Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und...

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Sascha Kraus (Hrsg)

Entrepreneurship –Fallstudien

Unternehmensgründung, Intrapreneurshipund Innovationsmanagement

SpringerWienNewYork

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Prof. Dr. Sascha Kraus, Ph.D.Universität Liechtenstein, Vaduz, Liechtenstein

Gefördert durch die Europäische Kommission:

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Mit 67Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7091-0760-7 SpringerWienNewYork

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Vorwort

Entrepreneurship hat sich zu der wohl aufstrebendsten Disziplin innerhalb der Be-triebswirtschaftslehre entwickelt. Gründung und Wachstum von jungen Unterneh-men wie auch die Entwicklung eines Unternehmergeists in etablierten KMU, Fami-lienunternehmen oder auch Großunternehmen (Corporate Entrepreneurship)werden verstärkt als Wettbewerbsvorteile angesehen, um den sich rasant wandel-nden Anforderungen der Unternehmensumwelt gerecht zu werden und um langfris-tig erfolgreich zu sein. Daher werden immer mehr wissenschaftliche Untersuchun-gen sowie Lehrbücher zum Thema veröffentlicht. Neben dieser Theorie ist jedochauch deren konkrete Anwendung elementar wichtig für das Gesamtverständnis desFachgebietes.

Hieran setzt der vorliegende Sammelband an, der insgesamt 25 Praxis-Fallstu-dien aus ganz Europa zu allen Facetten des Entrepreneurship in deutscher Sprachevereint. Damit ist er der erste Sammelband innerhalb der Disziplin Entrepreneur-ship überhaupt im deutschsprachigen Raum, der sich vollständig auf Fallstudien fürden Einsatz in der Hochschulausbildung konzentriert. Er integriert in einem weitenEntrepreneurship-Verständnis Subthemen wie Unternehmensgründung, KMU-Ma-nagement, Selbständigkeit, Innovationsmanagement, Familienunternehmen, Inter-nationalisierung, Social Entrepreneurship, Entrepreneurial Marketing etc.

Der Sammelband bildet ein wesentliches Ergebnis des EU-Projektes „EuroEntre-Cases“1, bei dem insgesamt 30 Entrepreneurship-Fallstudien aus ganz Europa erstelltund in die fünf wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt wurden. Die vorlie-gende Auswahl beinhaltet die besten 25 dieser 30 Entrepreneurship-Fallstudien indeutscher Sprache, die nochmals korrigiert und für den direkten Einsatz in derLehre an Universitäten, Fachhochschulen oder Berufsakademien überarbeitet wur-den.

Das Projekt wurde initiiert und durchgeführt von· Dr. Thomas Cooney, Dublin Institute of Technology, Irland;· Prof. Luca Iandoli, Universität Neapel „Federico II“, Italien;· Prof. Sascha Kraus, Universität Liechtenstein;· Prof. Rickie Moore, EM Lyon, Frankreich;· Prof. Christian Serarols i Tarrés & Pablo Migliorini, Autonome Universität Barce-

lona, Spanien.

Ich möchte an dieser Stelle meinen Kollegen für die hervorragende Zusammenarbeitim Rahmen dieses Projektes danken, ebenso wie Jennifer Manning vom Dublin In-stitute of Technology, Irland für die Projektassistenz sowie Dr. Ruth Jochum-Gasser

1 Gefördert durch die Europäische Kommission –Unternehmen und Industrie innerhalb des Rah-menprogramms für Wettbewerbsfähigkeit und Innovation (CIP) 2007–2013, Projekt-Code:ENT/CIP/09/E/N 02S 001 2011.

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VI Vorwort

von der Universität Liechtenstein für die hervorragende Korrekturarbeit. Weiterhingilt mein Dank natürlich den Autoren der in diesem Sammelband enthaltenen Fall-studien sowie der Riege an Übersetzern, die diese deutschsprachige Version über-haupt erst möglich gemacht haben.

Für Hochschuldozenten, die dieses Buch dankenswerterweise in ihrer Lehre ein-setzen, sei an dieser Stelle abschließend der Hinweis erlaubt, dass sie den Herausge-ber gerne bzgl. der Fragestellungen sowie Teaching Notes (in englischer Sprache) fürdie nachfolgenden Fallstudien kontaktieren dürfen.

Vaduz, im Juni 2011

Sascha Kraus

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

1 Chic Café (Belgien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

2 Noir/Illuminati II (Dänemark) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 Attocube Systems (Deutschland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35

4 GJ Belfrost (England) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

5 EWaiter (Estland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

6 Wristop Technologies Ltd. (Finnland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103

7 BTMediaplus (Frankreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

8 Silver Fashion (Griechenland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135

9 David Lysaght (Irland) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

10 Tecnomodel (Italien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161

11 InnoForce (Liechtenstein) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

12 E-ADMIN (Litauen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

13 AXOGLIA (Luxemburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

14 Café Jubilee (Malta) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

15 Virobuster (Niederlande) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235

16 Troms Offshore (Norwegen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

17 Anders Müller Dental AG (Österreich) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259

18 Getmore (Polen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

19 Antonio Ezequiel GmbH (Portugal) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

20 Beck Hallestrøm (Schweden) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

21 Kofola Holding (Slowakei) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307

22 Tic Lens (Slowenien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315

23 NAO International (Spanien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

24 Zátiší Catering (Tschechische Republik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341

25 Meex (Ungarn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

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1Chic Café (Belgien)

Rickie A. Moore & Joseph A. LiPuma

1.1 Einleitung

Evelyn schaute auf die Uhr – es war erst 5 Uhr morgens. Sie hatte eine schlafloseNacht verbracht. Alles schien sich in ihrem Kopf zu drehen – sie hatte Angst davor,das erste Mal ihr neues Ladenlokal zu besichtigen. Da sie wusste, dass sie nicht mehreinschlafen kann, stand sie auf und ging ihre Aufgabenliste für den Tag durch. Sienahm ihre Kamera aus der Schublade und packte sie in ihren Rucksack, damit siesie auf keinen Fall vergessen würde. Während des Frühstücks mit Kaffee und Crois-sant notierte sie alles hastig in ihr Notizbuch, was ihr während der schlaflosen Nachteingefallen war. Für jede ihrer unterschiedlichen Tätigkeiten und Aufgaben nutztesie eine eigene Seite, damit alles überschaubar war: Speisekarte, Lieferanten, Ausstat-tung, Preise, Nährwerttabellen, Dekoration, Sitzplätze, Licht usw. Als langsam derMorgen anbrach, wusste Evelyn, dass es nun an der Zeit war, ihren zukünftigen Wir-kungsbereich kennenzulernen. Es war erst 7:30 Uhr, als sie über den Grand Placeund durch den Gare Centrale bummelte. Obwohl es nur 15 Minuten Fußweg war,schien es ihr wie eine Ewigkeit. Sie war auf einer Mission – den Laden zu begutach-ten, von dem ihr Vater ihr erzählt hatte und den sie als potenziellen Ort für ihre neueGeschäftsidee bewerten wollte.

1.2 Le Bon Pain

Das Le Bon Pain war eine von Brüssels ältesten Bäckereien. Antoine und Louis hat-ten es als Investition in den frühen 1980ern gekauft. Louis wurde jedoch in den letz-ten Jahren immer schwächer, weshalb es für Antoine zunehmend schwieriger wurde,alles alleine zu meistern. Sie beließen den Laden möglichst so, wie sie ihn damals ge-kauft hatten und veränderten gerade soviel, dass die Anforderungen des Brandschut-zes erfüllt waren. Evelyns Vater Ronald war ein Diplomat der amerikanischen Regie-rung und ein häufiger Besucher Brüssels. Normalerweise wohnte er im Amigo Hotel,nur wenige Blöcke vom Laden entfernt, sodass er regelmäßig auf demWeg zum odervom Hotel am Laden vorbei kam. Eines Abends sprach er während des Essens mitVincent Jeffrey, der ihm von den erschöpften Besitzern des Le Bon Pain und derenVerkaufswunsch erzählte. Jedoch wollten sie das Lokal nicht öffentlich verkaufen,sondern einer jungen Person mit Antriebskraft und einem innovativen Konzept hel-fen. Vincent erinnerte Ronald daran, dass seine Tochter Evelyn in Brüssel studierte

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und gern ein neues Café-Konzept in der Stadt initiieren wollte. Vincent und Ronaldbefanden das Le Bon Pain als passenden Ort für solch einen Anfang. Antoine undLouis, die alten Besitzer des Ladens, freuten sich darauf, „ihren“ Laden nach der Fer-tigstellung bewundern zu können und stolz darauf zu sein, bei der Realisierung einesTraums mithelfen zu können.

1.3 Die Entstehung des Chic Café

Einige Tage nach dem Gespräch mit Vincent traf sich Ronald mit Evelyn zum Essenund erzählte ihr davon, dass eine passende Verkaufsfläche für ihre Geschäftsidee ver-fügbar sei. Evelyn konnte kaum einen Bissen essen, so aufgeregt war sie. Sie bombar-dierte ihren Vater mit Fragen und Ideen. Als Erstes musste sie entscheiden, ob derStandort der richtige für ihre Idee war, und sie musste schnell ein „Gefühl“ für dasLokal bekommen. Außerdem hatte sie eine Liste mit Fragen zum Lokal . . . eine langeListe. Auch den Namen für ihr Geschäft (Chic Café) hatte sie schon. Sie hatte sogarschon nach möglicher Hilfe bei der Bewertung ihres Projektes gesucht und wusste,bei welchen Venture Capital-Partnern sie ihr Geschäftskonzept platzieren konnte.Sie hatte herausgefunden, dass die Belgische Vereinigung für Venture Capital, Busi-ness Angel Connect (beide waren private Organisationen) und Brustart/Brusoc(eine öffentliche Venture-Agentur) drei mögliche Ansprechpartner waren, die ihrbei ihrem Business Proposal helfen könnten. Sie würde die drei morgen direkt nachder Besichtigung des Lokals treffen.

Evelyn wusste auch, dass eine weitere Herausforderung auf sie wartete: Sie mussteihre Studiengruppe überzeugen, dass es wert war, den Sprung zu wagen und ihr Pro-jekt erfolgversprechend war, wenn sie nur mit Kopf und Herz bei der Sache waren.Sie war Teil der Entrepreneurship Class ihres MBA-Programms, in der jeder die Auf-gabe hatte, drei Geschäftsideen einer Gründung zu entwickeln. Nach langen Diskus-sionen fand Evelyns Idee mit dem neuen Café-Konzept Anklang bei der Gruppe; siestimmten ihr auch deshalb zu, weil es schon immer ein Traum von Evelyn war, solchein Unternehmen aufzuziehen. Der Rest der Gruppe waren Freunde mit unter-schiedlichen Interessen, aber die Liebe zum Kaffee und die Leidenschaft für Heraus-forderungen war bei allen gleich. Kulturell waren sie ein bunter Haufen. Sie tauchtenimmer weiter in Evelyns Idee ein und präsentierten das Projekt in der Klasse so über-zeugend, dass sie als das Team mit der originellsten Idee gekürt wurden.

Evelyn Montfort war eine Amerikanerin und glaubte an den Erfolg einer gutenIdee mit dem richtigen Konzept zur richtigen Zeit am richtigen Ort mit den richti-gen Leuten. Sie dachte zwar, dass ihre Idee des Chic Cafés gut war, trotzdem war sievon der Zustimmung ihrer Kommilitonen und ihres Professors überrascht. Esschien, als ob Evelyn ihre Leadership Skills und ihre Fähigkeit, eine gute Idee aneine Gruppe zu „verkaufen“ und diese mit ins Boot zu holen unterschätzt hatte. AlsKind in New York überredete sie oft Freunde, in ihren unterschiedlichen Chemie-Projekten mitzuarbeiten, von denen eines sogar eine Landesmeisterschaft gewann.Evelyn hatte ihren Abschluss in Fremdsprachen gemacht (Französisch, Spanisch, Ita-

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lienisch) und belegte zwei Praktika bei den Vereinten Nationen. Während ihres letz-ten Praktikums überlegte sie sich, zum Studium nach Brüssel zu kommen.

Die Gruppe innerhalb der MBA-Klasse bestand aus fünf Studenten, die sich vordem Beginn ihres einjährigen Intensivprogramms noch nicht gekannt hatten. Vorsechs Monaten waren Evelyn diese Personen noch fremd, und heute überlegte sie,mit ihnen ein gemeinsames Unternehmen zu gründen. So schnell funktionierte dasin diesen Intensivprogrammen! Alle Kommilitonen wählten i. d. R. dieselben Veran-staltungen mit den gleichen Professoren und erlebten die selben Probleme mit demZeitmanagement (zu viel Arbeit in zu kurzer Zeit), mit mangelndem Schlaf, unter-schiedlichsten Probleme in einigen Kursen und persönlichen Kontakten auch amWochenende. Durch diese gemeinsam geteilten Erfahrungen bildeten sich kamerad-schaftliche Teams, deren Verbindungen und Freundschaften oft ein ganzes Lebenlang hielten. Evelyns größte Sorge war aber nicht die Gegenwart, sondern was sie inden nächsten fünf Jahren nach dem Programm machen sollte.

Während der Entrepreneurship-Veranstaltung präsentierte Professor Rogé ineinem Forum unterschiedliche Unternehmer, die von ihrer Geschäftsgründung undden gemachten Erfahrungen berichteten. Einer der Redner war José, ein Kaffee- undKakao-Händler, der vom World Trust als zertifizierter Produzent ausgewiesen warund biologischen Anbau durchführte. José suchte nach Möglichkeiten, sein Geschäftals Teil der EU-Initiative des Fair Trade auf Europa auszuweiten. Er wählte Brüssel,die Hauptstadt Belgiens, aufgrund ihrer Rolle innerhalb der EU und um nahe anden Entscheidungsträgern der EU-Kommission zu sein. José war in der Lage, den eu-ropäischen Markt mit der besten Qualität biologischen Kaffees und Kakaos aus Süd-amerika zu beliefern. Zudem hatte er eine Beziehung zu einem Kooperationspartneran der Elfenbeinküste aufgebaut, wodurch zusätzlich qualitativ hochwertiger Kakaoaus Westafrika importiert werden konnte. Während seiner Präsentation erklärteJosé, dass er nach Wachstumsoptionen suchte und gerne bereit sei, mit jedem zu-sammenzuarbeiten, der eine Geschäftsidee zu Kaffee oder Kakao hatte. Dies passtehervorragend zu Evelyns Überlegungen.

Ganz dem multikulturellen Flair von Brüssel entsprechend, hatten die fünf Stu-denten ihre Wurzeln in Italien, China, Deutschland und Frankreich (und Evelyn inden USA). Lucca war der Italiener. Er wuchs in einer Familie mit langer ErfahrungimRestaurantgewerbe auf. SeinVaterGrillini hatte in der Branche seitmehr als 15 Jah-ren als Manager einer Restaurantkette gearbeitet. Sein Onkel war ein kulinarischerEnthusiast, der zahlreiche Kurse an renommierten Kochschulen in Frankreich, Italienund den USA besucht hatte. Grillini hatte seinen guten Geschmack für feine italieni-sche Küche an seine Kinder weiter gegeben.Während Lucca aufwuchs, half er seinemVater in der Küche und war sehr stolz, wenn sein Vater den Gästen von der Unterstüt-zung seines Sohnes berichtete. Er war sehr kochbegeistert und hatte bereits unzähligeKochkurse besucht, in denen er auch die Kunst der hausgemachten Ravioli lernte.

Bins Hintergrund lag in einem Familienunternehmen in China, welches ihm Ein-sicht in die Führung eines kleinen Unternehmens gegeben hatte. Während er sichnatürlich seinen Eltern und dem Geschäft verbunden fühlte, waren es besonders diefinanziellen Aspekte, die ihn interessierten. Ein wichtiger Grund für ihn nach Brüs-sel zu kommen war der Wunsch, sich im Bereich Finance weiterzubilden. Er hoffte,

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eines Tages nach China zurückzukehren und seine Fähigkeiten einzusetzen, um dasUnternehmen seiner Familie auszubauen. Mit seinen hervorragenden Noten in denFinance-, Economics- und Statistik-Kursen wurde er oft ausgewählt, um die Grup-penprojekte mit seinem finanziellen Verständnis zu unterstützen. Beim Thema Teewar er ein wirklicher Spezialist: Während der Gruppenarbeiten praktizierte er ge-legentlich das chinesische Teeritual, welches er von seinen Großeltern gelernt hatte.

Cléa kam aus Frankreich und hatte eine Vorliebe für feines Essen, sie liebte dieschönen Seiten des Lebens. Sie war involviert in einer Vielzahl von Campus- undProfessional-Clubs, organisierte ständig und führte Projekte an. Sehr freundlich miteinem künstlerischen Touch, hatte sie bereits als Jugendliche erste Erfahrungen inder Küche sammeln können. Sie hatte sogar einmal überlegt, Köchin zu werden. Sieliebte das Experimentieren mit Schokolade und wurde eine wirkliche Expertin darin.Cléas Vater war ein internationaler Geschäftsmann und hatte zahlreiche Geschäfts-kontakte in Lateinamerika, insbesondere in Brasilien und Kolumbien. Ihr Vaterhatte sie einmal zu einer Tour eines kulinarischen Institutes mitgenommen, welchesvon einem seiner Geschäftspartner betrieben wurde. Sie war fasziniert von den Kü-chenstudios, die die unterschiedlichen Techniken der „Art de la Table“ zeigten, undsie besuchte jede nur mögliche Gastronomie-Ausstellung.

Norbert war der Deutsche in dieser Gruppe, der voll und ganz dem Stereotyp „or-ganisiert und effizient“ entsprach. Sein Fokus auf Wertschöpfungsketten hatte ihndazu gebracht, ein Sommerpraktikum bei einem großen finnischen Handelshaus zuabsolvieren. Hierbei lernte er viel über die Beschaffung von schnelldrehenden Kon-sumgütern und verderblichen Waren. Er arbeitete als Praktikant an der Implemen-tierung eines automatischen Inventarisierungssystems und hoffte, auch nach derGraduierung mit dieser Arbeit weiterzumachen.

1.4 Brüssel – Eine Stadt wie geschaffen für das Chic Café

Allgemein anerkannt als die Hauptstadt Europas, entwickelte sich Brüssel zum admi-nistrativen Zentrum zahlreicher internationaler Organisationen. Brüssel liegt aufRang 3 der Städte mit den meisten internationalen Tagungen und entwickelt sich zueinem der größten Tagungszentren der Welt. Die Präsenz der EU und anderer inter-nationalen Organisationen hat dazu geführt, dass sich in Brüssel mehr Botschafterund Journalisten aufhalten als in Washington (USA). Eine große Zahl internationa-ler Schulen hat sich etabliert, weshalb sich auch ein starker internationaler Mix anBars und Restaurants herausgebildet hat, der diesen Markt bedient. In der Tat um-fasst die „International Community“ in Brüssel mehr als 70.000 Menschen2. Mehrals 2,7 Millionen Hotelübernachtungen wurden 2005 von Touristen aus den 15 EU-Nationen gebucht.3

2 http://en.wikipedia.org/wiki/Brussels3 Jansen-Verbeke, M., Vandenbroucke, S. und Tielen, S. (2005): Tourism in Brussels, Capital of the

‚New Europe‘, in: International Journal of Tourism Research, 7, 109–122.

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Belgien. Der Umstand, dass das Land hervorragend erreichbar ist, führt außer-dem zur großen Popularität des Tourismus in Belgien. Brüssel hat eine Bevölkerungvon geschätzten 1,1 Millionen. Die gesprochenen Sprachen sind Flämisch, Franzö-sisch und Deutsch. Es wird geschätzt, dass circa 6,7 Millionen Menschen jährlichBrüssel und das Umland besuchen. Dennoch stammt der Großteil des Touristen-stroms aus den Nachbarländern: Niederlande, Frankreich, Deutschland und Groß-britannien.4 Brüssel rühmt sich mit annähernd 2.800 Restaurants, einer großenZahl von hochwertigen Bars, Cafés, Bistros und der normalen Breite an internationa-len Fast-Food-Ketten. Die Cafés sind vergleichbar mit Bars und bieten auch Bier undkleinere Gerichte an. Kaffeehäuser werden als Salons de Thé bezeichnet. Zudem sindBrasserien weit verbreitet, die normalerweise eine große Anzahl an Biersorten unddie typischen nationalen Gerichte anbieten. Neben den berühmten „Moules frites“ist Brüssel bekannt für seine Waffeln und wird als globaler Knotenpunkt von Choco-latiers und Pralinen-Manufakturen angesehen. Außerdem sind zahlreiche „Friteries“in der Stadt und in den Touristenvierteln zu finden und frische, heiße Waffeln wer-den überall verkauft.

1.5 Das Chic Café-Konzept

Als Evelyn sich auf den Weg machte, wurden ihr die Vorteile ihres Konzeptes nocheinmal bewusst. Kaffee und Tee gehören zu den meist konsumierten Getränken derWelt, wobei diese Getränke jede kulturelle, politische und ökonomische Grenzeüberschreiten. Es war Evelyns Vision, dass das Chic Café eine exklusive Selektionvon weltbekannten, qualitativ hochwertigen Kaffees, Tees, Crêpes, Waffeln, Kuchen,Käsesorten und Schokoladen anbietet. Zum Beispiel würde Café Chic Marken wieNeuhaus, Leonidas und Godiva führen, zusammen mit (in Europa) weniger bekann-ten aber herausragenden Schokoladen, basierend auf jahrhundertealten Kakao-Rezepten aus Lateinamerika. Für Evelyn war es die Mission von Chic Café, hochwer-tige Getränke und Backwaren aus der ganzen Welt in einer komfortablen, einladen-den und stylischen Umgebung anzubieten.

Kurz bevor Evelyn bei ihrem neuen Ladenlokal ankam, beschloss sie, eine Pauseeinzulegen und die Umgebung des Standortes zu beobachten. Evelyn kaufte beiMcDonalds einen Kaffee und setzte sich an einen Tisch am Gehsteig. Sie begann dieStraßenkarte zu studieren, die sie mitgebracht hatte. Der Standort für das Lokal warideal. In der Nähe des Grand Place (dem Herzen der Altstadt), an dem das Stadhuisvon Brüssel lag (Rathaus), eines der schönsten Beispiele für gotische Architektur inBelgien. Der Blumenmarkt findet jeden Sonntagmorgen in der wunderbaren Um-gebung des Grand Place statt. Im Radius eines 5-Minuten-Spazierganges liegen dasPalais des Beaux Arts de Bruxelles, der Gare Centrale (Zentrale Bus-/U-Bahn-Station), die Bibliothèque Royale de Belgique, die Eglise Notre Dame de la Chappelle,die weltbekannte Männeken Pis-Statue, le Parlement de la Région de Bruxelles-Capi-

4 http://www.kwintessential.co.uk/articles/article/Belgium/Belgium-Tourism/1927

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tale (das Regionalparlament von Brüssel), das La Bourse-Einkaufszentrum und vieleweitere Geschäfte und Büros. Wenn es einen Platz für ein Chic Café gab, war es hier,mit den vielen Passanten, die vorbeikamen.

Als Nächstes widmete sie sich der Liste mit den Dingen, die aus ihrer Sicht für dasGeschäft benötigt wurden. Die Liste mit dem Equipment für die Küche war sehrlang: Pasteten-Öfen, Gäröfen, Arbeitsplatten, Geschirrspüler und ausreichend Kühl-raum. Dann wurde natürlich die Basisausstattung gebraucht: Ventilation, Abflüsse,Elektrizität, Feuerschutz usw. Sie hoffte, dass ein Großteil dieser Ausstattung bereitsim Ladenlokal existierte. Dann waren da noch Gerätschaften wie Mixer, Pastetenfor-men, Plätzchenausstecher und die ganze Ausstattung an Pfannen und Töpfen. Undsie würde die besten Kaffeemaschinen benötigen, wahrscheinlich die besten ihrer Artaus Italien. Evelyn wusste zudem, dass sie finanzielle Mittel brauchte und Unterstüt-zung bei ihrem Plan. Dazu zählte sie auf zwei weitere Agenturen, von denen sie vonden Unternehmern im MBA-Kurs erfahren hatte:

1. Der Kreis der Jungen Unternehmer Belgiens (KJUB; Le Cercle des JeunesEntrepreneurs de Belgique) ist ein Teilbereich innerhalb des Circle of the Lake, einerprivaten Verbindung von 650 aktiven belgischen Managern, die gemeinsam ein Zielverfolgen – Unternehmen auf den Markt zu bringen (Vouloir Entreprendre). DerKJUB war mit der Zielsetzung gegründet worden, den Geist des Unternehmertumsunter Studenten zu etablieren, die gerade ihren Master-Abschluss machten. Nebender Teilnahme an Aktivitäten des Circle of the Lake offerierte der KJUB ein Netzwerkvon Fachleuten, die Gründer unterstützten und alsMentoren den Start der Unterneh-men begleiteten. Der KJUB organisierte jeden Monat unterschiedliche Events undAktivitäten, um das Unternehmertum unter jungen Erwachsenen zu fördern. Die In-stitution wird als Schlüsselressource des Unternehmertums in Belgien angesehen.

2. Die Brussels Enterprise Agency (BEA) ist ein strategischer Schlüsselpartner fürUnternehmen in Brüssel. Sie bietet hochwertige zeitnahe und adäquate Geschäftsin-formationen und Instrumente für ausländische Investoren, lokale Start-ups undKMU an. Zudem stellt die Agentur Unterstützung in den Bereichen Existenzgrün-dung, Finanzierung, öffentliche Darlehen, Städteplanungsauflagen, Umweltschutz-bestimmungen und anderer Formalitäten bereit. Mit dem umfassenden Wissen inallen Business Support-Bereichen in Brüssel ist das BEA die Hauptschnittstelle, umpassende öffentliche oder private Partner zu finden. BEA fördert außerdem den un-ternehmerischen Wettbewerb durch Innovationen und Internationalisierung undgibt intensive Unterstützung bei erfolgversprechenden unternehmerischen Projek-ten, bzw. solchen, die für die Region Brüssel von besonderer Bedeutung sind: Letzte-res vor allem auf dem Gebiet der Life Technologies, ICT, „grünen“ Technologien undnachhaltiges Bauen. Die Beratung und der Service von BEA sind kostenlos und un-abhängig. BEA wird von Brüssels Stadtregierung finanziert und ist auch als „Agencebruxelloise pour l’Entreprise“ bzw. ABE oder „Brussels Agentschap voor de Onder-neming“ bzw. BAO bekannt. BEAs Mission ist es, die Interessen der Unternehmenzu vertreten und zusätzlich aktiv bei der ökonomischen Entwicklung Brüssels mitzu-wirken. Ihre Tätigkeiten richten sich nach folgenden Prinzipien:· Geheimhaltung: Informationen zu den Unternehmensstrategien der Unterneh-

men werden strikt intern behandelt;

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· Kostenlos, mit freiem Zugang: Es gibt keine Gebühr für die Dienstleistungen vonBEA, weshalb BEA von jedem genutzt werden kann, unabhängig vom Budget;

· Neutralität und Objektivität: BEA garantiert das Bemühen, die besten Lösungenfür jede persönliche Anfrage zu finden;

· Transparenz: BEAs Daten und Methoden sind zur Begutachtung für alle Stake-holder verfügbar;

· Respekt für das Individuum: Hinsichtlich des eigenen Personals als auch hinsicht-lich der Geschäftspartner respektiert BEA alle Personen, unabhängig der Her-kunft, des Alters, des Geschlechts oder einer Behinderung;

· Respekt für die Umwelt: BEA ist engagiert im Umweltschutz.

Evelyn wusste, dass diese Organisation sehr hilfreich für junge Gründer war, aber eswar wichtig, dass sie bereits vor dem Kontakt zu BEA eine klare Vorstellung ihresGeschäftsmodells besaß, andernfalls würde sie auf die BEA nicht sehr professionellwirken.

1.6 Die Entwicklung des Konzeptes

Als Evelyn ihren McDonald’s-Kaffee trank, wurde ihr klar, dass das Chic Café sichaus dem hart umkämpften Markt abheben musste. Alles musste unverwechselbarsein: Lokal, Dekor, die Speisekarte, die Zutaten, die Bedienung und der Preis. Siehatte sich bereits zuvor dazu entschlossen, nur biologische Zutaten zu verwenden,auch wenn der Preis dadurch höher war. Hierdurch konnte sie garantieren, dassihre Zutaten stets der besten Qualität entsprachen und ihre Endprodukte köstlichund gesund waren. Ihre Vision war es, das Beste zu finden und zum Vorteil aller zunutzen. Sie dachte über Schokolade (aus Belgien, Holland, der Schweiz) nach undüber Käse (lokaler Bio-Schafskäse, Kuh- oder Ziegenkäse), aber natürlich auch überdie Beschaffung von hochwertigen biologischem Mehl, Milch, Butter, Eiern, Früch-ten, Nüssen und Zucker. Um diesen Gedanken fortzuführen, musste sie noch tiefereinsteigen und investieren: in das beste Salz, die beste Hefe, das beste Backpulver unddie richtigen Öle (z. B. Olivenöl, Rapsöl, Erdnussöl). Evelyn wusste, was sie wollte,und da sie etwas von Chemie und vom Kochen verstand, war sie sicher, dass ihr Ver-ständnis über die richtigen Eigenschaften und Reaktionen von verschiedenen Be-standteilen für das erfolgreiche Backen und den Erfolg ihres Geschäftes hilfreichwaren. Das Verständnis über die chemische Zusammensetzung der verschiedenenZutaten in Brotteig zum Beispiel hilft zu erkennen, warum der Teig aufgeht odernicht, und welche Auswirkungen gute Hefe auf das Brot hat. Außerdem führte dieEinführung der modernen molekularen Gastronomie dazu, dass die Chemie immerwichtiger für innovatives Gebäck und Dessertkreationen wird. In der Tat ist die Ar-beit eines Konditors eine anspruchsvolle Arbeit (vgl. Anhang 1 und 2), aber Evelynfühlte, dass sie sich der Herausforderung stellen konnte. Evelyns Konzept war es,eine Auswahl an exquisiten Gerichten und Getränken anzubieten, die auf biologi-schen und fair gehandelten Produkten basierten. Pasteten, Muffins, Waffeln, Torten

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und Kuchen konnten im Café genossen oder mitgenommen werden (siehe An-hang 3). Die Bestellungen konnten über Telefon erfolgen und Spezialitäten inner-halb von 24 Stunden bestellt werden. Zusätzlich zum Inhouse und Take-away-Ge-schäft glaubte Evelyn an die Chance, die angebotenen Kuchen an Kundenwünscheanzupassen und für Geburtstage, Jubiläen, Pensionierungen oder andere SpecialEvents anzubieten. Sie hoffte, nach einiger Zeit Lieferant für Kuchen und Gebäckbei lokalen Unternehmen und Organisationen zu werden.

1.7 Das Ergebnis

Mit diesen Ideen im Kopf, ihren Notizen und den finanziellen Überlegungen (vgl.Anhang 4 und 5) betrat sie das Lokal, schaute sich kurz um und wusste sofort, dasshier die Heimat für das Chic Café werden würde. Ein Schauer des Entzückens durch-fuhr sie, wenn sie an die zukünftigen Herausforderungen dachte, und sie fing an, inihrem von allen Ecken und Winkeln des Ladenlokals Bilder zu entwerfen. Sie wusste,dass sie große Herausforderungen vor sich hatte, wobei die erste die Überzeugungihres MBA-Teams gewesen war, sie zu unterstützen. Sie hatte zahlreiche Fragen andie Besitzer: Was waren die Öffnungszeiten? Wie viele Angestellte werden benötigt?Ist die Ladengröße gut? Wie viele Tische sollte man haben? Gibt es eine angemesseneAuslage für die Waren? Evelyn musste viele Entscheidungen treffen, bevor sie dieDurchführbarkeit ihres Konzeptes bewerten konnte. Aber sie wusste, dass das Pro-jekt funktionieren würde, wenn erst einmal die Finanzen stimmten.

Anhang 1: Das Berufsbild des Konditors5

Ein Konditor zu sein, ist harte Arbeit und erfordert höchste Aufmerksamkeit; mandenke nur an die Zubereitung von Karamell: Zucker und Temperatur ist alles, wasnötig ist – aber welches Fingerspitzengefühl wird verlangt! Im Folgenden einige derbekanntesten Patissiers, die ihre Spuren in der Welt der Konditorei hinterlassenhaben. Wenn Sie jemals den Traum haben, Spitzen-Konditor zu werden, sollten Siederen Werdegang und Arbeit sorgfältig studieren.

Einer der bekanntesten Patissiers, genannt der König der Konditoren, war Anto-nin Careme. Er begann die Ausbildung zum Konditor bereits als Junge und gilt alsweltweit bekanntester Schöpfer der Haute Cuisine im Frankreich. Careme wurdedurch seine innovative Arbeit mit Zuckerwerk bekannt und war der eigentliche Er-finder von Karamell, wie wir es kennen. Er arbeitete unter vielen berühmten Köchenund führte für kurze Zeit sogar ein eigenes Geschäft. Er gilt als Erfinder der Haube,die heute alle Köche und Bäcker tragen; nachdem sich vorher viele Menschen überHaare in den Speisen beklagt hatten, dachte er, es wäre eine gute Idee, das Haar zu

5 http://www.becomeapastrychef.com/recognized-pastry-chefs/

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bedecken, damit es nicht ins Essen gelangen konnte. Er schrieb auch mehrere Bü-cher über die Konditorei und die Französische Küche.

Nach Careme war Gaston Lenôtre den nächste bekannte Konditor. Er erkanntedenWunsch der Konsumenten nach frischen Zutaten und Produkten. Auf der Suchenach neuen, leichteren Gerichten führte Lenôtre Mousse und andere luftige Cremesein als Kontrast zu den dicken, sahnebasierten Desserts, die bis dahin Standardwaren. Er war derjenige, der frisches Obst in die Konditorenwerkstatt brachte, stetsunter Verwendung von Verbindungen und Essenzen, von denen andere nicht einmalgeträumt hatten. Er brachte tropische Früchten nach Frankreich, von denen nie-mand zuvor gehört hatte, wie zum Beispiel die Kiwi. Sein Tod hinterließ eine großeLücke, da er viele Kreationen unvollendet gelassen hatte, wie z. B. eine Reihe von Pra-linen an denen er gerade arbeitete.

Jacques Torres ist aus mehreren Gründen ein sehr bekannter Konditor. Im Jahr1996 gründete er das French Culinary Institute’s Classic Pastry Arts Program, dasviel Beachtung fand. Im Jahr 1986 wurde er der jüngste Küchenchef, der jemals denrenommierten Meilleur Ouvrier de France Pâtissier-Wettbewerb gewann. JacquesMaximin gab ihm einen Job und ermöglichte ihm, auf der ganzen Welt zu arbeiten,und war damit Mitbegründer seines Erfolges. Im Jahr 2000 eröffnete Torres sein ei-genes Schokoladen-Geschäft in Brooklyn, in dem er Schokolade, Gebäck und andereSüßigkeiten kreiert. Im Jahr 2004 fügte er eine eigene Schokoladenfabrik in NewYork City hinzu, wo er seine eigenen Kakaobohnen verarbeitet und sie vor denAugen der Kunden zu Schokoladetafeln verarbeitet.

Anhang 2: Was einen Spitzen-Konditor ausmacht6

Den Gipfel des Erfolgs in der kulinarischen Welt zu erreichen, ist eine herausfor-dernde Aufgabe. Es braucht Geduld, Ausdauer und eine gesunde Portion Talent, umRuhm und Reichtum als leitender Konditor zu erlangen. Der Wettbewerb ist hartund das Erreichen der Spitze des Erfolges ist meist erst nach lebenslanger harter Ar-beit möglich. Es gibt bestimmte Merkmale, die die großen Konditoren zeigen unddie essentiell für aufstrebende Stars im kulinarischen Bereich sind.

Technik

Ob Autodidakt, erworben durch On-the-job-Training und Ausbildung oder in einerKonditorenschule gelernt, die richtige Technik ist essentiell für das Erreichen derbesten Ergebnisse bei feinen Backwaren und Desserts. Das Verständnis der richtigenTemperaturen, der richtigen Walztechniken und Backmethoden ist ein wesentlicherBestandteil der Konditorei. Durch die Beherrschung der Grundlagen können Kondi-

6 http://www.becomeapastrychef.com/what-it-takes-to-become-a-great-pastry-chef/

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10 1 Chic Café (Belgien)

toren ein breiteres Bewusstsein für die zugrunde liegenden Prinzipien hinter denMethoden gewinnen, um die gewünschten Ergebnisse zu erzielen.

