Elektra

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Samstag, 23. Januar 2010, 20.00 Uhr Mit deutscher und englischer Übertitelung In memoriam Klaus J. Jacobs ELEKTRA Tragödie in einem Aufzug von Richard Strauss (1864-1949) Libretto von Hugo von Hofmannsthal Uraufführung: 25. Januar 1909, Königliches Opernhaus, Dresden Musikalische Leitung Daniele Gatti Inszenierung Martin Kus ˇej Spielleitung Claudia Blersch, Herbert Stoeger Bühnenbild Rolf Glittenberg Kostüme Heidi Hackl Lichtgestaltung Jürgen Hoffmann Choreinstudierung Ernst Raffelsberger Dramaturgie Ronny Dietrich, Regula Rapp Elektra Eva Johansson Klytämnestra Agnes Baltsa Chrysothemis Emily Magee* Orest Martin Gantner* Aegisth Rudolf Schasching 1. Magd Wiebke Lehmkuhl* 2. Magd Katharina Peetz 3. Magd Irène Friedli 4. Magd Liuba Chuchrova 5. Magd Sen Guo Aufseherin Margaret Chalker Vertraute Camille Butcher°* Schleppträgerin Stefanie C. Braun°* Pfleger des Orest Davide Fersini* Ein junger Diener Peter Sonn* Ein alter Diener Thomas Tatzl°* *Rollendebüt °Mitglied des IOS Orchester der Oper Zürich Zusatzchor der Oper Zürich Statisterie der Oper Zürich Unterstützt durch Weitere Vorstellungen Di 26. Jan. 19.30 Premieren-Abo B Fr 29. Jan. 19.30 Freier Verkauf Sa 31. Jan. 20.00 Sonntagabend-Abo A Fr 5. Feb. 19.00 Freitag-Abo A So 7. Feb. 14.00 Volksvorstellung Mi 10. Feb. 19.00 Mittwoch-Abo B So 14. Feb. 14.00 Misch-Abo Elektra Herr Gatti, Sie sind einer der gefragtesten Dirigenten unserer Tage, Sie haben an der Staatsoper Wien, an der Scala di Milano, dem Royal Opera House London, der Me- tropolitan Opera New York und bei den Bayreuther Festspielen dirigiert; was hat Sie dazu bewogen, die Stelle als Chefdiri- gent am Opernhaus Zürich anzutreten? Im Dezember 2007 hat Alexander Pereira mich erstmals kontaktiert. Natürlich kannte und schätzte ich seine Arbeit hier in Zürich. Mein Vertrag als Generalmusikdirektor in Bologna lief damals nach zehn Jahren gerade aus; nach einigen Monaten Nachdenken – ich wollte nicht gleich wieder eine Verpflichtung über- nehmen, die mich in gleicher Weise fordern würde wie in Bologna, das hat mich sehr viel Kraft gekostet – haben wir einen Modus für unsere Zusammenarbeit gefunden, der einen Zyklus von sechs Opernproduktionen und sechs Konzerten in drei Jahren umfasst. In die- ser Spielzeit ist das die «Elektra» und ein Sin- foniekonzert, in den kommenden beiden Spiel- zeiten sind es dann zwei bzw. drei Neuproduk- tionen und Konzerte. Dafür schien uns dann der Titel Chefdirigent angebracht. Ich wollte ein Opernhaus finden, an dem ich kontinuier- lich mit einem hervorragenden Orchester an der Interpretation von Werken derjenigen Komponisten arbeiten kann, die ich liebe; des- halb stehen Verdi und Wagner im Mittelpunkt meiner Arbeit hier. Das Opernhaus Zürich war mir bekannt als ein sehr zuverlässiges Haus, das zudem die Möglichkeit hat, die besten Sängerinnen und Sänger der Welt zu engagie- ren. Und die Stadt Zürich hat mich vom ersten Augenblick fasziniert. War die «Elektra» als Einstand in Zürich Ihr Wunsch? In dieser Spielzeit hatte ich leider nicht genug Zeit für eine Neuproduktion, und ich wusste, dass das Opernhaus eine sehr gute «Elektra» im Spielplan hat; Martin Kus ˇejs Inszenierung finde ich stark, sehr aus der Musik entwickelt. Was ist Ihre persönliche Beziehung zu Richard Strauss? «Elektra» ist nach «Salome» in Bologna vor neun Jahren erst die zweite Strauss-Oper, die ich dirigiere; hier am Opernhaus dirigiere ich sie zum ersten Mal, eine Neuproduktion bei den Salzburger Festspielen diesen Sommer Sven-Eric Bechtolf Musikalische Neueinstudierung 4 «Elektra» ist das radikalste Musiktheater von Richard Strauss – kompromisslos, wild und expressionistisch. Ein riesiger Orchester- apparat produziert rauschhafte Klänge an den äussersten Grenzen der Harmonik. Der Stoff ist archaisch: Für den Mord an ihrem Vater Agamemnon will Elektra sich gemeinsam mit ihrem Bruder Orest an ihrer Mutter Klytämnestra rächen. Sie selbst lebt ausserhalb des Palastes bei den Hunden und ersehnt die Rückkehr Orests. Endlich erscheint er und bringt Klytämnestra und ihren Geliebten Aegisth um. Elektra beginnt einen ekstatischen Freudentanz, auf dessen Höhepunkt sie zusammenbricht. – Daniele Gatti, seit dieser Spielzeit Chefdirigent am Opernhaus Zürich, im Gespräch über die Einsamkeit der Titelfigur, die Weiterentwicklung der Tradition und die Kraft des Augenblicks.

