Der Physiker kann eine solche Mischung in die einfa-chen stehenden Wellen zerlegen, aus denen sie be-steht, oder, um es in der Terminologie von vorhinauszudrücken: die schwingende Saite hat wie einStrahlung abgebendes Element sozusagen ihr Spek-trum; denn sie enthält wie das Spektrum eines Ele-ments nur bestimmte Wellenlängen, während alle an-deren bei ihr nicht vorkommen.

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Fig. 75

Es ist uns also gelungen, eine Ähnlichkeit zwischender schwingenden Saite und dem Strahlung aussen-denden Atom zu konstatieren. So seltsam uns dieseAnalogie auch anmuten mag, wollen wir doch ruhigfortfahren, unsere Schlüsse daraus zu ziehen und denVergleich weiterzuführen suchen, nachdem wir schoneinmal damit angefangen haben. Die Atome einesjeden Elements setzen sich aus Elementarteilchen zu-sammen. Die schwereren bilden den Kern, die leichte-ren sind die Elektronen. Ein solches System von Par-tikeln können wir nun mit einem kleinen akustischenInstrument vergleichen; denn in beiden Fällen werdenja stehende Wellen erzeugt.

Nun ist die stehende Welle aber das Resultat einerInterferenz von zwei oder, ganz allgemein, mehrerenfortschreitenden Wellen. Wenn an unserer Analogieetwas Wahres ist, dann müßte es ein Gebilde geben,das noch einfacher ist als das Atom und das als Pen-dant zur fortschreitenden Welle angesehen werdenkönnte. Welches ist das einfachste Gebilde? Nun, inunserer materiellen Welt kann es nichts Einfacheresgeben als ein Elektron, also ein Elementarteilchen, auf

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das keine Kräfte einwirken, das heißt, ein ruhendesoder gleichförmiges bewegtes Elektron. Wir könnenschon fast erraten, welcher Analogieschluß nunkommt:

Gleichförmig bewegtes Elektron →→ Wellen mit bestimmter Wellenlänge.

Das ist der neue kühne Gedanke, auf den de Broglieverfiel.

Es wurde vorhin schon gezeigt, daß es Phänomenegibt, bei denen das Licht seine Wellennatur verrät,und andere, die sich aus seiner Korpuskularstrukturerklären lassen. Nachdem wir uns schon ganz daraufeingestellt hatten, daß das Licht Wellennatur besitzt,mußten wir zu unserem Erstaunen feststellen, daß essich in manchen Fällen, zum Beispiel beim photo-elektrischen Effekt, nach Art von Photonenschauernverhält. Bei den Elektronen liegt die Sache jetzt gera-de umgekehrt. Wir haben uns darauf eingestellt ge-habt, daß Elektronen Partikeln, Elementarquanten derElektrizität und der Materie sind – wurden sie dochbereits eingehend auf ihre Ladung und ihre Masse un-tersucht. Wenn an de Broglies Idee etwas Wahressein soll, dann muß es ein Phänomen geben, bei demdie Materie ihre Wellennatur demonstriert. Auf denersten Blick mutet diese Schlußfolgerung, zu der wir

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von der Analogie mit der Akustik aus gelangt sind,seltsam und unverständlich an. Was soll eine bewegteKorpuskel mit einer Welle zu tun haben? Nun ist esfreilich nicht das erste Mal, daß wir in der Physik aufeine Schwierigkeit dieser Art stoßen. Das gleiche Pro-blem begegnete uns ja schon einmal in der Optik.

Auf die Grundideen kommt es bei der Aufstellungeiner physikalischen Theorie in erster Linie an. Inwissenschaftlichen Werken über Physik wimmelt eszwar von komplizierten mathematischen Formeln,doch entspringt jede physikalische Theorie aus einemDenkvorgang, einer Idee, und nicht etwa aus Zahlen-gebilden. Später, wenn es an die Ausarbeitung einerquantitativen Theorie geht, müssen diese Gedanken ineine mathematische Form gebracht werden, da siesich sonst nicht experimentell nachprüfen lassen. Wirkönnen das sehr gut an dem Problem illustrieren, mitdem wir es jetzt gerade zu tun haben. Das Hauptpo-stulat geht dahin, daß ein gleichförmig bewegtesElektron sich bei manchen Phänomenen wie eineWelle verhält. Nehmen wir an, ein Elektron oder einaus lauter Elektronen mit gleicher Geschwindigkeitbestehender Elektronenschauer bewegt sich gleichför-mig durch den Raum. Masse, Ladung und Geschwin-digkeit sind für jedes einzelne Elektron bekannt.Wenn wir den Wellenbegriff irgendwie mit einemgleichförmig bewegten Elektron bzw. mit Elektronen

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in Verbindung bringen wollen, dann müssen wir jetztfragen: Wie groß ist die Wellenlänge? Das ist nunaber eine quantitative Frage, und es muß daher zu-nächst einmal eine mehr oder minder quantitativeTheorie aufgestellt werden, wenn sie beantwortet wer-den soll. Das ist auch gar nicht so schwierig. Es istüberhaupt erstaunlich, wie einfach das Werk de Brog-lies, das die Lösung dieses Problems enthält, in ma-thematischer Hinsicht eigentlich ist. Im Vergleich zuden mathematischen Kunstgriffen, zu denen man beider Ausarbeitung mancher anderer zeitgenössischerTheorien greifen mußte, sind die Formeln de Brogliesgeradezu die einfachste Sache von der Welt. Das ma-thematische Rüstzeug für die Lösung des Problemsder Materiewellen ist wirklich äußerst einfach und un-kompliziert. Die Grundideen der Theorie dagegensind tiefgründig und überaus bedeutungsvoll.

Seinerzeit, bei der Besprechung von Lichtwellenund Photonen, haben wir gesehen, daß man jede mitden Mitteln der Wellenterminologie formulierte Aus-sage in die Sprache der Photonen- oder Lichtkorpus-kellehre übertragen kann. Das gleiche gilt nun auchfür die Elektronenwellen. Wie die Beschreibung vongleichförmig bewegten Elektronen in der Korpusku-larterminologie aussieht, wissen wir bereits. Jede inder Korpuskularsprache abgefaßte Aussage läßt sichjetzt aber, genauso wie bei den Photonen, in die Wel-

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2.391 Einstein/Infeld-Evolution, 261Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

lensprache übersetzen. Zwei Erkenntnisse waren fürdie Aufstellung der Übertragungsregeln maßgebend.Die eine davon ist die Analogie zwischen Lichtwellenund Elektronenwellen bzw. Photonen und Elektronen,die darauf hinausläuft, daß wir für Materie und Lichtmit ein und derselben Übertragungsmethode auszu-kommen suchen. Die zweite entstammt der speziellenRelativitätstheorie, nach der die Naturgesetze imSinne der Lorentz-Transformation, nicht aber derklassischen Transformation, unveränderlich sein müs-sen. Aus beiden Faktoren ergibt sich die für ein be-wegtes Elektron geltende Wellenlänge. Die Theoriegestattet es, die Wellenlänge eines Elektrons, das sichmit einer Geschwindigkeit von, sagen wir, 16000 kmin der Sekunde fortbewegt, ohne weiteres zu berech-nen. Sie ist ungefähr so groß wie die der Röntgen-strahlen. Daraus können wir weiter schließen, daß wirdie Wellennatur der Materie, sofern sie sich über-haupt nachweisen läßt, experimentell am besten miteiner für Röntgenstrahlen eingerichteten Versuchsan-ordnung überprüfen können.