Kreativität

Die besten Konditoren kreieren neue und innovative Methoden, ummit den Grund-zutaten neue Produkte zu schaffen. Ob diese Kreativität durch künstlerische Ele-mente und neue Formen ausgedrückt wird oder indem sie die perfekte Note vonGewürzen zu einem vorhandenen Favoriten hinzuführen, Spitzen-Konditoren ent-wickeln neue und aufregende Desserts für ihre Kunden. Modernste Techniken wiemolekulare Küche haben neue Möglichkeiten für Konditoren in der Zubereitung er-öffnet; dies hat wiederum dazu beigetragen, dass sich auch die Nachfrage nach tradi-tionellen Konditoren und das Bewusstsein für den ganzen Berufsstand verbesserthaben.

Beharrlichkeit

Ein echter Konditor ist seiner Fertigkeit auch angesichts des Scheiterns verpflichtet.Jeder Koch macht Fehler und das Lernen aus diesen Fehlern ist der erste Schritt Er-fahrungen zu sammeln, eine Voraussetzung für jeden Spitzen-Konditor. Die Bereit-schaft, Risiken einzugehen, Fehler zu machen und diese Fehler als Lernerfahrung zubehandeln, ist ein wesentlicher Bestandteil der Eigenschaften der großen Konditorendieser Welt.

Vertrauen

Die Fähigkeit, ein Team zu motivieren und das Küchenpersonal zu Loyalität undHingabe zu inspirieren, ist das Kennzeichen eines großen Chefs. Auf den höchstenStufen sind Spitzen-Konditoren von der harten Arbeit und dem Engagement ihrerMitarbeiter abhängig, um die geplante Menüs ordnungsgemäß auszuführen und zuherausragenden Ergebnissen zu gelangen. Es ist schwierig, Vertrauen in anderen auf-zubauen, wenn Sie nicht an Ihre eigenen Talente und Fähigkeiten glauben. Daher istauch die Entwicklung dieses Selbstvertrauen ein wesentlicher Schritt auf dem WegzumWeltklasse-Patissier und Küchen-Manager.

Talent

Um ein wirklich guter Küchenchef zu werden, benötigen Sie Ehrgeiz, Antrieb, Aus-dauer und herausragende Technik, aber es gibt auch etwas, was nicht so leicht zu de-finieren ist. Talent tritt in vielen Formen auf, von einem hoch entwickelten Gaumenzu einem angeborenen Verständnis der Geschmacksprofile bis zu einer hoch-kreati-

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ven Vorstellungskraft. Was auch immer die geheime Zutat ist, sie hebt die Spitzen-Konditoren von anderen an und treibt sie zum höchsten Erfolg im kulinarischen Be-reich. Auf die wenigen Talentierten, die großartige Technik mit außergewöhnlichemTalent kombinieren, wartet der kulinarische Olymp.

Ein ausgezeichneter Konditor ist ein Meister der Magie. Er kann einfache Zutatenin die dekadentesten und schönsten Gaumenfreuden verwandeln. Zuallererst müs-sen Sie eine Leidenschaft für das Backen haben. Backen in der Küche macht Spaß.Allerdings öffnen die meisten Bäckereien um 6 Uhr und die verlockende Vielfalt anKuchen und Broten ist dann bereits gebacken – vom Bäcker, der bereits um 4 Uhr zuseiner Arbeit kam. Der Tag endet auch nicht um 6 Uhr, wenn die Bäckerei öffnet. Siemüssen also in der Lage sein, über Stunden auf den Beinen zu sein. Die meisten Kon-ditoren arbeiten 55 Stunden oder mehr pro Woche. Eine intensive Leidenschaft fürdiesen Job ist also unabdingbar.

Auch wenn Sie später nur Patissier in einem Abendrestaurant sein wollen, mussjeder irgendwo anfangen, und es ist i. d. R. nicht an der Spitze. Selbst wenn Sie dieGelegenheit haben, die besten kulinarischen Institutionen der Welt zu besuchen,werden Sie immer noch eine Ausbildung am Arbeitsplatz benötigen. Dies kann z. B.in der Form eines Praktikums geschehen, wenn Sie bereits eine Back- oder Koch-schule besucht haben. Wenn Sie bereits in einer Bäckerei gearbeitet haben, werdenSie dieses Vorwissen bereits haben.

Ein Spitzen-Konditor unterscheidet sich von einem klassischen Bäcker, da dasWort „Chef“ auch impliziert, dass Sie Menschen führen. Daher ist eine weitere Fer-tigkeit, die Sie benötigen, die eines guten Managers. Sie werden Ihre Mitarbeiter an-leiten und instruieren und ihnen Ihr Können weitervermitteln. Sie werden auch dieVerbindung zum Kunden sein, Sie müssen kundenspezifische Aufträge erfüllen undlängerfristige Beziehungen zum Kunden aufbauen. Jedes Dienstleistungsunterneh-men basiert auf der Kundenbindung als solidem Fundament. Die Kundenmeinungund das Feedback sind der Schlüssel für ein erfolgreiches, wachsendes Geschäft. Siemüssen in der Lage sein, zuzuhören und Kritik konstruktiv zu handhaben.

Konditoren experimentieren oft stundenlang mit einem Rezept, bis die Zutatenzusammenpassen. Dies erfordert viel Know-how. Exaktes Messen ist immens wich-tig. Der Beruf ist eine Kunst als auch eine Wissenschaft geworden. Er erfordert Ge-duld und Geschick. Wie bereits erwähnt, sind intensive Kochkurse oder On-the-job-Training unabdingbar.

Ein Konditor zu sein, erfordert die Fähigkeit, das empfindliche Gleichgewicht zufinden zwischen Wissenschaft und Kunst, zwischen Selbstdisziplin und Selbstfin-dung. Ein Konditor zu sein, erfordert unbedingte Liebe zur Sache.

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Anhang 3: Speisekarte

Biologische Backwaren

· Biologische Muffins – Schokolade und Bio-Früchte· Warme Belgische Waffeln· Gebackene Chocolate-Chip-Scones· Gebackener Käsekuchen· Fruchtstückchen mit Sahne· Stück Schokoladenbombe· Stück Schokoladentorte· Tarte Tatin mit Sahne· Pavlova mit Beeren und Sahne· Müsli-Parfait mit Joghurt und Früchten· Schokoladenfondantkuchen· Scones mit Marmelade & Sahne· Schokoladebrownie (ohne Mehl)· Keksauswahl· Schokoladen-Cookie· Karottenkuchen· Ingwer-Kuchen· Kokosnuss-Passionsfrucht-Kuchen

Tortenstücke

· Espresso-Schokolade· Zitrone· Erdbeeren, Himbeeren, gemischte Beeren· Apfel aus der Normandie· Zwetschke, Birne, Treacle (mit Sahne)

Blechkuchen

Chic Café produziert zwei Größen Blechkuchen: 9²-Rundform für 8 Personen und10²-Rechteckform für 18–20 Personen, zusätzlich zu den unten angeführten auchKuchen nach Kundenwunsch für jeden Anlass und in jeder Größe:· Erdbeerkuchen· Pavlova mit Beeren und Sahne· Karottenkuchen· Schokoladekuchen· Kaffee-Walnuss-Kuchen· Mehlfreier Schokoladenkuchen

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Ganze Torten

· Tarte Tatin – 27 cm für 8 Personen· Früchtetorte – 30 cm für 8 Personen· Zitrone – 30 cm für 8 Personen· Birne oder Pflaume – 30 cm für 8 Personen· Schokolade – 30 cm für 8 Personen

Heiße Getränke

· Kännchen Kaffee· Espresso/Macchiato· Americano· Cappuccino/Latte· Heiße Schokolade/Moccacino· Verschiedene Bio-Tees (Breakfast, Earl Grey, Fresh mint, Green)· Kräutertees (Minze, Kamille, Rote Beeren)· Bio-Milch (normal oder fettreduziert)

Kalte Getränke

· Iced Coffee· Iced Cappuccino· Iced Moccacino· Bio-Milch· Iced Organic Tea (Lemon Breakfast, Grüner Tee oder Rote Früchte)· Mineralwasser· Frischgepresster Orangensaft· Selbstgemachte frischgepresste Säfte (ohne zusätzlichen Zucker) wie z. B. ‚Karotte,

Apfel, Birnen, Petersilie‘ und ‚Ananas, Melone, Apfel, Mango‘· Hausgemachter Limettensaft mit Minze· Bio-Tomatensaft· Bio-Säfte: Apfel, Apfel & Birne, Apfel & Ingwer, Himbeere, Ingwerlimonade,

Holunderlimonade

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14 1 Chic Café (Belgien)

Anhang 4: Umsatzdetails

2012 2013 2014 2015

Tag/Woche 6 6 6 6

Stunde/Tag 10 10 10 10

Wochen pro Jahr 50 50 50 50

Kunden pro Stunde 10 15 20 25

Umsatz pro Kunde (€) 3 4 5 5.5

Kundenbestellung/Tag 1 2 3 4

Umsatz pro Kundenbestellung (€) 20 22 25 27

Deckungsbeitrag % 0.3 0.28 0.26 0.24

Personal 3 4 5 6

Durchschnittlicher Jahreslohn (000) 40 40 40 40

Anhang 5: Gewinn- und Verlust-Rechnung Planung

Gewinn und Verlust (.000) 2012 2013 2014 2015 2016

Umsatz

Regulär 90.0 180.0 300.0 412.5 495.0

Nach Kundenwunsch 60.0 132.0 225.0 324.0 510.0

Aus dem operativem Geschäft 150.0 312.0 525.0 736.5 1005.0

Umsatzaufwendungen 45.0 87.4 136.5 176.8 221.1

Deckungsbeitrag 105.0 224.6 388.5 559.7 783.9

Loyalty Program 0.9 1.8 3.0 4.1 5.0

Rohgewinn 104.1 222.8 385.5 555.6 779.0

Fixkosten

Personal 120.0 160.0 200.0 240.0 280.0

Miete & Betriebsmittel 50.0 50.0 50.0 50.0 50.0

Werbungskosten (Anwalt, Buch-führung)

20.0 7.0 7.0 7.0 7.0

Verkauf & Vertrieb 1.2 1.2 1.2 1.2 1.2

Marketing, Promotion, PR 6.0 6.0 6.0 6.0 6.0

Andere operative Kosten 3.0 3.0 3.0 3.0 3.0

Summe: Fixkosten 200.2 227.2 267.2 307.2 347.2

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Gewinn und Verlust (.000) 2012 2013 2014 2015 2016

EBITDA –96.1 –4.4 118.3 248.4 431.8

Abschreibung des Anlagevermögens 20.0 20.0 20.0 20.0 20.0

Zinskosten 8.0 8.0 8.0 8.0 8.0

Steuern – National (20%) 0.0 0.0 23.7 49.7 86.4

Steuern – Städtisch (10%) 0.0 0.0 11.8 24.8 43.2

Gewinn nach Steuern –124.1 –32.4 54.8 145.9 274.2

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2Noir/Illuminati II (Dänemark)

Benoit Leleux

2.1 Einleitung

Peter blickte aus seinem Fenster. Seinem Fenster! Er mochte den Klang dieser Worte.Es hatte ihn 15 Jahre eiserne Disziplin und harte Arbeit gekostet, diesen Punkt zu er-reichen. Zweifellos hatte er in der Vergangenheit mehrere bemerkenswerte Ausblickeund Büros genossen, jedoch stand nun zum ersten Mal sein eigener Name auf demMietvertrag, dem Büro und dem Unternehmen. 2007 würde das Jahr von Noir/Illu-minati II werden. Nach neun Monaten sah es durchaus vielversprechend aus.

Peter Ingwersen hatte das Unternehmen im Februar 2005 gegründet. Die zwei Be-reiche waren wie siamesische Zwillinge; Noir entwarf und produzierte Luxusbeklei-dung für Frauen, Illuminati II produzierte qualitativ hochwertige Baumwollstoffefür Noir und andere führende Marken. Zusammen lieferten sie die Basis für ein völ-lig neues Konzept in Sachen Mode. Über die Jahre hinweg hatte Peter zahlreiche Fa-shionshows weltweit besucht und wusste vom Mangel sozialer Verantwortung vielergroßer Modeunternehmen, was ihn sehr besorgte.

„War Mode nur die Personifizierung eines der unerfreulichsten Aspekte menschlichen Verhaltens?Diente sie nur zu Zwecken der Egozentrik und Selbstdarstellung? Konnte etwas getan werden, umwieder Sinn und Inhalt in die Modewelt zurückzubringen? Unternehmerische soziale Verantwor-tung (CSR) gewann in den meisten anderen Industrien und Branchen einen fortwährend höherenStellenwert: Warum konnte dies nicht auch in der Modewelt so sein? Gab es eine Möglichkeit denWohlfühlfaktor von schöner Kleidung zusammen mit der Botschaft klarer sozialer Verantwortungzu steigern? Konnte eine Synergie zwischen Egozentrik und Öko-Freundlichkeit hergestellt werden?“

Sein Konzept war klar: Noir/Illuminati II würden sich durch gesellschaftlich verant-wortungsvolle und bezahlbare Luxuskleidung definieren. Die Herausforderung be-stand darin, das Konzept zu operationalisieren und zu etablieren. Eine Marke auf so-zialem Bewusstsein oder dem Infragestellen von Prestigekonsum aufzubauen, warganz klar ein zweischneidiges Schwert. Würden Kunden der Philosophie glauben?Würde dies bei Investoren das Interesse wecken? Er ging nach Hause und erarbeitetenach einer ausgiebigen Dusche einen Aktionsplan.

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18 2 Noir/Illuminati II (Dänemark)

2.2 Definition der Idee und Analyse des Marktes

Peters Erfahrung in der Modebranche, sowohl in Europa als auch in den USA, warumfassend (siehe Anhang 1). Nach Beendigung seiner Ausbildung an der DanishSchool of Arts & Crafts begann er 1986 für Levi’sNordic als Designer zu arbeiten.Dort machte er schnell Karriere in kreativen Positionen. 1999 wurde er globaler Mar-kenmanager von Levi’s „Vintage Clothing“ und „Redlabels“ und Markendirektor fürdie EMEA-Region. Er verließ Levi’s im Jahr 2002 und wurde Geschäftsführer beimaufstrebenden Modeunternehmen Day Birger & Mikkelsen. Doch das war nichtalles: Er wollte einen völlig neuen Zugang zu Mode erfinden. Ein neues Paradigmafür die Branche, das die Einstellung zu Modebewusstsein und Konsum radikal verän-dern sollte. Während seiner vielen Jahre in der Branche war ihm das mangelnde So-zial- und Umweltbewusstsein der Modewelt immer bewusster geworden undmachteihn in steigendem Maße besorgt. Niemand schien sich mit den weitläufigen Auswir-kungen der Produktion und des Konsums von teurer Kleidung auseinanderzusetzen.

Irgendwie schien Prestigekonsum in der Luxussphäre verankert zu sein, und derAspekt sozialer Verantwortung hier nicht zu existieren. Während andere Industriensich ihrer Verantwortung bewusst waren und sich dieser Umweltverantwortungauch stellten, schien die Modewelt diesbezüglich immun zu sein. Genau dies solltezu Peters Mission werden. Konnte er der Modewelt diese Bedeutung und Inhalte ver-mitteln?

Gab es einen Weg, den Wohlfühlfaktor von schöner Kleidung einhergehend mitsozialer Verantwortung zu erhöhen? Vor diesem Hintergrund begann er, die Prinzi-pien und Werte von Noir/Illuminati II, einem Unternehmen, mit dem er auch sei-nen idealistischen Traum realisieren wollte, näher zu definieren. Noir/Illuminati IIwürde sich auf drei Kernmotive stützen:1. Eine sehr spezifische Nische bezüglich Preis, Anreiz und Design. Peter hatte we-

der Interesse noch die finanziellen Ressourcen, ein Modeunternehmen zu grün-den, das den Massenmarkt bediente. Der Fokus sollte auf sozial bewussten undverantwortungsvollen wohlhabenden Kunden liegen.

2. Eine starke Kernbotschaft und ein logisches Grundprinzip, um die Kaufentschei-dung zu forcieren. Für die meisten Menschen in der entwickelten westlichen Weltist Kleidung, besonders luxuriöse, keine Notwendigkeit; die meisten Menschenbesitzen genug Kleidung, um sich für den Rest ihres Lebens warmzuhalten.

3. Ein nachhaltiges Unternehmen. Dies schloss eine Konzentration auf kurzfristigeTrends aus; das Unternehmen musste auf soliden, beständigen Grundlagen ge-gründet werden, um langfristig überleben zu können.

Der Ausstieg war durch eine gewerbliche Veräußerung an eine der führenden Luxus-marken wie Louis Vuitton Moët Hennessy (LVMH) oder Pinault-Printemps Re-doute (PPR) am wahrscheinlichsten zu realisieren. Um deren Interesse zu wecken,war es unumgänglich, ein einzigartiges Nischenprodukt zu schaffen, das in derenPortfolios fehlte. Große Unternehmen waren immer auf der Suche nach einfallsrei-chen Erweiterungen ihrer Produktportfolios, auf Basis derer die Kompetenzen ver-anschaulicht und der Markenwert erhöht werden konnte. Nach genauer Segmentie-

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Benoit Leleux 19

rung ihrer Portfolios identifizierte Peter die wohl größte Marktlücke: 1. die meistenLuxushersteller hatten kein Produkt, das mit einer stark unternehmerischen sozialenVerantwortung (Corporate Social Responsibility; CSR) in Verbindung gebracht wer-den konnte; und 2. sie verfügten über keine erschwingliche Luxuskleidungsmarke.Die beiden Aspekte, Erschwinglichkeit und Luxus, wurden allerdings nach wie vorals vollkommen widersprüchlich angesehen. Dieser vermeintliche Widerspruch hieltPeter jedoch nicht davon ab: Noir/Illuminati II würde für Luxusbekleidung mit so-zialer Verantwortung stehen. Peter war klar, dass der Aufbau einer starken Markevon Nöten war, um dieses Ziel zu erreichen. Aus seiner Zeit bei Levi’s war ihm dieBedeutung eines hohen immateriellen Wertes bewusst. Als Levi’s in den siebzigerJahren in eine Krise rutschte, waren sie dennoch auf Basis der wertvollen Marke inder Lage, Kredite in Höhe von 500 Millionen USD aufzunehmen. Dies verschafftedem Unternehmen die nötige Kraft und Mittel, Probleme schnell und effektiv zu be-heben. Unternehmerische soziale Verantwortung würde der Kraftstoff für seineMarke sein.

In einem Bericht aus dem Jahre 2004 prognostizierte die Boston ConsultingGroup, dass der Markt für Luxusartikel im Jahr 2010 eine Billion USD erreichenwürde. Mit neuer und wachsender Kaufkraft, speziell in China, Russland und demmittleren Osten würde der Markt weiter an Attraktivität gewinnen. Eine erneute Seg-mentierung zeigte eine weitere Nische für Produkte, die etwas günstiger waren alsbeispielsweise Luxusprodukte von Cartier, Chanel und Dior. Peter beschrieb seineVision:

„Wir wollen sinnvollen Konsum für den Luxusverbraucher unterstützen. Wir werden der neue‚ethics chic‘“.

Aber wie stark würde diese Produktpositionierung sein? Erschwinglicher Luxus warzwar ein Widerspruch in sich, aber diese Art von Widerspruch hinderte Markennicht daran, Erfolg zu haben.

2.3 Bekehrung der Luxus-Sünder

Peter war immer für gute Geschichten zu haben und wurde in gewisser Weise durcheine aus dem 16. Jahrhundert stammende Praktik der katholischen Kirche, bekanntunter dem Namen „Ablassbriefe“, inspiriert. Ablassbriefe als Strafe für Sünden zukaufen, war eine beliebte Art, sein Gewissen zu reinigen – obwohl die meisten Sün-der dieser Zeit keine Reue in Anbetracht ihrer Sünden zeigten und auch nicht die Ab-sicht hatten, sich zu ändern. Dies wurde übrigens eines der Kernargumente Luthers,der glaubte, dass Sünder ihr Leben lang Reue zeigen mussten und sich nicht vonSchuld freikaufen können sollten.

Für Peter war die Idee der Ablassbriefe nach wie vor präsent und lediglich aufeine politisch korrekte Weise in Wohltätigkeit umdefiniert. Per Definition waren Lu-xusprodukte jene, die Verbraucher nicht notwendigerweise brauchten, am wenigs-

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20 2 Noir/Illuminati II (Dänemark)

tens in ihren teuersten Formen. Daher förderte der Konsum von Luxusprodukten,wenn auch unbewusst, Schuldgefühle. Wenn Peter einen Weg finden würde, eine po-sitive Assoziation mit aufwendigem Konsum herzustellen, konnte das Schuldgefühlreduziert und die Attraktivität der Produkte gesteigert werden. Die neuen Trendset-ter waren diejenigen, die genug Freizeit und Geld zur Verfügung hatten, um sich fürverantwortungsvolle Tätigkeiten, wie beispielsweise die Sorge um die Mitmenschenoder Umweltschutz, einsetzen zu können.

Dieser Trend zeigte sich im Erfolg von Bewegungen wie Greenpeace und Friendsof the Earth, dem Aufkommen von organischen Produkten, der stetigen Zunahmewohltätiger Organisationen usw. Derartige Aktivitäten wurden zu ultimativen Sta-tussymbolen, einer Möglichkeit, sich von der Masse abzugrenzen und zu zeigen,dass die höchste Ebene in Bezug auf Bestimmung und Leistung erreicht wurde. Zugeben und sich um die Mitmenschen zu sorgen, war „in“; leichtfertige und unnützeAusgaben waren „out“. Noir würde die erste Marke, die soziale Verantwortung mitLuxusbekleidung verbinden würde. Aber machte die preisliche und qualitative Posi-tionierung von Noir in der vom Wettbewerb geprägten und hart umkämpften Mo-deindustrie wirklich Sinn?

2.4 Von der Zweckmäßigkeit zum Stil

Sobald das strategische Ziel festgelegt war, musste es in einen eigenen „Stil“ umge-wandelt werden (d. h. ein „roter Faden“ in Sachen Design, der ein Produkt vonNoir sofort erkennbar machen würde). Des Weiteren mussten Themen definiertwerden, um den Kollektionen interne Konsistenz und den angebotenen ProduktenKontinuität zu verleihen. Was würde ein Noir-Kleidungsstück auf der Straße kenn-zeichnen? Peter ging zu seinem Ausgangsgedanken zurück. Was würden die neuenTrendsetter wirklich vermissen? Sie entschieden sich für verantwortungsvollen Kon-sum und entledigten sich der Leichtfertigkeit ihrer Ausgaben. In gewisser Weise ent-schieden sie sich, ihre persönlichen Werte hintenanzustellen und für gesellschaftlichakzeptablere einzustehen. Jedoch ging es dabei nicht um Sühne. Mode sollte weiter-hin die Persönlichkeit ausdrücken, in jedweder Form. Der Stil von Noir musste die-ses fehlende Element der Provokation zurückbringen, um dem Angebot den nötigenSchwung zu verleihen. Verantwortungsvoller Konsum, um sich persönlich zu beloh-nen und das Ego zu befriedigen!

Für Peter war es klar, dass der Schlüssel Sex-Appealwar. Kleidung musste den Trä-ger attraktiv aussehen lassen, und er musste sich attraktiv fühlen. Die Kollektionwürde maskuline und feminine Akzente mischen und sich hauptsächlich auf Anzügemit feinen Oberteilen, Hemden und Blusen konzentrieren. Einige andere Designerwie Helmut Lang, Jil Sander und Raf Simon hatten Ähnliches versucht, waren je-doch von der Prada-Gruppe aufgekauft worden und hatten dadurch einen Teil ihrerursprünglichen Identität verloren. Noir würde im Jahr zwei Kollektionen bestehendaus 50 bis 60 Kleidungsstücken produzieren, die sich durch Attraktivität und Sex-Appeal auszeichnen.

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Benoit Leleux 21

2.5 Bewusstsein aufbauen: Illuminati II, dieverantwortungsvolle Baumwollmarke

Peter glaubte, dass der moderne Schwerpunkt auf Mode mit tieferer Bedeutung lag.Er meinte dazu:

„Kleidung ist mehr als Schutz vor dem Wetter; es ist ein Mittel, die Persönlichkeit auszudrücken. Ineiner Welt, in der wir oft nehmen und selten etwas geben, verkörpert Noir sowohl Bewusstsein fürMode als auch für soziale Aspekte, indem man Kleidung kauft, die nachhaltiges Geschäftsgebarenin der Dritten Welt unterstützt, wodurch einerseits die Wirtschaft gefördert und andererseits derWelt etwas zurückgegeben wird.“

Stil und Preispolitik positionierten die Marke eindeutig, jedoch musste auch das Pro-dukt selbst deutlich innerhalb des Feldes sozialer Verantwortung platziert werden.Peter beschloss, sich auf die Textilien zu konzentrieren, die eingesetzt wurden. Eineweitere Marke wurde geschaffen – Illuminati II – um die schönsten Textilien aus Ge-genden südlich der Sahara aus organisch angebauter ugandischer Baumwolle zu pro-duzieren. Die Baumwolle würde ausschließlich für Noir in Europa gewebt und wei-terverarbeitet werden. Noir plante, es im Anschluss an führende Luxusmarken rundum den Globus weiterzuverkaufen.

Der Name Illuminati stammt aus dem lateinischen illumine und bedeutet Leuch-ten bzw. Licht. Das Licht sollte den markanten Gegensatz zu Noir darstellen. Illumi-nati II sollte eine luxuriöse Stoff-Marke werden, die Noir und andere Luxusmarkenmit qualitativ hochwertigen Baumwollstoffen belieferte. Die Marke würde unterdem Label jener Organisationen tätig sein, die sich strengstens fairem Handel ver-schreiben und gesellschaftlich verantwortlich tätig sind, entsprechend der GlobalCompact Principles der Vereinten Nationen und den Produktionsrichtlinien derILO. Die Vision von Illuminati II war die Bereitstellung von organischen Baumwoll-stoffen auf Basis fairen Handels unter Sicherstellung eines humanen Geschäftsmo-dells im Herzen Afrikas. Zudem würde eine Noir-Stiftung gegründet werden, ummit Hilfe eines Teils der Einnahmen und Gewinne des Unternehmens die afrikani-schen Baumwollarbeiter zu unterstützen. Die Unterstützung wurde durch eine regie-rungsabhängige Organisation (NGO) realisiert werden, die sich um grundlegendeMedikamente und medizinische Versorgung kümmert.

Peter stellte seine Idee zu Beginn einigen staatlichen Organisationen südlich derSahara vor. Nur Uganda zeigte Interesse, was wiederum auf Gegenseitigkeit beruhte.In Uganda (wie auch in den meisten Entwicklungsländern) war das Geschäftsmodelldes Baumwollhandels ausschließlich preisorientiert: Erzeuger konkurrierten in ers-ter Linie auf Basis der Preise, obwohl die Kosten des Anbaus von Qualitätsbaum-wolle im Vergleich zu qualitativ geringwertigeren Produkten ähnlich waren. DerPreis für 1 kg kurze Baumwollfasern lag bei 0,95USD, während die qualitativ hoch-wertigen extralangen Baumwollfasern bei 3,40USD lagen. Peter wollte, dass dieLandwirte organische extra lange Baumwolle anbauten. Bis zu diesem Zeitpunktwurde organische Baumwolle hauptsächlich in Indien, China und den USA produ-ziert. Nach der Initiierung im Jahr 2005 dauerte es fast ein Jahr, bis die passenden

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22 2 Noir/Illuminati II (Dänemark)

lokalen Partner gefunden waren und die Produktion in Gang kam. Der Anbaugrundder Landwirte war im Staatseigentum Ugandas. Ein dänischer Investor, der imöffentlichen Sektor tätig war, half dem Unternehmen bei den Verhandlungen. An-fang 2007 konnte die Testphase und die Identifikation der besten Anbaugebiete so-wie der geeignetsten Samen für extra lange Baumwollfasern abgeschlossen werden.Auf etwa 200 Hektar Land entlang des Nils wurde gesät. Die Baumwolle wurde inHandarbeit geerntet, um für etwa 500 Einheimische zweimal im Jahr Arbeitsplätzezu schaffen. Anfangs wurde die rohe Baumwolle zumWeben nach Europa verschifft,der langfristige Plan sah jedoch vor, diesen Prozess vor Ort zu realisieren, um lokalenMehrwert zu schaffen.

Die Illuminati II-Stoffe sollten im Juli 2008 für die Frühjahrskollektion 2009 lan-ciert werden, jedoch war dies von der Qualität der Ernte abhängig. Es waren alle nö-tigen Elemente vorhanden und die Landwirtschaftsexperten waren bezüglich derQualität organische Baumwollernte sehr zuversichtlich; dennoch musste das Ernte-ergebnis abgewartet werden. Machte es Sinn, zwei Marken zur selben Zeit zu lancie-ren? War das ursprüngliche Grundmotiv nach wie vor stark genug?

2.6 Der Sex-Appeal von unternehmerischer sozialerVerantwortung

Peter hatte kürzlich gelesen, dass unternehmerische soziale Verantwortung eine fort-währende Verpflichtung widerspiegelt, ethisch korrekt zu agieren und zur wirt-schaftlichen Entwicklung beizutragen und damit einhergehend die Lebensqualitätder Mitarbeiter und derer Familien als auch der lokalen Gemeinde und Gesellschaftzu verbessern. Noir und Illuminati II waren von Beginn an Bestandteile dieses globa-len Konzeptes. Illuminati II schaffte die Grundlage gesellschaftlich verantwortungs-voller und bezahlbarer Luxuskleidung, die Noir produzierte. Illuminati II war dieB2B-Spitzen-Baumwollmarke, vergleichbar mit „Intel Inside“. Noir wiederum warfür den B2C-Bereich zuständig.

CSR wurde zum Mittel, ganzheitliche Beziehungen zu Kunden, Angestellten, Lie-feranten, Gesetzgebern, lokalen Gemeinden und zur Gesellschaft aufzubauen und zuintensivieren. Durch aktives Engagement in der Gesellschaft und verantwortungsvol-les Handeln erlangten Unternehmen durch die Schaffung von Mehrwert, nicht nurfür sich selbst, sondern ebenso für die Gesellschaft, vermehrt Ansehen. Es gab keinedefinierten Richtlinien hinsichtlich CSR, nach denen gehandelt werden musste. CSRwar vielmehr eine Disziplin, die strategisch genutzt werden konnte, vergleichbar mitMarketing – für beides gab es aber keine Erfolgsgarantie. Die Vorteile von CSR lagenfernab ausschließlich finanzieller Gewinnorientierung; die Wahrnehmung derMarke wurde verbessert, Risiken hinsichtlich Umweltverschmutzung reduziert unddie Attraktivität für hochqualifizierte Fachkräfte gesteigert, wenn sich die Unterneh-mensphilosophie mit jener der Angestellten deckte. Peter äußerte sich dazu folgen-dermaßen:

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„Ich glaube an die Tendenz, dass sich Menschen in Zukunft weniger auf sich selbst fokussieren wer-den. Statt Egoismus zu forcieren, tendieren die Menschen vermehrt dazu, etwas für die Gemeinschaftzu tun.“

Verantwortungsvoll zu agieren war auch eine Art, Risiken zu reduzieren. Unterneh-men, die in Ländern tätig sind, in denen Regierungen nicht gewillt oder unfähig sind,humane Rahmenbedingungen oder förderliche Gesetze zu schaffen, bewegen sich inunruhigen Gewässern und werden oftmals zur Verantwortung gezogen, falls Dingeschief gehen. Der Rückruf von Spielzeug von Mattel im Sommer 2007 aufgrund vonGiftstoffen in den verwendeten Farben zeigt ein Beispiel einer solchen PR-Katastro-phe.

Um Unternehmen zu helfen, die in sogenannten „Regierungsschwachen Zonen“tätig waren, gab die OECD Richtlinien für international agierende Unternehmen he-raus, mit dem Zweck, das jeweilige Unternehmensumfeld zu verstehen und das so-ziale Engagement zu analysieren. Diese Richtlinien beinhalteten CSR-Fragen, diesich ein Unternehmen bei Investitionsinteresse in diesen Gegenden stellen sollte.Die UN legte ihre „Global Compact Principles“ fest, die Internationale Handelskam-mer veröffentlichte ihre Prinzipien von Antikorruption bis hin zum Schutz geistigenEigentums.

Peter hatte über Beispiele proaktiver Programme zum Umweltschutz von Öl-und Gasgesellschaften gelesen. Beispielsweise arbeitet BP in Angola mit Wissen-schaftlern und Akademikern zusammen, um Tiefseeökosysteme zu erkunden undden Einfluss auf die Umgebung besser zu verstehen. Unternehmen wie Coca Colaoder McDonald’s engagieren sich Sachen Gesundheit, Wohlbefinden und Umwelt.So werden Kinder in Schulen in gesunder Ernährung sensibilisiert, umweltfreundli-che Verpackungslösungen gesucht und eingeführt oder die Produktion zuckerhalti-ger Produkte reduziert. CSR in einem Unternehmen einzuführen garantiert jedochnicht, dass dieses auch danach handelt, endlos positive PR erhält und daraus resultie-rend hochqualifizierte Mitarbeiter akquirieren kann. Für Peter war eine gut durch-dachte CSR-Politik ein integraler Bestandteil der Unternehmensstrategie. Wie ein„roter Faden“, der durch das Unternehmen lief und das Symbol tiefgründiger Wertedarstellte – u. a. wie die Baumwolle geerntet und die Kleidung produziert wurde –

ohne Kompromiss in Sachen Design, Qualität und Aussehen. Oder wie er zu sagenpflegte:

„Wir wollen als Unternehmen auftreten, das CSR Attraktivität verleiht!“

Aber war die Strategie einzigartig? Während Peter seinen Businessplan schrieb,wurde Edun, ein „gesellschaftlich verantwortungsbewusst agierendes Kleidungsun-ternehmen“ mit Sitz in New York gegründet; unter den Gründern war U2-SängerBono. Edun-Kleidung wurde ebenfalls aus 100% organischer Baumwolle hergestellt,die in afrikanischen Ländern produziert wurde. Beunruhigt durch den potenziellenKonkurrenten flog Peter nach New York, um die Leute hinter Edun zu treffen. Esstellte sich heraus, dass diese nicht das Luxussegment bedienten und eher ergänzendals konkurrenzierend tätig waren. Edun verkaufte hauptsächlich Basis-Artikel wie

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T-Shirts ohne Aufdruck. Es war sogar positiv zu beurteilen, dass zwei gute Modeun-ternehmen mit demselben Leitgedanken existierten – dies konnte den nötigen Kom-munikationsaufwand für das neue Konzept des sozialen Bewusstseins für beide Sei-ten reduzieren.

2.7 Uniformen

2006 bekam Noir von Novo Nordisk, einem global agierenden Pharmazieunterneh-men aus Dänemark, den Auftrag, neue Unternehmensuniformen zu kreieren. NovoNordisk war dabei, das gesamte Corporate Design umzugestalten, angefangen vonkundenfreundlicherer Ladeneinrichtung bis hin zu neuen Uniformen für die Mitar-beiter. Novo Nordisk war Pionier in Sachen CSR, das seit der Unternehmensgrün-dung Teil der Strategie darstellte. Es war ihnen sehr wichtig, ein Unternehmen zu fin-den, das nach ähnlichen Prinzipien handelte. Dadurch, dass Noir ebenfalls ausDänemark stammte, war die Entscheidung offensichtlich. Noir kreierte und produ-zierte Uniformen für alle weltweiten Geschäftsstellen von Novo Nordisk. Um einersolch großen Bestellung nachzukommen, stellte das Unternehmen sofort neue Mit-arbeiter ein, die sich gänzlich diesem Auftrag annahmen. Diese Bestellung war nichtnur ein finanzieller, sondern auch ein strategischer Wendepunkt für Noir: Im Jahr2006 waren 30% des Umsatzes allein dem Auftrag von Novo Nordisk zu verdanken.Strategisch betrachtet initiierte der Auftrag ein neues Geschäftsfeld. 2007 kreierteNoir Uniformen für Georg Jensen, einer internationalen Luxusmarke für Schmuckund Geschenkartikel. Danach stiegen die Erwartungen, dass aufgrund der beidennamhaften Kunden weitere folgen würden. Selbst wenn es schwierig war, Uniformenin die sozial verantwortungsvolle und bezahlbare Luxuskleidungsschiene zu integrie-ren, machte es Sinn, dies als neue Produktkategorie aufzunehmen: Die Produktions-zahlen waren so hoch, dass sich die Entwicklungskosten aufgrund von Skaleneffek-ten rentierten und attraktive Margen erzielt werden konnten. Ein weiterer Bonuswar, dass Novo Nordisk Noir im Rahmen ihrer Pressearbeit mit CSR promotetenund sie an ihren Erfahrungen mit CSR teilhaben ließ. Beispielsweise wurde Noir indie CSR-Revisionspraktiken eingeführt, was wiederum den Erwerb einer ILO-Zerti-fizierung für die Produktionsstätte in Portugal erleichterte. Die entscheidende Fragewar jedoch, ob die Produktion von Uniformen für Großkunden die Entwicklungund Marktpositionierung der Marke unterstützen oder eher behindern würde. Dieskonnte jedoch erst in den Folgejahren beantwortet werden.