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Page 1: Elektra

Samstag, 23. Januar 2010, 20.00 UhrMit deutscher und englischer ÜbertitelungIn memoriam Klaus J. Jacobs

ELEKTRATragödie in einem Aufzugvon Richard Strauss (1864-1949)Libretto von Hugo von HofmannsthalUraufführung: 25. Januar 1909,Königliches Opernhaus, Dresden

Musikalische Leitung Daniele GattiInszenierung Martin KusejSpielleitung Claudia Blersch,

Herbert StoegerBühnenbild Rolf GlittenbergKostüme Heidi HacklLichtgestaltung Jürgen HoffmannChoreinstudierung Ernst RaffelsbergerDramaturgie Ronny Dietrich, Regula RappElektra Eva JohanssonKlytämnestra Agnes BaltsaChrysothemis Emily Magee*Orest Martin Gantner*Aegisth Rudolf Schasching1. Magd Wiebke Lehmkuhl*2. Magd Katharina Peetz3. Magd Irène Friedli4. Magd Liuba Chuchrova5. Magd Sen GuoAufseherin Margaret ChalkerVertraute Camille Butcher°*Schleppträgerin Stefanie C. Braun°*Pfleger des Orest Davide Fersini*Ein junger Diener Peter Sonn*Ein alter Diener Thomas Tatzl°*

*Rollendebüt°Mitglied des IOS

Orchester der Oper ZürichZusatzchor der Oper ZürichStatisterie der Oper Zürich

Unterstützt durch

Weitere VorstellungenDi 26. Jan. 19.30 Premieren-Abo BFr 29. Jan. 19.30 Freier VerkaufSa 31. Jan. 20.00 Sonntagabend-Abo AFr 5. Feb. 19.00 Freitag-Abo ASo 7. Feb. 14.00 VolksvorstellungMi 10. Feb. 19.00 Mittwoch-Abo BSo 14. Feb. 14.00 Misch-Abo

ElektraHerr Gatti, Sie sind einer der gefragtestenDirigenten unserer Tage, Sie haben an derStaatsoper Wien, an der Scala di Milano,dem Royal Opera House London, der Me-tropolitan Opera New York und bei denBayreuther Festspielen dirigiert; was hatSie dazu bewogen, die Stelle als Chefdiri-gent am Opernhaus Zürich anzutreten?ImDezember 2007 hat Alexander Pereiramicherstmals kontaktiert. Natürlich kannte undschätzte ich seine Arbeit hier in Zürich. MeinVertrag als Generalmusikdirektor in Bolognalief damals nach zehn Jahren gerade aus; nacheinigen Monaten Nachdenken – ich wolltenicht gleich wieder eine Verpflichtung über-nehmen, die mich in gleicher Weise fordernwürde wie in Bologna, das hat mich sehr vielKraft gekostet – haben wir einen Modus fürunsere Zusammenarbeit gefunden, der einenZyklus von sechs Opernproduktionen undsechs Konzerten in drei Jahren umfasst. In die-ser Spielzeit ist das die «Elektra» und ein Sin-foniekonzert, in den kommendenbeiden Spiel-zeiten sind es dann zwei bzw. drei Neuproduk-tionen und Konzerte. Dafür schien uns dannder Titel Chefdirigent angebracht. Ich wollteein Opernhaus finden, an dem ich kontinuier-lich mit einem hervorragenden Orchester ander Interpretation von Werken derjenigenKomponisten arbeiten kann, die ich liebe; des-halb stehen Verdi undWagner imMittelpunktmeiner Arbeit hier. Das Opernhaus Zürich warmir bekannt als ein sehr zuverlässiges Haus,das zudem die Möglichkeit hat, die bestenSängerinnen und Sänger derWelt zu engagie-ren. Und die Stadt Zürich hat mich vom erstenAugenblick fasziniert.