Denken wir uns einen Elektronenstrahl, der sichgleichförmig mit einer bestimmten Geschwindigkeitfortbewegt, oder, um es mit den Mitteln der Wellen-terminologie auszudrücken, eine homogene Elektro-nenwelle, und nehmen wir an, daß diese durch einensehr dünnen Kristall, der als Beugungsgitter dient,

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hindurchgeht. Die Abstände zwischen den Beugungs-objekten im Kristall sollen so klein sein, daß sie beiRöntgenstrahlen Beugungserscheinungen hervorrufen.Wir dürfen erwarten, daß sich dann bei Elektronen-wellen mit annähernd gleicher Wellenlänge eine ähn-liche Wirkung einstellt. Die Beugung der durch diesedünne Kristallscheibe hindurchgehenden Elektronen-strahlen müßte sich dann mittels einer photographi-schen Platte nachweisen lassen. Das Experiment lie-fert nun auch tatsächlich ein Ergebnis, das als großar-tige Bestätigung der Theorie angesehen werden kann.Es zeigt sich nämlich, daß die Elektronenwellen tat-sächlich der Beugung unterliegen. Besonders deutlichwird die Verwandtschaft der Beugungserscheinungenvon Elektronenwellen und Röntgenstrahlen, wennman die beiden Muster auf Tafel III miteinander ver-gleicht. Wir wissen bereits, daß wir an Hand solcherBilder die Wellenlänge von Röntgenstrahlen bestim-men können. Bei Elektronenwellen ist es natürlichnicht anders. Das Beugungsmuster gibt uns Auf-schluß über die Länge von Materiewellen. Diese voll-kommene Übereinstimmung von Theorie und Experi-ment in quantitativer Hinsicht bestätigt die Richtig-keit unseres Gedankenganges in glänzender Weise.

Die vorhin besprochenen Schwierigkeiten werdendurch dieses Resultat allerdings nur noch erweitertund vertieft. Das läßt sich an einem Beispiel von der

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2.393 Einstein/Infeld-Evolution, 263Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Art deutlich machen, wie wir es seinerzeit bei der Be-sprechung der Lichtwellen herangezogen haben. EinElektron, das in Richtung auf ein sehr kleines Lochabgeschossen wird, unterliegt nämlich gleich denLichtwellen der Beugung und erzeugt auf der photo-graphischen Platte helle und dunkle Ringe. Es bestehteine schwache Hoffnung, dieses Phänomen eventuellaus der Wechselwirkung zwischen Elektron und Öff-nungsrand erklären zu können, wenn wir uns voneiner solchen Deutung auch nicht allzuviel verspre-chen dürfen. Wie steht es aber, wenn wir mit zweiÖffnungen arbeiten? Nun, statt der Ringe erscheinenStreifen. Wie ist es möglich, daß das zweite Locheinen vollständig anderen Endeffekt bewirkt? DasElektron ist doch unteilbar und kann, so sollte manwenigstens meinen, nur durch eine der beiden Öffnun-gen hindurchgehen. Woher soll das Elektron »wis-sen«, wenn es durch ein Loch geht, daß ein Stückchenweiter weg noch ein zweites gebohrt wurde?

Wir haben uns vorhin die Frage vorgelegt: Was istLicht? Besteht es aus Korpuskelschauern oder ausWellen? Jetzt fragen wir: Was ist Materie, was ist einElektron? Handelt es sich dabei um Korpuskeln oderum Wellen? Wenn das Elektron sich im Bereich einesfremden elektrischen oder magnetischen Feldes be-wegt, verhält es sich wie eine Partikel; wird es ineinem Kristall gebeugt, nimmt es dagegen Wellenna-

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2.394 Einstein/Infeld-Evolution, 263Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tur an. So stoßen wir bei der Erforschung der Elemen-tarquanten der Materie auf die gleiche Schwierigkeit,die wir schon bei den Lichtquanten kennengelernthaben, und eine der grundlegenden Fragen, welche diewissenschaftlichen Errungenschaften der letzten Zeitaufgeworfen haben, ist eben die, wie man die beideneinander widersprechenden Auffassungen, die mate-rialistische und die wellenmäßige, auf einen Nennerbringen soll. Grundprobleme dieser Art führen, so-bald sie einmal herausgearbeitet worden sind, überkurz oder lang immer zu wesentlichen Fortschrittender Wissenschaft. Die modernen Physiker haben sichredlich bemüht, dieses Problem zu lösen, doch erstdie Zukunft wird erweisen, ob die von ihnen geboteneLösung sich bewährt oder nicht.

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2.395 Einstein/Infeld-Evolution, 263Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Wahrscheinlichkeitswellen

Nach der klassischen Mechanik können wir aufGrund der mechanischen Gesetze die Bahn einesMassenpunktes vorausberechnen, wenn wir seineLage und Geschwindigkeit kennen und darüber imBilde sind, welche äußeren Kräfte auf ihn einwirken.Der Satz: »Der und der Massenpunkt hat in dem unddem Augenblick die und die Lage und Geschwindig-keit« ist in der klassischen Mechanik durchaus sinn-voll. Wenn diese Feststellung jedoch aus irgendeinemGrunde ihren Sinn verliert, so wird unsere Überle-gung (S. 52 f) über die Vorausberechnung zukünftigerEreignisse gegenstandslos.

Anfang des neunzehnten Jahrhunderts waren dieNaturwissenschaftler bestrebt, alle physikalischenVorgänge auf einfache Kräfte zurückzuführen, unddie diesen Kräften unterworfenen Materieteilchen hat-ten nach ihrer Meinung in jedem Augenblick klar de-finierbare Positionen und Geschwindigkeiten. Haltenwir uns noch einmal vor Augen, wie wir die Bewe-gung zu Beginn unseres Streifzuges durch das Reichder physikalischen Probleme, bei der Besprechung derMechanik, zu beschreiben pflegten. Wir zeichnetenentlang einer bestimmten Bahn Punkte ein, aus denendie genauen Positionen eines Körpers für bestimmte

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2.396 Einstein/Infeld-Evolution, 264Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Zeitpunkte ersichtlich waren, und dann zogen wirdurch diese Punkte tangentenförmige Vektoren, dieuns Richtung und Ausmaß der Geschwindigkeiten lie-ferten. Das war ein ebenso einfaches wie einleuchten-des Verfahren, nur läßt es sich auf die Elementar-quanten der Materie, die Elektronen, und auf dieEnergiequanten, die Photonen, nicht anwenden. DenWeg von Photonen und Elektronen darf man sichnicht, wie aus dem Beispiel mit den beiden feinenÖffnungen klar hervorgeht, als Bewegung im Sinneder klassischen Mechanik vorstellen. Elektronen undPhotonen scheinen durch beide Löcher hindurchzuge-hen, und es ist daher unmöglich, den beobachteten Ef-fekt auf Grund der Vorstellung von einer nach klassi-schem Muster angelegten Elektronen- bzw. Photonen-bahn zu deuten.