2.8 Preispolitik „luxuriös & bezahlbar“

Gesellschaftlich verantwortungsbewusste bezahlbare Luxusbekleidung war ein auf-regender Slogan, jedoch auch widersprüchlich: Wie konnte Luxus leistbar sein?Feine Ausgewogenheit zwischen starker Kostenkontrolle und verantwortungsvoller

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Preisgestaltung war eindeutig erforderlich. Um die Kosten für Noir-Produkte zusteuern, musste die Qualität zwar gut sein, jedoch war es unmöglich, mit den 100%handgemachten italienischen Produkten von Prada, Givenchy oder Gucci mitzuhal-ten. Das würde die „Bank sprengen“ und die Produkte fernab der Bezahlbarkeitplatzieren. Deshalb entschied sich Peter für Portugal als Produktionsstandort; diebürgte für europäische Handwerkskunst und Qualität, war aber bedeutend günstigerals Italien. Um ein vernünftiges Preisniveau zu bieten, musste sich Noir etwas überGroßmarken wie Zara oder Mittelklassenamen wie Donna Karan (DKNY) undDolce & Gabbana (D&G), jedoch unterhalb von Luxusmarken wie Prada positionie-ren. Dies hatte einen durchschnittlichen Preis von 2.000USD für einen Noir-Anzugzur Folge, signifikant weniger als für einen vergleichbaren Anzug von Prada, deretwa 3.000USD kostete.

2.9 Standort

Peter entwarf eine zweigleisige Strategie, um Noir-Produkte zu platzieren. Die erstenJahre waren für die Wahrnehmung der Marke entscheidend, sodass es besonders vonBedeutung war, in den richtigen Luxusgeschäften präsent zu sein – andere würdenfolgen. Die „richtigen“ Geschäfte für Noir hatten ihren Standort in den Modemetro-polen der Welt: Paris, London, New York, Berlin, Mailand, Moskau und Hongkong.Ideale Geschäfte waren u. a. Barneys in New York und Harvey Nichols in London.Um die Konsumenten in diesen Geschäften zu erreichen, war es wichtig, Aufsehenzu erregen und zum Stadtgespräch zu werden. Deshalb kontaktierte Peter eine alteFreundin, die als stellvertretende Herausgeberin für Harper’s Bazaar arbeitete, demgrößten Modemagazin weltweit. Er flog für ein Mittagessen nach New York, um ihrdie Idee hinter Noir/Illuminati II zu erläutern. Sie war von der Idee begeistert undschon im September 2005 erschien ein Artikel über Peter und sein Unternehmen so-wie die zugrundeliegende Philosophie. Der Artikel wurde dem Gesuch an 30 Luxus-geschäfte, in denen er seine Kollektionen verkaufen wollte, beigefügt. Die Rückmel-dungen waren überwältigend. Alle 30 Geschäfte antworteten auf den Brief undkauften Teile der Kollektion. Ziel war es, Noir in 30 Geschäften im ersten Jahr, in60 Geschäften im zweiten Jahr und in 150 Geschäften bis Ende 2010 zu platzieren.Das war vermutlich das Maximum, um den Status von Luxus und Exklusivität zuhalten; danach bestand das Ziel darin, die Stückzahl pro Geschäft zu erhöhen. Eineigenes Noir-Geschäft war – zumindest vorerst – nicht geplant. Dies war eine Op-tion, die erst in späteren Jahren zu Debatte stand. Hierfür wären New York oder Parisprädestiniert. Ein dortiger Flagshipstore würde der PR einen gewaltigen Schubgeben. Peter ging davon aus, dass dieser nicht in Konkurrenz mit den anderen Ge-schäften, die Noir-Produkte verkauften, treten würde.

Interessanterweise trat Peter zu dieser Zeit, obwohl sein Hauptsitz in Kopenhagenwar, an kein einziges dänisches Geschäft heran, um seine Produkte zu verkaufen.Von Beginn an bestand die Unternehmensvision von Noir darin, global zu agieren.Während es die meisten anderen Unternehmen als wichtig erachten, ihre Produkte

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vorerst auf dem heimischen Markt zu testen, wollte sich Peter von Anfang an deminternationalen Wettbewerb aussetzen. Jegliche Erstverkäufe wurden von Peter selbstbetreut. Er glaubte, ‚es sei wichtig, eine persönliche Beziehung zu jedem einzelnenKäufer aufzubauen. Nach dem ersten Jahr wurden einige Verkaufsagenten einge-stellt. Jeder bestehende oder potenzielle Kunde wurde vor den einzelnen Mode-schauen angerufen und eingeladen. Die Verkäufe fanden mehrheitlich direkt im An-schluss an die Modeschau hinter der Bühne statt: Es war äußerst wichtig, dieKollektionen vor der nächsten Saison und Kollektionsvorstellung in die Geschäftezu bekommen.

2.10 Werbung

Peter war von aggressiver Presseberichterstattung als Werbestrategie überzeugt. Erplante alle Interviews sorgfältig und entwickelte Kampagnen basierend auf Leitarti-keln und Mundpropaganda anstelle klassischer reiner Werbung. Herausgebern derVogue, Elle und anderen großen Modemagazinen wurden exklusive Interviews gege-ben und die daraus resultierenden Artikel in den Top-Märkten publiziert: Italien,Frankreich, Russland, Japan, China und den USA. Weitere Modenzeitschriften wieNuméro und Surface waren ebenfalls bedeutend. Selbst Zeitungen wie die FinancialTimes, die Süddeutsche Zeitung und Le Figaro brachten Artikel über Noir und Peter(siehe Anhang 2). Diese Strategie ermöglichte Peter, sowohl direkt mit den Käufernals auch den Endverbrauchern zu kommunizieren. Die Pull-Strategie funktioniertewunderbar. Die Verbraucher kauften die Regale rasch leer und die Geschäfte ersuch-ten um Nachlieferungen. Peter vertraute auch auf „Botschafter“ seiner Kleidung,hauptsächlich Prominente und Politiker, die die Aufmerksamkeit der Medien genos-sen. Ein Foto eines Filmstars in einem Noir-Kleid bei der Premiere eines neuenFilms hatte höhere PR-Wirkung als jede erkaufte Werbemaßnahme. Peter arbeitetefortwährend daran, u. a. Angelina Jolie, Elizabeth Hurley und Sharleen Spiteri, Lead-sängerin der Rockband Texas, für sich zu gewinnen.

2.11 Teambildung

Um das Vorhaben zu realisieren, musste Peter ein professionelles Team zusammen-stellen. Von Beginn an vertraute er auf ein Kernteam bestehend aus sechs Personen:ein Designer, ein Produktionsmanager, ein CSR-Spezialist, ein Marketingexperte, einVerkaufsexperte und ein Schneider. Die meisten hatten internationale Erfahrungund waren „alte Hasen“ in der Branche. Sie waren zwar teurer als Universitätsabgän-ger, aber Peter hielt dies für die beste Investition, um zeitnah die für die Arbeit not-wendigen Kompetenzen aufweisen zu können. Im September 2007 beschäftigte dasUnternehmen bereits 15 Mitarbeiter, darunter 2 Freiberufler. Peter hielt nichts da-von, Freunde einzustellen, war aber darauf bedacht, dass jeder Einzelne auf sozialer,

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kultureller und beruflicher Ebene in das Team passte. Seine Erwartungen waren sehrhoch. Eine Abmachung war eine Abmachung, eine Deadline eine Deadline – internwie auch extern. Kunden und Lieferanten sollten mit äußerster Achtung behandeltwerden, und CSR bedeutete anständiges Verhalten gegenüber der gesamten Gesell-schaft.

2.12 Sicherstellung der nötigen Finanzierung

Im Jahr 2005, dem Gründungsjahr, realisierte Noir einen Umsatz von 2,9 MillionenDKK.7 Im Jahr 2006 wurde der Umsatz auf 6,9 Millionen DKK (€ 925.000) im Ver-gleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt. 70% waren dabei den Kollektionen vonNoir und der Rest denUniformen zuzuschreiben. 2007 wurde einUmsatz von 12Mil-lionen DKK (€ 1,6 Millionen) realisiert, der sich erneut aus 70% vonseiten Noir undzu 30% aus Vertragsverkäufen zusammensetzte. Allein NovoNordisk waren 80% derVertragsverkäufe, etwa 24% des Gesamtumsatzes, zuzuschreiben.

Obwohl Noir zu Beginn sehr gut ankam, wurden aufgrund des Wachstums finan-zielle Ressourcen benötigt, die Peter nicht einbringen konnte. Die Suche nach Kapi-talgebern begann im Rahmen der Gründung und blieb fortwährend ein Thema. ImMärz 2005 startete er die erste Finanzierungsrunde. Er war bereit, 50% der Unter-nehmensanteile abzugeben, um einen adäquaten Investor zu finden; jemand, dernicht nur in der Lage war das Unternehmen finanziell zu unterstützen, sondernebenso die nötigen Kompetenzen und Netzwerke besaß. Er fand ein dänisches Textil-unternehmen namens GGT, das die geforderten Kriterien erfüllte. Peter wusste vielüber Design und Produktion von Mode, aber wenig über Baumwollanbau oderStoffe, also war deren Know-how die ideale Ergänzung. Das Unternehmen war zu50% in der Hand eines der größten dänischen Private Equity Fonds; eine weitere in-teressante Beziehung, die es zu etablieren galt. Im Juli 2005 unterschrieben GGTundPeter die Vertragsbedingungen auf Basis eines formellen Businessplans. Beide Par-teien waren damit einverstanden, dass ein Finanzspezialist den Unternehmenswertvon Noir anhand bereitgestellter Planzahlen schätzen sollte. Zudem wurde eine Sen-sibilitätsanalyse durchgeführt, um mögliche Risiken anhand unterschiedlicher Sze-narien in die Bewertung miteinzubeziehen (siehe Anhang 3). Die kombinierte Schät-zung von Noir/Illuminati II ergab einen Unternehmenswert von 70 Millionen DKK,etwa € 9.4 Millionen.

Unerwartet entschied sich dann allerdings der Private Equity Manager, seinenAnteil an GGT zu verkaufen, was zu Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung vonGGT führte und die Investition in Noir infrage stellte. Dies war auch für Peter, dernahezu 3 Monate Arbeit und knapp 3 Millionen DKK (ungefähr € 400.000) inves-tierte, um den Vertrag auszuhandeln, ein herber Rückschlag. Sämtliche Bemühun-gen waren umsonst. Neue Anleger zu finden, wurde zum Überlebenskampf. Mitdoppeltem Einsatz kontaktierte Peter jeden Bekannten in der Branche, Personen

7 €1 = 7.50 DKK, Stand Januar 2011.

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28 2 Noir/Illuminati II (Dänemark)

und Unternehmen, und schaffte es schließlich, zwei Business Angels als Ko-Investo-ren zu überzeugen. Einer der beiden war Thomas Lavkorn. Er besaß die nötige Er-fahrung in der Bekleidungsindustrie und hatte zuvor ein Modeunternehmen aufge-baut, das er durch ein IPO an die Börse führte. Gemeinsam investierten die beidenPartner 3 Millionen DKK für einen Anteil von 49%, was weit unter der zuvor durch-geführten Schätzung lag. Diese Investition war jedoch nicht ausreichend, um lang-fristig überleben zu können. Es verschaffte lediglich eine Atempause von etwa 6 Mo-naten, um zusätzlich erforderliche finanzielle Mittel zu lukrieren.

Im Dezember 2005 traf Peter Frau Nash bei einem Abendessen in London. FrauNash war in Kenia geboren und beschäftigte sich leidenschaftlich mit Mode. Sie warmit dem Vorstandsvorsitzenden und Gründer einer in London ansässigen europä-ischen Private Equity Gruppe verheiratet. Herr Nash suchte aktiv nach neuen Mög-lichkeiten, Teile seines privaten Vermögens in Start-up-Unternehmen zu investieren.Zwei Monate später besuchten Herr und Frau Nash, die von der Idee, CSR und Lu-xus zu verbinden, angetan waren, Peter in Kopenhagen, um das Unternehmen zuprüfen. Daraus resultierte ein formeller Investitionsvorschlag. Parallel dazu erfuhreine weitere vermögende Privatperson aus Dänemark von der problematischen Si-tuation von Noir. Sie ergriff die Initiative, wandte sich direkt an Peter und führteeine separate Unternehmensbewertung durch, woraus ebenfalls ein Investitionsvor-schlag resultierte. Peter beschloss, die beiden Investoren zusammenzubringen undversuchte, eine gemeinsame Investition auszuhandeln. Die gesamte Investition lagbei 10 Millionen DKK (€ 1,34 Millionen). Der Vertrag wurde im Juli 2006 unter-zeichnet. Einer der ursprünglichen Investoren stieg aus, sodass die Anteile nach derzweiten Finanzierungsrunde nun folgendermaßen verteilt waren. Mit jeweils 20%waren die Investoren der zweiten Finanzierungsrunde beteiligt, 10% verbliebendem ursprünglichen Investor und 50% hielt Peter.

10 Millionen DKK waren eine befriedigende finanzielle Spritze, aber auch diesewürde nicht endlos reichen, da laut Prognose monatlich 700.000 DKK verbrauchtund im Jahr 2006 nur geringe Gewinne erwarteten wurden. Noir war zwar in derLage, ein kurzfristiges Bankdarlehen in Höhe von 5 Millionen DKK aufzunehmen,jedoch war klar, dass eine weitere Finanzierungsrunde spätestens im Frühjahr 2007abgeschlossen sein musste. Zwei Gruppen potenzieller Anleger kamen für die dritteRunde infrage. Einerseits erwähnten die bisherigen Hauptinvestoren, dass sie daraninteressiert seien, eine kleine Gruppe junger Personen, die eine führende skandinavi-sche Agentur besaßen, und auf Online-Mediengestaltung spezialisiert waren, zu in-volvieren. Als Hauptinvestoren der dritten Runde würden die Anleger das Webde-sign von Noir zum Selbstkostenpreis realisieren. Noir müsste dafür wiederum einenDreijahresvertrag eingehen. Der andere potenzielle Anleger war ein bekannter pro-fessioneller Anleger, die Balder Group aus Großbritannien, die in den Einzelhandel,in Grundstücke und in Medien in Nordeuropa investierte. Die Balder Group boteine Wandelanleihe an, die an die Vorlage von Meilensteinen für die kommendendrei Jahre gebunden war. Sie war im Besitz mehrerer Kleidungsunternehmen undKaufhausketten in Skandinavien und Großbritannien. Letztlich willigten beide In-vestoren ein, denselben Betrag in Noir zu investieren, jedoch konnten die Unterneh-mensprofile nicht unterschiedlicher sein. Die aktuellen Anleger waren bekannt, hat-

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ten den nötigen finanziellen Spielraum, starkes Interesse und die Medienagentur be-deutete für die Marke einen bedeutenden Mehrwert. Der neue isländische Anlegerwiederum verfügte über interessante Absatzkanäle und weitreichende Erfahrung imEinzelhandel. Letzteres konnte für Illuminati II besonders interessant werden, wenndie Baumwollstoffe verkaufsfertig waren, insbesondere wenn die der Balder Groupzugehörigen Marken bereit waren, entsprechend für die gute Qualität zu bezahlen.Dies war eine vage Annahme, da die meisten dieser Kleidungsunternehmen nichtdas Luxussegment bedienten. Die Frage war also, welcher der Investoren der Bestefür Noir/Illuminati II war, um das Geschäft zu beleben und das Unternehmen, des-sen Grundwerte und Prinzipien langfristig zu unterstützen.

2.13 Entscheidungen unter Zeitdruck stehen an

Peter lehnte sich zurück und atmete tief durch. Er war noch nie blauäugig gewesen,was seine Arbeit und die Herausforderungen, denen er gegenüberstand, betraf. Diefrühen Phasen des Abenteuers Noir/Illuminati II waren aufregend und die Zukunftsah wieder vielversprechend aus. Soziale Verantwortung war das Herz seiner er-schwinglichen Luxus-Modelinie. Bevor er jedoch vor die potenziellen Investorentrat, musste er sich mit einigen Fragen auseinandersetzen:· Wie optimal war die Produktpositionierung? Bezahlbarer Luxus war ein Wider-

spruch, aber wie andere Beispiele zeigten, hinderte dies Marken nicht daran Er-folg zu haben. Machte die Preis/Qualitätspolitik von Noir in der durch Konkur-renz geprägten Modeindustrie wirklich Sinn?

· Machte der Versuch zwei Marken (Noir und Illuminati II) zur selben Zeit zuetablieren Sinn? War der ursprüngliche Grundgedanke nach wie vor stark genug?

· Bezüglich der Platzierungsstrategie: Machte es Sinn von Beginn an global zu agie-ren oder wäre es besser das Produkt zuerst auf dem heimischen Markt zu testen?

· Behindert oder unterstützt die Produktion von Uniformen für Großunterneh-men die Entwicklung der Marke und deren wahrgenommene Positionierung amMarkt?

· Welcher Investor wäre der optimalste für Noir/Illuminati II, um das Geschäft zubeleben und das Unternehmen, dessen Grundwerte und Prinzipien langfristig zuunterstützen?

· Hatte Peter das richtige Team um das Unternehmen aufzubauen?· War die gegenwärtige Markteintrittsstrategie angemessen, um das geplante

Wachstum zu forcieren?· Wie attraktiv wäre Noir/Illuminati II für Unternehmen wie Gucci und LVMH

hinsichtlich der Erweiterung deren Portfolios? Warum könnten diese möglicher-weise Interesse haben, ihn zu übernehmen? Sofern dies keine wahrscheinlicheAusstiegsoption darstellen sollte, wie könnte sich Peter am besten auf einen an-derweitigen Ausstieg vorbereiten?

· Würde die Illuminati-Baumwolle zum geplanten Zeitpunkt fertig zum Verkaufsein? Würde sie sich verkaufen lassen?

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30 2 Noir/Illuminati II (Dänemark)

Es gab noch viel bis zum Meeting mit den Investoren am darauffolgenden Tag vor-zubereiten. Es würde eine lange Nacht werden. Die Zukunft des Unternehmensstand auf dem Spiel, sodass Schlaf eindeutig warten musste.

Anhang 1: Peter Ingwersens Lebenslauf

Geburtstag: 10.10.1962Geburtsort: Kopenhagen, DänemarkNationalität: Dänisch

Ausbildung

School of Arts & Crafts, Kolding, Dänemark, 1982–1986Spezialisierung: Kleidungsdesign, Verkaufstrends, Konzeptentwicklung und Kon-sumentenverhalten (Die Schule genießt dasselbe hohe Ansehen wie die St. MartinsSchool of Art in Großbritannien.)

Berufliche Erfahrung

2002–2004: Managing Director DAY BIRGER et MIKKELSEN8

1999–2001: Global Brand Director für Levi’s Vintage Clothing & Levi’s REDMitglied desLevi’s® Brand Management Leadership TeamVerantwortlicher Rechnungswesen, Berichterstattung an den Präsi-denten von Levi’s® BrandGlobal Brand Director, Levi Strauss Europa, Mittlerer Osten undAfrika in BrüsselVerantwortlich für die Marken Levi’s® Europa, Levi’s® US und Levi’s®Japan

1998–1999: Stratege. Teil eines 6-köpfigen Team zur Reorganisation und Positio-nierung von Levi’s® Europa.

1995–1998: Marketing Innovations Manager – Levi Strauss Europa, MittlererOsten & Afrika.

1990–1995: Kreativ-Manager – Levi’s® Nordic1986–1990: Abteilungsleiter für Design – Levi’s® Nordic Region

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Benoit Leleux 31

Anhang 2: Beispiele für Noir Design, Frühjahrskollektion 2007

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32 2 Noir/Illuminati II (Dänemark)

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3Attocube Systems (Deutschland)

Christine Vallaster & Sascha Kraus

3.1 Einleitung

„And the winner is . . .“. Angespannt verfolgt Dr. Dirk Haft, CEO des Münchner Un-ternehmens Attocube Systems AG, die Verlautbarung . . . „die Cytonet GmbH & Co.KG, Weinheim“. „Schade“, denkt sich Haft und schaut sich um, „die in orange gehal-tene Dekoration des prunkvoll geschmückten Saales in der Alten Oper Frankfurthätte gut zu unserem Logo gepasst.“ In der Kategorie Start-up haben sich die Mün-chener für den Innovationspreis 2006 der deutschen Wirtschaft beworben. Bedeu-tende Innovationen, die vor Kurzem auf den Markt gekommen sind oder kurz vorder Markteinführung stehen, wurden vor 2.600 geladenen Gästen in den drei Kate-gorien „Großunternehmer, Mittelständler und Start-up“ prämiert.

„Komm“, meinte Haft zu seinem Geschäftspartner und CTO der Attocube Sys-tems AG, Prof. Dr. Khaled Karrai, „wir werden uns heute Abend trotzdem feiern;wir haben es uns wirklich verdient“. Und verschwunden waren die zwei im Getüm-mel des eleganten Ballsaales, mitten unter hochkarätigen Gästen aus Wirtschaft, Po-litik, Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, die alle der Einladung des Wirtschafts-clubs Rhein-Main und der WirtschaftsWoche gefolgt waren. Was die beiden nichtsahen, war, dass sie schon seit Längerem beobachtet wurden – von einem Merger &Akquisition-Vermittler, der sich ebenfalls im Publikum aufhielt. Auf dem Weg zumHaupteingang wurden Dirk und Khaled schließlich aufgehalten: „Mein Auftragge-ber, die WITTENSTEIN AG, wäre an Ihrem Unternehmen interessiert“. Nach einemkurzen Gespräch wurden schließlich die Visitenkarten ausgetauscht – und man fei-erte munter weiter.

Nach vier Monaten war dieser „Zwischenfall“ schon längst vergessen. Da klin-gelte das Telefon . . .

3.2 Kurze Profilbeschreibung von Attocube Systems AG

Attocube Systems wurde als Spin-off des CeNS (Center for NanoScience) der Lud-wig-Maximilians-Universität in München gegründet und ist innerhalb von siebenJahren ein weltweit gefragter Partner für Spitzenlabore in der Wissenschaft gewor-den. Die bahnbrechende Innovation ist ein patentierter Stellmotor für präzise Posi-tionierung im Nanobereich – an der Grenze des physikalisch-technisch Machbarenbei Tiefsttemperatur (-270 °C), absolutem Vakuum, starken Magnetfeldern. Die bis

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36 3 Attocube Systems (Deutschland)

heute mit keiner anderen existierenden Technologie erreichte Genauigkeit und Sta-bilität sichern den Antrieben und kompletten Mikroskopsystemen die Marktführer-schaft in der Halbleiter- und Biotechnologie, Life Sciences, der Telekommunikationund der Luft- und Raumfahrt. Zahlreiche Zukunftsbranchen erweitern mit dieser„enabling technology“ ihre Möglichkeiten wie z. B. in der Sensorik und Mikrosko-pie. Die intelligente Querschnittstechnologie eröffnet und besetzt Teilmärkte, die inden nächsten Jahren wachsen werden. Der Umsatz des Unternehmens mit 25 Mitar-beitern betrug im Jahre 2007 ca. 4,5Mio € bei einer Wachstumsrate von zuletzt 60%.Attocube Systems gewann 2006 den Bayerischen Innovationspreis, war 2007 Finalistdes Innovationspreises der Deutschen Wirtschaft und erhielt 2008 den DeutschenGründerpreis.

Dr. Dirk Haft, Vorstand und Gründer der Attocube Systems erinnert sich nochgenau, wie alles begonnen hat – und kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen:

„Die Anfänge dieses Unternehmens waren wirklich sehr klein. Ich schrieb damals im Rahmen mei-nes Physikstudiums meine Diplomarbeit, welche von Prof. Dr. Khaled Karrai (heutiger CTO) be-treut wurde. Er ist ein extrem scharfsinniger Forscher und hat tolle Ideen, was die Herstellung vonGeräten mit einfacher Handhabung betrifft. An solch einem Gerät habe ich damals gebastelt. Ir-gendwann kam ein Gastwissenschaftler aus den USA an unser Institut und fragte, ob er dieses Gerätkaufen könnte. Und so nahm alles seinen Lauf: Aus dieser Anfrage wurde ein Dissertationsprojekt.Ich baute ein neues Gerät für die Dissertation – und das gleich zweimal, weil erneut Kaufinteresseaus den USA da war. Die $ 50.000, die wir damals bekommen hatten, wollten wir an die Universitätin München zurückzahlen, damit wir auf diese Art und Weise meine Dissertationsstelle finanzierenkonnten. Allerdings war es Ende der 90iger Jahre verpönt, Wissenschaft mit Praxis zu verbinden –

und so hat uns die Administration alle erdenklichen Steine in den Weg gelegt – aber nach drei Mo-naten Hartnäckigkeit hat es dann geklappt. Ich konnte parallel zu meiner Dissertation das Unter-nehmen Attocube gründen.“

Im November 2001 wurde die Attocube Systems AG offiziell in das Handelsregistereingetragen. Dr. Dirk Haft füllt seitdem den Posten des CEOs aus, Dr. Stefan Reineckfungiert für das Unternehmen als Business Angel und steht dem Aufsichtsrat als Vor-sitzender zur Verfügung; den Posten des stellvertretenden Aufsichtsrats nahm Prof.Dr. Khaled Karrai ein, und der dritte Aufsichtsratsposten wurde von einem ehemali-gen Mitstudenten, Dr. Hans-Jörg Kutschera besetzt (siehe Anhang 1).

Auch der Gedanke an die Realisierung der Finanzierung des Unternehmensbrachte ihn zum Lächeln:

„2000/2001 haben wir unsere Idee beim Münchner Businessplan Wettbewerb eingereicht – und unsprompt gegen 160 Einreichungen durchgesetzt. Dieser Wettbewerb hat wesentlich zur Fokussierungunserer Geschäftsidee beigetragen, weil wir im Rahmen der Vorbereitungen eine kleine Marktfor-schung gemacht haben: bei Wettbewerbern geschaut, welche Produkte sie anbieten; bei Kundennochmals nachgefragt, welche Probleme sie gelöst haben wollten etc. Das Preisgeld in Höhe von€ 25.000 floss in die AG ein. Dennoch waren wir weiterhin auf der Suche nach möglichen Geldge-bern – wir hatten eine (theoretische) Finanzierungslücke von € 600.000. Damals war gerade dieZeit der Internetblase – und es war relativ einfach, Venture Capital zu bekommen. Gleich mehrmalswurden uns € 2.000.000 angeboten mit der Aussicht, sehr bald an die Börse zu gehen. Das war zwarverlockend, aber davon wird die Technologie auch nicht besser. Dieses Angebot wurde uns öfters ge-macht und irgendwann haben wir ja gesagt. Die Verträge waren alle schon ausformuliert und unter-schriftsreif – und im letzten Moment wurde alles zurückgezogen. Das war Mitte 2001, als es bereits

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Christine Vallaster & Sascha Kraus 37

erste Anzeichen gab, dass der Börsenboom bald zu Ende sein würde. Im Endeffekt haben wir wederVenture Capital noch ein Darlehen von der Bank bekommen.“

Während der Zeit der Businessplanerstellung hat das Gründungsteam den Business-Angel Dr. Stefan Reineck kennengelernt, der über sehr gute Industriekontakte ver-fügte. Dirk erklärt dazu Folgendes:

„Er hat sich in dieser doch schwierigen Phase bei uns als Investor beteiligt und agiert auch nach wievor als Coach. Letztlich hatten wir € 200.000 als Startkapital zu Verfügung. Davon waren € 50.000von uns Gründern und € 50.000 von Reineck. Weitere € 100.000 wurden im Sommer 2002 in Formeines Darlehens, das Reineck aufgenommen hatte, zur Verfügung gestellt. Wir benötigten dies, umdie bestehenden Aufträge zum Abschluss bringen zu können. Das Darlehen wurde bereits Ende2003 zurückgezahlt.“

Die Gründer entschieden sich, das Unternehmen als Aktiengesellschaft zu führen,weil eine Kapitalaufstockung einfach durchgeführt werden konnte, falls eine weitereExpansion erfolgen würde. Außerdem konnten so auch die Mitarbeiter Anteile er-werben.

Nach vielen Jahren harter Arbeit aller involvierten Personen ist Attocube Systemsnun in folgenden Aufgabengebieten tätig:1. Innovation Nanotechnologie:

Der rasche Fortschritt moderner Technologie erfordert es, Trends schnell aufzu-greifen und neue Märkte zielgerichtet mit innovativen Produktsystemen zu beset-zen. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, wurde die hochwertige Beset-zung der Entwicklungsabteilung als Schlüsselfaktor angesehen. Zusätzlich wurdebeschlossen, Synergieeffekte durch enge Zusammenarbeit mit Hochschulen zunutzen und aktiv zu suchen. Durch die berufliche Stellung von Khaled Karrai alsProfessor am Center for NanoScience (CeNS, München) wurde an die Aus- undWeiterbildung von akademischem Nachwuchs der Nanotechnologie gedacht. Ge-meinsame Projekte mit technischen Hochschulen, Betreuung von Diplomandenund Finanzierung von Doktorandenstellen wurden als effektive und kostengüns-tige Maßnahmen betrachtet, weiteres Know-how an das Unternehmen zu bin-den. Um die Synergieeffekte zu maximieren, wurde beschlossen, dass AttocubeSystems in den ersten Jahren seinen Standort nahe der Universität und demCeNS in München beibehält.

2. Produktion:a. Koordination der Teilefertigung externer Zulieferer

Dirk Haft (CEO) und Tobias Lindenberg waren anfangs zuständig für die Or-ganisation der erfolgreichen Zusammenarbeit mit externen Lieferanten. Zent-ral war hierbei die flexible Gestaltung der Produktionswellen, um einerseitsvorliegende Bestellungen rasch fertigzustellen und andererseits maximale Kos-teneinsparungen durch Mengenstaffelungen zu erreichen. Fertigungskostenwaren der Auftragslage durch Partnerschaften mit Zulieferern aus Feinmecha-nik und Elektronik angepasst. Vorrangig wurden aufwändige Arbeitsprozesse,wie die Bearbeitung von Metallteilen (z. B. Titan) oder das Fertigen von elek-tronischen Schaltungen, an in- und ausländische Firmen ausgelagert. Es be-

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stand dabei keine Gefahr einer Abhängigkeit, da die Zulieferer zwar vorgege-bene Spezifikationen und Normen garantieren mussten, diese aber grundsätz-lich durch viele moderne Betriebe erfüllt werden können.Bei allen Zulieferern liegt der Fokus auf Flexibilität, um marktnah und kun-denfreundlich zu agieren. Bis dato gibt es eine sehr fruchtbare Zusammenar-beit mit der Firma ELATEC/EPIKO (Haar/Ljubljana, für die elektronischenSteuerungen) und den Firmen Laux (München, für feinmechanische Teile),Ertl Feinmechanik (München, für feinmechanische Teile), u. a. Die derzeiti-gen Zulieferer sind in der Lage, auch größere Mengen zu produzieren, zu la-gern und zu liefern, um Skaleneffekte zu nutzen. Mit dieser Strategie wurdenim Jahr 2005 die Einkaufspreise um bis zu 35% gesenkt. Der Materialaufwandvon Nanopositionierern beläuft sich gemittelt auf unter 35% des Verkaufs-preises. Mittelfristig ist eine weitere Senkung der Herstellungskosten zu erwar-ten. Auf die Frage, ob zukünftig die Suche nach Zulieferern auch nach Chinabzw. Indien führt, schüttelt Haft den Kopf:

„Nein, eher nicht – zumindest nicht mittelfristig. Dafür haben wir eine viel zu kleine Stückzahl,und unsere Produkte sind viel zu erklärungsbedürftig. Überhaupt war die Suche nach professio-nell arbeitenden Zulieferern für uns eine große Lernkurve – zumal wir diesbezüglich von Anfangan sehr international arbeiteten. Beispielsweise kooperierten wir u. a. mit einer Werkstatt ausLettland – diese Erfahrung war katastrophal. Wir haben aber auch erfolgreich Kooperationenmit Spezialanbietern im internationalen Umfeld etabliert, z. B. mit technischen Spezialkeramik-werkstätten aus der Schweiz und Frankreich, Titananbietern aus Litauen, Piezolieferanten ausDänemark und Japan oder Elektronikentwicklern aus Slowenien. Hochspezialisierte Teile kau-fen wir in der Schweiz ein, Großgeräte werden üblicherweise aus dem $-Markt zugekauft. SeitKurzem haben wir in Berkley/USA eine Firma gegründet, um vor Ort jemanden zu haben, derden Einkauf leitet, gleichzeitig unseren Geist lebt und unser Verständnis von Qualität vermittelnkann.“

b. Endfertigung, Tests und Qualitätskontrolle der ProdukteDer Aufbau einer stabilen Entwicklungs- und Produktionsumgebung wurdeu. a. von Dr. Christoph Bödefeld, Dipl.-Phys. Tobias Lindenberg und Dipl.-Betr. Florian Hackinger gemeinsam gewährleistet. Im fünften Jahr des Unter-nehmens bildeten bereits 20 Ingenieure und Fertigungstechniker die Produk-tionsumgebung, die die Positionierer und Mikroskope fertigten und testeten.UmAuftragsspitzen auszugleichen, wurden einfache Aufgaben anWerkstuden-ten oder Praktikanten übergeben. Da die Endmontage der Produkte den größ-ten Teil des technischen Know-how erfordert, werden diese Arbeiten von denMitarbeitern des Unternehmens selbst durchgeführt. Auch das Testen der Sys-teme und die Qualitätskontrolle hilft die dabei gewonnenen Erfahrungenschnell und transparent in Innovation umzusetzen. Die Funktionstests sindmit geringem zeitlichem Aufwand durchführbar. Es muss allerdings dafür ge-sorgt werden, dass entsprechend denVerkaufszahlen angemesseneMöglichkei-ten für Tieftemperatur- und Vakuumtests zur Verfügung stehen. Hierfürwurde ein eigenes Kühlgerät (Closed-Cycle-Cryostate) und eine spezielle Va-kuumanlage angeschafft. Die Erstausstattung des Labors kostete € 200.000; dieKosten der Verbrauchsmaterialien für den Laborbetrieb (Energie, Kühlmittel,

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Chemikalien) beliefen sich in der Anfangsphase auf weniger als € 1.000 proMonat.

Zusammenfassend lässt sich die Positionierung von Attocube Systems wie folgt be-schreiben: Der Added-Value des Unternehmens ergibt sich aus dem Zeichnen undDesignen von Stellmotoren, die den Anforderungen der Nanopositionierung gerechtwerden. Die Bestandteile werden extern gefertigt; Attocube Systems baut diese zuGeräten zusammen, testet sie bei Extrembedingungen und vermarktet sie.