War die «Elektra» als Einstand in ZürichIhr Wunsch?In dieser Spielzeit hatte ich leider nicht genugZeit für eine Neuproduktion, und ich wusste,

dass das Opernhaus eine sehr gute «Elektra»im Spielplan hat; Martin Kusejs Inszenierungfinde ich stark, sehr aus der Musik entwickelt.

Was ist Ihre persönliche Beziehung zuRichard Strauss?«Elektra» ist nach «Salome» in Bologna vorneun Jahren erst die zweite Strauss-Oper, dieich dirigiere; hier am Opernhaus dirigiere ichsie zum ersten Mal, eine Neuproduktion beiden Salzburger Festspielen diesen Sommer

Sven-Eric Bechtolf

Musikalische Neueinstudierung

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«Elektra» ist das radikalste Musiktheater von Richard Strauss – kompromisslos, wild und expressionistisch. Ein riesiger Orchester-apparat produziert rauschhafte Klänge an den äussersten Grenzen der Harmonik. Der Stoff ist archaisch: Für den Mord an ihrem VaterAgamemnon will Elektra sich gemeinsam mit ihrem Bruder Orest an ihrer Mutter Klytämnestra rächen. Sie selbst lebt ausserhalb desPalastes bei den Hunden und ersehnt die Rückkehr Orests. Endlich erscheint er und bringt Klytämnestra und ihren Geliebten Aegisthum. Elektra beginnt einen ekstatischen Freudentanz, auf dessen Höhepunkt sie zusammenbricht. – Daniele Gatti, seit dieser SpielzeitChefdirigent am Opernhaus Zürich, im Gespräch über die Einsamkeit der Titelfigur, die Weiterentwicklung der Tradition und dieKraft des Augenblicks.

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wird folgen. Ich war sofort gefangen von demDrama, aber natürlich auch von der starken,zum Teil expressionistischen musikalischenSprache von Richard Strauss. Die «Elektra»-Partitur ist eine der grössten Opernpartituren,die je geschrieben wurden. Ein Meisterwerkder Instrumentation. Manchmal schoss Straussvielleicht ein bisschen über das Ziel hinaus,dann kann man die Stimmen fast nicht mehrhören. Aber gleichzeitig ist die «Elektra» trotzdes riesigenOrchesterapparates sehr intim, einKammerspiel, das zu ungefähr siebzig Prozentaus Monologen besteht, und diesen Aspektkann man an einem Haus wie Zürich gut her-ausarbeiten; die Zuschauer können hier dasDrama wirklich von innen erleben. Es ist einganz neues Abenteuer für mich. Zum Glückhabe ich eine hervorragende Besetzung.

Was ist aus Ihrer Sicht das zentrale Themain «Elektra»?Oberflächlich betrachtet ist es natürlich dieRache, aber ich denke, es ist eher die Einsam-keit Elektras. Zu Beginn der Oper entsteht mitder Szene der Mägde die Atmosphäre desStückes, die Umgebung, in der Elektra lebt. Esist eine Art Prolog, in dem von Elektra gespro-chen wird, noch bevor Elektra selbst auftritt.