Wohl muß es Elementarvorgänge, wie zum Bei-spiel den Durchgang von Elektronen oder Photonendurch Öffnungen, geben. An der Existenz von Ele-mentarquanten der Materie und der Energie kannnicht gezweifelt werden, nur lassen sich die Grundge-setze eben nicht in der Weise formulieren, daß mannach dem primitiven Verfahren der klassischen Me-chanik einfach für einen gegebenen Zeitpunkt Lage-und Geschwindigkeitsbestimmungen macht.

Wir wollen es deshalb einmal anders versuchenund ein und denselben Elementarvorgang mehrmals

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2.397 Einstein/Infeld-Evolution, 265Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

wiederholen, das heißt, ein Elektron nach dem ande-ren auf die beiden feinen Öffnungen losschicken. Essoll hier der Einfachheit halber nur immer von Elek-tronen die Rede sein, obwohl es ebensogut Photonensein könnten.

Ein Mal um das andere wird ein und dasselbe Ex-periment durchexerziert; alle Elektronen haben glei-che Geschwindigkeit und bewegen sich auf die beidenÖffnungen zu. Es braucht wohl kaum erwähnt zu wer-den, daß es sich hierbei um ein idealisiertes Experi-ment handelt, das sich in Wirklichkeit nicht durchfüh-ren läßt, das wir uns aber ganz gut vorstellen können.Einzelne Photonen oder Elektronen lassen sich näm-lich in der Praxis eigentlich nicht wie Gewehrkugelnzu bestimmten Zeitpunkten nach Wunsch abschießen.

Das Resultat dieser Serie von gleichen Experimen-ten muß wiederum das Erscheinen heller und dunklerRinge bei Verwendung einer Öffnung und ebensol-cher Streifen bei zwei Löchern sein, nur mit einemwesentlichen Unterschied: als wir mit einem einzelnenElektron arbeiteten, blieb uns das Versuchsergebnisunverständlich, während es uns jetzt, da wir das Ex-periment oftmals wiederholt haben, gleich verständli-cher wird. Wir können nunmehr sagen: Dort, wo vieleElektronen auftreffen, erscheinen Lichtstreifen, derenHelligkeitsgrad sich nach der Zahl der Elektronenrichtet, denen sie ihre Entstehung verdanken. An

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2.398 Einstein/Infeld-Evolution, 265Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

dunklen Stellen dagegen sind kleine Elektronen einge-schlagen. Natürlich dürfen wir nicht glauben, daß alleElektronen durch ein und dasselbe Loch gehen. Wäredem so, dann dürfte es keine Rolle spielen, ob mandas andere verdeckt oder nicht. Wir wissen aber be-reits, daß der Versuch anders ausfällt, wenn man dastut. Da eine Partikel unteilbar ist, können wir unsnicht vorstellen, daß sie durch beide Löcher geht,doch haben wir jetzt, wo wir das Experiment mehr-mals wiederholt haben, auch eine andere Deutungs-möglichkeit. Es wird eben einfach so sein, daß einigeElektronen durch das erste und andere durch daszweite Loch gehen. Zwar wissen wir nicht, warum dieeinzelnen Elektronen sich verschiedene Öffnungenaussuchen, doch kann das Endergebnis der wiederhol-ten Versuche jedenfalls nur dahingehend gedeutetwerden, daß beide Löcher an der Durchschleusung derElektronen auf dem Wege von ihrer Emissionsquellezur Wand beteiligt sind. Wenn wir uns auf die Schil-derung dessen beschränken, was bei oftmaliger Wie-derholung des Experiments mit der großen Masse derElektronen geschieht, ohne uns um das Verhalten ein-zelner Teilchen zu kümmern, dann verstehen wirplötzlich, warum einmal ein ringförmiges und das an-dere Mal ein gestreiftes Muster erscheinen muß. DieBetrachtung einer Folge von gleichen Experimentenhat uns also eine neue Idee geliefert, nämlich die Vor-

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2.399 Einstein/Infeld-Evolution, 266Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

stellung von einem Kollektiv, dessen Grundelementeein nicht vorherzusehendes Verhalten zeigen. Zwarläßt sich nicht die Bahn eines einzelnen Elektrons,wohl aber der Umstand vorhersagen, daß an derWand helle und dunkle Streifen erscheinen werden.

Lassen wir die Quantenphysik nun einmal ganz ausdem Spiel.

Wir haben in der klassischen Physik gesehen, daßwir die Bahn eines Massenpunktes vorausberechnenkönnen, wenn wir seine Lage und seine Geschwindig-keit für einen bestimmten Zeitpunkt und die Kräftekennen, denen er unterworfen ist. Wir haben auch ge-sehen, wie die mechanistische Auffassung auf die ki-netische Theorie der Materie angewandt wurde. Abergerade in dieser Theorie erschien nun auf Grund unse-rer Überlegung eine neue Idee. Das Verständnis derweiteren Gedankengänge wird uns wesentlich leich-terfallen, wenn wir uns diese Idee möglichst gründlichzu eigen machen.

Denken wir uns ein mit Gas gefülltes Gefäß. Woll-ten wir die Bewegung einzelner Gasteilchen erfor-schen, müßten wir zunächst den Urzustand, das heißtdie Ausgangsstellung und die Anfangsgeschwindig-keit jeder einzelnen Partikel bestimmen. Selbst wenndas an sich möglich wäre, würden wir mehr als einMenschenleben brauchen, um die Ergebnisse zu Pa-pier zu bringen, da die Anzahl der Teilchen so unge-

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heuer groß ist. Sodann müßten wir darangehen, nachden bekannten Methoden der klassischen Mechanikdie Endpositionen aller Partikeln zu errechnen, wür-den dabei jedoch auf vollends unüberwindlicheSchwierigkeiten stoßen. Prinzipiell ist es durchausmöglich, auch in diesem Falle nach dem Verfahrenvorzugehen, das wir von der Bestimmung der Plane-tenbahnen her kennen, praktisch hat das aber gar kei-nen Sinn. Vielmehr müssen wir uns der statistischenMethode bedienen, bei der es auf eine genaue Kennt-nis des Urzustandes überhaupt nicht ankommt. Wirwerden auf diese Art weniger über den Zustand desSystems in einem gewählten Zeitpunkt erfahren undkönnen daher auch nichts Genaues über seine Vergan-genheit oder seine Zukunft sagen. Das Schicksal dereinzelnen Gasteilchen ist uns aber auch gleichgültig.Unser Problem ist von anderer Art. Wir fragen nicht:»Wie groß ist die Geschwindigkeit der einzelnen Par-tikeln in dem und dem Augenblick?«, sondern etwa:»Bei wie vielen Teilchen liegt die Geschwindigkeitzwischen 300 und 400 Metern in der Sekunde?« Dieeinzelnen Partikeln gehen uns nichts an. Was wir be-stimmen wollen, das sind Durchschnittswerte, die fürdas ganze Kollektiv typisch sind. Die statistische Me-thode kann natürlich nur dann ein brauchbares Ergeb-nis liefern, wenn das untersuchte System aus einergroßen Zahl von Einzelteilchen besteht.