3.3 Markt und Wettbewerb/Chancen-Risiko-Analyse

Der geschätzte Gesamtmarkt für Mikro- und Nanopositioniersysteme belief sich imJahr 2000, zu Zeiten der Unternehmensgründung, auf über € 300 Millionen. Auf-grund der stark steigenden Bedeutung der Präzisionspositionierung ging man voneiner hohen Wachstumsrate aus (siehe Anhang 2). Eine detaillierte Chancen-Risiko-Analyse brachte folgende Ergebnisse:1. Chancen:

Im beginnenden Zeitalter der Nanotechnologie wird es nicht nur für Hightech-Forschungsbereiche, sondern für ganze Industriezweige von entscheidender Be-deutung sein, mit atomarer Genauigkeit positionieren zu können. So werden z. B.in der Halbleitertechnologie immer „feinere“ Eingriffe machbar; kleinere undschnellere Prozessoren in allen Bereichen, die mit computerbasierten Technolo-gien arbeiten, ermöglichen eine um ein Vielfaches gesteigerte Leistung. Auch bio-technische Verfahren, die zur Verbesserung und Erweiterung von Diagnostik undManipulation in Biologie, Medizin, Pharmazie und Ökologie (Umwelt-Monito-ring) beitragen, stellen ein Wachstumsfeld dar. In der Welt der Forschung & Ent-wicklung (F&E) verbreitet sich die Information, dass ultragenaue, automatisiertePositionierung bei tiefen Temperaturen bereits möglich ist. Die Türen für eine er-folgreiche Vermarktung sind somit aufgestoßen. Gelingt es den Wettbewerbernnicht, tieftemperaturtaugliche Produkte auf den Markt zu bringen, dann wird At-tocube Systems der einzige Anbieter in diesem Feld bleiben. Im anderen Fall wirdes durch seinen technologischen Vorsprung eine marktführende Stellung einneh-men und sichert sich dadurch ein wichtiges Standbein.Einen strategischen Wettbewerbsvorteil sieht das Unternehmen in seiner Nähezur Universität und der aktuellen Forschung, durch das ein zeitlicher Wettbe-werbsvorsprung von Produktneuentwicklungen und Innovationen möglich wird.Das aufgebaute Know-how gewährleistet neben den gewerblichen Schutzrechteneine außergewöhnliche Chance für Attocube Systems.Wenn sich die Produkte desUnternehmens den Ruf der Zuverlässigkeit, der Flexibilität und hoher Qualität er-arbeiten, könnte aus diesem Szenario ein Unternehmen erwachsen, das ein breitesProduktportfolio mit Positionier-, Laser-, Mikroskopie-, Analyse- und Manipula-tionssystemen anbietet. In der Raumfahrt und Satellitentechnik werden die härt-esten Güteanforderungen an Produkte gestellt. Vor allem die neue Generation

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der Mikrosatelliten, die beispielsweise zur Datenkommunikation zukünftig „enmasse“ benötigt werden, muss mit kleinstmöglichen, robusten und äußerst spar-samen Stellmotoren für Spiegel und Antennen ausgestattet werden. Da die vonAttocube Systems entwickelten Systeme gerade auch für die imWeltraum vorherr-schenden Extrembedingungen (tiefe Temperaturen, Vakuum, Magnetfeld) kon-struiert wurden, bieten sie sich zur Weiterentwicklung für extraterrestrische An-wendungen an. Vorausgesetzt Attocube Systems gelingt es, verlässliche Produkteherzustellen, die diese Anforderungen erfüllen, können wesentlich höhere Ver-kaufspreise erzielt werden als in Tabelle 1 angegeben und bieten dem Unterneh-men eine weitere Chance zur raschen Expansion.

2. Risiken:Das Unternehmen operiert in den Märkten Mikro- und Nanopositioniersystemesowie Mikroskopie für die moderne Hightech-Industrie. Einige der derzeitigenWettbewerber des Unternehmens, wie z. B. TG (Deutschland), Kingstown (USA)und Kinsley (USA), verfügen über erheblich größere finanzielle Ressourcen, einevergleichbare Kompetenzbreite und einen deutlich größeren Bekanntheitsgradals das Unternehmen. Wettbewerbsunternehmen haben sich weitestgehend aufStandardlösungen festgelegt. Attocube Systems kann sich durch eine schnellereund flexiblere Anpassung der Produkte auf Kundenvorgaben differenzieren.Natürlich besteht die Möglichkeit, dass einer der großenMikroskophersteller ver-suchen wird, ein tieftemperaturtaugliches Produkt zu entwickeln. Doch stehtdem der jahrelange Forschungsvorsprung von Attocube Systems entgegen. Solltees dennoch dazu kommen, ist es denkbar, entweder die bereits vorhandenenSchutzrechte an das übermächtige Konkurrenzunternehmen zu lizenzieren oderdas Konkurrenzunternehmen als OEM-Lieferant mit den tieftemperaturtaugli-chen Positionierern zu versorgen. Geräte und Bestandteile für die industrielleProduktion müssen längere Belastungstests vorweisen als für Forschung und Ent-wicklung. Die Industrie gibt zudem zusätzliche Güteanforderung vor, die zu er-füllen sind. Sollten Dauerbelastungstests trotz anhaltender Weiterentwicklungnegativ ausfallen, wird sich das Unternehmen verstärkt auf die beiden erprobtenStandbeine im Forschungs- und Entwicklungs-Markt konzentrieren (Positionie-rer und Mikroskopie).

Tab. 1: Produktpreise mit geplanten Preissteigerungen ab dem zweiten Jahr

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Die von dem Unternehmen entwickelten Produkte könnten mit verborgenenFehlern behaftet sein, sodass sie vom Markt nur vermindert akzeptiert werdenwürden. Werden die Produkte des Unternehmens im Rahmen komplexer techni-scher Systeme eingesetzt, kann ein Versagen beim Kunden oder dessen Endkun-den wirtschaftliche Verluste verursachen. Daraus können sich Ansehensverlusteergeben und Kulanzregelungen erforderlich werden. Dies hätte nachteilige Aus-wirkung auf die Geschäftstätigkeit und Reputation des Unternehmens. Um dieseRisiken weitgehend einzudämmen, wird das Unternehmen während der Pro-duktentwicklung zur Industriereife verstärkt Testreihen fahren und gesteigertenWert auf die Qualitätskontrolle im Herstellungsprozess seiner Produkte legen.Zudemwerden auch die besonders sensiblen Abnehmer im universitären Bereichdurch ihr Feedback entscheidend beitragen, den Wissenszuwachs in Entwicklungund Produktion zu erweitern.Das Worst-Case-Szenario würde bedeuten, dass Attocube Systems den Messge-räte-Markt für Forschung und Entwicklung mit Positioniereinheiten und Mikro-skopen bedient. Der Markteintritt in die Industrie gelingt nicht aufgrund zuhoher Markteintrittsbarrieren. Das Unternehmen wird um die 20 Mitarbeiterzählen und einen Jahresumsatz von € 5Mio. bei moderaten Wachstumsraten er-wirtschaften. Ein Trade Sale wäre ein denkbarer Exit für evtl. Risikokapitalgeber.Das Best-Case-Szenario sieht wie folgt aus: Das Unternehmen wächst schnell inneue Industrie-Massenmärkte hinein und operiert in 5 Jahren mit Niederlassun-gen in den wichtigsten Industriestaaten auf den globalen Hightech-Märkten.Umsätze im zweistelligen Millionenbereich sichern eine führende Rolle in wichti-gen Marktsegmenten der Halbleiter-, Bio- und Nanotechnologie und der Medi-zintechnik.

3.4 Marketingstrategie

Einstiegsmarkt für das Unternehmen war der Forschungs- und Entwicklungsmarkt(F&E). Speziell für den Tieftemperaturbereich existierten keine Konkurrenzpro-dukte. Die Hauptziele des Unternehmens im Segment F&E waren:1. Marktführerschaft im Bereich Tieftemperaturforschung mit einem potenziellen

Kundenstamm von derzeit 2000 Laboratorien. Im Jahre 2005 hatte das Unterneh-men bereits 110 Kunden aus diesem Bereich gewinnen können.

2. Marktführerschaft im Bereich Vakuumpositioniertechnik und -mikroskopie.3. Etablierung auf dem Gesamtmarkt Forschung und Entwicklung.

Im Bereich Industrie war angedacht, das Produkt Nanopositionierer besonders inden angestrebten Segmenten OEM-Markt für Mikroskopie und Telekommunikationzu vermarkten. Im F&E-Bereich wird das Kernprodukt Nanopositionierer als Stan-dardartikel vertrieben. Dirk sagt dazu Folgendes:

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„Wir hatten die Vision, ein einfaches und kostengünstiges System für Forschung und Industrie be-reitzustellen, das auch bei extremen Umweltbedingungen, wie Tiefsttemperatur, Hochvakuum undstarken Magnetfeldern funktionsfähig bleibt. Die erste Testserie, bestehend aus sieben Positioniersys-temen und einem Tieftemperaturmikroskop wurde bereits 1999/2000 gefertigt und verkauft. DieseErfahrung gab mir genug Selbstvertrauen, an unsere Vision zu glauben.“

Zwischen dieser ersten Testserie und der Auslieferung der modifizierten und verbes-serten Version von Positioniersystemen im Februar 2002 musste noch einiges an Ar-beit investiert werden. Dirks Kommentare hierzu sind:

„Wir mussten Werkstätten suchen, um die Stellmotoren produzieren lassen zu können. Da wir keineZeichnungen hatten, kam eine universitätsinterne Produktion nicht infrage. Für den Eingang derzugelieferten Teile wurden damals sechs Wochen veranschlagt; Zusammenbau, Tests und Qualitäts-kontrolle wurden innerhalb von zwei Wochen erledigt. Das war – im Nachhinein gesehen – ziemlichknapp kalkuliert; und prompt sind uns Fehler unterlaufen.“

Christoph Bödefeld, der im Mai 2002 als erster technischer Angestellte zum Unter-nehmen dazu gestoßen war, erinnert sich:

„Unsere Motoren waren anfangs sehr anfällig gegen Bruch und so ist uns einiges bei der Auslieferungschon kaputt gegangen. In diesem Anfangsstadium bediente unser Produktportfolio Kunden entwe-der i) mit einem kompletten System (sog. Mikroskopsysteme) oder ii) mit einer Einzelkomponente(z. B. Positionierer für den Tiefkühlbereich – siehe Abbildung 1). Ersteres verkaufte sich zunächstweitaus schwieriger als die Einzelkomponenten, d. h. wir haben vielleicht 1 bis 2 Komplettsystemepro Jahr verkauft. Gründe dafür waren mangelnde Zuverlässigkeit und Vertrauen gegenüber einemUnternehmen, das ja noch niemand wirklich kannte.“

Für den Industriemarkt war geplant, das Produkt Nanopositionierer kundenspezi-fisch oder auf allgemeine Branchenstandards zuzuschneiden. Rentabel sollte diesdurch die hohen Stückzahlenwerden, die bei den einzelnenKunden abgesetzt werden.

Die Preisfestsetzungen im Bereich F&E resultierten aus den Erfahrungen des Un-ternehmens in der Testmarktphase, wie oben beschrieben. Die Budgetierung in For-schungseinrichtungen gestaltet sich so, dass Investitionen unterhalb € 10.000 (Klein-geräte) ungleich spontaner und flexibler direkt von der Forschungsgruppe selbstgetätigt werden können, als sogenannte Großinvestitionen oberhalb € 10.000, über

Abb. 1: Kernprodukt: Nanopositionierer aus Titan und Keramik

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die mehrere Gremien entscheiden müssen. In diesem Sektor wurde im ersten Jahrmit dem Nanopositionierer eine Penetrationsstrategie gefahren mit Gerätekostenunterhalb der € 10.000-Grenze. Ziel war es, diesen Markt möglichst schnell zudurchdringen, um den Bekanntheitsgrad des Unternehmens zu steigern. Der im Ver-gleich zu Raumtemperaturgeräten höhere Preis von Nanopositionierern für Tieftem-peraturanwendungen erklärte und rechtfertigte sich durch die kosten- und zeitauf-wändigen Tests während der Qualitätskontrolle, blieb aber auch unter der wichtigen€ 10.000-Grenze.

Im Industriesektor wurde geplant, eine Hochpreisstrategie zu verfolgen. Zu denVorteilen gegenüber herkömmlichen Nanopositionierern der Wettbewerber zählen:Kompaktheit, Flexibilität und der große Verstellweg. Durch bessere Ausstattung derProdukte (z. B. mit Steuersoftware) konnten im 2. Jahr die Preise erhöht werden.

Kunden im F&E-Markt waren Forschungslaboratorien wie z. B. CalTech, Stan-ford University oder MIT. Sie wurden mit Broschüren, Produktkataloge oder durchE-Mail Rundsendungen kontaktiert, um über die Produkte zu informieren und zumKauf anzuregen. Wissenschaftliche Veröffentlichungen, die professionelle Gestal-tung der Internetseiten, Inserate in Fachzeitschriften wie z. B. Physik Journal, Phy-sics Today sowie persönliche Beziehungen der Mitarbeiter halfen, Attocube Systemsbekannt zu machen. Durch die Präsentation der Produkte auf den größten interna-tionalen Physiker-Tagungen wurden Kontakte vertieft und neue Interessenten ange-sprochen. Um im Industriemarkt Fuß zu fassen, sollen Verhandlungen mit den tech-nischen Leitern in den relevanten Industriesektoren zeigen, in welcher Weise dieProdukte anzupassen sind. Wie für den F&E-Bereich soll sich das Unternehmen ne-ben Marketingaktivitäten auf internationalen Fachmessen präsentieren, um die Kun-den aus der Industrie erreichen zu können.

Dirkt hofft, dass der Aufbau von Beziehungen und Vertrauen bei Kunden einenstetigen und regelmäßigen Verkauf der Produkte garantiert. Er äußert sich hierzufolgendermaßen:

„Vertrauen lässt sich aber nicht von heute auf morgen aufbauen, sondern erfordert kontinuierlichesBeweisen. Gerade als Neugründung hat man es nicht immer einfach. Unsere Maxime ist – und warimmer, „No is no option“. Das bedeutet, dass wir alles daransetzen, dem jeweiligen Kunden die best-mögliche Lösung zu liefern. Dieses Versprechen einzuhalten, war nicht immer einfach. Gerade amAnfang hatten unsere Produkte noch einige Kinderkrankheiten. Rief uns ein Forscher an, weil ernicht zufrieden war, bekam er sofort ein Austauschprodukt oder wir sind direkt zum Kunden hinge-fahren. Wichtig war, dass er nicht das Gefühl hatte, alleine im Regen stehen gelassen zu werden –

denn dies erzeugt sehr viel negative Mundpropaganda. Wenn die Kunden das Gefühl haben, „diekümmern sich um mich“, dann sind sie – zumindest in unserer Branche – sehr viel geduldiger undempfehlen einen auch weiter, selbst wenn das Produkt nicht auf Anhieb funktioniert.“

Dieses „Menscheln“ in der Gestaltung der Geschäftsbeziehung hat Attocube Systemsviele neue Kunden eingebracht. Karin Höfling, eine Mitarbeiterin der ersten Stundeund damals zuständig für Vertrieb und Marketing sowie „Quer-Beet-Aktivitäten“beschreibt die damalige Situation wie folgt:

„Wir haben alles gemacht, um unsere Kunden zufriedenzustellen. Trotzdem waren unsere ersten Kun-den ‚Testkäufer‘, kleine Forschungsinstitute, die sowieso damit rechneten, dass etwas schief läuft.“

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Im F&E-Markt erfolgte der Vertrieb direkt. Die Produktgruppe Tieftemperaturmik-roskopie wurde aufgrund der überschaubaren Stückzahlen und der Komplexität derSysteme direkt an die Forschungslaboratorien vertrieben. Rückkopplungen zwi-schen forschungsorientierten Anwendern und der Entwicklungsabteilung des Unter-nehmens konnten dank Direktvertrieb zielgerichtet generiert und wichtige Informa-tionen rasch genutzt werden. Für Anwendungen und Absatzgebiete mit speziellenAnforderungen wurden Standardprodukte wie der Nanopositionierer über nam-hafte Distributoren vertrieben. Bereits Mitte 2002 übernahm ein äußerst aktiver Dis-tributor den Vertrieb in Japan. Weitere Distributoren waren in Korea und Taiwanaktiv. Für Anwendungen im ultrahohen Vakuum konnte die Firma Hama aus Vor-arlberg (Österreich) für den weltweiten Vertrieb gewonnen werden. Um die beson-ders wichtigen Märkte USA und Kanada effektiv zu bedienen und den direkten Ver-trieb weiter stärken, wurde geplant, eine Vertriebsniederlassung in den USA zugründen. Der Zugang zu einem europäischen Produkt soll damit den US-Institutenwesentlich erleichtert werden. Bei Eintritt in den Industriemarkt ist geplant, die eige-nen Verkaufs- und Kundendienstprozesse anzupassen. Ein Vertriebsmitarbeiter sollden Kunden von der Angebotsphase bis zur Realisierung des Auftrages bzw. des Pro-jektes begleiten und ihm anschließend für Betreuung und Wartungsfragen zur Ver-fügung stehen. Damit ist eine Person kontinuierlicher Ansprechpartner in den Ange-legenheiten eines Kundenprojektes.

Das Marketingbudget in den ersten 5 Jahren betrug ca. € 200.000. Ca. 50% davonwurden für die Kundenakquise und die nachfolgende Betreuung der Kunden auf-gewendet. 10% des Budgets flossen in die beschriebenen Direct-Marketing-Aktivitä-ten (direct-mail/Werbebroschüren), weitere 10% in Zeitungsanzeigen und die restli-chen 30% in Messeauftritte.

3.5 Aufbau interner Strukturen und Abläufe

Die Suche nach Mitstudenten, die bereit waren, mit voller Begeisterung am Unter-nehmen „mitzuwerkeln‘, gestaltete sich schwierig. Schließlich fanden sich zwei, mitdenen sich Haft eine Zusammenarbeit gut vorstellen konnte. Dirkt äußert sich dazufolgendermaßen:

„Heute weiß ich, dass es nicht reicht, miteinander befreundet zu sein. Wichtig ist, dass jeder Partnerunternehmerisch denkt und bereit ist, auch persönlich mit ins Risiko zu gehen. Das war leider nichtder Fall, sodass wir uns inzwischen wieder getrennt haben – zum Glück einvernehmlich. Viele Neu-gründungen haben Schwierigkeiten, gut qualifizierte Mitarbeiter zu finden, die bei einem ‚No-Name‘-Unternehmen arbeiten wollen. Erstaunlicherweise hatte Attocube Systems in diesem Bereichweniger Probleme, weil unsere Kunden auch pozentielle Mitarbeiter waren; sie kannten uns bereitssehr gut durch diverse Messeauftritte, unseren Umgang mit Kunden, unsere Leidenschaft usw. Wasmir mehr Kopfzerbrechen bereitete, war das Anstellen unseres ersten Mitarbeiters mitsamt Familieaus dem Ausland. Da hatte ich schon Bedenken; sollte dieses Unternehmen den Bach hinuntergehen, ruinieren wir seinen Lebenslauf. Vor diesem Hintergrund war Ehrlichkeit im Umgang mitden Mitarbeitern ein wichtiges Element. Meine Mitarbeiter sollten wissen, dass es keine Millionengab, die uns durchfinanzierten.“

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Die Aspekte – junges Unternehmen, innovatives Produkt mit realistischen Wachs-tumschancen und gelebte Leidenschaft der Gründer – zogen Mitarbeiter an, die imGegenzug sehr hohes Commitment zum Unternehmen zeigten. Die Arbeitsbelas-tung war anfangs immens. Doch diesen Tribut zollten die Mitarbeiter von AttocubeSystems gerne. Tobias Lindenberg sieht das etwas pragmatischer und erklärt:

„Die Vorstellung, bei einem Start-up zu arbeiten, das sich als Spin-off einer Universität gegründethat, fand ich sehr spannend. Ich dachte – ich probier’s einfach, zumal damals das Thema ‚berufsbe-gleitende Dissertation‘ noch zur Debatte stand . . . die ich natürlich nie abgeschlossen habe. Für michpersönlich gab es keine wirklich schwierigen Momente: Ich habe immer mein Geld am Ende des Mo-nats erhalten und wir haben mit dem gearbeitet, was da war. Beispielsweise ersteigerten wir bei einerKonkursversteigerung für wenig Geld Einiges an Ausstattung für unser Labor.“

Die Frage von Besuchern „Wie lange gibt’s euch schon?“ wollte Haft immer vermei-den. Deshalb wurde bei allen Entscheidungen viel Wert auf Top-Qualität gelegt: Dasspiegelte sich nicht nur in der Produktentwicklung wider, sondern auch in der Kom-munikation nach außen (z. B. durch die Erstellung eines professionellen Präsenta-tionsfilmes, einem zum Unternehmen passenden Logo, von hochwertigem Briefpa-pier und Visitenkarten), in der Wahl der Büroräume, gute Bezahlung usw. Dirkäußert sich hierzu wie folgt:

„Das mag auf den ersten Blick etwas oberflächlich klingen, aber für pozentielle Kunden, zukünftigeMitarbeiter und etwaige Geldgeber ist im ersten Kontaktmoment diese (Hoch-)Wertigkeit ein sehrwichtiges Signal. Gründungspersonen übernehmen oft eine Schlüsselrolle im Unternehmen, da sieprägenden Einfluss auf die Gestaltung der Unternehmensidentität, d. h. ‚wie Dinge bei uns gemachtwerden‘ haben. So manch ein Gründer ist mit dieser Verantwortung überfordert. Für mich war dasauch ein Lernprozess – und nicht nur ich bin daran gewachsen, sondern auch mein Umfeld. VomTyp her bin ich nicht unbedingt jemand, der auf den Tisch haut. Ich sage auch sehr ungern, dassetwas ‚so oder so ist‘. Ich war immer bereit, anderen Menschen zu vertrauen und meinen Mitarbei-tern Verantwortung zu übertragen. Ich arbeite nach dem Credo ‚Jeder darf Fehler machen, aber ebennur einmal‘ – und davon bin ich nicht ausgeschlossen. Unternehmer zu sein, liegt in der Familie.Mein Vater war freiberuflicher Patentanwalt und ich hatte schon immer Lust auf berufliche Selb-ständigkeit. Etwas erfolgreich verkaufen zu können, hat mir immer schon Spaß gemacht. Zum Glückhatte ich immer die richtigen Leute um mich, die mich in meinen Vorhaben unterstützen – wie ebenz. B. mein damaliger Professor und heutiger CTO Khaled Karrai.“

Die Werthaltungen Top-Qualität, Spaß zu haben, Vertrauen und Menschlichkeit bil-den die Säulen der Attocube Systems-Firmenkultur. Dirk ist der Meinung, dass diesesehr viel zur Reputation und dem Erfolg des Unternehmens beigetragen haben. DieUmsätze konnten seit Gründung des Unternehmens jedes Jahr nahe zu verdoppeltwerden und betragen für das Geschäftsjahr 2004 € 1.5Mio. Bereits im ersten vollenGeschäftsjahr 2002 wurde der Break-even erreicht. Aufgrund schlanker Organisa-tion und konsequenter Marktausrichtung konnte das Unternehmen seit Gründungin jedem Geschäftsjahr einen GuV-Gewinn ausweisen. Investitionen konnten aus-schließlich aus dem freien Cashflow finanziert werden.

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3.6 Produktportfolio

Die Zukunft im Bereich der Nanotechnologie verspricht einiges: Viele der heutigenIndustrien sind in einem Umbruch begriffen. So wird es für sie in Zukunft immerwichtiger werden, nanometer-genau zu positionieren. Viele potenzielle Märkte sindnoch gar nicht entstanden oder erschlossen, da hier der aktuelle Stand der Techniknoch nicht Eingang gefunden hat. Die Strategie des Unternehmens wird in der Zu-kunft darauf ausgerichtet sein, diese Märkte in ihrer Frühphase zu identifizieren.Die Kernkompetenz in Entwicklung und Fertigung an Kundenwünschen angepass-ter Nanopositioniersysteme wird genutzt, um verstärkt durch inneres Wachstumund Entwicklung neuartiger Systemlösungen weitere Märkte und Anwendungsge-biete zu schaffen. Dies soll durch ein fein abgestimmtes Produktportfolio erreichtwerden.

Das Produktportfolio im Jahre 2009 & 2000 bestand aus insgesamt sieben Pro-duktlinien (Abbildung 2):1. LTSYS: komplette Tieftemperatur-Rastersondenmikroskope und Systeme.2. nanoSCOPY: Diese Produktgruppe inkludiert Linearverstellmotoren, Rotations-

motoren sowie ein Goniometer und ein tieftemperaturtaugliches Mikroskop.Dieses Mikroskop wird in verschiedenen Ausführungsformen vom Unternehmenangeboten: als Rasterkraftmikroskop, nahfeldoptisches Mikroskop, konfokalesMikroskop und Rastertunnelmikroskop.

3. nanoTOOLING: Testinstrumente für Geräte, die bei extremen Bedingungenfunktionieren müssen.

4. nanoPOSITIONING: Diese Produktgruppe beinhaltet Positionierungsgeräte, wieweiter vorne beschrieben.

5. Die Preisgestaltung in diesen Bereichen variiert von € 100.000–300.000.6. attoCONTROL: Diese Produktlinie beinhaltet Steuerelektronik mit einer Soft-

wareschnittstelle zur Kommunikation von Standarddatenverarbeitungsgerätensowie Mess- und Regelungssoftware. Preisgestaltung: € 1.000–15.000.

7. attoOPTIONS: Zubehör für Positionierungsgeräte/– systeme sowie Mikroskopie;Preisgestaltung von € 100–5.000 pro Lieferung möglich.

8. attoSOLUTIONS: maßgeschneiderte Kundenlösungen, Preisgestaltung abhängigvon der Komplexität der Lösung.

Tobias Lindenberg erklärt das Produktportfolio wie folgt:

„Dieses Produktportfolio ist über die Jahre entstanden – aufgrund eigener Ideen, aber vielfach durchdie Nachfrage von Kunden. Manchmal ist es uns relativ schnell gelungen, ein gewünschtes Systemoder Produkt zu entwickeln, manchmal dauerte dieser Prozess lange – mit der Zeit bekommt manein Gefühl dafür, was man leisten kann und was nicht.“

Eine große Herausforderung dabei ist, die Wertekette zu optimieren. Alle Interview-partner sind sich einig: Waren die Kunden aus der Forschungscommunity am An-fang noch relativ kulant mit Fehlern bei Produkten oder Systemen, steigen die An-forderungen der Kunden.

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„Das Volumen ist ‚ernster‘ geworden: Die Produkte müssen sehr viel zuverlässiger sein, wir müssenprofessioneller arbeiten“, so Lindenberg; „Es muss jetzt alles abgestimmt sein. Vor allem die Indust-riekunden haben weit perfektionistischere Anforderungen im Vergleich zu den Forscherkollegen. Inder Massenfertigung verursachen fehleranfällige Geräte sehr hohe Kosten“.

Ein erster Schritt zur effektiveren Qualitätssicherung ist die Schaffung der Stelleeines Qualitätsmanagers, der Ende 2007 folgende Aufgaben übernommen hat:· Prüfung der Produktqualität· Prozesseinhaltung (ISO-Zertifizierung)· Überprüfung der Kundenzufriedenheit· Übernahme von Controllingfunktionen

Eine Zusammenarbeit mit Porsche Consulting setzte wertvolle Impulse für eine Pro-fessionalisierung des Qualitätsprozesses.

„Wir haben eine Innovations- und Produktionslandkarte erarbeitet, die im Detail die einzelnenSchritte einer effektiven und effizienten Qualitätssicherung dokumentiert“, erklärt Dirk.

Des Weiteren wird der Bereich Beschaffung (Lieferantenaufbau, „Just-in-Time“-Lie-ferung, Einkauf von Komponenten zur Verminderung der Fertigungstiefe) konti-nuierlich aufgebaut und organisatorisch angepasst. Zudem sind die Produktions-räume entsprechend zu organisieren. Die Organisations- und Informationsstrukturinsbesondere in den Bereichen Planung, Rechnungswesen, Controlling und Mate-rialwirtschaft werden kontinuierlich mit dem Geschäftsumfang optimiert. Das nachden Vorschriften des Aktiengesetztes zu installierende Risikomanagement wird um-gesetzt.

Die Innovationsideen gehen den Entwicklern bei Attocube Systems offensichtlichnicht aus: Neben konstanter Weiterentwicklung des oben genannten Produktportfo-lios wird derzeit an einem „Mittelding“ –wie Lindenberg sich ausdrückt – gearbeitet:

„Das soll vor allem diejenigen Kunden ansprechen, die schon ein Positionierungsgerät haben, den-noch weitere Module für eine spezielle Anwendung suchen.“

Zwar war immer geplant, durch die Erschließung des Marktsegmentes Industriekun-den zu wachsen, allerdings wurden diese bislang nur stiefmütterlich behandelt. Daslag einerseits am Erfolg im Markt der F&E-Kunden, der sehr viele interne Ressour-cen gebunden hat, und einerseits an der fehlenden Finanzierung.

„Was die Finanzierung betrifft, waren wir immer schon offen, Partnerschaften einzugehen. Pro Jahrhaben wir drei- bis vier Mal mit verschiedenen Investoren gesprochen. Damit wollten wir in Übungkommen und bleiben – wir wollten verstehen, wie die Welt der Investoren funktioniert und derenSprache erlernen. Beispielsweise: Ein Renditezuwachs von 3–4% p.a. ist für einen Investor völlig un-interessant, selbst wenn dies der Realität am ehesten entspricht. Ein potenzieller Investor wird beiZahlen ab 10% p.a. neugierig. Aber dieses Versprechen abzugeben entsprach nicht unserem Natu-rell – und somit waren wir in den ersten Jahren für potenzielle Investoren ziemlich uninteressant“,erklärt Dirk.

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Abb. 2: Produktportfolio

3.7 Wittenstein AG

Anfang 2007 kam erstmals der Igersheimer Antriebsspezialist WITTENSTEIN AGals möglicher strategischer Partner ins Gespräch (siehe Anhang 4). Das Unterneh-men mit weltweit rund 1.300 Mitarbeitern steht national und international für Inno-vation, Präzision und Exzellenz in der Welt der mechatronischen Antriebstechnik.Produkte der WITTENSTEIN AG sind überall dort zu finden, wo äußerst präzise an-getrieben, gesteuert und geregelt werden muss.

„Daraus ergeben sich erhebliche Synergieeffekte zu dem, was wir entwickeln, produzieren und ver-treiben. WITTENSTEIN fokussiert sich nach wie vor auf traditionelle Technologiemotoren; wir lie-fern mit unserem Produktportfolio entsprechendes Know-how im Nano-Bereich mit dem Zielseg-ment der Forscher-Community. Im Gegenzug verschafft uns WITTENSTEIN mit seinen Produktenund Systemen Zugang zu den Industriekunden, ein Marktsegment, indem wir noch relativ schwachvertreten sind“, erklärt Dirk.

Allerdings ist die anvisierte strategische Partnerschaft unternehmensintern bei Atto-cube Systems nicht unumstritten, wie Dirkt erklärt:

„Es gibt einige kritische Stimmen und Ängste: Wie geht das dann weiter? Was passiert mit dem Geistvon Attocube Systems, wenn eine andere Leitung kommt? Was passiert mit meinem eigenen Job?usw. Es ist die berühmte Münze mit den zwei Seiten: Einerseits kostet Wachstum Geld und wirhaben nun einen starken und stabilen Partner an unserer Seite, mit dem wir schneller wachsen kön-nen. Andererseits ändern sich unsere Strukturen und Abläufe und müssen stärker an den großenPartner angepasst werden.“

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Was beispielsweise die Zusammenarbeit mit WITTENSTEIN innerhalb der Werte-kette betrifft, sind folgende Grundsatzentscheidungen zu treffen:1. An welchen Kunden- bzw. Lieferanten-/Stakeholderkontaktpunkten gibt es ein

gemeinsames Auftreten und an welchen nicht?2. Wenn gemeinsam aufgetreten wird, sind beispielsweise folgende Fragen zu beant-

worten:a. Welche Designelemente sind wie zu nutzen und zu platzieren?b. Welche Mitarbeiter werden wann und wie auftreten?c. Welche Kommunikationsmittel sind wie zu gestalten und zu platzieren?d. Wer ist wie Ansprechpartner bei Verkäufen/Aufträgen?

Eine klare Aufgabenteilung wird die zukünftige Reputation beider Unternehmen we-sentlich beeinflussen, wie Dirk erklärt:

„Obwohl eine sehr gute Chemie zwischen den Personen von WITTENSTEIN und uns besteht, sindbei den Mitarbeitern große Fragezeichen vorhanden, die es auszuräumen gilt.“

Es gibt aber auch positive Aspekte einer Zusammenarbeit. Karin Höfling bringt esauf den Punkt:

„Nach dem Auf und Ab in den ersten drei Jahren bin ich froh für das Führungsteam, dass wir nuneinen starken Rückhalt in Aussicht haben. Über die Jahre hat sich auch die persönliche Situation je-des Einzelnen verändert: Die meisten der ‚Alteingesessenen‘ haben jetzt Familie. Einen finanziellstarken Partner an der Seite zu haben ermöglicht eine ausbalanciertere Lebensweise zwischen Berufund Familie. Unsere Mitarbeiter sind nach wie vor hoch motiviert und stolz, bei Attocube Systemszu arbeiten“, attestiert Höfling. Dennoch – die Erwartungen von neuen Mitarbeitern steigen: „Eswird ein System, eine Stellenbeschreibung, Führung erwartet“, erklärt sie weiter. Mit dem Commit-ment eines Mitarbeiters ist das so eine Sache. „Erstens ist Commitment ein sehr ‚weiches‘ Konzept,das schwer zu greifen ist, weil die Einflussfaktoren nicht immer bekannt sind – und deshalb in Physi-kerkreisen zunächst mal belächelt wird. Zweitens gibt es tatsächlich irgendwann mal den Punkt, andem durch die Größe eines Unternehmens der Einfluss auf das individuelle Mitarbeiter-Commit-ment abnimmt. Ab einer bestimmten Mitarbeiteranzahl funktioniert das Vorleben von einigen weni-gen nicht mehr. Da müssen wir uns genau überlegen, wie wir dagegen steuern können.“

WITTENSTEIN ist ein vielfach ausgezeichnetes Unternehmen im Bereich der Perso-nalpolitik. Beispielsweise darf die WITTENSTEIN AG seit 2007 offiziell ein Marken-zeichen der Familienfreundlichkeit tragen. Das Unternehmen setzt erfolgreich aufihre familienbewusste Personalpolitik und fördert mit einer ganzen Palette von Maß-nahmen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ihrermittlerweile rund 1.300Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter. Ob Gleitzeit ohne Kernarbeitszeit, Kinderferienbetreu-ung, Home-Office oder Veranstaltungen für den Nachwuchs wie „Schnulleralarm“,Kinderkinowochen oder Nikolausfeier – die familienfreundliche Unternehmensphi-losophie erstreckt sich von Arbeitszeit und -organisation über Personalentwicklungund familiengerechtes Führungsverhalten bis hin zu Serviceleistungen oder Freizeit-angeboten für Familien (www.presse.wittenstein.de). Höfling und Haft waren einerMeinung:

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50 3 Attocube Systems (Deutschland)

„Wir hoffen sehr – sollte es zu einer Partnerschaft kommen – dass wir bezüglich der Strukturen undProzesse rund um das Thema Personal/Personalauswahl- und -entwicklung einiges von WITTEN-STEIN abschauen können und nicht selbst alles erfinden müssen.“

Die Mitarbeiter der ersten Stunde waren wahre Allrounder, jedoch werden nun klareVerantwortlichkeiten und Aufgabenbereiche immer wichtiger. Start-ups tendierendazu meist starke Persönlichkeiten anzuziehen. Wiederum entgegnet Christoph Bö-defeld:

„Die Verteilung von Verantwortung forcierte Konflikte, jedoch ist der Vorteil eines kleinen Unterneh-mens, dass sich Mitarbeiter mit der Zeit einen eigenen Verantwortungsbereich suchen und sich dortetablieren können.“

Somit wird eine klare Struktur innerhalb des Unternehmens unumgänglich werden.Dies kann dem Unternehmen etwas von seiner ursprünglichen Flexibilität nehmen,ist aber für ein koordiniertes Schnittstellenmanagement – auch und vor allem imFalle einer Partnerschaft mit WITTENSTEIN – notwendig (siehe Anhang 4). Nureine klare Struktur erlaubt eine Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Unterneh-mensstakeholder (inklusive Kunden, Mitarbeiter, Zulieferer, Medien, etc.).

3.8 Jahresbericht 2009

Nach knapp sieben Jahren Aufbauarbeit macht das Hightech-Unternehmen mit 25hoch qualifizierten Mitarbeitern rund € 4,5 Millionen Umsatz pro Jahr. Die Auf-tragslage ist sehr gut. Das Fazit von Wirtschaftsprüfern lautet:

„Berichtswesen, Organisation, Datenhaltung und Firmendokumentation sind für ein junges Unter-nehmen vorbildlich! Wir haben seit unserer Gründung schwarze Zahlen geschrieben. Wir haben esohne große Fremdfinanzierung geschafft, ein Unternehmen in München zu etablieren, das auch inder internationalen Geschäftswelt Fuß gefasst hat. Diese zwei Umstände unterscheiden uns wesent-lich von vielen anderen Entrepreneurs und soll auch anderen Mut geben, seine Ideen und Träumeauch ohne großes Fremdkapital zu realisieren.“

Trotz dieser Erfolgsstory stellt sich für die Führungsmannschaft von Attocube Sys-tems die Frage: Für welchen Weg des Wachstums soll sich Attocube Systems ent-scheiden?