Die Mägde haben die Negativität dieses Ortes,die von Klytämnestra undAegisth ausgeht undalles durchdringt, absorbiert. Nur die jüngste,naivste Magd ist von dieser Negativität nochunberührt. Das erste Wort, das Elektra singt,ist «allein» – und sie ist allein, im direkten Sinndes Wortes. Die einzige Figur in dieser Oper,die lange, lyrischemelodische Linien zu singenhat, ist Chrysothemis; dies unterstreicht aufmusikalischer Ebene die Reinheit dieser Figur,die von der Brutalität, die sonst alles durch-dringt, noch nicht beschädigt worden ist. Elek-tras Gesang ist dagegen expressionistisch ge-prägt. –Die Einsamkeit Elektraswürde ich gernunterstreichen, und natürlich diese ungeheureKraft des Dramas, dem alle Figuren unrettbarausgeliefert sind.

Als «Elektra» vor über 100 Jahren urauf-geführt wurde, war das Publikum glei-chermassen schockiert und fasziniert vondiesem radikalen Musiktheater, das vieleGrenzen überschreitet. Kann ein heutigesPublikum von «Elektra» überhaupt nochschockiert sein?Das heutige Publikum kann von der Qualitäteiner Aufführung schockiert sein! «Elektra» istzwar längst ins Repertoire eingegangen, aber

eine klare, tiefschürfende Interpretation kanneinzigartige, unwiederholbare Momente ent-stehen lassen, wie es sie nur in einer Live-Auf-führung geben kann. Ich möchte das Publi-kumnicht unbedingt schockieren, sondern einpaar Fragezeichen in Herz und Hirn der Zu-schauer platzieren. Ich bin nicht interessiertdaran, zu wiederholen, was die Tradition sagt.Ich respektiere die Tradition, doch ich fühleauch die Verpflichtung, weiterzugehen. Ichkomme aus einem romanischen Land, ausdem Land des «Belcanto»; natürlich wirdmeine Interpretation sich von einer deutschenLesart unterscheiden, so wie sich auch mein«Parsifal» in Bayreuth von der deutschen Tra-dition unterschieden hat. Ich möchte frei sein,eine Geschichte durch mein Herz und meinGehirn zu erzählen, und nicht einfach daswiederholen, was schon einmal gesagtwurde. Das wird möglicherweise das Publi-kum schockieren – ich hoffe, es wird ein po-sitiver Schock sein.

Richard Strauss selbst meinte, dasSchockierende an seiner Partitur sei – ne-ben dem riesigen Orchesterapparat, dener fordert – die Harmonie, deren Grenzener in «Elektra» überschritten habe.

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Musikalische Neueinstudierung Elektra

Wir haben unterschiedliche musikalischeSprachen in dieser Oper. Wenn Chrysothemissingt, dann basiert die Musik auf klassischenKadenzen, und es gibt eine Grundtonart, die«königliche» Tonart Es-Dur: Chrysothemis istauch als Figur der Vergangenheit verhaftet;sie will ein traditionelles Leben, ein «Weiber-schicksal», deshalb wählt Strauss auch denWalzer-Rhythmus für sie. Elektra dagegengeht vorwärts und riskiert dabei ihr Leben;ihre Musik ist der Zukunft zugewandt. Straussbenutzt auch Pentatonik oder schreibt bitonal,schichtet also zwei verschiedene Tonartenübereinander. Dieser Zusammenprall gegen-sätzlichermusikalischer Sprachenmacht einenGrossteil der Kraft der Partitur aus.

Strauss denkt also sehr dramatisch und er-zählt in seinerMusik enormviel über seineFiguren.Chrysothemis ist an gewisse Gesetze gebun-den, während Elektra vollkommen anarchischist – auch das erzählt uns die Musik.

Und Klytämnestra, dieMutter von Elektraund Chrysothemis, die ihrenGattenmithil-fe ihres Geliebten brutal erschlagen hat?Ich habe den Eindruck, in der Musik für Elek-tra und Chrysothemis liegt viel mehr Persön-lichkeit als in der Musik, die Strauss für Kly-tämnestra geschrieben hat. Ihre Musik ist vielweniger klar, es gibt kein klares Motiv, das siecharakterisieren würde. Und dann gibt es jaauch zwei unterschiedliche Klytämnestras: dieöffentliche – und die private, die von schreck-lichen Albträumen gequält wird und Elektrains Gesicht lügt.

Es scheint, dass ihre Musik sich auflöst.Ja, wie sie selbst – sie hat absolut keine Persön-lichkeit. Sie lebt nur in diesem einen Moment.