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Wenn wir mit der statistischen Methode arbeiten,können wir das Verhalten eines einzelnen Teilchensaus dem Kollektiv allerdings nicht vorherbestimmen.Wir können nur sagen: Es besteht die Möglichkeit,die Wahrscheinlichkeit, daß es sich so und so verhält.Wenn unsere statistischen Gesetze uns sagen, daß dieGeschwindigkeit bei einem Drittel der Teilchen zwi-schen 300 und 400 Metern pro Sekunde liegen muß,dann werden wir bei einer Folge von Beobachtungenan vielen Partikeln eben diesen Durchschnittswertherausbekommen, oder, um es anders auszudrücken:die Chancen, eine Partikel zu finden, deren Geschwin-digkeit in diesen Grenzen liegt, stehen 1: 3.

Wenn wir die Geburtenziffer für ein großes Ge-meinwesen haben, so wissen wir ja auch nicht, ob dieund die Familie ein Kind hat oder nicht. Die Ziffer istnur ein statistischer Wert, für den die Einzelindivi-duen belanglos sind.

Wenn wir uns die Nummern einer großen Mengevon Kraftwagen aufschreiben, dann werden wir baldmerken, daß ein Drittel der Zahlen sich durch drei tei-len läßt. Wir können aber nicht sagen, ob der nächstevorbeikommende Wagen eine durch drei teilbareNummer hat oder nicht. Statistische Gesetze lassensich nur auf große Kollektive, nicht auf deren einzelneGrundelemente anwenden.

Nach diesem Abstecher wollen wir nun zu unserem

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2.402 Einstein/Infeld-Evolution, 267Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

Quantenproblem zurückkehren.Auch die Gesetze der Quantenphysik haben einen

statistischen Charakter, das heißt, sie beziehen sichnicht auf ein Einzelsystem, sondern auf eine Ansamm-lung von identischen Systemen. Sie können nichtdurch Einzelmessungen an Individuen, sondern nurdurch Serien von gleichartigen Messungen verifiziertwerden.

Der radioaktive Zerfall ist einer der vielen Vorgän-ge, für welche die Quantenphysik Gesetze zu formu-lieren bestrebt ist; in diesem Falle die Gesetze, nachdenen sich die spontane Umwandlung von einem Ele-ment in ein anderes vollzieht. Wir wissen zum Bei-spiel, daß von einem Gramm Radium nach 1600 Jah-ren die eine Hälfte zerfallen ist, während die andereHälfte bis dahin noch unverändert bleibt. Wir könnenannäherungsweise vorhersagen, wie viele Atome inder nächsten halben Stunde zerfallen, doch könnenwir nicht einmal in theoretischen Beschreibungen an-geben, warum gerade diese und keine anderen Atomean die Reihe gekommen sind. Nach dem Stande unse-res heutigen Wissens haben wir nicht die Fähigkeit,die Atome zu bezeichnen, die jeweils zum Zerfall be-stimmt sind. Das Schicksal eines Atoms hängt nichtmit seinem Alter zusammen. Wir haben nicht dieSpur von einem Gesetz, aus dem sich Schlüsse aufdas Verhalten der einzelnen Atome ziehen lassen.

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Man kann nur statistische Gesetze aufstellen, Gesetze,die für große Anhäufungen von Atomen gelten.

Ein anderes Beispiel: Ein leuchtendes gasförmigesElement, das vor ein Spektroskop gebracht wird, er-zeugt Linien bestimmter Wellenlänge. Das Erschei-nen einer diskontinuierlichen Gruppe bestimmterWellenlängen ist für diejenigen atomaren Phänomenecharakteristisch, an deren Zustandekommen die Ele-mentarquanten nachweisbar beteiligt sind. Nun hatdieses Problem allerdings auch noch eine andereSeite. Einige der Spektrallinien sind nämlich sehrdeutlich zu sehen, andere dagegen schwächer. Eineausgeprägte Linie deutet darauf hin, daß eine verhält-nismäßig große Zahl von Photonen der betreffendenWellenlänge ausgestrahlt wird, während eine schwa-che Linie das Gegenteil beweist. Die Theorie liefertuns auch hier nur statistische Daten. Jede Linie ist dersichtbare Ausdruck für den Übergang von einem hö-heren zu einem niedrigeren Energieniveau, und dieTheorie gibt uns nur Aufschluß über die Wahrschein-lichkeit der einzelnen möglichen Übergänge. Überden eigentlichen Energiesprung innerhalb eines ein-zelnen Atoms erfahren wir dagegen nichts. Die Theo-rie bewährt sich jedoch glänzend, weil es sich beiallen diesen Phänomenen um große Ansammlungenund nicht um einzelne Atome handelt.

Es hat fast den Anschein, als habe die neue Quan-

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2.404 Einstein/Infeld-Evolution, 268Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

tenphysik eine gewisse Ähnlichkeit mit der kineti-schen Theorie der Materie, da beide Lehren statisti-scher Natur sind und für große Ansammlungen gelten.Dem ist aber nicht so! Bei einem Vergleich beiderTheorien kommt es nicht so sehr auf die Gemeinsam-keiten, sondern vor allem auf die Verschiedenheitenan. Ihre Ähnlichkeit liegt hauptsächlich in ihrem stati-stischen Charakter. Wodurch unterscheiden sie sichaber nun?

Wenn wir wissen wollen, wie viele Männer undFrauen über zwanzig in einer bestimmten Stadt leben,müssen wir jeden Einwohner auffordern, einen Frage-bogen mit den Rubriken »männlich«, »weiblich« und»Alter« auszufüllen. Wenn das jeder wahrheitsgemäßtut, erhalten wir durch Sichtung und Zählung ein stati-stisches Ergebnis. Auf die einzelnen Namen undAdressen kommt es nicht an. Trotzdem leiten wir un-sere statistischen Feststellungen aus einer Kenntnisdes Einzelfalles ab. So haben wir es auch bei der ki-netischen Theorie der Materie mit statistischen Geset-zen zu tun, die zwar für die Gesamtheit gelten, dabeijedoch aus den Individualgesetzen abgeleitet sind.