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Anhang 1: Unternehmensgründer

Dr. Dirk Haft

Geboren 1969 in München, studierte Physik in München und Paris und promo-vierte im Bereich Halbleiterphysik und Nahfeldmikroskopie. Dirk Haft war seit1990 neben seinem Physikstudium im Bereich IT-Services und Datenbankprogram-mierung selbständig tätig und hat sich einen festen Kundenstamm im MünchnerRaum aufgebaut. Er beschäftigte je nach Projektlage bis zu drei freie Mitarbeiter.Diese Firma wurde 2001 an einen Partner übertragen und existiert weiterhin. AlsAufsichtsrat der Firma F&W Mobile Phone Innovative Systems AG aus Augsburg(2000 bis 2002) hat Dirk Haft unternehmerische Erfahrung mit Risikokapital undAG-Recht, Massenmärkten und Produktionsumgebungen gewonnen. Als Gesell-schafter und wirtschaftlicher Beirat ist er weiterhin an der Firma NautilusfilmGmbH, Dorfen, beteiligt. Seit Anfang 2003 ist er Mitglied des Center for Nano-Science (CeNS) in München. Dirk Haft leitet das Unternehmen seit der Gründungim November 2001 als alleiniger Vorstand (CEO).

Dr. Stefan Reineck

Schon in der Zeit der Businessplanerstellung hat das Gründungsteam den Business-Angel Dr. Stefan Reineck kennengelernt, der über vorzügliche Industriekontakte ver-fügt. Er war in verschiedenen technischen Unternehmen tätig, gründete 1998 eineeigene Firma, die er an einen amerikanischen Konzern verkaufte. Er fungiert als Fi-nanzexperte und als wirtschaftlicher Berater des Unternehmens. Außerdem über-wacht er die Geschäfte des Unternehmens als Vorsitzender des Aufsichtsrates. Dr.Reineck ist 2002 zum CEO der Steag-Hamatech AG berufen worden – einem börsen-notierten Hightech Unternehmen, das im Bereich der CD/DVD Anlagenherstellungtätig ist. Seine erstklassigen Kontakte in diesem Umfeld sind dem Unternehmen vongroßem Nutzen.

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Anhang 2: Marktdaten und Wettbewerb (AuszugBusinessplan)

Der Gesamtmarkt Nanotechnologie

Der Einfluss nanotechnologischer Erkenntnisse auf die Marktentwicklung in den Be-reichen Elektronik, Datenspeicherung, funktioneller Schichten und Präzisionsopti-ken besteht seit Jahren. Es zeichnen sich heute schon deutliche Einflüsse der Nano-

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technologie auf die stark wachsenden Milliardenmärkte der Pharmakaherstellung,medizinischen Diagnostik und sowieAnalytik sowie der Produktion chemischer undbiologischer Katalysatoroberflächen ab. Dieser Trend wird weiter anhalten. Für dasJahr 2001 wird ein weltweiter Umsatz mit Produkten, die mit der Nanotechnologiein Zusammenhang stehen, in der Größenordnung von € 55Mrd. erwartet.9

Markt Mikro- und Nanopositionierung

Die zunehmende Bedeutung der Miniaturisierung wirkt als entscheidender Wachs-tumshebelauf die Unternehmen im Geschäftsfeld der Mikro- und Nanopositionie-rung. Daher sind Umsatzwachstumsraten von über 50% in den letzten beiden Jah-ren erreicht worden (vgl. Wettbewerb). Die Zukunftsprognosen der bedeutendstenWettbewerber gehen auch für die nächsten Jahre von zweistelligen Wachstumsratenaus.10 Das Unternehmen gliedert den Markt für seine Positioniersysteme in zwei Seg-mente:· Forschung und Entwicklung (F&E)· Industrie

Forschung und Entwicklung (F&E)

· Die Dynamik und das Potenzial des Segmentes F&E in der Nanotechnologie wer-den vor allem durch die vielen Neugründungen von Kompetenzzentren allein inDeutschland unterstrichen (www.kompetenznetze.de). Weitere Beispiele für die-sen Aufwärtstrend sind folgende, erst vor kurzer Zeit gegründete, internationaleNanotechnologiezentren:

· CeNTech, Münster, 2003· iNANO Center, Aarhus, 2002· FIRST, Center for Micro- and Nanoscience, Zurich, 2000· University of Notre Dame: Center of Excellence in NanoScience and Technology,

2000· CNSI – California Nano Systems Institute, 2000· CeNS – Center for NanoScience, 1999· Center for Science in Nanometer Scale, 1998· NanOp – Competence Centre for the Application of Nanostructures in Opto-

electronics, 1998· IBM Nanoscale science and technology group, 1997

Die Kunden aus dem Segment F&E lassen sich in zwei Sparten aufteilen: Zum einensind dies Einrichtungen, die bei tiefen Temperaturen auf wenige Nanometer genaupositionieren müssen und damit Tieftemperaturmikroskopie betreiben, wie z. B. in

9 Quelle: VDI Technologiezentrum10 Quelle: Akquisitionsbericht AMRO-Kinsley

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der Halbleiterforschung. Zum anderen handelt es sich um Einrichtungen, die dieseAufgabe bei Raumtemperatur lösen wollen, wie z. B. in der Biotechnologie und denLife Sciences.

Vorerst wird das Unternehmen den F&E-Markt der Rastersondenmikroskopieim Tieftemperaturbereich bedienen. Hier will das Unternehmen seinen Wettbe-werbsvorsprung ausnutzen, um den Markt zu durchdringen. Mittel- bis langfristigwird das vorhandene Wissen auf weitere Geräte transferiert, sodass auch Raumtem-peraturmessgeräte angeboten werden.

Das Instrument Business Outlook (v. 30. Juni 1994) weist für neuartige Mikro-skopietechniken für 1993 ein Volumen für Halbleiterausrüster von $ 165Mio. aus,Steigerungsrate 20%. Der Markt der Rastersondensysteme allein belief sich 1996 be-reits auf $ 170Mio. (Quelle: Presseinformation der Firma Creative Tools).

Der Marktführer Creative Tools konnte in den Jahren 1997 bis 1999 ein jährlichesUmsatzwachstum von ca. 20% verzeichnen (Quelle: Instrument Market Briefings).Die Anzahl wissenschaftlicher Publikationen im Feld der Rastersondenmikroskopieüber die Jahre 1990 bis 1999 (siehe Abbildung 4) zeigt das große Wachstum der For-schungstätigkeit auf diesem Gebiet.

Ausgehend von den genannten Fakten (Marktvolumen 1996 insg. € 170Mio.)und einer moderaten Steigerungsrate von nur 10%, kann das gesamte Marktvolu-men für die Rastersondenmikroskopie im Jahr 2001 auf € 270Mio., im Jahre 2006auf € 400Mio. geschätzt werden.

Der für das Unternehmen relevante Teilmarkt mit der Fokussierung auf tieftem-peratur-, UHV-, oder magnetfeldtaugliche Systeme beschränkt sich auf 10% vomGesamtmarkt. Er wird also auf ca. € 40Mio. im Jahr 2006 geschätzt.

Abb. 3: Wachstumsstrategie in den F&E-Märkten

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Abb. 4: Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen zur Rastersondenmikroskopie, 1990–199911

Industrie

Zu den potenziellen Kunden des Unternehmens zählen die Hightech-IndustrienHalbleiter, Bio- und sowieNanotechnologie sowie die Telekommunikation. Mit zu-nehmender Miniaturisierung der Produkte erfahren anpassungsfähige Positionier-systeme höchster Qualität wachsende Bedeutung. Während für Systeme in F&E einbreites und flexibles Anwendungsspektrum im Vordergrund steht, wird in der indus-triellen Produktion einfache Bedienung und Integrationsfähigkeit in den Herstel-lungsprozess verlangt. Diese Hightech-Märkte befinden sich in anhaltend rasantemAufwärtstrend jährlicher Wachstumsraten von durchschnittlich 10–30%. Marktstu-dien oder -daten für den speziellen Bereich der Mikro- und Nanopositionierung lie-gen dem Unternehmen bis heute nicht vor.

Aufgrund von Umsatzzahlen der Wettbewerber (vgl. Wettbewerb) in diesem Be-reich schätzt das Unternehmen den weltweiten Gesamtmarkt vonMikro- und Nano-positioniersystemen im Jahr 2001 auf € 300Mio. Der Positionierbereich wächst an-zunehmenderweise analog zu den oben angesprochenen Märkten um mindestens20% jährlich, sicherlich nicht unterproportional. Als Markteintritt konzentriertsich das Unternehmen auf die OEM-Ausstattung von industriellen Mikroskopsyste-men anderer Hersteller mit den Nanopositionierern des Unternehmens.

Die konkurrenzlose Anpassungsfähigkeit der Stellmotoren überwindet hierbeidie technologierelevanten Markteintrittsbarrieren. Aufgrund der breiten Kompetenzder Unternehmer im Bereich der Optoelektronik geht das Unternehmen in dennächsten 2 Jahren auch denMarkteintritt im Telekommunikationssektor an. Für die-sen Bereich ist mit außerordentlichem Wachstumspotenzial zu rechnen. Mit derSpezialisierung auf die beiden Segmente OEM und Optoelektronik wird ca. 1/5 desGesamtmarktes von Mikro- und Nanopositioniersystemen (€ 300Mio. 2001) fokus-siert, d. h. ein Marktvolumen in 2001 von € 60Mio. Somit ergibt sich ein Marktvolu-men von € 150Mio. in 2006.

Vertreter der Firma BENTO sind Anfang 2004 eine strategische Partnerschaft mitAttocube Systems eingegangen. Der Markteintritt der Positionierer als OEM-Versionstartet im Februar 2005. Mit weiteren Industrieunternehmen aus den BereichenMikroskopie, Medizintechnik und Elektrotechnik werden intensive Verhandlungen

11 Quelle: INSPEC, BIOSIS, MEDLI

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geführt. Das geplante Abnahmevolumen bewegt sich dabei mit Stückzahlen bis inden siebenstelligen Bereich.

Wettbewerb

Im Wesentlichen lässt sich die international operierende Konkurrenz in zwei Unter-nehmenstypen gliedern: Laborausstatter mit breiter Produktpalette und Spezialan-bieter für Positioniersysteme. Zum Ersten gehören Anbieter, die Positioniereinheitennur als Teilsegment ihres breitgefächerten Portfolios im Bereich Optik offerieren.Diese stark wachsenden Unternehmen konzentrieren sich auf die Entwicklung undZulieferung von optischen Systemen in den Anwendungsfeldern Information Tech-nology und Communication sowie Industrial Manufacturing. Zu den wichtigstenUnternehmen gehören:· SILOS AG: Umsatz 1999 € 70Mio., 2000 € 78Mio.· Aircraft: Umsatz 1999 $ 142Mio., 2000 $ 253Mio.

Da die Positioniereinheiten beider Firmen ausschließlich auf traditionellen Techni-ken und Kombinationen aus diesen basieren, führt dies zu komplexen, voluminösenund teuren Systemen. Gegenüber den Produkten von Attocube Systems sind das ent-scheidende Nachteile. Da die Wettbewerber sich zunehmend auf ihre Kernkompe-tenz konzentrieren, die eindeutig bei optischen Produkten liegt, wird das Unterneh-men seinen Wettbewerbsvorteil halten können.

Das zweite Marktumfeld besteht aus Firmen, die sich vornehmlich auf die Ge-schäftsfelder Mikropositionierung, Nanopositionierung, Nanoautomatisierung undPiezotechnologie konzentrieren.1. Kinsley Instruments, Inc.: 107 Mitarbeiter, Umsatz 1999 $ 14,2Mio., 2000

$ 20,5Mio.; seit Dezember 2000 Tochtergesellschaft von SIXPRO durch$ 275Mio. Übernahme.Kinsley scheint aus technischer Sicht Hauptkonkurrent zu sein, da die Stellmoto-ren bei Raumtemperatur nahezu das Gleiche leisten wie der Positionierer des Un-ternehmens. Doch kostet ein vergleichbares System mit € 30.000 doppelt so vielwie das Produkt des Unternehmens. Auch die mangelhafte Anpassungsfähigkeitder Produkte führt zu einem klaren Vorsprung des Unternehmens bei industriel-len Systemlösungen.

2. Hama Nanotechnology: 170 Mitarbeiter, Umsatz 1998 € 20 Millionen, 1999 € 25Millionen;

3. Hama macht seinen Hauptumsatz mit Rastersondenmikroskopen und Elektro-nenspektroskopen. Die angebotene Nanopositioniereinheit ist zwar preislich ver-gleichbar mit der des Unternehmens, jedoch in wichtigen Einsatzbereichen nichtfunktionsfähig. Aufgrund der geringen Hebekraft des Hama-Motors ist der Ein-satz in den meisten Industriebereichen unwahrscheinlich. Zudem haben Vertre-ter der Firma Hama bereits 2002 Kontakt zu Attocube Systems aufgenommen.Zwischenzeitlich liegt ein umfangreiches Vertragswerk vor, in dem geregelt wird,dass Hama weltweit die vakuumtauglichen Produkte des Unternehmens bewer-

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ben und vertreiben wird, dass gemeinsam vakuumfähige Mikroskopsysteme ent-wickelt und vertrieben werden sollen und dass Hama eigene Produkte durch Pro-dukte von Attocube Systems abgelöst werden. Hama konnte im Jahre 2004 be-reits Umsätze im sechsstelligen Bereich erzielen.

4. Grosskopf Nano: Offizielle Angaben über diese Firma sind nicht verfügbar, da dieGeschäftsform weder GmbH noch AG ist. Dennoch liegen Informationen vor,nach denen das Unternehmen auf kleines Wachstum ausgerichtet ist und in na-her Zukunft nicht massiv im internationalen Markt auftreten wird (Quelle: VC-Szene, Universitätskreise).

5. Grosskopf Nano bietet hochpräzise Mikro- und Nanopositioniersysteme, die sei-tens ihres Innovationsgrades scheinbar Konkurrenzprodukte sind. Doch sinddiese Systeme weder bei tiefen Temperaturen noch in Magnetfeldern einsetzbar.

6. Technologische Geräte (TG) GmbH: 120 Mitarbeiter, Umsatz 1998 € 13Mio.;1999 € 17Mio.

7. Kingstown Ltd.: 110 Mitarbeiter, Umsatz 1999 $ 9Mio.; seit März 2000 Tochter-gesellschaft der AOD Inc. durch $ 210Mio. Übernahme.

Die Stellmotoren dieser beiden bzgl. ihrer Produktpalette sehr ähnlichen Unterneh-men zeichnen sich ebenfalls durch hohe Genauigkeit aus, lassen allerdings technolo-gisch bedingt nur einen sehr geringen Verstellweg zu. Extrembedingungen werdenebenso wenig bedient.

Fazit Markt und Wettbewerb

Nahezu alle Wettbewerber zeigen in ihren Umsatzzahlen ein zweistelliges Wachstum.Durch die Erschließung neuer Märkte werden neue Anbieter von Präzisionsposi-tioniereinheiten benötigt. Sie müssen sich durch innovative Technologien, das Ein-gehen auf spezielle Kundenbedürfnisse, einem breiten Serviceangebot und niedrige-rem Cost of Ownership vom Wettbewerb differenzieren. Das Unternehmen ist fürdiese Anforderungen aufgrund des besonderen technologischen Know-how derGründer, der Produktqualität, seiner Flexibilität im Produktdesign und seines deut-lichen Technologievorsprungs bestens vorbereitet. Somit wird es sich gegenüber denexistierenden Wettbewerbern klar behaupten. Die Verhinderung des Markteintrittesdurch Preissenkungen der Mitbewerber ist kaum zu befürchten, da diese aufgrundder Komplexität ihrer Systeme nur wenig Spielraum bei der Preisgestaltung besitzen.

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58 3 Attocube Systems (Deutschland)

Anhang 3: Erreichte Meilensteine bis 2001 und weiterePlanung

Anhang 4: Information über die Wittenstein AG

Die Unternehmensgruppe umfasst sieben Geschäftsfelder mit jeweils eigenen Toch-tergesellschaften: Servogetriebe, Servoantriebssysteme, Medizintechnik, Miniatur-Servoeinheiten, innovative Verzahnungstechnologie, rotative und lineare Aktuator-systeme sowie Elektronik- und Softwarekomponenten für die Antriebstechnik. Ent-wickelt, produziert und vertrieben werden unter anderem hochpräzise Planetenge-triebe, komplette elektromechanische Antriebssysteme sowie AC-Servosysteme und-motoren. Einsatzgebiete sind Roboter, Werkzeugmaschinen, die Verpackungstech-

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nik, Förder- und Verfahrenstechnik, Papier- und Druckmaschinen, die Medizintech-nik sowie die Luft- und Raumfahrt. WITTENSTEIN AG ist mit rund 60 Tochterge-sellschaften und Vertretungen in etwa 40 Ländern in allen wichtigen Technologie-und Absatzmärkten der Welt vertreten.

Abb. 5: Wittenstein AG Unternehmenswerte

Abb. 6: Fortsetzung –Wittenstein AG Unternehmenswerte

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Abb. 7: Bilanzaufstellung per Ende 2007

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4GJ Belfrost (England)

Thomas Cooney & Jennifer Manning

4.1 Einleitung

„Was macht dir Sorgen, Junge?“, fragte Tess Barrett ihren ältesten Sohn Neil. „Seitdem du hier bist,läufst du durchs Wohnzimmer, wie die sprichwörtliche Katze auf dem heißen Blechdach. Das bistnicht du. Etwas muss dich beunruhigen. Ich setze das Wasser auf und du kannst es mir bei einerTasse Tee erzählen.“

Zum ersten Mal, seit Neil bei seiner Mutter angekommen war, lachte er. Er wusste,dass dies für seine Mutter die Lösung für alle Schwierigkeiten war, die er, seine Brü-der und Schwestern im Leben hatten – das Wasser aufsetzen! Als seine Mutter in dieKüche ging, versuchte Neil erneut, die Gedanken zu ordnen, die ihm durch den Kopfgingen.

Heute hatte Neil bereits einen Geschäftstermin mit einem Unternehmer gehabt,der daran interessiert war, mit seinem Unternehmen (GJ Belfrost) zu fusionieren.Doch er war unsicher, ob es das war, was er für sein Unternehmen wirklich wollte.Er war 55 Jahre alt und in den vergangenen Jahren hatte er oft darüber nachgedacht,aus dem Geschäft auszusteigen. Einmal hatte er die Hoffnung gehabt, dass er seinUnternehmen an eines seiner Kinder weitergeben könnte, doch sein ältester SohnThomas hatte, nachdem er sieben Jahre im Unternehmen gearbeitet hatte, beschlos-sen, einem anderen Beruf nachzugehen. Thomas hatte sich mit den meisten Berei-chen vertraut und seine Sache als Lkw-Fahrer, Lagerist, Telefonmarketing- und Ver-kaufsvertreter gut gemacht. Dabei hatte jedoch nie den Eindruck gewonnen, alshätte er eine faire Chance bekommen, das Unternehmen zu führen, wenn Neil ein-mal in Rente ginge. Er glaubte, dass immer jemand über seine Schulter schauen undes immer das Unternehmen seines Vaters bleiben würde, besonders in den Augender dienstältesten Mitarbeiter. Die Chance war vertan, als Thomas sich dafür ent-schieden hatte, eine Karriere außerhalb der Lebensmittelbranche zu verfolgen. Neilsandere Kinder hatten sich bereits für andere Berufsrichtungen entschieden. Natür-lich unterstützte er ihre Wünsche und freute sich, dass sie Zukunftspläne gemachthatten, die sie interessierten, doch das bedeutete auch, dass es für ihn keine Optionwar, das Unternehmen im Familienbesitz zu halten und an die nächste Generationweiterzugeben.

GJ Belfrost war in einer guten finanziellen Lage (siehe Anhang 1). Er konnte alsoden Betrieb so weiterlaufen lassen, bevor er sich schließlich zu einem Verkauf desentscheiden würde. Möglich wäre ein Verkauf an ein anderes Unternehmen odereine Übernahme des Unternehmens durch die leitenden Direktoren. Dies könnte

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62 4 GJ Belfrost (England)

ihn sehr reich werden lassen, doch er war zufrieden, und immense Reichtümer zuhaben war nie ein bedeutender Motivationsfaktor für ihn gewesen. Außerdem warer niemand, der sich mit dem Erreichten zufriedengibt. Deshalb wusste er, dass eskeine Option für ihn war, den Handel einfach so fortzuführen. Als geborener Unter-nehmer würde er sein Unternehmen immer weiter entwickeln wollen. Doch diesführte zu einem anderen Problem – wie konnte er das Unternehmen entwickeln,wenn der letzte Konjunkturrückgang sämtliche Möglichkeiten zur Expansion wieMarktdurchdringung, Produktentwicklung und Marktentwicklung zunichtege-macht hatte? Ein möglicher Weg zur Weiterentwicklung des Unternehmens war,mit einem anderen Unternehmen zu fusionieren; Neil hatte erst vor Kurzem gese-hen, dass sehr viele Unternehmen in seiner Branche zum Verkauf standen. Diesführte zu einer weiteren Frage, über die er nachdenken musste. Wäre es für ihn bes-ser, ein Unternehmen zu kaufen, welches eine starke, horizontale Integration odereines, das eine starke, vertikale Integration bieten würde? Und wollte er sich dieSchwierigkeiten zumuten, die bei einer Übernahme eines Unternehmens, das nichtauf gesunden Beinen stand, sicher entstehen würden?

All diese Fragen hatten sich angesammelt. Eines Tages saß er in seinem Büro undanalysierte die verschiedenen Optionen, als ihn ein Anruf erreichte: Henson Food-service frage ihn nach einem Termin, um eine mögliche Fusion zu besprechen. Erwar zunächst von der Anfrage begeistert, da es viele seiner Probleme lösen und ihmsogar eine lukrative Ausstiegsmöglichkeit bieten könnte. Doch etwas hatte ihn in denletzten Wochen im Bezug auf sein Ausscheiden beunruhigt – es wurde ihm zuneh-mend klar, dass er das Unternehmen nicht verlassen wollte. Während seines Lebenshatte er immer eine starke Arbeitsmoral an den Tag gelegt, hatte viele Stunden inves-tiert, um es auf das heutige Erfolgsniveau zu bringen. Dies führte dazu, dass Neil nurwenig Zeit gehabt hatte, Interessen außerhalb der Arbeit und der Familie nachzuge-hen. Wenn er etwas Freizeit hatte, genoss er eine Golfpartie. Das bereitete ihm sehrviel Freude, jedoch hatte er nicht oft Zeit dazu. Neil konnte sich nicht entscheiden,was er wirklich im Ruhestand tun würde. Dass er einmal auf das spannende Lebeneines Unternehmers verzichten sollte, ließ ihm keine Ruhe. Was er wirklich machenwollte, war, das Unternehmen weiterzuentwickeln so lange er es konnte, auch wenndas heißen sollte, er ginge mit 80 in Rente. Folglich war er sehr unsicher:

„Sollte mein Fokus auf einer Ausstiegsmöglichkeit oder auf einer Wachstumsstrategie liegen? Undwelche weiteren Handlungen sind dann nötig, um meine Ziele zu verwirklichen? Was sind meineZiele?“

Welche Optionen er auch in Erwägung zog, es gab immer einige Fragen und Aufga-ben, welche gelöst werden mussten. Er konnte keine einfache Lösung finden und erhatte keine Idee, wie er all das seiner Mutter bei einer Tasse Tee erzählen sollte. Siewürde das Wasser wohl ein zweites Mal aufsetzen müssen . . .

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4.2 Unternehmerischer Hintergrund

Neil war ein geborener Unternehmer, er gründete und führte einige erfolgreiche Fir-men in seiner 32-jährigen Karriere. Im Jahre 1978, als er 23 Jahre alt war, gründete erin Gants Hill, an der Grenze zwischen Londons Nordosten und Ilford (Essex), seinerstes Unternehmen – ein Fast-Food-Take-away. Er gründete das Unternehmen mitseinem besten Freund und wurde in kurzer Zeit sehr erfolgreich. Sich auf Pizza zumMitnehmen zu spezialisieren, war eine gut überlegte Strategie, da dies ein wachsen-der Markt war. Der amerikanische Pizza-Lieferant „Tolona Pizza Products“, welchergerade eine Zweigstelle in England gegründet hatte, war ihr Hauptlieferant. DreiJahre später, im Jahre 1981, war das Geschäft mit den Pizzen zum Mitnehmen keinebesonders große Herausforderung mehr für Neil und seinen Freund. Tolona PizzaProducts legte ihnen nahe, als Großhändler ein Lieferant für andere Pizza-Imbisseund Außerhauslieferanten zu werden. Sie hatten den Eindruck, dass der Großhandellangfristig bessere Möglichkeiten für sie bereithielt. So wurde das Restaurant ver-kauft und ein neues Unternehmen gegründet. Neil erwarb einen bestehenden Klein-handel für gefrorene Lebensmittel. Dieser stellte Tiefkühllagerräume bereit. Das Un-ternehmen realisierte einen konstanten Ertrag, mit dem der neue Großhandel, dernoch in den Kinderschuhen steckte, unterstützt werden konnte. Währenddessen er-öffnete „Asda“ (eine große englische Lebensmittelkette) einen Supermarkt in derNähe, woraufhin Neil und sein Geschäftspartner ihren Einzelhandel verkauften.Dies führte zusätzlich zur Trennung der Geschäftspartner, doch Neil erwarb denGroßhandel und er hatte nun die Möglichkeit, seine eigenen unternehmerischen Fä-higkeiten weiterzuentwickeln.

Im Jahre 1987 führten persönliche Umstände zu einem Umzug nach Leigh-on-Sea in Essex, und die Veränderungen in seinem Privatleben bedeuteten, dass er seineganze Energie komplett auf die Weiterentwicklung des Großhandels – GJ Distribu-tor – fokussieren konnte. GJ Distributors wurde ein sehr profitables Unternehmen.Mit einem Team von nur sechs Personen wuchs das Unternehmen durch exzellenteKundenbeziehungen mit Fast-Food-Filialen in London und Südost-England. ImJahre 1993 mussten GJ Distributors in ein größeres Lagerhaus umziehen, wo dasUnternehmen ein Kühlhaus auf dem eigenen Grundstück baute. Der Fast-Food-Markt war zu diesem Zeitpunkt eine Industrie mit großem Wachstumspotenzial.Durch die guten Beziehungen mit Tolona Pizza Products erwarb Neil deren Londo-ner Liefernetzwerk. Er machte sich dann daran, sein eigenes Unternehmen als Pizza-Großhandelslieferant im Südosten Englands zu positionieren.

Unglücklicherweise reifte die Branche, da ein hoher Sättigungsgrad erreichenwurde. Ende der 1990er bemerkte Neil, dass sich der ethnische Hintergrund seinerKunden änderte. Die frühen „Tante-Emma-Fast-Food-Läden“ der 1980er Jahre wur-den abgelöst durch „robustere“ Unternehmen mit Unternehmern aus dem NahenOsten, Osteuropa und Asien. Deshalb arbeitete Neil nicht nur in einer gesättigtenBranche, sondern auch in einer, in der sich das Profil der Konkurrenten und Kundendramatisch veränderte. Ethnische Großhändler würden bald die Großhändler derFast-Food-Industrie dominieren. Neil sah eine Differenzierungsmöglichkeit durchKundenservice und pünktliche Lieferungen. 2002, nach 15 Jahren Gründung und

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64 4 GJ Belfrost (England)

Wachstum von GJ Distributors, mahnten Neils unternehmerische Instinkte, sichnach anderen Geschäftsgelegenheiten umzusehen. Er beschloss, dass es an der Zeitwar, um sein Unternehmen in Richtung Catering zu erweitern. So bot er eine brei-tere Produktvielfalt an, und nicht mehr nur Pizzaprodukte.

4.3 Hintergrund des Unternehmens „GJ Belfrost“

Im Jahre 2003 erwarb Neil das Unternehmen „Belfrost Foods Ltd.“ (inklusive derSchulden, des Vermögens und des Betriebsgeländes) für eine Million £ und fusio-nierte diese mit seinem bestehenden Unternehmen, „GJ Distributors“. Da beide Na-men der Betriebe in der Branche gut bekannt waren, wollte Neil sicher gehen, dasssich beide im neuen Geschäftsnamen widerspiegelten und nannte die fusionierteFirma „GJ Belfrost Foodservice“. Als Neil Belfrost Foods Ltd. erwarb, hatte das Un-ternehmen seine Niederlassung in Catford, Südost-London. Er hatte jedoch die ur-sprünglichen Gebäude des Großhandels in Leigh-on-Sea in Essex behalten, wo sichauch das Hauptbüro befand. Catford lagerte nur gefrorene Produkte und Leigh-on-Sea hauptsächlich gekühlte Ware, doch Lieferungen mussten alle Temperaturberei-che abdecken, um rentabel zu sein. Um diese Bestellungen zu erfüllen, nutzte Neilanfangs ein Distributionssystem, in dem Waren nachts zwischen den Standortentransportiert wurden. Doch er merkte, dass das Unternehmen wie zwei konkurrie-rende Organisationen arbeitete. 2007 vereinte er die zwei Unternehmen an einemneuen Standort, einem zweckdienlich gebauten Lagerhaus und Büro in Rainham imLondoner Stadtteil Havering. Es gab in den ersten Jahren ein paar Anfangsproblemein Bezug auf die Unternehmenskultur. Nach dem Umzug nach Rainham arbeitetedas Unternehmen durch eine dezentralisierte Struktur jedoch viel effizienter (sieheAnhang 2). Neil führte diese Unternehmensstruktur ein, um Animositäten zu über-winden, die bei einigen Angestellte in den ersten Jahren unter Neils Leitung von GJBelfrost bestanden. Zudem wollte er in alle unternehmerischen Entscheidungen ein-bezogen werden. Da GJ Belfrost jedoch ein kleines Unternehmen mit einem einzi-gen, zentralen Standort war, empfand Neil, dass seine zentrale Rolle den Informa-tionsfluss nicht behinderte oder die Firmenkultur störte.

Eine neue Möglichkeit tat sich im April 2009 auf, als ein sich in Schwierigkeitenbefindendes Lebensmittelunternehmen an Neil herantrat und den Betrieb kosten-günstig anbot. Der Großhändler, Vincents of Essex, hatte einen Umsatz von1,6Mio. £. Sein Hauptbereich war die Lieferung von Lebensmitteln für Pop-Festivalsim Vereinigten Königreich (z. B. Glastonbury, Reading, „V“-Festivals usw.). Dies hatsich als sehr ertragreich erwiesen und der Umsatz hat sich stetig gesteigert, indemeine noch größere Produktvielfalt an diese Kunden verkauft wurde. Obwohl das Un-ternehmen stetig expandierte, hatte Neil weder einen Businessplan noch eine Marke-tingstrategie. Das Verkaufsteam kämpfte jedoch für tägliche Ziele und Neil war sehrstreng bezüglich der Erstellung und Überprüfung der monatlichen Finanzberichte.In der Tat erörterte Neil häufig, dass der Erfolg des Unternehmens darauf beruht,dass nicht die Strategie, sondern die Taktik im Vordergrund steht. GJ Belfrost war

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ein profitables Unternehmen mit einem geschätzten Umsatz von 8,1Mio. £ und mit40 Mitarbeitern.

GJ Belfrost ist ein Großhandel für gefrorene Lebensmittellieferungen. Mit seinemgroßen Produktangebot von gefrorenen und gekühlten Produkten deckt er eine sehrbreite Palette ab (siehe Anhang 3). Das geographische Einzugsgebiet ist recht großund reicht von Ipswich bis Reading, von Brighton bis Dover und schließt Londonein (siehe Abb. 1). Das Unternehmen hat einen Fuhrpark von Lastwagen mit geteil-ten Temperaturzonen – so können Bohnendosen, Milch und gefrorene Waren ineinem Fahrzug transportieren werden. Es hat ein engagiertes Verkaufs- und Service-personal, welches in der Lage ist, den Kunden bei allen Fragen weiterzuhelfen. Zu-sätzlich bieten sie eine Reihe von verkaufsunterstützenden Materialien an, wie z. B.Dessertkarten, Kinder-Speisekarten und Kundeninformation für Markenprodukte.Außerdem bietet es monatlich Aktionen an, um seinen Kunden eine größere Ge-winnspanne zu ermöglichen, oder ihnen die Gelegenheit zu geben, neue Menüs aus-zuprobieren. Es akzeptiert Bestellungen per Fax oder Telefon durch einen Telefon-verkaufsservice, allerdings existiert noch kein Online-Bestellservice, obwohl dieseIdee von einigen Kunden nahegelegt wurde. GJ Belfrost ist außerdem Mitglied von„Fairway Foodservice PLC“, der größten unabhängigen Lebensmitteleinkaufsgesell-schaft im Vereinigten Königreich. Dies ermöglicht dem Unternehmen, kleinereMengen zu günstigen Preisen einzukaufen. Die Kunden haben somit den Vorteil,von einem einheimischen Unternehmen beliefert zu werden. „Nationale Stärke, ört-licher Service“ ist das Motto des Unternehmens.

Abb. 1: Einzugsgebiet von „GJ Belfrost“

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66 4 GJ Belfrost (England)

Tab. 1: Prozentuale Übersicht der Kunden

Krankenhäuser 15%

Schulen 22%

Fast-Food 25%

Hotels/Freizeitzentren 10%

Private Catering-Unternehmen 20%

Bars & Restaurants 8%

Seit Neil das Unternehmen gehört, hatte GJ Belfrost immer den Südosten von Eng-land, einschließlich des großen LondonerMarktes, beliefert. Es ist ein B2B-Unterneh-men, das frische, gefrorene, gekühlte und gebrauchsfertige Lebensmittel an verschie-dene Cateringunternehmen in seinem Einzugsgebiet liefert. Derzeit hat Neil einigeVerkaufsvertreter, welche direkt mit vielen Chefs von Cateringunternehmen über dieProdukte und Serviceleistungen von GJ Belfrost sprechen. Dies ist ein sehr langsamerProzess, undGJ Belfrost gibt jährlich circa 240.000 £ für den direkten „door-to-door“-Handel aus, um neue Kunden für sich zu gewinnen. Für den Verkauf und die Anwer-bung neuer Kunden ist eine beachtlicheMenge an Geld undMitarbeitern nötig.

Eine aktuelle Kundenliste zeigte Neil eine Aufschlüsselung der Verkäufe. Erkonnte so nachvollziehen, auf welche Marktsegmente sich GJ Belfrost konzentrierte(Tabelle 1). Sobald er diese Informationen besprochen hatte, bat er seinen Buchhal-ter, einen Finanzüberblick anzufertigen. Damit sollte der prozentuale Gewinn ermit-telt werden, der durch jede der Kundengruppen gemacht wurde. So könne man sichauf die profitabelsten Segmente fokussieren. Sein Vater Billy hatte ihn gelehrt, dass eswenig Nutzen hatte, „stets beschäftigt zu sein, aber nicht mit den richtigen Dingen“.

Neil hatte schon lange bemerkt, dass die Konkurrenz in der Catering-Branchesehr stark war, besonders in London und Umgebung. Es war ein gesättigter, reiferMarkt, in dem Differenzierung immer schwerer wurde. Die genaue Anzahl der Kon-kurrenten war unklar, doch Neil wusste, dass seine direkten Konkurrenten viel grö-ßere Konzerne mit einen Umsatz von 1Mrd. £ (z. B. Brakes und 3663) waren. Diemeisten Konkurrenten waren jedoch sehr klein, agierten im Umkreis von 50 kmvon ihrem Standort, und boten vor allem Premiumprodukte an. Durch seine 30-jäh-rigen Erfahrungen hatte Neil einen beachtlichen Einblick in den Großhandel mit Le-bensmitteln bekommen und sein Wissen und sein Gefühl für das Geschäft hattenihn dazu bestärkt, die Produktvielfalt des Unternehmens kontinuierlich weiterzuent-wickeln. Diese beinhaltet frische, gefrorene und gebrauchsfertige Produkte sowieSnacks und Non-Food. Das Unternehmen konnte jetzt eine Vielzahl von Kundenmit vielen verschiedenen Ansprüchen und Bedürfnissen beliefern. Somit sank dieGefahr einer wachsenden Konkurrenz. Neil wusste, dass GJ Belfrost zum Expandie-ren und zur Erlangung von Marktmacht in der Branche einen großen Kunden-stamm beliefern musste. Alle Lebensmittel und Non-Food, welche möglicherweisebenötigt werden könnte, mussten angeboten werden. Die Beziehung zu FairwayFoodservice war insofern entscheidend, als dass GJ Belfrost durch diese Verbindungauf eine enorme Produktvielfalt zugreifen und immer noch konkurrenzfähige Preise

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auf dem Markt anbieten konnte. Fairway Foodservice hatte 21 Mitglieder im Verei-nigten Königreich und Irland, doch es gab an sich nichts, was Fairway Foodservicehindern konnte, weitere Mitglieder zu werben. Derzeit war das einzige Mitglied mitStandort im Londoner Gebiet das Unternehmen „Henson Foodservice“.