Zum Abschluss noch eine Frage, die IhreAktivitäten in der ganzen Welt betrifft:Gerade waren Sie mit dem Orchester derScala di Milano und «Don Carlo» in Tokio,Sie dirigieren in Italien, den USA, Öster-

reich, der Schweiz –wie gehen Siemit die-ser Belastung um?Normalerweise bin ich hauptsächlich in Europatätig; mit dem Orchester der Scala nach Tokiozu gehen, war einfach eine besonders schöneAufgabe, die ich nicht missen wollte. Und vondort ging es weiter an die Met, wo ich seitfünfzehn Jahren nicht mehr gewesen bin. Ichmache nicht mehr als drei Opernproduktionenpro Spielzeit, das unterscheidet mich von vie-len anderen Operndirigenten. Ich bin jetzt 48Jahre alt, und ich habe sehr viel gearbeitet inden letzten Jahren. Nunmöchte ich etwaswe-niger arbeiten und ein bisschen mehr Zeit fürmich selbst haben.

Das Gespräch führte Beate Breidenbach.

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Agamemnon opfert, um die Ausfahrt des Hee-res gegen Troja zu ermöglichen, seine TochterIphigenie, seine älteste Tochter aus der EhemitKlytämnestra. Er selbst wird bei der Rückkehraus dem Trojanischen Krieg (bei der er seineneue Geliebte Kassandra als Kriegsbeute mit-bringt) von Klytämnestra, seiner Gattin, undderen Geliebten, Aegisth, ermordet. Agamem-nons Sohn Orest rächt, nachdem er herange-wachsen ist, den Tod des Vaters. Er tötet Ae-gisth sowie seineMutter Klytämnestra undwirddafür von den Erinnyen verfolgt.(...)Beim flüchtigen Lesen dieser tausende Jahrealten Geschichte kann man die wahre Dimen-sion des Schreckens ausMord, Inzest, Ehebruchund Kannibalismus gar nicht wirklich erfassen.Angesichts der Schlagzeilen unserer täglichenNachrichten wird aber rasch klar, dass sich ei-gentlich gar nicht viel geändert hat – nur dieFrequenz dieser elementarsten Tabuverletzun-gen einer Gesellschaft hat sich rasend ver-schärft; und was früher Bestandteil der Herr-scherdynastienwar, findet nun im Internet, aufAutobahnraststätten, in Arztpraxen und, ja,auch in JedermannsWohn- bzw. Schlafzimmerstatt…Wenn nun der Sinn des frühen antiken Theatersdarin bestanden haben mag, diese Schreckenzu bannen, indem sie auf einer Bühne öffent-lich behandelt wurden, und die Menschen soauf ihremmühsamenWeg in die Zivilisation zubegleiten, müssen wir uns eingestehen, dassdieser Impetuswohl als gescheitert zu betrach-ten ist.Trotzdem ist ELEKTRA quer durch die Jahrhun-derte eines der faszinierendsten Stücke desTheaters geblieben, und gerade die – imwahr-sten Sinne des Wortes – «atemberaubende»Opern-Version von Richard Strauss überrollt ei-nen in knapp zwei Stunden wie eine giganti-sche Lawine aus Emotion, Grauen, Dissonanz,Finsternis und Einsamkeit. So ist es wohl nur-mehr dieser ausgestellte Blick in den menschli-chenAbgrund, der im Theater immer noch Sinnmacht und der fürmich primäreMotivation ist,dieses Stück zu erzählen. Es ist, als würde maneine verbotene Tür öffnen und die Hand woll-te/könnte sie wegen der erlebten Ungeheuer-lichen nicht mehr zufallen lassen… der Blickverharrt und verliert, verliebt sich fast in dieMonstrosität dieser Frau, entsetzt sich an denSchrecken dieserWelt und ihrerMenschen, dieimmer noch die unsere ist. Das ist die Erkennt-nis, die Selbst-Erkenntnis, aus der heraus mandiese Tür doch erschrocken wieder zuschlägt.