In der Quantentheorie liegen die Dinge nun abervollkommen anders. Hier werden gleich die statisti-schen Gesetze aufgestellt, während man die Indivi-dualgesetze vollkommen aus dem Spiel läßt. An demBeispiel mit dem Photon bzw. Elektron und den bei-

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den Öffnungen haben wir gesehen, daß man die wahr-scheinliche Bewegung eines Elementarteilchens nichtnach dem Muster der klassischen Physik in Raum undZeit beschreiben kann. Der Quantenphysiker gibt sichnicht mit Gesetzen für einzelne Elementarteilchen abund schreitet gleich zur Aufstellung der statistischenGesetze, die für große Ansammlungen gelten. Es istunmöglich, mit den Mitteln der Quantenphysik Posi-tionen und Geschwindigkeiten von Elementarteilchenanzugehen oder, wie in der klassischen Physik, ihreBahn vorauszusagen. In der Quantenphysik wird nurmit Ansammlungen gearbeitet, und die Gesetze bezie-hen sich hier nur auf Kollektive, nicht aber auf ein-zelne Teilchen.

Die harte Notwendigkeit, nicht etwa Spekulationoder Neuerungssucht, zwingt uns, von der klassischenAuffassung abzugehen. Die Schwierigkeiten, auf diewir beim Arbeiten mit der alten Theorie stoßen, sindhier nur an einem Beispiel demonstriert worden, näm-lich an den Beugungserscheinungen. Man könnte abernoch viele andere, nicht minder einleuchtende Fälleanführen. Im Zuge unserer Bemühungen, die Wirk-lichkeit zu begreifen, sehen wir uns immer wieder ge-nötigt, unsere Ansichten zu ändern, doch stets bleibtdie Entscheidung darüber, ob wir den einzig mögli-chen Ausweg aus dem jeweiligen Dilemma gewählthaben oder ob sich eine bessere Lösung hätte finden

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lassen, der Zukunft vorbehalten.Wir gehen davon ab, Einzelfälle als selbständige

Vorgänge in Raum und Zeit zu betrachten, und führenstatt dessen Gesetze statistischer Natur ein. Das istdas Wesen der modernen Quantenphysik.

Bislang haben wir bei der Einführung neuer physi-kalischer Gegebenheiten, zum Beispiel im Falle deselektromagnetischen und des Schwerefeldes, immerversucht, die charakteristischen Merkmale der Glei-chungen, in denen die betreffenden Ideen ihren mathe-matischen Ausdruck fanden, in ganz allgemeinerForm zu skizzieren. Wir wollen das nun auch hier, beider Quantenphysik, wieder tun und damit ganz kurzauf die Arbeit von Bohr, de Broglie, Schrödinger,Heisenberg, Dirac und Born zu sprechen kommen.

Gesetzt den Fall, wir haben ein Elektron. Diesesmag im Wirkungsbereich eines beliebigen fremdenelektromagnetischen Feldes oder frei von allen äuße-ren Einflüssen sein; es mag sich im Feld eines Atom-kerns bewegen oder an einem Kristall beugen –immer lehrt uns die Quantenphysik, wie die mathema-tischen Gleichungen für das jeweilige Problem aufge-stellt werden können.

Wir haben bereits die Ähnlichkeit konstatiert, diezwischen einer schwingenden Saite, einem Trommel-fell, einem Blasinstrument oder irgendeinem anderenakustischen Gerät einerseits und einem Strahlung aus-

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sendenden Atom andererseits besteht. Auch zwischenden für akustische Probleme geltenden mathemati-schen Gleichungen und denen für Fragen der Quan-tenphysik gibt es eine Verwandtschaft, nur ist diephysikalische Interpretation der jeweiligen Größenverschieden, je nachdem, um was für Vorgänge essich handelt. Die physikalischen Größen für die Be-schreibung der schwingenden Saite haben eine ganzandere Bedeutung als die auf das Strahlung abgeben-de Atom bezüglichen, wenn zwischen den Gleichun-gen auch eine gewisse formelle Ähnlichkeit bestehenmag. Bei der Saite geht es uns um die Abweichungeines beliebigen Punktes in einem beliebigen Augen-blick von seiner Normallage. Wenn wir die Form derschwingenden Saite für einen bestimmten Augenblickkennen, wissen wir alles, was wir brauchen. Dannläßt sich die Abweichung von der Normallage näm-lich auch für jeden anderen Zeitpunkt aus den für dieschwingende Saite geltenden mathematischen Glei-chungen ableiten. Der Umstand, daß eine bestimmteAbweichung von der Normallage sich in allen Punk-ten der Saite auswirkt, läßt sich folgendermaßen nochexakter formulieren: Die Abweichung von der Nor-mallage in einem gewählten Augenblick ist eineFunktion der Koordinaten der Saite. Alle Punkte derSaite bilden zusammen ein eindimensionales Konti-nuum, und die Abweichung ist eine Funktion, die in

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diesem eindimensionalen Kontinuum ihren Ausdruckfindet und sich mit den für die schwingende Saite gel-tenden Gleichungen berechnen läßt.

Analog dazu haben wir auch im Falle des Elektronsfür einen gewählten Punkt im Raum und einen ge-wählten Augenblick eine Funktion, die wir Wahr-scheinlichkeitswelle nennen wollen. Die Wahrschein-lichkeitswelle ist hier das, was bei unserem akusti-schen Problem die Abweichung von der Normallagewar. Sie ist eine Funktion eines dreidimensionalenKontinuums für einen bestimmten Augenblick, wäh-rend die Abweichung der Saite eine Funktion des ein-dimensionalen Kontinuums für einen bestimmtenZeitpunkt ist. Die Wahrscheinlichkeitswelle ist eineArt Katalog, in dem all unser Wissen über das unter-suchte Quantensystem enthalten ist. Sie setzt uns inden Stand, alle sachlichen statistischen Fragen zu be-antworten, die sich auf dieses System beziehen. ÜberLage und Geschwindigkeit eines Elektrons in einembestimmten Augenblick gibt sie uns keinen Auf-schluß, da derartige Angaben in der Quantenphysikgegenstandslos sind. Wir erfahren nur etwas darüber,wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, das Elektron aneinem bestimmten Punkt anzutreffen bzw. wo wir diegrößten Chancen haben, auf ein Elektron zu stoßen.Das Resultat gilt nicht für eine Messung, sondern fürviele gleichartige Messungen. So läßt sich die Wahr-

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scheinlichkeitswelle in der gleichen Weise aus denGleichungen der Quantenphysik entwickeln wie daselektromagnetische Feld aus den Maxwellschen Glei-chungen und das Schwerefeld aus denen der Gravitati-on. Es handelt sich auch bei den Gesetzen der Quan-tenphysik um strukturelle Gesetze, nur haben die vondiesen Gleichungen bestimmten physikalischen Be-griffe einen viel abstrakteren Charakter als die elek-tromagnetischen und Schwerefelder. Sie sind nur dasmathematische Rüstzeug für die Beantwortung vonFragen statistischer Natur.