4.4 Henson als Geschäftsgelegenheit

Henson Foodservice, ansässig imHerzen Londons, hatte Cateringbetriebe in Londonund der Umgebung seit 25 Jahren mit frischen, gefrorenen und gebrauchsfertigen Le-bensmitteln beliefert. Hensons Produktpalette war ähnlich der von GJ Belfrost, dochsie hatten den zusätzlichen Pluspunkt einer hauseigenen Schlachterei, was das Ange-bot von frischem Fleisch ermöglichte. Das Unternehmen hatte einen geschätzten Jah-resumsatz von 12Mio. £. Henson Foodservice wandte sich im Jahre 2007 das ersteMal an GJ Belfrost, um die Möglichkeit einer Fusion zu diskutieren. Neil lehnte dasAngebot augenblicklich ab, war aber darüber erfreut, dass sein Konkurrent Num-mer 1 sich an ihn gewendet hat, um mit ihm zusammenzuarbeiten. Neil erinnertesich gut an das Ereignis:

„Ich habe mir gedacht, dass ich irgendetwas richtig machen muss, wenn mein größter Konkurrentsich an mich wendet, um die Zukunft unserer beiden Unternehmen zu diskutieren. Ich war sehr stolzdarüber, dass sie sich von GJ Belfrost bedroht fühlten.“

Nun, drei Jahre später, in einer Zeit der internationalen Wirtschaftskrise und einemsehr konkurrenzorientierten Markt, stimmte Neil einem Treffen mit dem Direktorvon Henson Foodservice zu. Für einen Unternehmer ist eine Fusion sehr aufregendund frustrierend zugleich. Einerseits kann das Unternehmen in kurzer Zeit auf einsehr hohes Niveau expandieren. Andererseits bedeutet eine Fusion auch Kontrollver-lust.

Neil blieb wegen der Fusion skeptisch. Da Henson ein größerer und profitablererBetrieb war, würde es keine „ebenbürtige“ Fusion sein, sondern im Verhältnis von42:58 zugunsten von Henson geteilt werden. Neil würde ein Direktor bleiben, docher müsste einen erheblichen Kontrollverlust im Bezug auf die strategische und opera-tive Leitung des Unternehmens hinnehmen. In Bezug auf die Logistik würde Hensondie gesamten Tätigkeiten zum Standort von Belfrost verlagern, da dieser Platz größerwar und mehr Wachstumsmöglichkeiten bot. Allein dadurch konnte, über die Ein-sparungen vonMitarbeitern, Synergien der Lieferrouten, aber auch über signifikanteEinsparungen von Hensons variablen und festen Kosten, ein zusätzlicher Gewinnvon 500.000 £ erzielt werden. Die Reorganisation der Unternehmensstruktur und-kultur, mit der Neil in den frühen Jahren von GJ Belfrost Probleme hatte, würde er-neut eine zentrale Herausforderung werden. Es würde Angst vor Arbeitsplatzabbauund vor der möglichen Umsiedlung des Unternehmens geben. Außerdem müsstedie bestehende, dezentralisierte Organisationsstruktur in Richtung einer formellen,hierarchischen Struktur verändert werden. Neil musste außerdem auf die Kunden

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68 4 GJ Belfrost (England)

von GJ Belfrost Rücksicht nehmen, da das Unternehmen sehr loyal zu seinen Kun-den war und sieben Jahre lang starke Kundenbeziehungen aufgebaut hatte. Hinzukam, dass eine Fusion seine Möglichkeiten zum schnellen Ausstieg verringernwürde. Er würde viele Stunden arbeiten müssen, um seinen neuen Partnern seineunternehmerischen Fähigkeiten zu beweisen. Doch Neil wusste, dass eine Fusion fi-nanziell gesehen, mit einem geschätzten Jahresumsatz von 25Mio. £ nach nur fünfJahren, eine sehr erfolgreiche Option für sein Unternehmen sein könnte. Doch dieswaren nur Schätzungen, und Analysen der Unternehmenswerte im Rahmen einerFusion waren schwierig und zeitaufwendig. Gleichwohl wusste Neil, dass er viel Kos-ten sparen, größere Marktmacht gewinnen und seine Produktvielfalt auf eingesalze-nes Rindfleisch (Hensons landesweit bekanntes und erfolgreichstes Produkt), Käse,und Frischfleisch würde ausweiten können. Die Frage, die er nun zu beantwortenhatte, war: „Lohnt sich dieser ganze Aufwand?“.

4.5 Andere strategische Optionen

Neil wusste, dass eine Fusion mit Henson nicht die einzige Möglichkeit von GJ Bel-frost war. Er hatte drei andere Zukunftsoptionen: 1. weitermachen wie in der Ver-gangenheit; 2. die Präsenz von GJ Belfrost durch Marktdurchdringung und Weiter-entwicklung der Produkte auszubauen, und 3. Weiterentwicklung durch vertikaleoder horizontale Integration.

4.5.1 Fortführung ohne irgendwelche Änderungen

Neil wusste, dass er durch all die Veränderungen, mit denen sein Unternehmen kon-frontiert war, nicht mehr mit derselben Strategie und Produktpalette weitermachenkonnte. GJ Belfrost befand sich in einem sehr fragmentierten und umkämpftenMarkt, und aufgrund seiner Erfahrungen wusste er, dass sich ein Unternehmen mitdem Markt weiterentwickeln musste, um konkurrenzfähig zu bleiben. Außerdemhatte Neil Pfeffer im Hintern – seine unternehmerische Natur erlaube es ihm nicht,„still zu sitzen“, denn es gab eine Fülle von Möglichkeiten für ihn. Weiterzumachenohne irgendeine Veränderung war die „sichere“ Variante, weil es zunächst kein ho-hes Risiko gab – GJ Belfrost war schließlich eine starke Marke und stand für hoheProduktqualität. Dennoch: Der Markt war stark fragmentiert, und es gab eine inter-nationale Wirtschaftskrise – Veränderungen würden jetzt oder in naher Zukunft ge-macht werden müssen.

4.5.2 Strategisches Wachstum – Produkt- und Marktexpansion

Um die strategischen Wachstumsmöglichkeiten von GJ Belfrost zu überprüfen,konnte Neil die Ansoff-Matrix (siehe Abb. 2) nutzen. So konnte er die Wahlmöglich-keiten visualisieren. Das konnte ihm helfen, seine Strategien zu überdenken.

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Abb. 2: Ansoff-Matrix

1. MarktdurchdringungDie Marktdurchdringung ist eine Wachstumsstrategie, bei der sich Neil auf denwachsenden Verkauf bestehender Produkte auf dem bestehenden Markt konzen-trieren würde. Die Marktdurchdringung ist ähnlich der von Neil bereits abge-lehnten Variante. In einem gesättigten Markt wie dem Lebensmittelgroßhandelmüsste Neil Konkurrenten durch eine aggressive Verkaufs- und Marketingstrate-gie vertreiben, und gleichzeitig die Kundenloyalität steigern. GJ Belfrost hat be-reits einen beachtlichen Geldbetrag für Vertriebsaktivitäten aufgewendet, dochhat das Unternehmen keine Strategie, um loyale Kunden dauerhaft halten zu kön-nen. Da GJ Belfrost in einem fragmentierten Konkurrenzmarkt operiert, weißNeil nicht, wie er damit anfangen sollte, die Konkurrenten zu identifizieren undsie vomMarkt zu vertreiben.

2. MarktentwicklungWenn GJ Belfrost sich für die Marktentwicklungsstrategie entscheidet, würdeNeil das bestehende Sortiment in neuen geographischen Regionen verkaufenmüssen. Der Transport von Lebensmitteln und Verbrauchsartikeln ist schwierig.Deshalb müsste sich Neil überlegen, ein weiteres Lager außerhalb des derzeitigenEinzugsgebiets von GJ Belfrost zu gründen. Dies bringt erhebliche Investitions-kosten mit sich. Wenn GJ Belfrost allerdings im konkurrenzintensiven LondonerMarkt überleben kann, ist eine erfolgreiche Expansion in weniger konkurrenzin-tensive Märkte möglich.

3. ProduktweiterentwicklungNeil hat die Möglichkeit, neue Produkte auf dem vorhandenen Markt anzubieten.Weil GJ Belfrost ein Mitglied von Fairway Foodservice ist, könnte das Unterneh-men das Produktsortiment erweitern, um eine breitere Produktauswahl von Fair-way zu erfassen. Die zwei schwachen Produktbereiche von GJ Belfrost sind ethni-sche Lebensmittel und rohes oder gesalzenes/geräuchertes Fleisch. Diese Strategiekönnte nicht nur den Kundenstamm erweitern, sondern auch die Kundenloyali-tät fördern. So könnte GJ Belfrost ein „One-Stop-Shop“ für seine derzeitigenKunden werden. Dies könnte Neil dazu bewegen, sich auf dem internationalen

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70 4 GJ Belfrost (England)

Markt nach einem Lieferanten für ethnische Lebensmittel umzuschauen. Neilmuss dabei jedoch sicherstellen, dass jeder neue Lieferant die gleichen hohenQualitätsstandards hat.

4. DiversifikationDiese Wachstumsstrategie bedeutet, mit neuen Produkten auf neue Absatz-märkte zu gehen. Dies ist eine höchst riskante Strategie, weil es einen Marktein-tritt in einen Markt bedeuten würde, in dem das Unternehmen wenig oder keineErfahrung hat. Bevor eine Diversifikationsstrategie umgesetzt werden kann, mussGJ Belfrost deutlich machen, was es sich von dieser Strategie verspricht und wel-che Risiken entstehen könnten. Wegen des hohen Grades an Unsicherheit hatsich Neil bereits entschieden, die vertikale oder horizontale Integration durchden Kauf eines anderen Unternehmens zu prüfen.

4.5.3 Vertikale oder horizontale Integration

Eine Integrationsstrategie bedeutet den Kauf eines anderen Unternehmens aus der-selben Branche, jedoch gegebenenfalls aus einem anderen Sektor. Vertikale und hori-zontale Integrationen sind riskant, bergen aber auch Wachstumsmöglichkeiten.1. Vertikale Integration

Im Hinblick auf die vertikale Integration scheint für Neil der Ankauf eines Cater-ingunternehmens eine sinnvolle Option. Dies ist eine Form der Vorwärtsintegra-tion, bei der Neil innerhalb der gleichen Wertkette bleiben würde, und in Kontaktmit den Endkunden treten könnte. GJ Belfrost würde ein Großhandels- und Ca-tering-Unternehmen werden und eine größere Marktmacht bekommen. GJ Bel-frost versorgt viele verschiedene Caterer und hat daher ein großes Wissen überdiese Branche. Die Hauptfrage ist, ob er erst klein anfangen oder umgehendeinen großen Caterer kaufen solle. Der Erwerb eines großen Unternehmens miterheblicher Marktpräsenz, z. B. eines Caterers für Schulen oder Krankenhäuser,würde nicht nur finanziell teuer werden. Es wäre auch ein sehr komplexer Pro-zess, der einen erheblichen Zeitaufwand und eine organisatorische Umstrukturie-rung verursachen würde. Ein Cateringunternehmen zu kaufen würde für GJ Bel-frost folgende Vorteile bringen:· Reduktion der Transportkosten, falls gemeinsames Eigentum auch eine gerin-

gere Entfernung bedeutet· Verbesserte Koordination der Lieferkette· Eine größere Gewinnspanne· Zugangsschranken für potenzielle Konkurrenten erhöhenIn seinen frühen unternehmerischen Tagen war Neil bereits im Cateringgewerbetätig und er ist nicht besonders begeistert darüber, wieder in dieser Branche zuarbeiten.

2. Horizontale IntegrationDies ist der Erwerb eines Unternehmens auf der gleichen Ebene der Lieferkette.Für GJ Belfrost würde dies bedeuten, einen Konkurrenten aus dem Großhandels-sektor zu kaufen. Neil ist sich bewusst, dass GJ Belfrost viele Konkurrenten hat,

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aber wenn er sich dafür entscheiden würde, diese Strategie zu verfolgen, würde ervermutlich einen Konkurrenten mit einem niedrigeren Jahresumsatz und einemniedrigeren Vermögen kaufen. Anderenfalls würde es für GJ Belfrost sehr schwie-rig werden, die finanziellen Mittel für den Kauf zu beschaffen. Da GJ Belfrostkeine starke Präsenz im Bezug auf ethnische Lebensmittel und Fleischproduktehat, ist der Erwerb eines Großhandels dieser Produkte eine Möglichkeit. Dieswürde GJ Belfrost eine beachtliche Marktmacht geben und den Marktanteil erhö-hen. Um diese Strategie zu verfolgen, müsste Neil eine explizite horizontale Stra-tegie erarbeiten, um sicherzustellen, dass GJ Belfrost in der Lage sein wird, finan-ziell und strukturell mit dem Erwerb eines Konkurrenten zurechtzukommen. DieVorteile einer horizontalen Integration wären:· Skalenvorteile (Economies of Scale)· Diversifikationsvorteile (Economies of Scope)· Steigerung der Marktmacht

Da Neil erst sieben Jahre zuvor Belfrost Foods Ltd. übernommen hat, ist er sich un-sicher, ob er erneut durch so einen Prozess gehen will.

4.6 Einflussfaktoren

Die diversen Wachstumsstrategien bieten Möglichkeiten an, die für Neil interessantsind, selbst wenn er von einigen nicht völlig begeistert ist. Natürlich liebt der Unter-nehmer in ihm die Herausforderung und das Ankaufen und Verkaufen verschafftihm immer noch einen großen Kick. Er ist der Meinung, dass ihm genau diese Be-reitschaft, Herausforderungen anzunehmen, den heutigen Geschäftserfolg ermög-licht hat. Es ist jedoch auch dieser unternehmerische Geist, der ihn an der Fusionmit Henson zweifeln lässt, da Neil weiß, dass er eigentlich der geborene Einzelunter-nehmer ist. Seine Mentalität als Einzelunternehmer würde es sehr schwierig machen,die Kontrolle über sein Unternehmen einer anderen Führungsgruppe zu übergeben.Neil fand es schwierig genug, die dezentralisierte Organisationsstruktur, die heutebei GJ Belfrost etabliert ist, einzuführen, da er so ist er nicht mehr in jede Entschei-dung einbezogen ist. Seine Passion für sein Unternehmen und fürs Geschäftemachenlässt ihn folgende Frage stellen:

„Plane ich eine Wachstumsstrategie oder eine Rückzugsstrategie für mich selbst?“

Neil muss außerdem sein Alter berücksichtigen. Egal, für welche Strategie er sichentscheidet, es würde viele Jahre dauern, um aussteigen zu können. Mit 55 Jahrenstellt sich Neil die Frage:

„Wenn ich mich dafür entscheide, zu bleiben und meinen Betrieb weiterzuentwickeln, werde ich inder Lage sein, zu bleiben und es zu Ende zu führen? Es wird keine leichte Aufgabe sein und egal,welche Variante ich wähle, ich weiß, dass die Umsetzung viele Jahre dauern wird. Bin ich bereitund in der Lage für eine derartig langfristige Festlegung?“

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72 4 GJ Belfrost (England)

Des Weiteren hat Neil noch nicht die möglichen Gefahren für sein Unternehmenvollständig analysiert. Die Umsetzung einer neuen Strategie ist nicht nur sehr zeit-aufwendig, sondern auch kostspielig in Bezug auf Finanzen und Arbeitsmoral.Durch seine langjährige Geschäftstätigkeit hat Neil gelernt, dass das Personal keineÄnderungen mag und dies negative Auswirkungen auf die Verkäufe und für das An-sehen seines Geschäfts haben kann. Zusätzlich muss berücksichtigt werden, dass dieausgewählte Strategie nicht erfolgreich sein könnte. Es gibt viele Faktoren, wie Kun-denpräferenzen, Branchenentwicklung, Wettbewerb etc., die passen müssen, damiteine Strategie erfolgreich ist. Die internationale Wirtschaftskrise hat die Branchestark getroffen. Unternehmen und Privatkunden geben weniger aus. Würde sicheine kostspielige Wachstumsstrategie für Neil lohnen? Die Angst und Unsicherheitseiner Konkurrenten und anderer Marktteilnehmer könnte für einen Unternehmerwie ihn eine wunderbare Gelegenheit sein, da er selbst sehr risikofreudig ist undüber ein großes Branchenwissen verfügt.

4.7 Schlussfolgerung

Als Neil damit fertig war, seiner Mutter von den Möglichkeiten und offenen Fragenzu erzählen, fühlte er, wie ein Gewicht von seinen Schultern fiel. Der Antwort war ernicht näher, aber es tat einfach gut, seine Gedanken mit jemandem teilen zu können.Dies konnte er nicht mit seinem Managementteam machen, denn wenn er einenmöglichen Verkauf des Unternehmens andeuten würde, gäbe es sofort Alarmstim-mung. Auch die Möglichkeit einer Fusion mit einem anderen Unternehmen würdeUnsicherheit im Unternehmen verursachen – was er jedoch im Augenblick benötigtewar Stabilität und Sicherheit.

Die Diskussion mit seiner Mutter bei einer Tasse Tee hatte ihn jedoch auf eineIdee gebracht, der er sofort nachgehen musste. Erst kürzlich hatte sich Neil an einenUnternehmensberater gewandt, den er schätzte, weil dessen Urteil auf gesundemMenschenverstand basierte und immer zu praktischen Schritten führte. Der Beraterwürde immer mit einer Betrachtung der jetzigen Situation beginnen, um dann zuerfassen, wo Neil in drei bis fünf Jahren stehen wollte. Darauf baute er dann eineStrategie auf, mit der Neil zu diesem Punkt gelangen würde. Dies bezeichnete seinBerater als eine Straßenkarte, weil er fand, dass jedes Unternehmen auf einer indivi-duellen Reise ist, die auf besondere Weise geleitet werden musste. Neil fragte sich,welchen Rat der Berater ihm wohl diesmal geben würde!

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Anhang 1: Finanzdaten

BELFROST Foods Ltd.GEWINN-UND-VERLUST-RECHNUNG (in £)GESCHÄFTSJAHRESENDE 31. JULI 2010

2010 2009

UMSATZ 8.070.715 7.563.123

Umsatzkosten 5.854.830 5.422.800

BRUTTOGEWINN 2.215.885 2.140.323

Vertriebskosten 1.268.225 1.129.441

Verwaltungskosten 747.037 770.705

BETRIEBSGEWINN 200.623 240.177

Zinsen 8.919 (69)

EGT VOR STEUERN 191.704 240.246

Steuer 54.368 (9.758)

GEWINN 137.336 250.004

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Anhan

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GJBEL

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2010

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Anhang 3: Produktgruppen von GJ Belfrost

Gekühlte Waren

Milchprodukte –H-Milch

Milch & Sahneartikel

Gekühlter Speck

Gekochtes Fleisch, gekühlt

Eier

Butterersatz & Aufstriche

Öl – gekochter Butterersatz

Butter

Butter, Margarine und Aufstrich

Kochfette & Schmalz

Sahne & Sahneprodukte

Sahne –milchfrei

Joghurt

Käse – im Stück & Scheiben

Käse – gerieben

Käse – Weichkäse

Käse – Spezialität

Gekühlte Salate

Sandwichbeläge gekühlt

Suppen – Lebensmittel

Lebensmittelprodukte

Soßen – Gebinde für Dips – Marken-produkte

Gemüse – Pasta in Dosen

Soßen – Heinz Sauce O Mat System Gemüse – Konserven allgemein

Soßen – Päckchen –Markenprodukt Eingelegtes

Soßen – Päckchen Essige

Soßen – Tomaten Suppen – dehydriert, Großpackung

Soßen – braun Suppen – dehydriert, Packungen

Soßen – Mayonnaise Suppen – Knorr Einzelpackung

Soßen – Barbecue Zucker

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Soßen – Senf Zuckerpäckchen & Sticks

Soßen – Früchte Süßstoffe

Soßen – Worcester & Andere Eingemachtes

Soßen – Salatsauce, Garnelencocktail &Tartar Sauce

Eingemachtes – Portionen

Soßen – Meerrettich & Minzsoße Pasten & Aufstriche

Soßen – Soja Konservierter Früchtesaft

Salatdressing Konservierter Früchtesirup

Würze & gewürzte Früchtepaste Milch – konserviert & pulverisiert

Soßen – orientalisch Müsli – Frühstück

Dips – orientalisch Müsli – Menge & Beutel

Soßen – italienisch & mediterran Müsli – Portionspackungen

Soßen – traditionell Nüsse & Samen – getrocknet

Soßen – amerikanisch Getrocknete Früchte

Dips – amerikanisch Senf

Soßen – indisch Sirup & schwarzer Rübensirup

Dips – indisch Kuchenfüllungen

Bratensoße Nachtisch – Päckchen

Fleischbrühe, Brühen & Basen Nachtisch – Eiscremewaffeln

Füllungen, Paniermehl & Beläge Nachtisch – Götterspeise

Fisch – in Dosen Nachtisch – Soßengarnierung

Fleisch – in Dosen Nachtisch – Soßen

Fleisch – Hotdogs in Beutel Nachtisch – verschiedene Eiscreme

Salz & Pfeffer Mehl

Kartoffelprodukte Backmischungen – Andere

Getrocknete Teigwaren Backmischungen – Kuchen & Biskuit-kuchen

Hülsenfrüchte – Reis & Getreide Backen – Verzierungen

Reis Backen – Aromen

Kräuter & Gewürze Schwartz Backen – Schokoladenverzierungen

Kräuter, Gewürze & Würzen Backen – Kuchen & Teigbasen

Öle – Spezialität Kekse – Einzelhandel

Öl – zum Kochen Kekse – Großhandel

Öl – zum Kochen, langlebig Kekse – Knabberartikeleinheiten

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Pizzasauce Kekse – pikant

Gemüse – Dosentomaten

Gemüse – gebackene Bohnen in Dosen

Snacks

Chips & Snacks Soft Drinks – Mineralwasser

Chips & Snacks –Walkers Soft Drinks – Andere

Chips, Nüsse & Snacks Soft Drinks – Britvic

Süßwaren – Nestle Soft Drinks – In Dosen und Flaschen

Süßwaren – Cadbury Soft Drinks – Erwachsene

Süßwaren –Mars Soft Drinks – Coca Cola

Süßwaren – Andere Soft Drinks – Milchsirups

Süßwaren –Müsliriegel Getränke – Tee

Süßwaren – Dinner Mints Getränke – Teespezialitäten

Alkoholfreie Getränke – Kinder &Andere

Getränke – Fertigkaffee

Alkoholfreie Getränke – Stärkungsmittel Getränke – Kaffee – Sticks

Alkoholfreie Getränke – Calypso Getränke – Kaffee geröstet

Alkoholfreie Getränke – Fruchtsaft Getränke – Schokolade

Alkoholfreie Getränke – stilles Wasser Getränke – andere

Alkoholfreie Getränke – aromatisiertesWasser

Alkoholfreie Getränke – aromatisiertesSprudelwasser

Non-Food

Reinigung – umweltfreundlich Reinigungsmaterialien & Putzlappen

Reinigung –Mehrzweckreiniger Einwegartikel – Säcke, Müllbeutel

Reinigung – Küche Einwegartikel – Servietten

Reinigung – flüssiges Abwaschmittel Einwegartikel – Becher & Deckel

Reinigung – Geschirr spülen Einwegartikel – Geschirr

Reinigung – Bar & Keller Einwegartikel – Verpackungen

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Reinigung – Bleichmittel &Desinfektionsmittel

Einwegartikel – biologisch abbaubareVerpackungen

Reinigung –Wäsche Einwegartikel – Andere

Reinigung –Waschraum

Reinigung – Papierhygiene

Gefrorene Produkte

Rindfleischhamburger & Hamburger Einzelne Portionen – Schweinefleisch-teller

Brot – Gebackenes auftauen undservieren

Einzelne Portionen – Gemüseteller

Brot – Brötchen & Hot Dog-Brötchen Premium handgemachte traditionelleFladen

Brot – teils gebacken Fleisch – paniert, mariniert usw.

Buffet – gekocht Fleisch – roh

Buffet – frittiert Mikrowellengeeignete gefüllte ital.Brötchen

Buffet – gebacken Frühstücksangebot

Buffet – Nachtisch-Auswahl Mozzarella & Käsepizzen

Kekse Muffins

Crepes & Pfannkuchen Fleisch –Multiportionen

Nachtische – Käsekuchen Multiportionen von Puddings, Kuchen& Blechkuchen

Nachtische – Klassisch & Spezialitäten Omeletts

Nachtische – Eiskuchen Nudelgerichte

Nachtische – Obstkuchen Kuchenteig und Kuchendeckel

Nachtische – Einzeln Kuchen & gebackene Pasteten

Nachtische – Premium-Puddings(einzeln)

Gebackene Pasteten & Puddings

Nachtische – Hochwertige kontinentaleAuswahl

Pizza – Grundlage

Nachtische – traditionelle Puddings(einzeln)

Pizzateigbällchen

Nachtische – Tortenauswahl Pizza zum Mitnehmen

Fisch – Fischfrikadellen Pizzagarnierungen – Hühnchen

Fisch – Filets Pizzagarnierungen – Halal

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Fisch – Scampi, Garnelen & Meeres-früchte

Pizzagarnierungen – Fleisch

Fisch – geräuchert Pizzagarnierungen – Andere

Fisch – Fischspezialität & Steaks Kartoffel – Pommes

Fisch –Meeresfrüchte Spezialität Kartoffeln – Spezialitäten

Fisch Filets – in Backteig, enthäutet &entgrätet

Geflügel – gekochte Hühnchenprodukte

Fisch Filets – paniert – Natural Crumb Geflügel – ungekochte Produkte

Frucht Geflügel – Truthahnbraten

Fruchtshakes Geflügelprodukte – paniert, mariniertusw.

Eiscreme – Fischer Dairy Quiches (fertig gebacken)

Eiscreme – Fischer Einzelportions-nachtische

Pizzen (Fertigprodukt)

Eiscreme –Haagen-Dazs Reis

Eiscreme – Impulskäufe Soßen (Fertigprodukt)

Eiscreme – Einzelne Nachtische Wurströllchen

Eiscreme – New Forest Würstchen

Eiscreme – hochwertiges SwissMövenpick

Vorspeisen

Eiscreme – Verschiedenes & Eis Tex-Mex-Spezialitäten

Eiscreme – Value Soft Scoop und Sor-bets

Gemüse

Einzelne Portionen – Rindfleischteller Gemüse –Menge

Einzelne Portionen – Hühnchenteller Gemüseprodukte

Einzelne Portionen – Fischteller Yorkshire Puddings – gebacken

Einzelne Portionen – Lammteller

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5EWaiter (Estland)

Arnis Sauka, Aivars Timofejevs & Rickie A. Moore

5.1 Einleitung

Maarika Ansip schaute auf die neueste Version des Businessplans und fragte sich, obsie ihn jemals richtig hinbekommen würde. Nachdem die erste Version geschriebenwar, zeigte sie das Ergebnis dem Unternehmerteam, das sie leitete. Das Team hinter-fragte die Umsetzbarkeit des Geschäftsmodells und zeigte mehrere Verbesserungs-möglichkeiten auf. Sie schrieb den Hauptteil des Plans um, hatte aber noch keineZeit, die Finanzdaten anzupassen. Dieser Teil war noch ein komplettes Durcheinan-der. Zudem gab es im Plan selbst noch viele Fehler, und sie würde ihn nochmals voll-ständig überarbeitenmüssen. Allerdings waren es nur noch 24 Stunden zumnächstenTreffen mit dem Unternehmerteam, und sie brauchte dringend einen Businessplan-Experten.

Maarika war 25 Jahre alt und IT-Absolventin vom Institut für Technologie inTartu. Während ihrer Schul- und Universitätszeit hatte sie sich nie mit Betriebswirt-schaft und Unternehmertum befasst. Nach ihrem Bachelorabschluss begann sie beider ITH Group als IT-Spezialistin für Kundenprojekte. Hier kam sie auf die Ideevom „EWaiter“ und besprach die Idee mit ihrem Chef. EWaiter ist ein benutzer-freundliches IT-Programm, das in Restaurants, Bars, Pubs und anderen Unterneh-men im Gastgewerbe als digitale Menükarte zum Bestellen von Gerichten und Ge-tränken eingesetzt werden kann. Jeder Tisch würde ein Gerät bekommen, und esgäbe einen Zentralserver, der von diesen Geräten angesteuert wird. Die Geräte wür-den speziell für Restaurants angepasst werden. So wird es eine Auswahl verschiede-ner Farben für das Gerät geben, und das Gerät selbst kann an der Wand neben denTischen oder auch in den Tischen eingebaut werden. Es gibt auch eine tragbare Ver-sion des Geräts für Tische in der Mitte eines Restaurants, für die die Möglichkeit derWandmontage nicht besteht.

Nach mehreren Diskussionen schlug ihr Chef vor, ein Spin-off zu gründen, daihre Idee sich deutlich von den Hauptaktivitäten der ITH Gruppe unterschied. Indiesem Spin-off würde die Idee weiterentwickelt werden. Weil man für die Weiter-entwicklung des Projekts über die Fähigkeiten der ITH Gruppe hinaus noch weitereExpertise brauchte, sollten zwei weitere Unternehmen eingebunden werden. Er warsich sicher, dass Maarika die treibende Kraft des Projekts sein sollte, da es ihre Ideewar. So würde das Unternehmerteam aus Maarika und den Geschäftsführern dieserdrei Unternehmen bestehen:· One Baltics – ein Unternehmen, das im Tourismus und im Gastgewerbe tätig ist;

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82 5 EWaiter (Estland)

· Microdators – ein Unternehmen, welches „Mazzy“-Touchscreens und Hardware-lösungen herstellt;

· ITH Gruppe – ein Unternehmen, welches Software, Webseiten, Webanwendun-gen und Buchhaltungssysteme anbietet.

Die Gründung würde durch Experten aus verschiedenen Bereichen wie Design, Fi-nanzen und Marketing unterstützt werden, und Professoren von lokalen Hochschu-len würden das Projekt beraten.

Man hat sich bereits grob darauf geeinigt, dass jedes Unternehmen € 50.000 fürdie Gründung zur Verfügung stellt. Um den Plan letztlich umzusetzen, wären wei-tere € 150.000 nötig. Daher war es zunächst nötig, einen Businessplan zu schreiben,der Investoren vom guten Konzept überzeugen sollte. Da Maarika jedoch keine be-triebswirtschaftliche Erfahrung hatte, wusste sie auch nicht, wie man einen Business-plan schreibt oder wie man Finanzprognosen erstellt. Sie entschied, dass es Zeit war,einen Freund um Rat zu bitten, der bei einer Gründungsagentur arbeitete. Er sollteden aktuellen Entwurf des Businessplans (siehe unten) lesen und ihr dann Änderun-gen vorschlagen, und ihr helfen, die Finanzprognosen zu erstellen. Außerdem wolltesie wissen, wie viel Eigenkapitalanteil sie den Investoren bieten sollte, was der ROIsein würde, und welche Exit-Strategien möglich wären. Sie brauchte diese Hilfeschnell, denn bereits in 24 Stunden würde sie den Plan potenziellen Investoren unddem Unternehmerteam vorstellen müssen.

5.2 BUSINESSPLAN für EWAITER

Executive Summary

Die Ziele des UnternehmensplansDas Hauptziel des Businessplans ist es, EWaiter als IT-Lösung vorzuschlagen· für die effizientere Leistungserbringung und einen besseren Kundenservice in

Restaurants, Bars, Pubs und anderen Unternehmen des Gastgewerbes,· um die Implementierung der Geschäftsidee durch die Bestimmung des Investi-

tionsbedarfs zu planen,· um die wirtschaftliche und finanzielle Rentabilität des Projekts zu belegen.

Produktbeschreibung· EWaiter ist eine benutzerfreundliche IT-Lösung für Restaurants, Bars und Unter-

nehmen des Gastgewerbes. Es ist eine digitale Menükarte, mit der Kunden Ge-richte und Getränke bestellen können.

· EWaiter ermöglicht höhere Standards und eine höhere Leistungsfähigkeit imKundendienst. Dies erhöht die Umsätze und verringert die Kosten von Restau-rants.

· Die wichtigsten Vorteile von EWaiter sind:– Effizienz – EWaiter hilft dabei, Zeit und Kosten im Kundendienst zu sparen

und ermöglicht höhere Umsätze pro Tisch.

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– Systemintegration – EWaiter kann vollständig in existierende Zahlungs- undBuchführungssysteme von Restaurants integriert werden.

– Integration der Funktionen – EWaiter kann auch als Webbrowser eingesetztwerden. Gäste können sich informieren oder Spiele spielen.

– Online-Zahlungen – EWaiter unterstützt Online-Bezahlungen, was den Res-taurantbesuch noch angenehmer macht.

– Werbung – EWaiter kann außerdem als exzellenter Werbeträger eingesetztwerden.

– Flexibilität – Digitale Menüs können innerhalb weniger Minuten neu hochge-laden werden. Die Menüs stehen in verschiedenen Sprachen zur Verfügung.

– Attraktivität – Das hochwertige Design und die intuitive Bedienoberflächemachen EWaiter zu einer zusätzlichen „Attraktion“ im Restaurant.

Der Zielmarkt· Der Zielmarkt von EWaiter sind hauptsächlich Cafés, Bars, Restaurants und an-

dere Unternehmen des Gastgewerbes wie Discos, Bowlingbahnen und Billard-Clubs etc.

· In diesem Zielmarkt gibt es eine Reihe von Trends:– Steigende Personalkosten;– Eine Mangel an professionellen und erfahrenen Kellnern (die meisten der

Kellner sind Studenten und haben wenig Erfahrung im Gastgewerbe);– Steigende Verbreitung von IT-Lösungen für effektivere Leistungserbringung

(Café- und Restaurantsysteme wie R-Keeper, Micros);– Fusionierung von „Slow-Food“ und „Fast-Food“-Restaurant-Konzepten;– Entwicklung von neuen Themen-Konzepten und Spezialisierungen von Res-

taurants (z. B. Restaurants die nur Suppen servieren, Restaurants mit organi-schen Lebensmitteln etc.);

– Attraktivere und niveauvollere Einrichtung von Restaurants· Da es ein substanzielles Marktpotenzial in den baltischen Ländern gibt (über

15.000 Restaurants) wird sich EWaiter in den ersten Jahren nach Gründunghauptsächlich auf Estland, Litauen und Lettland konzentrieren.

· Später werden weitere Märkte wie West- und Osteuropa sowie Russland in Be-tracht gezogen.

Das Projekt-Team· EWaiter wird durch ein Team aus erfahrenen IT- und RAEKOJA (Hotel, Restau-

rant & Café)-Industriespezialisten mit mehr als fünf Jahren Branchenerfahrungentwickelt.

· Für das Projekt wird eine Kooperation aus drei Unternehmen, One Baltics, Mic-rodators und der ITH Group gebildet.

· Die Experten von One Baltics werden RAEKOJA-Expertise einbringen und fürdie Durchführung von Marketing-Aktivitäten zuständig sein. Die Experten vonMicrodators werden die Hardware des EWaiters entwickeln, während die Exper-ten von der ITH Gruppe für die Software zuständig sind.

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84 5 EWaiter (Estland)

· Das Projekt-Team wird von Experten aus verschiedenen Bereichen unterstützt,darunter Design, Finanzen, Vertrieb, Marketing, und andere.

· Professoren der Tallinn Innovation University (TIU) und dem Institut für Tech-nologie Tartu (ITT) werden als Berater des Projekts zur Verfügung stehen.

Die erforderlichen ProjektinvestitionenDie Gesamtinvestition des Projekts beläuft sich auf € 300.000, welche aus je € 50.000Eigenkapital der Gründungsfirmen und weiteren € 150.000 Eigenkapitalinvestitio-nen besteht.

Mögliche Erfolgsfaktoren des Projekts· EWaiter ist eine innovative Lösung für die effiziente Gewährleistung von hohen

Standards im Gastgewerbe;· EWaiter wurde auf Basis von Kundenbedürfnissen nach effizienten und kosten-

sparenden Betriebsabläufen entwickelt – EWaiter hilft, bei der Bedienung vonGästen Zeit und Kosten zu sparen;

· EWaiter bietet eine komplette Systemintegration mit Zahlungs- und Buchhal-tungssystemen;

· EWaiter integriert verschiedene Funktionen – zusätzlich zu den Primärfunktio-nen wie der Bestellung von Essen und Getränken kann das Gerät als Unterhal-tungs- oder Marketingmedium genutzt werden. Daher ist EWaiter interessantfür Restaurantbetreiber, Gäste und Werbeagenturen;

· EWaiter beinhaltet ein Online-Bezahlungssystem. Dies ist ein praktischer Weg,um Rechnungen zu bezahlen.