Wir wissen, dass das Tun der StraussschenMonster SALOME und ELEKTRA keinesfalls zurMaximeeiner allgemeingültigenEthik gemachtwerden kann – imGegenteil (und das finde ichbesonders reizvoll): ihre Fremdheit, ihre Über-tritte ins Abseits und Aussen, ihr existentiellesAussenseitertum bedeuten Erregung und Pro-vokation, aber kein moralisches Kleingeld, dassich in Erkenntnis und Erbauung wechselnliesse. Man muss einfach akzeptieren, dass sieso weit über die Grenzen des Erträglichen undDenkbaren hinaustreten – das ist ihre einzigeMission; uns das «Grauen sehen zu lassen».ELEKTRA lebt in einer an sich korrumpierten,verdrängenden und verfaulenden Gesellschaftund ist gleichzeitig ihre schlimmste Ausfor-mung. Gerade aus der Zerrüttetheit ihrer Seelezieht sie ihre ans Übermenschliche gemahnen-den psychischen Kräfte und wird so zu einemfaszinierenden theatralischen Charakter. Sowird sie sich immer der gängigen, gutgemein-ten «Aufklärung» und Verharmlosung wider-setzen, denn sie ist auf der analytischen Ebenenicht wirklich fassbar.Sie ist keine Heldin, sie befreit nichts und nie-manden, sie ist vor allem VERLASSEN und VER-EINSAMT. ELEKTRA befindet sich als Aussen-seiterin, als totaler Widerpart und gleichzeitigbestimmender Teil der Gesellschaft in einemGrenzbereich, der die Bürgerwelt immer schonfasziniert hat: SALOME, JUDITH, DELILAH,ELEKTRA – das Grauen vor einem Monstrum;der ungeheuerliche Kontrast zwischen Weib-lichkeit und Unweiblichkeit; schliesslich die ko-kette Zusammenführung von Lust und Tod,von Sinnlichkeit und Bluttat – diese Mischungaus Grauen und Bewunderung fand immerwieder Eingang in die Kunst genauso wie inden Boulevard…Es sind poetische Kategorien gepaart mit see-lischen Abgründen, die meine Beschäftigungmit ELEKTRA bestimmen. Es ist vor allem dasVerhältnis zum Tod, durch das sich ELEKTRA –auch für Hofmannsthal – so besonders leben-dig und problematisch erweist: Alle «seine Fi-guren würden sich dem Tod entgegen enthül-len», sagte er einmal. Die Radikalität, mit dersich die ELEKTRA-Gestalt dem Tod verschreibt,ist die vielleicht am weitesten vorgeschobeneGrenze in seinem Werk. Sie bleibt in der Ver-knüpfung von Todesidentifikation und Sprach-mächtigkeit, von Psychopathologie und Pro-phetentum ein nicht mehr überholtes Experi-ment, das mich vorbehaltlos begeistert undfasziniert.

Grusswort des Sponsors

Liebe Opernfreunde

«Elektra» ist eine leidenschaftliche Oper übereine junge, von Seelennöten geplagte Frau, dieeinzig und allein der Gedanke am Leben hält,den Mord an ihrem Vater Agamemnon zu rä-chen. Als dies vollbracht ist und Elektras BruderOrest die Mutter und deren Liebhaber umge-bracht hat, tanzt Elektra einen ekstatischenTanz, auf dessenHöhepunkt sie tot zusammen-bricht.Die Aufführung von «Elektra» zur Wende des20. Jahrhunderts übertraf Richard Strauss’«Salome» in ihrer anspruchsvollen Harmonik.Mit einem aussergewöhnlich grossenOrchesterentfesselte der Komponist Klänge, dieman bisdahin so noch nicht gehört hatte und derenexpressionistische Kraft bis heute nichts vonihrer Wirkung eingebüsst hat. Das damaligePublikum war von der archaischen Thematikebenso beängstigt wie fasziniert, und auchheute noch lässt uns Elektras Geschichte nichtunberührt.In der heutigen sorgengeplagtenWelt könnenwir alle mit Elektras Leiden mitfühlen. Aberwährend Elektra die Dunkelheit nicht durch-dringen konnte, sehen wir in der Ferne einenSchimmer Hoffnung.«Elektra» ist eine Oper von intensiver emotio-naler Kraft, deren Umsetzung unter der musi-kalischen Leitung von Daniele Gatti und in derInszenierung von Martin Kusej Musiktheaterauf höchstem Niveau verspricht.

Im Namen von Zurich wünsche ich Ihnen einenunvergesslichen Abend.

Martin SennChief Executive OfficerZurich

Martin Senn

Die alte Ordnung Blut – «Elektra»Gedanken zur Inszenierung – von Martin Kusej