Bislang haben wir nur das Elektron besprochen,das den Einflüssen irgendeines äußeren Feldes unter-liegt. Wenn wir es nicht mit dem Elektron, mit derkleinsten denkbaren Ladung, sondern mit einer an-sehnlichen, aus Milliarden von Elektronen bestehen-den Ladung zu tun hätten, brauchten wir die ganzeQuantentheorie nicht und könnten das Problem ein-fach mit den Mitteln der herkömmlichen Physik be-handeln. Wenn es sich um elektrische Ströme inDrähten, um geladene Leiter oder elektromagnetischeWellen handelt, genügt die alte, einfache Physik, diein den Maxwellschen Gleichungen ihren Niederschlaggefunden hat. Sprechen wir aber vom photoelektri-schen Effekt, von der Intensität der Spektrallinien,von der Radioaktivität, von der Beugung von Elektro-nenwellen oder einem der zahlreichen anderen Phäno-

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mene, bei denen sich die Quantennatur von Materieund Energie manifestiert, kommen wir damit nichtaus. Wir müssen dann gewissermaßen eine Stufehöher steigen. Während wir uns in der klassischenPhysik mit Lage- und Geschwindigkeitsbestimmun-gen für einzelne Partikeln befaßt haben, müssen wirhier mit Wahrscheinlichkeitswellen arbeiten, die, so-lange es sich um Einzelpartikeln handelt, in einemdreidimensionalen Kontinuum liegen.

Die Quantenphysik hat ihre eigenen Vorschriftenfür die Behandlung von Problemen, Vorschriften, dieeinen ganz anderen Charakter haben als die, nachdenen wir seinerzeit gelernt haben, analoge Problememit den Mitteln der klassischen Physik zu lösen.

Für einzelne Elementarteilchen, Elektronen oderPhotonen, haben wir Wahrscheinlichkeitswellen ineinem dreidimensionalen Kontinuum, aus denen sich,statistisch gesehen, das Verhalten eines Systems ent-nehmen läßt, sofern es sich um oft wiederholte gleicheVorgänge handelt. Wie ist es aber nun, wenn wir esnicht mit einem, sondern mit zwei aufeinander einwir-kenden Teilchen zu tun haben, zum Beispiel mit zweiElektronen, mit einem Elektron und einem Photonoder mit einem Elektron und einem Atomkern? Ebenwegen der zwischen ihnen bestehenden Wechselwir-kung können wir sie dann nicht mehr gesondert be-trachten und einzeln mittels einer dreidimensionalen

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Wahrscheinlichkeitswelle beschreiben. Es ist abernicht sehr schwer zu erraten, wie wir in der Quanten-physik ein System erfassen müssen, das sich aus zweiaufeinander einwirkenden Partikeln zusammensetzt.Wir müssen einfach wieder eine Stufe hinabsteigenund für einen Augenblick zur klassischen Physik zu-rückkehren. Die Lage zweier Massenpunkte im Raumin einem bestimmten Augenblick wird durch sechsZahlen festgelegt, für jeden drei. Alle denkbaren Posi-tionen der beiden Massenpunkte bilden somit einsechsdimensionales Kontinuum, kein dreidimensiona-les mehr wie im Falle eines einzelnen Punktes. Wennwir nun wieder eine Stufe höher, zur Quantenphysik,emporsteigen, haben wir Wahrscheinlichkeitswellenin einem sechsdimensionalen Kontinuum statt der ineinem dreidimensionalen liegenden, nur für eine Parti-kel geltenden. Dementsprechend sind die Wahrschein-lichkeitswellen für drei, vier und mehr PartikelnFunktionen in einem neun-, zwölf- usw. -dimensiona-len Kontinuum.

Daraus ergibt sich klar, daß die Wahrscheinlich-keitswellen etwas Abstrakteres sind als die elektroma-gnetischen und Schwerefelder, die gleichsam in unse-ren dreidimensionalen Raum gebettet sind und sichdarin ausbreiten. Das »Milieu«, wenn man so sagendarf, der Wahrscheinlichkeitswellen ist das vieldi-mensionale Kontinuum, und nur wenn es sich um Ein-

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zelpartikeln handelt, deckt sich die Anzahl der Di-mensionen mit der des physikalischen Raumes. Dieeinzige physikalische Nutzanwendung der Wahr-scheinlichkeitswelle liegt darin, daß wir damit sachli-che Fragen statistischer Art beantworten können, diesich auf das Verhalten von Einzelpartikeln oder Parti-kelkomplexen beziehen. Bei Einzelelektronen könntees uns zum Beispiel interessieren, wie groß die Wahr-scheinlichkeit ist, daß wir an einem bestimmten Punkteinem Elektron begegnen. Bei zwei Partikeln könnteman fragen: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit,diese beiden Teilchen in einem bestimmten Augen-blick an den und den beiden Punkten anzutreffen?

Die erste Abweichung von der klassischen Physikbestand darin, daß wir davon absahen, einzelne Fälleals selbständige Vorgänge in Raum und Zeit zu be-schreiben. Wir sahen uns genötigt, mit der durch dieWahrscheinlichkeitswellen verkörperten statistischenMethode zu arbeiten. Nachdem wir diesen Weg ein-mal eingeschlagen hatten, mußten wir notgedrungennoch weiter abstrahieren. So kam es zur Einführungvon vieldimensionalen Wahrscheinlichkeitswellen,die uns auch die Lösung von Problemen ermöglichen,bei denen es sich um Partikelkomplexe handelt.

Wir wollen der Kürze halber einmal alles, wasnicht zur Quantenphysik gehört, als klassische Physikbezeichnen. Dann läßt sich feststellen, daß klassische

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Physik und Quantenphysik zwei grundverschiedeneDinge sind. In der klassischen Physik geht es um dieBeschreibung von räumlich vorhandenen Objektenund die Aufstellung von Gesetzen für die Veränderun-gen dieser Objekte in der Zeit. Die Phänomene je-doch, bei denen die Partikel- und Wellennatur vonMaterie und Strahlung in Erscheinung tritt, der offen-sichtlich statistische Charakter von Elementarvorgän-gen – radioaktiver Zerfall, Beugung, Emission vonSpektrallinien und viele andere Erscheinungen – nöti-gen uns, von dieser Auffassung abzugehen. DieQuantenphysik zielt nicht mehr auf die Beschreibungvon einzelnen Objekten im Raum und ihre Verände-rungen in der Zeit ab. In der Quantenphysik ist keinPlatz mehr für Feststellungen wie: »Dieses Objekt istsoundso beschaffen bzw. hat die und die Eigen-schaft.« Statt dessen konstatieren wir etwa folgendes:»Es besteht die und die Wahrscheinlichkeit, daß die-ses oder jenes Einzelobjekt soundso beschaffen istbzw. die und die Eigenschaft hat.« In der Quanten-physik ist auch kein Raum mehr für Gesetze, wie mansie anderweitig zur Bestimmung von Veränderungendes Einzelobjektes in der Zeit hat. Statt dessen habenwir Gesetze für die Veränderungen der Wahrschein-lichkeit in der Zeit. Erst nach dieser von der Quanten-theorie bewirkten grundlegenden Umstellung der Phy-sik war es möglich, eine angemessene Erklärung für

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den offensichtlich diskontinuierlichen und statisti-schen Charakter von Vorgängen aus dem Reich derPhänomene zu finden, bei denen die Elementarquan-ten von Materie und Strahlung ihre Existenz doku-mentieren.