· EWaiter ist eine innovative Lösung, die ein Restaurant attraktiv für Kunden ma-chen kann;

· Das EWaiter Projekt-Team besteht aus erfahrenen RAEKOJA- und IT-Brachenex-perten und Professoren der TIU und ITT, die bei der Implementierung beratendzur Seite stehen.

Mögliche Projektrisiken· Der Markt ist noch nicht so reif, dass der Ersatz von Kellnern durch moderne

Technologien akzeptiert werden würde.· Wie bei jeder Technologie könne Fehler zu negativen finanziellen Konsequenzen

führen;· Konkurrenten, insbesondere größere Unternehmen, können mit ähnlichen IT-

Lösungen auf den Markt treten;· Finanzielle Kalkulationen, zu geringe Kapitalausstattung, fehlender Zugang zum

Kapital.

1. Beschreibung des Unternehmenskonzepts

1.1 VisionEWaiter strebt danach, eine bekannte, integrierte Lösung für die effiziente Bereitstel-lung eines hohen Bewirtungsstandard in Restaurants, Bars, Pubs, und anderen Un-

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ternehmen des Gastgewerbes in ganz Europa zu werden. Das Produkt und die dazugehörige Dienstleistung wird von Tap IT vertrieben.

1.2 Die UnternehmensideeDie Unternehmensidee basiert auf aktuellen Trends im Gastgewerbe in Estland imSpeziellen und Europa im Allgemeinen. Steigende Arbeitskosten führen zu einem er-höhten Bedarf an Effizienz und Automation der Leistungserstellungsprozesse in al-len Branchen.

Das Gastgewerbe ist stark von Arbeitskosten betroffen. Die Mehrzahl aller Gast-gewerbe ist sehr arbeitsintensiv, weil die meisten Leistungen von Angestellten mit di-rektem Kundenkontakt erbracht werden. Daher beeinflussen die Angestellten starkdie Qualität der Leistung und den Erfolg des Unternehmens. So ist es nötig, Routine-operationen, welche die Servicequalität nicht direkt beeinflussen, zu automatisieren.Jede Möglichkeit zur Kostenreduktion und zur Serviceverbesserung wird von derBranche gut aufgenommen.

EWaiter ist eine IT-basierte Lösung für das Gastgewerbe, die als digitale Menü-karte und für die Bestellung von Essen und Getränken in Restaurants und Bars ge-nutzt werden kann. Für das Gastgewerbe liegt der Hauptvorteil in der Kostenreduk-tion und der Erhöhung der Bestellgeschwindigkeit, welche zu einem höherenUmsatz pro Tisch führt. Mit EWaiter lassen sich weitere Umsätze durch Up-Salesund Cross-Sales erzielen. Durch die Neuigkeit des EWaiter können eventuell neueKunden geworben werden. Darüber hinaus kann EWaiter als Werbemedium einge-setzt werden.

1.3 Das GeschäftsmodellDas Geschäftsmodell sieht vor, dass die Geräte gratis in Restaurants, Bars, Pubs etc.installiert werden. Die anfänglichen Installationskosten und die Kosten für die Ge-räte werden von Tap IT getragen. Die Geräte kosten € 30 Miete pro Stück (mit Rabattbei Sofortzahlung) – das entspricht circa den Kosten für ein Glas Cola pro Tag. Eineweitere Einnahmequelle sind Werbeschaltungen, die ca. € 200 pro 1.000 Geräte undTag einbringen sollen.

Dieser Ansatz bringt eine hohe Anfangsinvestition mit sich, um die Kosten für dieAnschaffung und die Installation der EWaiter-Geräte zu decken. Das aktuelle Markt-umfeld bringt mit sich, dass die Kosten vom Serviceprovider, und nicht vom Restau-rant getragen werden. Dieser Ansatz sollte jedoch die Verbreitung von EWaiter be-schleunigen.

1.4 Hauptziele des UnternehmensEWaiters Hauptziele sind:· bis zum Ende des ersten Jahres sollen 36 von 1.000 Restaurants in Estland mit

EWaiter ausgestattet werden (3 Projekte imMonat, 10 Geräte pro Restaurant, ins-gesamt also 360 Geräte)

· ein jährliches Wachstum der Anzahl installierter Geräte in den ersten fünf Jahren,anschließend 10% in den darauf folgenden drei Jahren

· ab dem zweiten Jahr profitabel zu arbeiten

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86 5 EWaiter (Estland)

2. Markt

2.1 Das GastgewerbeSeit dem Eintritt Estlands in die Europäische Union wächst das Gastgewebe rapide.Die Gesamtzahl von Unternehmen des Gastgewerbes wie Hotels, Restaurants, Cafés,Bars etc. beläuft sich auf 15.000. Die Nachfrage nach Leistungen des Gastgewerbeswird durch die positive wirtschaftliche Entwicklung in den baltischen Ländern ge-trieben. Höhere Einkommen führen zu höheren Ausgaben für Leistungen des Gast-gewerbes. Die Nachfrage steigt außerdem durch die steigende Zahl internationalerTouristen, die Estland und andere baltische Staaten besuchen.

Trotz der stabilen Wachstumsrate ist das baltische Gastgewerbe von Problemenauf dem Arbeitsmarkt betroffen. Angestellte sind knapp, denn Jobsucher aus balti-schen Ländern zieht es nach Westeuropa, wo Gehälter und Lebensstandard höhersind. Daher gibt es viele offene Arbeitsplätze im Gastgewerbe. Zur gleichen Zeitmussten die Gehälter aufgrund der Inflation erhöht werden. Viele kleine Unterneh-men haben Schwierigkeiten, Gehälter und Steuern zu zahlen.

Wenn man die Wachstumsrate der Kredite im Gastgewebe mit der anderer Bran-chen vergleicht, zeigt die Abbildung 1, dass die Wachstumsrate im Gastgewebe bei ca.25% pro Jahr liegt, der Anteil am Gesamtkreditbestand in Estland allerdings nur 2%ausmacht.

Abb. 1: Anteil Darlehen im Kreditportfolio und Wachstumsrate des Darlehensbestandes nachBranchen, in %

*Ö. E. = Öffentliche Einrichtungen

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Tab. 1: Finanzielle Daten von Restaurants, Bars, Cafés u. ä., 2006

Nettogewinn Ratability 14%

Bilanz

Aktuelles Kapitalverhältnis zum Vermögen 0.19

Anteil Rücklagen an Aktiva 0. 7

Anteil Schulden zu Aktiva 0.11

Gesamtverschuldung gegen Aktiva 1.01

Anteil langfristiger Schulden an Gesamtschulden 0.17

Aktiva Ratability 10%

Schuldner Umschlag in Tagen 37

Gläubiger Umschlag in Tagen 42

Lagerumschlag in Tagen 40

Gesamtliquidität 1.76

Eigenkapital Anteil –1%

Eigenkapitalrendite 120%

Zinsdeckungsgrad 7

Liquiditätsdaten des Finanzamtes zeigen, dass die Gastronomie derzeit in einer gu-ten finanziellen Lage ist. Diese Zahlen sollten nur als grobe Orientierung betrachtetwerden, da es immer noch eine große Anzahl nicht veröffentlichter Bilanzen gibt.Trotzdem bieten die Daten einen guten Einblick in die Situation (siehe Tabelle 1).

2.2 MarkttrendsDie wesentliche Zielgruppe für EWaiter ist die RAEKOJA-Branche in den baltischenStaaten. Der Markt umfasst Cafés, Bars, Restaurants und Orte wie Diskotheken,Bowling- und Billard-Clubs usw. Mehrere Markttrends können beobachtet werden:· Steigende Personalkosten;· Mangel an professionellen und erfahrenen Kellnern (meistens Studenten mit we-

nig Branchenerfahrung);· Der zunehmende Einsatz von IT;· Zusammenführung von „Slow-Food“- und „Fast-Food“-Restaurantkonzepten;· Entwicklung von neuen Themen, Konzepte und Spezialisierungen von Restau-

rants (z. B. Restaurants, die nur Suppen, Bio-Lebensmittel, orientalische Kücheetc. servieren);

· Attraktivere und anspruchsvollere Raumausstattung.

2.3 MarktsegmenteEWaiter hat folgende Segmente für sein Produkt identifiziert:

Restaurants mit folgenden Merkmalen:· „Fast-Food“ und niedrig- bis mittelpreisige Restaurants mit Bedienung am Platz

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· Restaurants, wo Interaktion zwischen Kunde und Kellner nicht unbedingt erfor-derlich ist (ausgenommen klassische „Slow-Food“-Restaurants)

· Restaurants mit einer großen Anzahl von Tischen (und Kellnern)

Hotels:EWaiter können in den Zimmern von mittel- bis höherklassigen Hotels eingesetztwerden, sodass Kunden direkt vom Zimmer aus ordern können.

Bowling- und Billard-Clubs:EWaiter können im Billardtisch oder in den Bowling-Terminals eingesetzt werden,sodass Kunden direkt von dort ordern können.

Bars, Discotheken und Casinos:EWaiter können zum Verkauf von Snacks und Getränken verwendet werden.

Medien- und Werbeagenturen:EWaiter können in Restaurants und anderen Vergnügungsstätten als Werbeträgereingesetzt werden.

3. Produkt und Technologie

3.1 Beschreibung und SpezifikationenNach Testgruppen-Interviews und Diskussionen mit RAEKOJA-Experten und Ex-perten aus der IT-Branche wurde eine erste Spezifikation des Produkts „EWaiter“entwickelt. Die endgültige Spezifikation des Produkts wird nach der Analyse der Er-gebnisse aus dem Pilotprojekt erarbeitet. Die erste Spezifikation lautet wie folgt:

Tab. 2: Die Spezifikation des „Tap IT“

Bezeichnung Tap IT

Dimensionen:

Höhe 280mm

Breite 183mm

Tiefe 17mm

Gewicht 490 g

Bildschirmformat 4:3

Auflösung 800 * 600 Pixel

Konnektivität WiFi b/gUSB 2.0SD/MMC KartenleserStandard-Audio-Buchse

Batterie Bis zu 5 Stunden

Material Aluminium eloxiert

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Betriebssystem Linux 2.6/Windows CE 5.0 (6.0)

· Kristallklares, großes, breites und flaches Display mit robusterSchutzscheibe

· Leichtmetall-Konstruktion· Robuste Aluminium-Oberfläche (Kratzfestigkeit)· Display mit speziellem Schutz vor Flüssigkeiten und Staub

Computer

Integrierter Hochleistungs-PC mit:

Celeron 650MHz oder Pentium M-Prozessor;

2,5'' 40 GB Festplatte

512 MB RAM

Externe Stromversorgung

Windows XP pro

HardwareDie Hardware des EWaiters wird durch Microdators hergestellt – eine estnischeFirma, die kleine Touchscreen-Computer produziert. Im Restaurant wird jederTisch mit einem Gerät ausgestattet. Das Gerät kommuniziert mit einem Server.Gibt es bereits einen Server im Restaurant, kann die EWaiter-Server-Software auchdort aufgespielt werden.

Das Gerät wird speziell für jedes Restaurant gebaut und entworfen, damit es zurInneneinrichtung und den Bedürfnissen des Restaurants passt. Es wird eine Auswahlan Farben und Rahmen geben, und das Restaurant kann entscheiden, wo das Gerätinstalliert wird. Zum Beispiel kann das Gerät an einer Wand neben dem Tisch oderin den Tischen selbst eingebaut werden. Es kann entfernt werden, wenn es nicht ge-nutzt wird. Auch eine portable Version ist möglich. Die genaue Hardware-Spezifika-tion wird jedoch erst nach detaillierter Analyse des Pilotprojekts ausgearbeitet. Dasich die Technologie ständig weiterentwickelt, sollen die EWaiter kontinuierlich anneue Möglichkeiten, wie z. B. elektronisches Papier angepasst werden.

SoftwareSpezielle Software wird von der ITH Gruppe entwickelt. Laut Gesprächen mit Exper-ten der ITH Gruppe werden folgende Funktionalitäten benötigt:· Die Bedienungsoberfläche wird so gestaltet, dass jeder Kunde den EWaiter ohne

Probleme bedienen kann, und man keine spezielle Schulung für das Systembraucht.

· Das Interface wird so gestaltet, dass das komplette Menü (mit Zutaten der Spei-sen und Getränke) eingesehen werden kann, und die gewünschten Speisen be-stellt werden können.

· Die Software wird es den Restauranteigentümern ermöglichen, ihre Menüsschnell und einfach zu ändern. Dies geschieht nach Passworteingabe direkt amSystem oder über das Internet. Diese benutzerfreundliche Software erlaubt esden Restaurantmitarbeitern, dem Menü ganz einfach neue Produkte hinzuzufü-gen, bzw. ausverkaufte Gerichte zu entfernen.

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· Das Gerät ermöglicht es den Kunden, bei Fragen oder Unklarheiten den Kellnerzu rufen.

· Die Bestellung wird direkt in die Küche oder Bar übertragen und ausgedruckt.Sobald die Rechnung bezahlt wurde, wird dies automatisch in das Buchungssys-tem übertragen.

· Der EWaiter ist mit verschiedenen Sprachen ausgestattet. Somit ist eine leichteKommunikation zwischen Kunden und Kellnern gegeben.

· Der EWaiter kann mit Computerspielen, Internet, Werbung, Tourismusinforma-tionen oder Anderem ergänzt werden.

· Der EWaiter ist so aufgebaut, dass er mit bestehenden Kassen- und Abrechnungs-systemen kompatibel ist. Daher müssen Restaurants ihre bestehenden Systemenicht ändern.

Die Spezifikation der Software wird erst nach einer detaillierten Analyse des Pilot-projekts finalisiert. Allerdings können Verbesserungen der Software jederzeit umge-setzt werden. (siehe Kapitel „Entwicklung des Projekts“).

3.2 KonkurrenzEs konnten nur wenige internationale und lokale Konkurrenten identifiziert werden.Der lokale Konkurrent von der Firma UCS Baltics heißt „Self Servis“. Ähnlich wieder EWaiter kann auch dieses Produkt als digitales Menü für Gaststätten und ähn-liche Betriebe eingesetzt werden. „Self Servis“ bietet ebenfalls einen Internet-Zu-gang. Allerdings kommt der „Self Servis“ eigentlich aus einer anderen Branche undist nicht genau auf das Gastgewerbe zugeschnitten. „Self Servis“ wurde im Jahr 2004entwickelt, und seitdem wurde weder das Design oder das Gerät selbst verbessert.Die Bildschirmgröße des Produkts ist mit 14 Zoll recht groß. Die Firma UCS Balticsbaut auf einem anderen Geschäftsmodell aus: Die Kunden müssen das Produkt kau-fen. Der Preis liegt bei € 1.000 pro Gerät, was für die meisten Restaurants zu teuer ist.

Ein weiteres Konkurrenzprodukt ist „Microsoft Surface“, das 2008 erschienen ist.Technisch ist dieses Produkt anspruchsvoller als der EWaiter. Microsoft kann es sichleisten, wesentlich mehr Ressourcen für F&E auszugeben. Allerdings ist das Produktals Unterhaltungsgerät entwickelt worden. Es hat einen Multi-Touchscreen und einebreite Palette von Entertainment-Funktionen. Der „Microsoft Surface“ ist ein sehrfortschrittliches Produkt und der Preis ist dementsprechend hoch. Aus diesemGrund wird das Produkt nur in sehr hochklassigen Bars und Restaurants zum Ein-satz kommen, und es wird keinen großen Marktanteil haben.

Ein direkterer Konkurrent konnte in Israel identifiziert werden. Die israelischeFirma Conceptic entwickelte „E-Menü“, das bereits in mehreren Restaurants in Is-rael, Frankreich, Belgien installiert wurde. Das Produkt hat ein recht gutes Designund eine recht gute Funktionalität. Die wichtigsten Merkmale des „ E-Menüs“ sindähnlich wie die des EWaiters –man kann Essen bestellen, spielen, hat Internetzugangetc. Restaurants, in denen „E-Menü“ eingesetzt wird, berichten Gutes darüber. Sohaben sich die Umsätze durch den Einsatz im Schnitt um 15% erhöht.

Es existieren demnach nur weniger direkte Konkurrenten für den EWaiter. Dasliegt daran, dass die meisten Unternehmen nicht in der Lage sind, ein Gesamtsystem

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einzuführen (Hardware, Software, Installation und Marketing). Die meisten vonihnen produzieren und liefern nur eine Komponente, aber nicht das gesamte Sys-tem. Daher hat EWaiter das Potenzial, ein sehr wettbewerbsfähiges Produkt- und Ge-schäftskonzept zu werden.

3.3 SchutzrechteEWaiter wird seine Marke registrieren, um diese zu schützen und das Risiko vonNachahmern zu verringern. Der EWaiter besteht aus der Software und dem Touch-screen, die als Kombination patentierbar sind. Die Hardware selbst ist nicht einzigartigund kann somit nicht geschützt werden. Auch die Software ist im Allgemeinen nichtin Europa patentierbar, wird aber urheberrechtlich geschützt. In Bezug auf IP kannnur die Marke und das Design des „EWaiter“ geschützt werden. Für Unternehmen,die „EWaiter“ benutzen wollen, wird eine spezielle Lizenzvereinbarung zu Verwen-dung des Produkts entwickelt.

4. Entwicklungen des PilotprojektsZu Beginn wird ein Pilotprojekt gestartet, in dem die Projektidee unter realen Bedin-gungen getestet wird. Das Hauptziel des Pilotprojekts ist der Test der Hauptfunktio-nalität, dem Bestellen von Gerichten. Feedback wird eingeholt, und darauf aufbau-end werden Verbesserungen und weitere Funktion im Endprodukt umgesetzt.

Geplantes Pilotprojekt: Aktivitäten und InvestitionenDie Entwicklung der Pilottest-Software ist eine der wichtigsten Aktivitäten der Pilot-phase. Sie hat zwei Hauptteile – das Design und die technischen Programmierungender Software. Diese Aktivitäten basieren auf den Ergebnissen der Marktforschung,die in früheren Phasen des Projekts durchgeführt wurde. Neben der Marktforschungist es von besonderer Bedeutung, die Software unter realen Bedingungen zu testen.

Tab. 3: Aktivitäten und Investitionen des Pilotprojekts

Aktivitäten €

Entwicklung der Corporate Identity von Tap IT 2.000

Logo, Stempel, Briefpapier 500

Entwicklung der Website 1.500

Entwicklung der Pilottest-Software 19.000

Design der Pilottest-Software 7.000

Programmierung 12.000

Entwicklung der Pilottest-Hardware 14.000

Durchführungskosten 2.000

Software Re-Design und Verbesserung 3.000

Gehalt des Projektleiters 3.200

Zusammen 43.200

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Das Pilotprojekt wird in einem der Restaurants in Estland durchgeführt werden. Dergenaue Ort wurde noch nicht ausgewählt, da derzeit Verhandlungen mit einigen Res-taurants stattfinden. Doch die Kriterien für Restaurants wurden entsprechend demMarktsegment (vgl. Abschnitt 2.3) ausgewählt. Für das Pilotprojekt werden 10 Ein-heiten Hardware und Software am Standort installiert. Auf Basis einer detailliertenAnalyse der Ergebnisse werden Verbesserungen an der Software und Hardwaredurchgeführt.

5. Implementierung und der InvestitionsbedarfDie Eigentümer von „EWaiter“ planen den kommerziellen Start des Projekts am1. Januar 2011. Um die Planung und Finanzierung übersichtlicher zu gestalten, wirddas Projekt in zwei Phasen unterteilt. Phase I wird 1 Jahr lang dauern und wird am1. Januar 2012 enden. Phase II wird von diesem Zeitpunkt an laufen.

5.1 ProjektaktivitätenDas Business-Projekt ist eine Reihe von einzelnen Projekten, die in Abbildung 2 de-taillierter erläutert wird.

Identifizierung des KundenDie Kundenidentifikation wird die Hauptaufgabe des Vertriebs- und Marketing-Per-sonals sein. Phase I wird der potenzielle Markt Estland und die anderen baltischenStaaten sein. In Phase II ist geplant, den Absatz in andere europäische Länder auszu-weiten. Die Kundenbearbeitungskapazität von Tap IT liegt bei drei Projekten proMonat.

Abb. 2: Projekt-Aktivitäten

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Anpassung des Systems auf die KundenbedürfnisseJedes Restaurant, Café oder Bar hat ein anderes Konzept, und die spezifischen Be-dürfnisse der einzelnen Betriebe werden sich unterscheiden. Obwohl die Basis-Soft-ware-Lösung standardisiert ist, werden in dieser Phase spezifische Anpassungen um-gesetzt. Dies kann Hardware-, Design- und Farbmodifikationen umfassen.

Platzierung und Installation des Produkts beim KundenNach Anpassung des Produkts wird es bei dem Kunden installiert. Da das Produktnur zusammengesetzt wird, sind große Produktionshallen nicht nötig. Die gesamteMontagezeit und Umsetzung beim Kunden dauert 1 Monat. Es wird möglich sein,an 3 Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Die tatsächlichen Kosten eines EWaiter-Ge-räts betragen € 200, Kosten für die Installation und Mitarbeiterschulung liegen bei €10 pro Gerät. Außerdem ist ein Daten-Server für jedes Gerät zu berechnen, der € 200kostet. Diese Kosten werden durch Tap IT abgedeckt. Für die Montage muss für ca.€ 3.000Werkzeug gekauft werden. Jedem Techniker wird ein eigener Satz Arbeitsma-terialien und ein Serviceauto zur Verfügung gestellt.

Bereitstellung von KundendienstDie Bereitstellung von professionellem Kundenservice ist wichtig für die erfolgreicheund langfristige Entwicklung des Unternehmens. Die Unterstützung erfolgt per Tele-fon oder per E-Mail, und es wird bei komplizierten Problemen Vor-Ort-Besuchegeben. Der Kundendienst wird kostenlos sein.

Bereitstellung von Software-UpdatesUm das Produkt zu verbessern und auf dem neuesten Stand zu halten, werden regel-mäßige Software-Updates bereitgestellt. Dafür werden ca. € 1.000 pro Monat dafüreingeplant. Software-Updates beinhalten funktionale Verbesserungen sowie weitereerforderliche Verbesserungen für die Integration des Gerätes mit Buchhaltung, Re-gisterkasse und anderen Systemen.

Bereitstellung von KundenwerbungKunden werden auf einer Website von Tap IT beworben. Diese Website dient alsKommunikationsplattform zwischen Tap IT und den Kunden. Alle Software-Upda-tes und der Kundendienst werden über die Website bereitgestellt. Die Website be-inhaltet auch eine Datenbank mit hochwertigen Bildern, welche die Kunden für dieGestaltung ihrer Menüs herunterladen können. Es ist geplant, die Website mit Infor-mationen über alle Restaurant zu versehen, in denen der EWaiter eingesetzt wird.Die Webseite wird auch dazu genutzt, bequem Werbeschaltungen in Restaurantsdurchzuführen. So können Marketing-Agenturen Restaurants herausfiltern, die vonbestimmten Zielgruppen besucht werden. Außerdem wird die Kommunikation mitden Restaurants günstiger.

Durchführung von Hardware-UpdatesDie Abschreibungsperiode der Hardware beträgt 3 Jahre. Danach wird sie gegenneue Hardware ausgetauscht.

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94 5 EWaiter (Estland)

5.2 Erträge aus dem ProjektEs gibt zwei Ertragsquellen:· Vermietung der Systeme: € 30 pro Gerät pro Monat (mit Ermäßigungen, z. B. für

schnelle Bezahlung).· Werbeanzeigen: geschätzte Einkünfte aus Werbeanzeigen betragen täglich € 200

pro Werbung und pro Tag, je 1.000 Geräte. Diese Einnahmen werden gleichmä-ßig zwischen dem Restaurant, der Marketing-Agentur und Tap ITaufgeteilt.

6. Strategien und Marketing-Plan

6.1 PartnerstrategieDie Partnerstrategie des Projektes basiert hauptsächlich auf effizientem undschnellem Marktwachstum. Das Management-Team von Tap IT hat zwei Hauptan-bieter von IT-Lösungen für die RAEKOJA-Branche im Baltikum und im weiterenöstlichen Europa identifiziert:

UCS Baltikum (UCS)UCS ist momentan der Hauptanbieter von speziellen IT-Lösungen der RAEKOJA-Branche. Das Hauptprodukt dieser Firma ist der sogenannte „R-Keeper“, eine integ-rierte Lösung für die Buchhaltung und das Zahlungssystem in Restaurants, Bars undanderen Geschäften. UCS ist in vielen osteuropäischen Märkten, in Russland, derUkraine und in Weißrussland vertreten. Darüber hinaus hat UCS das Produkt „SelfServis“ entwickelt.

CHDCHD ist ein weiterer großer Anbieter von Zahlungssystemen. CHD ist nicht auf dieRAEKOJA-Branche spezialisiert, aber ihre Produkte werden auch in Restaurants,Bars, Clubs und anderen Geschäften eingesetzt. Auch sie sind in einigen osteuropäi-schen Ländern vertreten. Das Management von Tap IT plant, eine strategische Al-lianz mit CHD einzugehen, und deren Netzwerk für den Vertrieb von EWaiter zunutzen. Beide Seiten könnten von einer Zusammenarbeit profitieren – so wäre esCHD möglich, neue Produkte und den dann nötigen Kundendienst einzuführen(beispielsweise könnte Tap IT in neue Palm-Handcomputer für Kellner integriertwerden). Diese Allianz würde die Position gegenüber dem Hauptrivalen USC stär-ken. Die Hauptvorteile von Tap IT liegen im Zugang zu den baltischen und osteuro-päischen Märkten, und in der Möglichkeit, „EWaiter“ mit dem Buchhaltungs- undBarzahlungssystem von CHD zu integrieren. Durch die Zusammenarbeit könnenMarketing-, Logistik- und Servicekosten geteilt werden.

6.2 FinanzierungsstrategieDie Finanzierung soll schrittweise in mehreren aufeinanderfolgenden Finanzie-rungsrunden durchgeführt werden. Anfänglich ist das Unternehmen in einem Busi-ness-Inkubator in Tallinn ansässig. Kosten für die Verwaltung, die Mieten, die Buch-haltung und eine Sekretärin werden im ersten Geschäftsjahr durch den Inkubator

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gedeckt, ebenso wie die Kosten für die erste Marktforschung und die Erstellung desBusinessplans.

Tap IT plant, eine Finanzierung bei der Estonian Investment und Trade Agency(EITA) in Höhe von € 38.000 zu beantragen. Sie gehen davon aus, dass sie für diesenKredit infrage kommen. Die Hauptvoraussetzung ist eine Eigenkapitaleinlage von€ 300.000. Jeder der drei Gründungsfirmen wird € 50.000 beisteuern, aber weitere€ 150.000 müssen noch durch Investoren beigesteuert werden, damit sich das Ge-schäft erfolgreich entwickelt. Wegen der globalen Finanzkrise gehen die Gründernicht davon aus, dass sie einen Bankkredit in dieser Höhe erhalten können. Dahersuchen sie nach Eigenkapitalinvestoren.

6.3 MarketingplanMarketing ist ein kritischer Faktor für eine erfolgreiche Durchführung des Projektes.Daher ist geplant, beträchtliche Ressourcen in die folgenden Marketing-Aktivitätenzu investieren:· Beteiligung an Handelsmessen – Beteiligung an drei Fachmessen pro Jahr geplant.

Handelsmessen sind geeignet, neue Produkte von Tap IT zu bewerben, sich überdie Konkurrenz zu informieren und um neue Kontakte zu knüpfen. Die durch-schnittlichen Kosten liegen um € 4.000 – € 6.000 für den Aufbau eines Standes.Das Gesamtbudget für Messebesuche liegt bei € 18.000.

· PR-Kampagne – Für die Durchführung einer PR-Kampagne wird ein professio-nelles PR-Unternehmen beauftragt. Die PR-Kampagne beinhaltet umfangreicheAktivitäten in den Massenmedien in Estland, Lettland und Litauen. Die PR-Akti-vitäten beinhalten Interviews und Veröffentlichungen in Zeitungen, Internet,Fernsehen und anderen Medien. Es ist geplant, die PR-Kampagne während derersten sechs Monate des Projektes durchzuführen und jedes Quartal zu wiederho-len. Die veranschlagten Kosten betragen € 2.000 monatlich, was ein Gesamtbud-get von € 16.000 für das erste Geschäftsjahr und € 8.000 für die folgenden Jahrebedeutet.

· Informationsbroschüren – Informationsbroschüren sind ein einfaches Mittel zuVerbreitung von Informationen auf Handelsmessen oder anderen Events. Dasjährliche Budget für den Druck von Informationsbroschüren liegt bei € 1.000.

· Google-Werbung – Das Internet ist eine wesentliche Informationsquelle. Daherist es wichtig für EWaiter, dort präsent zu sein. Google ist unter den Suchmaschi-nen die Nummer eins in der Welt. Es ist möglich, einen höheren Pagerank aufGoogle zu bekommen. Das Budget hierfür beträgt € 5.000 pro Jahr. Zusätzlichwerden weitere € 300 monatlich für Werbeanzeigen bei Google bereitgestellt.Das jährliche Gesamtbudget beträgt € 8.600.

· Werbung – diese Aktivität beinhaltet verschiedene Arten von Werbemaßnahmenwie Internetbanner, Werbung in Branchenmagazinen des Gastgewerbes etc. DasBudget hierfür liegt bei € 500 pro Monat, was ein jährliches Budget von € 6.000ergibt.

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7. Organisation

7.1 Eigentum und AllianzTap IT Ltd. wird gegründet, um die Kompetenzen von drei Unternehmen für die er-folgreiche Einführung des EWaiter-Projekts zu bündeln. Die Kooperation bestehtaus folgenden Unternehmen:· One Baltics – ein Unternehmen das im Tourismus-, Bewirtungs- und Beratungs-

bereich arbeitet – es beschafft Kapital (Bankfinanzierung, externe Investoren, EU-Fonds) für den Unternehmsaufbau und stellt Beratungsservice in der RAEKOJAbereit;

· Microdators – ein Unternehmen das „Mazzy“ Touchscreens und Hardware-Lös-ungen produziert;

· ITH Group – ein Unternehmen das Software-Lösungen, Webseiten, Web-Anwen-dungen und Buchführungssysteme entwickelt.

Alle drei Unternehmen sind Anteilseigner des Projektes. Durch die Kombination derFähigkeiten der drei Partner ist es möglich EWaiter zu entwickeln, im Markt einzu-führen, und so einen Wettbewerbsvorteil zu erlangen. Diese Kooperation wurde ge-gründet, um die Kompetenzen und Ressourcen (personell, finanziell, intellektuelletc.) zu vereinen, und um die Risiken des Projektes zu teilen.

7.2 Arbeitskräfte und OrganisationsstrukturDie Organisationsstruktur von Tap IT sieht folgendermaßen aus:

Abb. 3: Die Organisationsstruktur von Tap IT

Der Vorstand von Tap IT besteht aus drei Personen:· Vertreter von One Baltics, der die Position des Vorstandsvorsitzenden einnimmt;· Vertreter von Microdators, der die Position eines Vorstandmitgliedes einnimmt;· Vertreter der ITH Group, der die Position eines Vorstandmitgliedes einnimmt.

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Die geschäftsführende Direktorin wird Maarika Ansip, 25 Jahre alte IT-Absolventindes Institute of Technology Tartu. Nach Beendigung ihres Studiums hat sie ein Jahrin Irland bei einem Softwareunternehmen gearbeitet. Als die Wirtschaftskrise Irlanderreichte, beschloss sie, nach Hause zurückzukehren und arbeitete bei der ITHGroup. Während eines Kundenprojekts erkannte sie die Chance für EWaiter undwurde so zum „Hauptantrieb“ der Idee. Sie ist technisch begabt und hat beim Erken-nen und Ausarbeiten der Idee große Kompetenz bewiesen. Allerdings ist sie schwachim Management und im finanziellen Bereich. Die geplante Anzahl an Mitarbeitern,Stellen und Gehalt während Phase I kann der Tabelle 4 entnommen werden:

Tab. 4: Mitarbeiter und Gehälter pro Monat während Phase I

Stellen Nummer Nettogehalt Total

Direktor 1 1000 1000

Marketing&Sales 2 1000 2000

Techniker 2 700 1400

Support 1 700 700

Total 6 – 5100

Während Phase II wird die Anzahl der Positionen und Mitarbeitern erhöht. Die Zahlder Marketing&Sales-Mitarbeiter wird auf vier erhöht. Die Anzahl an Technikernund Supportmitarbeitern wird je nach Anzahl der installierten Geräte erhöht. Durch-schnittlich wird mit einem Techniker pro 100 Geräte und einem Support für 200 Ge-räte gerechnet. Andere Aufgaben wie Buchhaltung, Logistik und Ähnliches werdenan andere Unternehmen ausgegliedert.

8. SWOTAnalyse

8.1 Stärken· EWaiter ist die innovative Lösung für effizienteren und höheren Standard der

Gästebewirtung.· EWaiter wurde speziell nach Marktwünschen bezüglich effizienteren und kosten-

sparenderen Abläufen entwickelt. EWaiter hilft, Zeit und Kosten für den betreu-ten Kunden zu sparen.

· EWaiter stellt eine komplette Systemintegration mit bereits existierenden Barzah-lungs- und Buchhaltungssystemen bereit.

· EWaiter integriert verschiedene Funktionen – zusätzlich zu den vorherigen wieBestellung von Gerichten und Getränken. Das Gerät kann auch als Unterhal-tungsgerät oder Werbemedium genutzt werden, welches die Hauptinteressens-gruppe ansprechen wird – Restaurantbesitzer, Verbraucher und Werbeagenturen.

· Das Geschäftsmodell unterstützt schnelles Marktwachstum und die Diversifizie-rung von Einnahmequellen (aus Gebühren und Werbeanzeigen).

· Das EWaiter-Projektteam besteht aus RAEKOJA- und IT-Experten und Professo-ren der TIU und TITS, die Ratschläge bei der Einführung geben. Diese Kombina-

Page 102: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

98 5 EWaiter (Estland)

tion gewährleistet einen professionellen Ansatz von der Ausarbeitung bis zur Ein-führung.

8.2 Schwächen· Der Markt könnte noch nicht bereit sein, Menschen teilweise durch eine Techno-

logie zu ersetzen.· Es gibt immer noch beträchtliche technologische Risiken, die sich in Komplika-

tionen während des Betriebs äußern können.· Es sind beachtliche finanzielle Investments notwendig, um das Geschäft zu star-

ten und um das Projekt mit dem vorgeschlagenen Geschäftsmodell zu starten(EWaiter wird ohne Kosten für den Kunden geliefert und installiert).

8.3 Chancen· Den Vertrieb in Märkte mit weiterentwickelten Technologien und höheren Perso-

nalkosten ausweiten.· das Produkt anWerbefirmen vermarkten, sodass es als interaktives Gerät für Wer-

bung eingesetzt wird.· die Technologie des Produktes verbessern, um Risiken von Defekten zu minimie-

ren.· eine ausreichende Finanzierungsstrategie zur Finanzierung des Projektes und der

Markteinführung entwickeln.· Verbesserung der Funktionalität des Produktes und Upgrade-Funktionen für alle

Stakeholder – Restaurantbesitzer, Kunden des Restaurants und Werbefirmen.

8.4 Risiken· Gefahr von Konkurrenten und größeren, ressourcenstarken Unternehmen, die

IT-Lösungen für Restaurants bereitstellen und die ähnliche Produkte herausbrin-gen können.

· Risiko der nicht ausreichenden Finanzierung der Produkteinführung und derDurchführung der Marketing-Kampagne.