Es tauchen aber auch hier wiederum neue, nochschwierigere Probleme auf, die bislang nicht einwand-frei gelöst werden konnten. Wir wollen nur einige die-ser ungelösten Fragen anführen. Für die Naturwissen-schaft wird es niemals eine Erfüllung geben. Jeder be-deutende Fortschritt wirft neue Fragen auf. Jede Ent-wicklung legt über kurz oder lang neue, noch schwe-rer überwindbare Klippen frei.

Wir wissen bereits, daß wir in dem einfachen Fall,wo es sich um Einzelpartikeln oder um Komplexe vonTeilchen handelt, die Stufe von der klassischen zurquantenmäßigen Darstellung, von der objektiven Be-schreibung von Vorgängen in Raum und Zeit zu denWahrscheinlichkeitswellen hinaufsteigen können. Wirwollen uns jetzt aber einmal an den für die klassischePhysik so überaus wichtigen Feldbegriff erinnern.Wie sollen wir nun die Wechselwirkung zwischenElementarquanten der Materie und dem Feld beschrei-ben? Wenn für die quantenmäßige Beschreibung voneinem Komplex aus zehn Teilchen eine dreißigdimen-sionale Wahrscheinlichkeitswelle vonnöten ist, dannwürde man für eine entsprechende Feldbeschreibung

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eine unendliche Zahl von Dimensionen brauchen. DerÜbergang vom klassischen Feldbegriff zu dem ent-sprechenden Wahrscheinlichkeitswellenproblem inder Quantenphysik ist keine einfache Angelegenheit.Das Höhersteigen um eine Stufe ist in diesem Fallekeine leichte Aufgabe, und alle bisher in dieser Rich-tung unternommenen Versuche müssen als gescheitertangesehen werden. Es gibt aber noch ein Grundpro-blem. Bei der Behandlung des Überganges von derklassischen zur Quantenphysik haben wir bisherdurchweg mit der alten prärelativistischen Darstel-lungsmethode gearbeitet, derzufolge Raum und Zeitwesensverschieden sind. Wenn wir jedoch versuchenwollten, die von der Relativitätstheorie inspirierteklassische Auffassung zugrunde zu legen, dann würdesich unser Aufstieg zum Quantenproblem noch bedeu-tend mehr komplizieren. Auch an diese Frage habensich die Vorkämpfer der modernen Physik schon her-angewagt, ohne jedoch bisher eine vollständige undzufriedenstellende Lösung finden zu können. Auchdie Ausbildung einer folgerichtigen Physik für dieschweren Teilchen, aus denen sich die Atomkerne zu-sammensetzen, bereitet noch Schwierigkeiten. Trotzder vielen auf experimentellem Wege zutage geförder-ten Daten und der mannigfachen Bemühungen, Lichtin das Atomkernproblem zu bringen, tappen wir imHinblick auf die Grundfragen dieses Gebietes nach

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wie vor im dunkeln.Es kann nicht daran gezweifelt werden, daß die

Quantenphysik die Deutung einer außerordentlichgroßen Vielfalt von Gesetzmäßigkeiten ermöglichtund daß damit in der Mehrzahl der Fälle auch eineglänzende Übereinstimmung von Theorie und Beob-achtung erzielt werden konnte. Mit der neuen Quan-tenphysik entfernen wir uns noch weiter von der altenmechanistischen Auffassung, und ein Rückzug auf diealte Position muß heute als unwahrscheinlicher dennje erscheinen. Wir dürfen uns aber keinesfalls darüberhinwegtäuschen, daß auch die Quantenphysik nochauf den beiden Begriffen Materie und Feld aufgebautwerden muß. Sie ist in diesem Sinne eine dualistischeTheorie, die uns in unserem Bestreben, alle Vorgängeauf den Feldbegriff zurückzuführen, nicht einen einzi-gen Schritt weiterbringt.

Wird die zukünftige Entwicklung auf dem von derQuantenphysik beschrittenen Wege weitergehen, oderist es wahrscheinlicher, daß wiederum neue, bahnbre-chende Ideen in die Physik eingeführt werden? Wirddie Vormarschstraße wieder einmal plötzlich dieRichtung ändern, wie sie es in früheren Fällen schonso oft getan hat?

In der letzten Zeit konnten alle mit der Quanten-theorie zusammenhängenden Schwierigkeiten auf einpaar Hauptpunkte konzentriert werden. Die Physiker

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2.417 Einstein/Infeld-Evolution, 275Albert Einstein & Leopold Infeld: Die

sehen ihrer Klärung voll Ungeduld entgegen. Es istaber noch gar nicht abzusehen, wann und wo die Be-reinigung der noch offenen Fragen erfolgen wird.

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Physik und Weltbild

Welche allgemeinen Schlüsse lassen sich nun aus derbisherigen Entwicklung der Physik ziehen, die wirhier in groben Umrissen unter ausschließlicher Be-rücksichtigung der Grundideen skizziert haben?

Die Naturwissenschaft ist nicht bloß eine Samm-lung von Gesetzen, ein Katalog zusammenhangloserFakten. Sie ist eine Schöpfung des Menschengeistesmit all den frei erfundenen Ideen und Begriffen, wiesie derartigen Gedankengebäuden eigen sind. Physi-kalische Theorien sind Versuche zur Ausbildungeines Weltbildes und zur Herstellung eines Zusam-menhanges zwischen diesem und dem weiten Reichder sinnlichen Wahrnehmungen. Der Grad derBrauchbarkeit unserer gedanklichen Spekulationenkann nur daran gemessen werden, ob und wie sie ihreFunktion als Bindeglieder erfüllen.

Wir haben gesehen, wie die Physik auf ihrem Vor-marsch immer wieder neue Realitäten schuf. DieserSchöpfungsprozeß läßt sich aber weit über den Ur-sprung der eigentlichen Physik hinaus zurückverfol-gen. Einer der primitivsten Begriffe ist der des Gegen-standes. Die Begriffe »Baum«, »Pferd« und über-haupt der Begriff eines materiellen Körpers schlecht-hin, sie alle sind Schöpfungen, die aus der Erfahrung

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erwachsen sind, mögen die ihnen zugrundeliegendenWahrnehmungen auch im Vergleich zu den eigentli-chen physikalischen Phänomenen noch so primitivsein. Wenn die Katze mit einer Maus spielt, so doku-mentiert sie damit, daß auch sie sich auf gedankli-chem Wege ihre eigene primitive Realität geschaffenhat. Der Umstand, daß sie auf jede Maus, die ihr überden Weg läuft, in gleicher Weise reagiert, ist ein Be-weis dafür, daß sie sich Begriffe gebildet und Theori-en zurechtgelegt hat, die sie durch die Welt ihrer Sin-neseindrücke geleiten.

Die Ausdrücke »drei Bäume« und »zwei Bäume«sind nicht dasselbe, und auch »zwei Bäume« und»zwei Steine« bedeuten etwas Verschiedenes. Die Be-griffe der reinen Zahlen 2, 3, 4 usw. sind, losgelöstvon den Objekten, mit denen zusammen sie ursprüng-lich entstanden sind, reine Schöpfungen des Ver-standes und sollen uns zur Beschreibung der realenVerfassung unserer Welt dienen.

Das psychologisch verankerte subjektive Zeitgefühlgestattet es uns, unsere Eindrücke zu ordnen und zumBeispiel zu sagen, daß dieses Ereignis früher eingetre-ten sei als jenes. Wenn wir aber mit Hilfe einer Uhrjeden Augenblick im Zeitablauf gleichsam numerie-ren, wenn wir die Zeit als eindimensionales Kontinu-um betrachten, so ist das bereits eine Abstraktion.Das gleiche läßt sich von den Begriffen der euklidi-

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schen und der nichteuklidischen Geometrie und vonunserem als dreidimensionales Kontinuum verstande-nen Raum sagen.

Die eigentliche Physik setzte mit der Schöpfung derBegriffe »Masse«, »Kraft« und »Inertialsystem« ein.Diese Begriffe sind alle reine Abstraktionen. Sie bil-deten die Grundlage für das mechanistische Denken.Für den Physiker des beginnenden neunzehnten Jahr-hunderts setzte sich die reale Außenwelt aus Partikelnzusammen, zwischen denen ausschließlich von derEntfernung abhängige einfache Kräfte walten. Er be-mühte sich, so lange wie möglich an dem Glaubenfestzuhalten, es müsse ihm eines Tages doch noch ge-lingen, das ganze Naturgeschehen aus diesen Grund-begriffen heraus zu erklären. Erst auf Grund derSchwierigkeiten, die sich im Zusammenhang mit derAblenkung der Magnetnadel und mit der Struktur desÄthers ergaben, sahen wir uns veranlaßt, eine subtile-re Realität zu schaffen. Nun kam die hochbedeutsameAbstraktion des elektromagnetischen Feldes. Es be-durfte eines kühnen Gedankensprunges, um zu erken-nen, daß nicht das Verhalten von Körpern, sonderndas von etwas zwischen ihnen Liegendem, das heißtdas Verhalten des Feldes, für die Ordnung und dasVerständnis der Vorgänge maßgebend sein könne.

Im Zuge der weiteren Entwicklung wurden dannviele alte Begriffe verworfen und durch neue ersetzt.

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In der Relativitätstheorie kam man von der absolutenZeit und dem Inertialsystem ab. Als Rahmen für dasNaturgeschehen wurde fortan nicht mehr das eindi-mensionale Zeitkontinuum in Verbindung mit demdreidimensionalen Raumkontinuum angesehen, son-dern das vierdimensionale Raum-Zeit-Kontinuum,eine neue Abstraktion mit neuen Transformations-merkmalen. Das Inertialsystem wurde nicht mehr ge-braucht. Alle Koordinatensysteme mußten in bezugauf die Beschreibung von Naturereignissen als gleichgut geeignet angesehen werden.

Die Quantentheorie arbeitete dann wieder neue,grundlegende Züge unserer Realität heraus. Diskonti-nuität trat an die Stelle von Kontinuität. Die Gesetzefür einzelne Teilchen wurden von Wahrscheinlich-keitsgesetzen abgelöst.

Das Weltbild der modernen Physik hat mit denVorstellungen von einst wahrhaftig nicht mehr viel zutun. Das Ziel bleibt jedoch für jede physikalischeTheorie immer das gleiche.

Wir bahnen uns mit Hilfe der physikalischen Theo-rien einen Weg durch das Labyrinth der beobachtetenGesetzmäßigkeiten und bemühen uns, unsere sinnli-chen Wahrnehmungen zu ordnen und zu verstehen. Eswird dabei immer angestrebt, die beobachteten Ge-setzmäßigkeiten als logische Folgerungen aus unse-rem physikalischen Weltbild darzustellen. Ohne den

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Glauben daran, daß es grundsätzlich möglich ist, dieWirklichkeit durch unsere theoretischen Konstruktio-nen begreiflich zu machen, ohne den Glauben an dieinnere Harmonie unserer Welt könnte es keine Natur-wissenschaft geben. Dieser Glaube ist und bleibt dasGrundmotiv jedes schöpferischen Gedankens in derNaturwissenschaft. Alle unsere Bemühungen, alledramatischen Auseinandersetzungen zwischen altenund neuen Auffassungen werden getragen von demewigen Drang nach Erkenntnis, dem unerschütterli-chen Glauben an die Harmonie des Alls, der immerstärker wird, je mehr Hindernisse sich uns entgegen-türmen.

Wir fassen zusammen:Die große Vielfalt von Gesetzmäßigkeiten im Reicheder atomaren Phänomene nötigt uns, wiederumneue physikalische Begriffe zu ersinnen. Die Materiehat eine »körnige« Struktur, sie setzt sich aus Ele-mentarteilchen, den Elementarquanten der Materie,zusammen. Genauso hat auch die elektrische La-dung und – was im Sinne der Quantentheorie dasWichtigste ist – die Energie eine »körnige« Struktur.Photonen sind die Energiequellen, aus denen sichdas Licht zusammensetzt.

Hat das Licht Wellennatur, oder wird es von Pho-tonenschauern gebildet? Ist ein Elektronenstrahl ein

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Schauer von Elementarteilchen, oder hat er Wellen-natur? Diese Kardinalfragen erwachsen der Physikaus dem Experiment. In dem Bemühen, sie zu beant-worten, müssen wir notgedrungen darauf verzichten,atomare Vorgänge als Ereignisse in Raum und Zeitzu beschreiben, und uns noch weiter von der altenmechanistischen Auffassung distanzieren. DieQuantenphysik bringt Gesetze, die für Kollektiveund nicht mehr für deren Individuen gelten. NichtEigenschaften, sondern Wahrscheinlichkeiten wer-den beschrieben; nicht für die zukünftige Entwick-lung von Systemen werden Gesetze aufgestellt, son-dern für Veränderungen der Wahrscheinlichkeitenin der Zeit, Gesetze, die für große Ansammlungenvon Individuen gelten.

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