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Arnis Sauka, Aivars Timofejevs & Rickie A. Moore 99

Tab. 5: Bilanz

Bilanz 2011 2012 2013

Anlagevermögen

EWaiter 10,876 8,157 5,426

Betriebsvermögen

Debitoren 465,600 651,840 698,400

Bank 87,452 –8,961 13,262

553,052 642,879 711,662

Abzüglich kurzfristiger Verbindlichkeiten

Kreditorenpositionen 167,305 234,227 258,000

Mehrwertsteuerbetrag 155,677 196,714 213,327

Ratenkauf 9,030 4,050 0

Eigenkapitaleinlage 300,000 200,000 100,000

632,012 634,991 571,327

–78,960 7,888 140,335

Total Nettovermögen –68,084 16,045 145,761

Finanziert durch

Gewinn- und Verlustkonto –68,084 –68,084 16,045

Gewinn/Verlust 0 84,129 129,716

Einbehaltener Gewinn/Verlust –68,084 16,045 145,761

Page 104: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

100 5 EWaiter (Estland)

Tab. 6: Gewinn-und-Verlust-Rechnung

Gewinn/Verlust 2011 2012 2013

Umsatz 1,885,488 2,660,843 3,402,146

Sonstige Einnahmen 38,100 19,050 –

Gesamteinnahmen 1,923,588 2,679,893 3,402,146

abzüglich Umsatzkosten

Materialaufwand 1,656,320 2,290,938 2,959,983

Lohnsumme 43,680 58,236 58,236

1,700,000 2,349,174 3,018,219

Bruttogewinn 223,588 330,719 383,927

Abzüglich Verwaltungsausgaben

Vorstandsvergütung 45,000 51,000 60,000

Gehälter für Mitarbeiter 31,020 31,020 31,020

Versicherung 12,348 12,348 12,348

Buchhaltung 7,438 12,810 12,810

Bankgebühren 1,000 1,080 7,916

Zinsaufwand 15,000 13,960 1,200

Verschiedene Mieten 51,239 64,463 69,008

Pkw 6,899 7,603 7,603

Promotion 119,008 49,587 49,587

Abschreibung 2,719 2,719 2,719

Nettogewinn/Verlust 291,671 246,590 254,211

Page 105: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

Arnis Sauka, Aivars Timofejevs & Rickie A. Moore 101

Tab.7:Hochgerechneter

Cashflow

für2011

Verkäufe

Jan

Feb

Mrz

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Total

Umsatzsteuer

Rückzahlung

209,520

104,760

139,680

139,680

174,600

174,600

174,600

232,800

232,800

232,800

1,815,840

209,520

104,760

Subvention

en10,933

10,933

19,050

19,050

38,100

19,050

–220,453

104,760

139,680

158,730

174,600

174,600

174,600

232,800

232,800

232,800

1,864,873

Geschäftsanbieter

Buchhaltung

167,305

75,287

100,383

100,383

125,479

125,479

125,479

167,305

167,305

167,305

167,305

1,489,015

Lohn–Direktor

5,000

4,000

9,000

Lohn–Adm

i-nistration

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

3,750

45,000

Lohn–Arbeits-

lohn

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

2,585

31,020

Versicherung–

Alle

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

3,640

43,680

Motor

Aufwen-

dungen

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

1,029

12,348

Ratenkauf

950

600

600

898

600

600

600

600

1,100

600

600

600

8,348

Verschiedenes

&Miete

2,854

415

415

415

415

415

415

415

415

415

415

415

7,419

Marketing

8,500

4,500

4,500

4,500

4,500

4,500

4,500

4,500

4,500

4,500

4,500

8,500

62,000

Bankgebühren

16,000

16,000

16,000

16,000

10,000

10,000

10,000

10,000

10,000

10,000

10,000

10,000

144,000

Zinsen

250

250

250

250

1,000

Umsatzsteuer

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

1,250

15,000

46,301

43,243

55,364

64,683

209,591

Page 106: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

102 5 EWaiter (Estland)

Verkäufe

Jan

Feb

Mrz

Apr

Mai

Jun

Jul

Aug

Sep

Okt

Nov

Dez

Total

40,558

201,074

109,306

139,450

174,453

153,498

196,491

153,248

251,188

199,074

259,757

199,324

2,077,421

Anfangsbestand

AktuellerSaldo

278,492

,418

188,565

153,875

119,102

124,334

102,443

123,795

47,208

80,934

53,976

87,452

Eigenkapitalein-

lage

Überschuss

300,000

300,000

Endb

estand

–21,508

−201,074

111,147

–34,690

–34,773

5,232

–21,891

21,352

–76,588

33,726

-26,957

33,476

–212,548

278,492

77,418

188,565

153,875

119,102

124,334

102,443

123,795

47,208

80,934

53,976

87,452

1,437,594

Umsatzsteuer

Verkäufe

––

36,363

18,181

24,242

24,242

30,302

30,302

30,302

40,403

40,403

40,403

315,146

Umsatzsteuer

Materialaufwand

Verkäufe

7,271

3,662

3,662

4,581

2,621

2,621

2,621

2,621

2,707

3,315

2,621

3,315

41,617

Page 107: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

6Wristop Technologies Ltd. (Finnland)

Pasi Malinen & Thomas Cooney

6.1 Einleitung

„Jungs, ich glaube, wir haben das Kleingedruckte im Vertrag mit Suunto12 nicht richtig gelesen. Wirmüssen wohl was anderes machen!“

Eigentlich hatten sich die Gründer von Wristop Technologies den Markteintritt indas Segment für tragbare Mini-Computer am Handgelenk einfacher vorgestellt. Ihrehemaliger Arbeitgeber Suunto machte ihnen da einen Strich durch die Rechnung.Suunto hatte sich vertraglich zusichern lassen, dass das Wissen rund umWrist-Com-puter für den Sportbereich nicht an Konkurrenten weitergegeben werden durfte unddrohte mit einem kostspieligen Rechtsstreit bei Vertragsbruch. Nachdem nun dieChance vergeben war, Wrist-Computer auch für andere Sportzubehörhersteller ne-ben Suunto zu produzieren, waren die Gründer von Wristop auf der Suche nacheiner anderen Möglichkeit, mobile Transmission, ansprechendes Design und mo-derne Computertechnologie für das Handgelenk miteinander zu verbinden. Siesuchten nach einer neuen Idee, Wrist-Computer für Endverbraucher zu vermarkten.Aber zu entscheiden, welche Strategie sie wählen sollten, war schwieriger als gedacht.

Der Geschäftsführer von Wristop, Matti Aalto-Setälä, hatte bei einem Kaffee miteinem Freund, der Mediziner war, ein Brainstorming vorgenommen, welcher medi-zinische Nutzen für Patienten durch Handgelenk-Computer generiert werdenkönnte. Nach diesem ersten Treffen und einer ersten Idee für Patienten-Wrist-Com-puter organisierte das Unternehmen eine weitere Brainstorming-Sitzung mit einerGruppe von Ärzten. Die Frage, die der Geschäftsführer dieser Gruppe stellte, warklar:

„Für welchen medizinischen Zweck könnte ein Patient einen Handgelenk-Computer benutzen?“

Wristop lernte im Laufe dieser Sitzung, dass der Sektor für Medizintechnologie be-stimmt war von einer kleinen Anzahl dominanter Hersteller und dass es sich umeinen lukrativen und wachsenden Markt handelte. Auf Basis dieser Informationund Erkenntnis entschied sich das Unternehmen dazu, den medizintechnischenMarkt näher zu erforschen. Es stellte sich heraus, dass hier eine Vielzahl von Markt-segmenten Chancen für sehr unterschiedliche Nutzungen vonWrist-Computern bo-ten. Matti und die anderen Gründer von Wristop konnten sich nicht entscheiden,

12 Suunto ist ein Hersteller für Sport-Zubehör.

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104 6 Wristop Technologies Ltd. (Finnland)

welche Chance langfristig für das Unternehmen besonders attraktiv war und welcheMarkteintrittsstrategie sie verfolgen sollten.

6.2 Das Unternehmen

Wristop Technologies war ein junges finnisches Start-up-Unternehmen, das sich aufDesign, Entwicklung und Produktion von drahtlosen Computern für das Handge-lenk (Wrist-Computer) für den medizinischen Bereich spezialisiert hatte. Die pri-märe Zielgruppe waren Diabetespatienten; das Unternehmen hatte sich auf derenWünsche und Bedürfnisse konzentriert. Das Unternehmen wurde 2004 von dreiFreunden gegründet, die bei Suunto (Tochterunternehmen der Amer-Gruppe) ange-stellt gewesen waren. Sie beschlossen, sich mit ihrem Wissen über mobile Technolo-gien selbständig zu machen. Die Idee war, mit ihrem tiefen, grundlegenden Wissenüber die Technologie und die Wünsche der Kunden ein neues Unternehmen zugründen. Viele Unternehmen wandten sich an Suunto mit der Anfrage nach maßge-fertigten Wrist-Computern, aber Suunto lehnte diese immer ab, da sie nicht in diederzeitige Produktions- und Vertriebs-Strategie passten. Diese Lücke wollten diedrei Freunde schließen. Die Gründer bündelten dabei unterschiedliche Fähigkeitenim Bereich der mobilen Technologie von mechanischem Ingenieurswissen, Elektro-nik-Expertise bis hin zum Industriedesign. Mit dieser interdisziplinären Wissensba-sis waren sie in der Lage, Wrist-Computer eigenständig zu planen, zu entwickelnund zu produzieren. Der eigentliche Herstellungsprozess wurde jedoch dabei bereitszu Beginn ohne große Schwierigkeiten ausgelagert, da die Gründer durch ihre Tätig-keit bei Suunto genügend erfahrene Hersteller in diesem Bereich kannten.

Die drei Kollegen und Gründer untersuchten unterschiedliche Industriemärktefür ihr Produkt. Der Automobilsektor wurde als Erstes erforscht. Aber schon schnellzeigte ihre Analyse, dass dieser Markt sehr hart umkämpft war, und die Endverbrau-cher (sprich die Autokäufer) oftmals nicht an Zubehör z. B. in Form eines Hand-gelenk-Gerätes interessiert waren, da ihr eigentliches Interesse dem Autokauf galt.Außerdem schien es für Wristop schwierig zu sein, in einen Markt als Newcomer ein-zutreten, der bereits durch langfristige Beziehungen zwischen Zulieferern und Auto-mobilherstellern geprägt war.

Auch die Rüstungsindustrie wurde für die potenzielle Nachfrage nach Wrist-Computern ausgelotet. Aber auch hier war das Bild ähnlich: Sie zeichnete sich durchtraditionelle Netzwerke aus, in die neue Unternehmen nur sehr schwer integriertwurden. Typischerweise wurden nur große und etablierte Unternehmen Zulieferer.Kleine Start-ups wurden eher argwöhnisch betrachtet, wenn diese technische Lösun-gen für das nationale oder internationale Militär anbieten wollten.

Die Medizin-Industrie war der letzte potenzielle Markt, der vonWristop betrach-tet wurde. Die Gründer analysierten hier viele mögliche Produkte für unterschied-liche Industriezweige. Es wurden mehrere Sitzungen mit Ärzten sowie gemeinsameBrainstormings organisiert, und zudem eine Patienten-Umfrage in einem lokalenUniversitätskrankenhaus durchgeführt. Auf dieser Informations-Basis entschied sich

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Pasi Malinen & Thomas Cooney 105

das Unternehmen dazu, in denmedizintechnischenMarkt einzutreten undmit ihrenProdukten Menschen mit Diabetes zu helfen. „Venture Capital“-(VC)-Firmen wur-den angesprochen, und dem Unternehmen gelang es, VC für eine 10-%-Beteiligungan Wristop zu erhalten. Eine VC-Bedingung lautete, dass die Investoren Mitsprache-recht für Zukunftsstrategien der Unternehmung erhalten. Die Konsequenz war, dasWristop durch die VC-Investoren auf den Medizinsektor festgelegt wurde, auchwenn sich für die Produkte weitere Märkte erschließen lassen sollten.

Das Unternehmen beschäftigte sechs Mitarbeiter mit technologischem, medizini-schem oder pharmazeutischem Hintergrund. Die drei Gründer hatten alle einenMaster of Science-Abschluss in Ingenieurswissenschaften von der Technischen Uni-versität Helsinki. Das Wristop-Team verfügte insgesamt über 12 Jahre Erfahrung mitden Wrist-Computer-Technologien und hatte über 30 Projekte hierzu mit Firmenwie Suunto, FRWD, Nokia und Clothing+ erfolgreich durchgeführt. Das Team ge-hörte zu den Ersten, die drahtlose Unterwasser-Transmissionen ermöglichten undwar überzeugt, das Energie-effizienteste Datenmanagement (ARCH2.0) im Bereichvon Handgelenk-Computern entwickelt zu haben. ARCH2.0 ermöglichte einemWrist-Computer, bis zu 12 Monate lang ohne Batterietausch zu operieren – ein Sys-tem, das als Patent angemeldet werden sollte. Das Team hatte auch den kleinstenTauchcomputer entwickelt und das leichteste GPS-Handgelenk-Gerät der Welt. Eswar also keine Übertreibung zu behaupten, dass Wristop über ausgezeichnetes tech-nisches Wissen im Bereich Wrist-Computer verfügte.

Die Organisation von Wristop und seines Managementteams orientierte sich am„medizinischen Standard“, um sowohl den Ansprüchen der Patienten als auch denAufsichtsbehörden gerecht zu werden. Die Aufgaben und Verantwortungsbereichejedes Mitglieds des Managementteams waren klar definiert und die Kunden wurdenumfangreich mit Informationen versorgt und unterstützt, so wie die Aufsichtsbehö-ren (wie z. B. die amerikanische FDA Food and Drug Administration) es vorsahen.

Die Aufgabenverteilung und Verantwortungsbereiche gestalteten sich folgender-maßen:1. Management Team

a. Entwicklung von Strategien und Zielsetzungen für das Unternehmen;b. Finanzplanung und Finanzierung;c. Personalmanagement

2. Geschäftsführunga. Etablierung von Vertriebs- und Marketing-Prozessen;b. Externe Kommunikation;c. Produkt-Marketing und Vertrieb (inklusive Materialentwicklung);d. Kommunikation vonKundenbedürfnissen für die weitere Produktentwicklung

3. Vize-Präsident – Forschung und Entwicklung (F&E)a. Einrichtung und Organisation des F&E-Prozesses;b. Verantwortlich für Design (mechanisches, elektronisches und Software-De-

sign) und die Design-Dokumentation („Design History File“ und „DeviceMaster Record“);

c. Verantwortlich für Produktentwicklungszeitpläne, Budgets und Qualitätsziele;d. Etablierung von (technischen) Produktanforderungen

Page 110: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

106 6 Wristop Technologies Ltd. (Finnland)

4. Vize-Präsident – Technologiea. Einrichtung des Auftrags- und Auslieferungsprozesses;b. Bestimmung des Herstellerpreises;c. Organisation von Zulieferung und Produktionsprozess, Koordination, Ent-

wicklung und Qualitätsplanung;d. Verantwortlich für den effektiven Transfer von Teilen für die Produktion;e. Verantwortlich für den Gerätehistoriensatz (DHR – „Device History Record“)

5. Medizinische Leitunga. Bereitstellung von sachkundigem Management und Führung der Organisa-

tion, die zu einer guten Überwachung, Planung und Beobachtung der klini-schen Evaluationen führt;

b. Bereitstellung von medizinischem Fachwissen für das Product Design Team;c. Vorbereitung von Verfahren und Plänen, um Produkte zu validieren;d. Implementierung von Trainingsprogrammen für Mitarbeiter über medizini-

sche Versorgung von Diabetes6. Qualitätsmanagement

a. Entwicklung und Pflege eines Qualität-Managementsystems;b. Definition und Abnahme der Qualitätsrichtlinien;c. Management der Anforderungen durch die Aufsichtsbehörden;d. Verantwortlich für Kunden-Beschwerden und das Sicherheitsreporting;e. Verantwortlich für Mitarbeiterschulung in Bezug auf Forderungen der Auf-

sichtsbehörden und Anforderungen der Kunden

Jeder Mitarbeiter erhielt eine schriftliche Dokumentation über seine jeweilige Aufga-ben, Rollen und Verantwortlichkeiten im Unternehmen. Ein Meeting aller Mitarbei-ter des Unternehmens wurde jeden Montagmorgen um neun Uhr abgehalten, umgemeinsam den Wochenplan zu diskutieren. Diese Versammlung einzuhalten wurdejedoch schwieriger, als das Unternehmen wuchs.

Nachdem das Unternehmen die finanzielle VC-Unterstützung erhalten hatte, ent-wickelte es die Zielvorstellung, bis zum Jahr 2015 der führende Hersteller von Wrist-Computern für Diabetiker zu werden. Das Leitbild des Unternehmens fokussierteauf eine Verbesserung der Lebensqualität von Diabetikern, in dem sie mithilfe derWrist-Computer den Blutzuckerspiegel besser ausbalancieren konnten. Das Unter-nehmen befand sich hierbei immer noch in der Start-up-Phase, wie aus den Finanz-kennzahlen im Anhang ersichtlich wird.

6.3 Der Markt

Uhren für das Handgelenk in Form von Armbanduhren wurden ursprünglich An-fang des 20. Jahrhunderts entwickelt. Aber erst Anfang der 1960er Jahre wurden dieersten tragbaren Computer entwickelt. Seitdem schreitet die weltweite Entwicklungund Vermarktung von immer kleineren und leistungsstärkeren Computern und Ge-räten voran. Ein moderner Wrist-Computer kann viele Aufgaben übernehmen, z. B.

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Pasi Malinen & Thomas Cooney 107

findet er Einsatz im Sport, GPS-Navigation oder bei der Überwachung des Herz-schlags. Der medizintechnische Gerätemarkt wurde dominiert von großen globalenFirmen wie Medtronic, Dexcom, Abbott, J&J, Novo Nordisk, Eli Lilly, Sanofi Aventis,Roche und Cellnovo. Diese Unternehmen beschäftigten typischerweise mehr als10.000 Mitarbeiter und waren auf allen Kontinenten vertreten. Die Struktur desinternationalen Medizingeräte-Sektors ist in Tabelle 1 abgebildet. Auch wenn hierauf den ersten Blick kleine Unternehmen dominieren, so bestimmen doch nur we-nige große Firmen den Gesamtmarkt.

Die medizintechnische Geräteindustrie ist ein schwieriger Sektor, denn er wirdbestimmt durch eine Vielzahl von Vorschriften durch Aufsichtsbehörden und durcheine gewachsene Zusammenarbeit zwischen den Firmen untereinander. Der Sektorentwickelte sich rasant, da Menschen eine immer höhere Lebenserwartung habenund bessere medizinische Versorgung für viele Krankheiten entwickelt werden. Al-lerdings wurden hier neue Technologien nur langsam integriert, da traditionelleTechnologien immer noch dominierten. Während die Medizin traditionellerweisedie Kranken versorgte, versuchte eine neue Strömung, das Krankwerden zu verhin-dern. Medizinische Gerätehersteller versuchten, beiden Denkschulen gerecht zu wer-den.

Eine Besonderheit der Industrie war der Einfluss der Aufsichtsbehörden wie dieFDA (US Food & Drug Administration). Unternehmen müssen sich deren Regelnund Vorschriften unterwerfen, wenn sie für den US-Markt produzieren wollen.Diese Regeln waren für „Newcomer“ und „Outsider“ schwer zu verstehen. AndereLänder hatten ähnliche Aufsichtsbehörden. Viele internationale Gerätehersteller imMedizinbereich kamen aus den USA und fokussierten auf amerikanische Kundenbzw. Patienten. Dazu kam das amerikanische Krankenversicherungssystem, das sichvon den europäischen stark unterscheidet. Unternehmen mussten damit auch deninternationalen Versicherungssektor und die regulativen Entwicklungen verstehenund verfolgen können.

Die Industrie galt darüber hinaus als altmodisch, da Wachstum und Entwicklungeher über die Einführung neuer Medikamente zur Heilung der Kranken als überneue Technologien angestrebt wurden. Damit galt es, eine Vielzahl von Hürden zunehmen, wenn ein neues Unternehmen in den Markt eintreten wollte. Dies wurdeumso schwerer, wenn ein Marktsegment von einer großen Firma bestimmt wurde.Große internationale Konzerne versuchten zwar, kleine und flexible Unternehmenzu kopieren, waren aber i. d. R. langsam und bürokratisch, wenn technologischer

Tab. 1: Hersteller und Zulieferer von medizintechnischen und zahnmedizintechnischen Geräten

Umsatz (in Millionen USD) Westeuropa Nordamerika

Weniger als 5 8.000 6.400

5–10 800 540

10–500 87 64

500–10.000 20 30

Über 10.000 2 2

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108 6 Wristop Technologies Ltd. (Finnland)

Wandel durchgesetzt werden sollte. Für den Einkauf von ausgelagerten Teilen oderGeräten waren hier i. d. R. die oberen Führungskräfte verantwortlich, z. B. der Vize-präsident im Bereich Marketing oder F&E und die ihnen direkt unterstehenden Pro-jektteams. In kleinen geräteherstellenden Unternehmen wurden Entscheidungeneher auf Vorstandsebene und im Team getroffen. Je größer die Unternehmen und jeunterschiedlicher die Unternehmensbereiche und Politiken, desto langsamer wurdendie Entscheidungsprozesse und umso schwieriger für Außenstehende zu verstehen.

Große Gerätehersteller fürchteten Wissensabfluss im Bereich F&E und waren da-her sehr auf Sicherheit bedacht. Die meisten F&E-Projekte wurden „inhouse“ durch-geführt. In anderen Bereichen der Industrie waren gemeinsame F&E-Projekte und-Kooperationen durchaus üblich, um Kosten zu sparen oder um neue Problemlö-sungen „outside the box“ anzustoßen. Die Zusammenarbeit mit Universitäten warvor allem im Pharma-Sektor üblich. Der medizintechnische Sektor war für dieseArt von Kooperationen jedoch wenig offen.

Zum Nachteil für Wristop bestand der Zielmarkt für Wrist-Computern aus nurdrei großen Unternehmen: Medtronic, Dexcom und Abbot. Alle drei stammten ausKalifornien. In Europa hätte lediglich Roche ein potenzieller Kunde sein können.Aber im Dezember 2010 war Wristop noch immer nicht mit Verkaufsverhandlungenmit Roche vorangekommen. In Asienwaren zwar zahlreiche Gerätehersteller wie z. B.Omron beheimatet, aber Wristop nahm von Verhandlungen mit asiatischen FirmenAbstand, weil sie die Kopie und den Verlust ihres technologischen Wissens fürchte-ten.

Unternehmen in der Medizingeräte-Industrie gehörten, wie in vielen anderen In-dustriezweigen, zu jenen Unternehmen, die sich nur ungern von bekannten und ge-wohnten Geschäftsweisen verabschiedeten. Dies betraf die Herstellung bekannterProdukte, die Vertriebswege, die Logistikkette, Zulieferer, langfristige Beziehungsge-flechte etc. Daher war zu erwarten, dass sich für eine so radikale Innovation wie dasWristop-Produkt erhebliche Widerstände vonseiten traditioneller Hersteller bei derEinführung bilden würden. Diese Widerstände waren auch darauf zurückzuführen,dass die etablierten Unternehmen in starkem Konkurrenzkampf zueinanderstanden.Firmen hatten große Summen in ihre F&E und ihr aktuelles Produktportfolio inves-tiert, teilweise hatten sie auf Lager produziert, und ihre Strategie bestand weitgehenddarin, Produktionskosten zu verringern, um so höhere Erträge aus ihren früheren In-vestitionen zu ziehen. Dazu kam, dass diese Industrie einen Reifegrad erreicht hatteund von einer eigenen Industriekultur bestimmt wurde, die es als Neueinsteiger zuberücksichtigen und zu erlernen galt. Auch in einer mehr oder weniger globalisiertenWelt arbeiten Firmen gern mit Unternehmen zusammen, die ihnen geographischoder kulturell nah sind. Traditionen spielen eine Rolle in diesem Zusammenhang,was Außenseiter dies auch zu spüren bekommen, indem man sie wissen lässt, dasssie nicht dazugehören. Erschwerend kam für Wristop hinzu, dass auf dem Medizin-gerätemarkt nur wenige Unternehmen zu finden waren, die Blutzucker-Sensorenproduzieren konnten. Es existierten nur drei Sensor-Unternehmen weltweit, unddiese Firmen arbeiteten eng in einem Netzwerk für medizinische Geräte zusammen.Diese Sensoren waren ein Teil des Wristop-Endproduktes. Die Sensor-Herstellerwaren jedoch eng verbunden mit den etablierten Geräteherstellern.

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Pasi Malinen & Thomas Cooney 109

6.4 Diabetes

Diabetes („Zuckerkrankheit“) ist ein i. d. R. andauernder Zustand, in dem der Blut-zuckerspiegel im Körper zu hoch ist, weil der Körper Glukose nicht richtig verarbei-tet. Dies resultiert daraus, dass die Bauchspeicheldrüse zu wenig oder gar kein kör-pereigenes Insulin mehr oder aber Insulin produziert, das im Körper nicht richtigfunktioniert (auch Insulinempfindlichkeit oder Insulinresistenz genannt). Der Ver-dauungsapparat baut die mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydrate (ausFrüchten, Getreideprodukten, Kartoffeln, Mais, Reis) zu Traubenzucker ab. Dieserwird anschließend über die Darmwand in das Blut aufgenommen und im gesamtenKörper verteilt. Insulin bewirkt die Glukoseaufnahme in die Körperzellen zur Ener-giegewinnung sowie die Speicherung von Traubenzucker in Form von Glykogen inder Leber und den Muskelzellen.

Zwei Arten von Diabetes können unterschieden werden:1. Typ 1-Diabetes entsteht, wenn die Insulin-produzierenden Zellen zerstört wur-

den und der Körper nicht mehr in der Lage ist, selbst Insulin zu produzieren.Dieser Krankheitstyp bricht i. d. R. in einem Alter unter 40 Jahren aus, meistschon in der Kindheit. Die Behandlung führt künstlich Insulin zu, entwederdurch Injektionen oder eine Insulinpumpe. Begleitende Therapie-Maßnahmensind eine gesunde Diät und regelmäßiger Sport.

2. Typ 2-Diabetes entsteht, wenn der Körper nicht mehr genügend Insulin produ-ziert oder das körpereigene Insulin nicht mehr verträgt. Dieser Krankheitstypbricht i. d. R. in einem Alter ab 40 Jahren aus, in Südasien und Afrika auch bereitsab 25 Jahren. Heute ist er mehr und mehr, auch unter Kindern und jungen Men-schen jeder Volkszugehörigkeit, verbreitet. Typ 2-Diabetes wird zumeist behan-delt mit einer gesunden Diät und regelmäßigem Sport. Auch die Zugabe von Me-dikamenten und Insulin wird häufig verschrieben.

Die häufigsten Symptome einer nicht-diagnostiziertenDiabetes-Erkrankung sind derstarke Harndrang besonders bei Nacht, Durst, extreme Müdigkeit, Gewichtsverlust,Juckreiz im Genitalbereich und anderen Beschwerden wie verschwommenes Sehenoder das langsame Heilen von Wunden. Ziel jeder Diabetes-Behandlung ist es, denBlutzuckerspiegel, Blutdruck und Blutfettwerte (inklusive Cholesterin) innerhalb be-stimmter Zielwerte zu halten, die vom Patienten und seinen betreuenden Ärzten ab-gestimmt werden. Diese Maßnahmen, zusammen mit einem gesunden Lebensstil,reduzieren das Risiko von Langzeit-Komplikationen wie Herzinfarkt, Schlaganfall,Amputationen, Blindheit, Nierenversagen oder Nervenschäden.13

Einige Zahlen und Fakten zu Diabetes:14

· Schätzungsweise 250 Millionen Menschen weltweit sind an Diabetes erkrankt;· Allein in den USA leben 24 Millionen Diabetiker – 8% der Bevölkerung;· Es wird angenommen, dass 70% der Bevölkerung, die im Jahr 2020 in den USA

geboren werden, im Laufe ihres Lebens an Diabetes erkranken;

13 www.diabetes.org.uk14 American Diabetes Association, WHO, Stakes

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110 6 Wristop Technologies Ltd. (Finnland)

· Die Gesundheitskosten von Diabetes liegen in den USA bei USD 174 Milliardenin 2007, das entspricht einer Steigerung von USD 42 Milliarden seit 2002;

· Fast 90% dieser Kosten entstehen durch die Diabetes-Behandlung;· Die Kosten, die durch Diabetes entstehen, machen insgesamt 11% der gesamten

Gesundheitskosten in Amerika aus.

Die Insulinpumpe ist ein medizinisches Gerät, das den Insulinhaushalt im Körperreguliert und so die Behandlung von Diabetes unterstützt. Es ist eine Alternativme-thode zum Insulin-Spritzen. Das Gerät besteht aus einer Pumpe (inklusive Kon-trolle, Prozessoren und Batterien), einem Einweg-Behälter für Insulin und einemEinweg-Infusionsset. Moderne Diabetes-Geräte bestehen aus einer Insulinpumpe,die kontinuierlich den Blutzuckerwert des Patienten überwacht. Es kann davon aus-gegangen werden, dass Wrist-Computer für Diabetiker bessere und kleinere Gerätedarstellen als die am Markt vorhandenen Lösungen (sogar unter den implementier-baren Pumpen). Zusätzlich wurden die benutzerfreundlichen Wristop-Geräte soentwickelt, dass sie durch kontinuierliche Glukose-Überwachung und durch dieSammlung von zusätzlichen Daten die Behandlung durch Insulin verbessern undvereinfachen können.

6.5 Was ist als Nächstes zu tun?

Matti Aalto-Setälä schlug einen sehr ungewöhnlichenWeg ein, um ein Produkt infor-mell zu testen: Er entschied sich dazu, sich selbst eine Insulinpumpe einsetzen zu las-sen, obwohl er nicht anDiabetes erkranktwar. Statt Insulinwurde ihmeine Salzlösungdurch die Pumpe zugeführt, die an seinem Bauch befestigt wurde. So wollte er nach-fühlen, wie Patienten sich fühlen, wenn sie über einen längeren Zeitraum an eine Insu-linpumpe angeschlossen sind. Gleichzeitig begann das Unternehmen, die neuen Me-dien zu nutzen und gezielt internationale Diabetes-Diskussionsforen im Internetanzusprechen, sich in Diskussionen einzuklinken und Diabetes-Patienten über ihreF&E-Aktivitäten zu informieren. Wristop wandte sich offen an die neuen sozialenNetzwerke und berichtete über die Versuche, einen neuen Gerätetyp zu entwickeln,um Diabetes besser behandeln zu können und fragte nach Verbesserungsvorschlägenfür Insulinpumpen und Patienten-Bedürfnissen. Diese Art von Offenheit bei Innova-tionsprozessen wird auch als „Open Innovation Approach“ bezeichnet. Mithilfe derRückmeldungen, die das Unternehmen erhielt, konzentrierte sich das Unternehmennun auf die Entwicklung einesmedizinischenGerätes (Wrist-Computer) zur Behand-lung von Diabetes, das den Patienten dabei präventiv unterstützt, zusätzliche Folge-probleme der Krankheit zu verhindern. Viele neue Zusatznutzen der Wristop-Gerätefinden ihre Anlehnung in der Sportzubehör-Technologie. So messenWristop-Gerätenicht mehr nur den Blutzuckerspiegel, sondern sammeln auch andere Parameter, diedabei helfen können, dieDiabetes-Behandlung effektiver zumachen.Wristop verwen-det zusätzlich Mobiltechnologien in ihren Produkten, die Eltern von Diabetes-kran-ken Kindern unterstützt: Z.B. kann ein Elternteil den Handgelenk-Computer tragen

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Pasi Malinen & Thomas Cooney 111

und so den Blutzuckerspiegel des Kindes überwachen. Das Gerät, bestehend ausPumpe und Wrist-Computer und einer mobilen Verbindung kann darüber hinausüber große Entfernungen voneinander funktionieren und so neue Vorteile für Patien-ten generieren.

Der Hauptstandort von Wristop lag in Finnland. Hier wurden die Geräte geplantund designt. Das Endprodukt wurde von internationalen, hauptsächlich chinesi-schen Geräteherstellern entwickelt und zur Produktionsreife gebracht. Aufgrundihrer Erfahrungen hatten die Gründer kein Problem, ihre Produkte im Ausland zuproduzieren, problematisch war das Marketing, da sie hier nur über ein sehr geringesBudget von wenigen Tausend Euro verfügten. Das Unternehmen hatte die Vorstel-lung, Verträge mit großen medizintechnischen Geräteherstellern auszuhandeln mitjeweils einem Auftragsvolumen von ca. einer Million USD. Dann aber entschied sichdas Unternehmen zu warten, bis die Firma gewachsen und besser im Markt etabliertwar, bevor solche Auftragsgrößen angestrebt werden sollten. Es kam zu vielen Dis-kussionen, ob das Unternehmen ein Büro in den jeweiligen Zielmärkten und Ziel-kunden eröffnen sollte, aber die Geschäftsführung konnte sich zu keiner endgültigenEntscheidung durchringen. Der Vorstand entschied, dass der medizinische Geräte-markt der eigentliche Zielmarkt wurde und alternative Marktchancen zunächst nichtausgelotet werden sollten, auch wenn das Unternehmen bereits Informationen überandere Möglichkeiten weltweit sammelte. Eine potenzielle Möglichkeit war, ein eige-nes Kombi-Produkt von Insulinpumpe undWrist-Computer zu entwickeln, aber derVorstand entschied sich dagegen, da mit Entwicklungskosten von ca. 10 MillionenEuro gerechnet wurde. Hierzu wären internationale Investoren nötig gewesen, diedas Vorhaben finanziell unterstützt hätten. Es konnte davon ausgegangen werden,dass VC-Unternehmen und auch die finnische Entwicklungsorganisation TEKESsehr interessiert daran gewesen wären, Wristop zu fördern, da sie einen großen Be-darf und Entwicklungspotenzial in der Diabetesbehandlung sahen. Die anfänglicheVC-Investition war sehr moderat ausgefallen, und Wristop benötigte dringend zu-sätzliche finanzielle Unterstützung.

Die VC-Investition hatte jedoch großen Einfluss auf die strategische Ausrichtungvon Wristop gehabt. Der medizintechnische Gerätesektor war von den Investorenausgewählt worden, obwohl auch andere interessante Sektoren identifiziert wurden.Der Investor übte weiterhin einen starken Einfluss auf die Entscheidungsprozessevon Wristop aus. Auch hatte die Aufnahme von neuem VC Einfluss auf die Anteils-verteilung, sodass man dieser Option skeptisch gegenüberstand. Eine Finanzierungüber Banken stand ebenfalls nicht zur Debatte, weil finnische Banken i. d. R. keinerisikoträchtigen Projekte unterstützten. Das Unternehmen verfügte auch nicht überSicherheiten, die den Banken angeboten werden konnten. Aber nur zusätzliches Ka-pital würde es Wristop erlauben, seine Marketingaktivitäten auszuweiten, auch wenndie Geschäftsführung die Entwicklung von Prototypen oder Produktion von Endge-räten und deren Präsentation auf Messen nicht als Marketing betrachtete. Der CEOvon Wristop hatte die drei potenziellen Kunden in den USA bereits mehrfach be-sucht und hielt dies für eine gute Marketing-Strategie. Denn obwohl die Entwick-lung eines Prototyps sehr kostenintensiv war, war die Firma in der Lage gewesen,Wrist-Computer-Prototypen für spezielle Kunden zu entwickeln und ihnen diese

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112 6 Wristop Technologies Ltd. (Finnland)

zur Evaluation vorzulegen. Matti Aalto-Setälä stand nun vor der großen Entschei-dung, welchen Weg Wristop einschlagen sollte, um erfolgreich zu wachsen.

Anhang 1: Finanzdaten der Firma Wristop (in €)

Finanzprofil 31/12/2009 31/12/2008 31/12/2007

nicht konsolidierte Daten 12 Monate 12 Monate 12 Monate

local GAAP local GAAP local GAAP

Betriebserträge/Betriebsumsätze 182,000 156,738 222,000

GuV vor Steuern –202,000 –243,378 –9,000

GuV pro Periode [= Jahresüberschuss] –202,000 –243,378 –10,000

Cashflow –196,000 –235,647 –5,000

Gesamtes Vermögen 98,000 217,593 119,000

Eigenkapital –537,000 –334,357 68,000

Liquidität 3. Grades (x) 0.75 2.95 4.39

Umsatzrendite (%) n.s. n.s. –4.05

ROSF (%) n.a. n.a. –13.23

ROCE (%) n.a. –159.22 –7.29

Eigenkapitalquote (%) n.s. n.s. 57.14

Kurs-Gewinn-Verhältnis(P/E ratio) (x)

n.a. n.a. n.a.

Mitarbeiter n.a. 4 3

Local GAAP: lokale Rechnungslegungsvorschriften

Anhang 2: Bilanz-Daten der Firma Wristop (in €)

Bilanz 31/12/2009 31/12/2008 31/12/2007

nicht konsolidierte Daten 12 Monate 12 Monate 12 Monate

local GAAP local GAAP local GAAP

Langfristiges Vermögen 16,000 22,035 18,000

Immaterielle Anlagewerte 1,000 2,320 5,000

Sachanlagevermögen 15,000 19,715 13,000

Sonstiges langfristiges Vermögen 0 0 0

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Pasi Malinen & Thomas Cooney 113

Bilanz 31/12/2009 31/12/2008 31/12/2007

nicht konsolidierte Daten 12 Monate 12 Monate 12 Monate

local GAAP local GAAP local GAAP

Kurzfristiges Vermögen 82,000 195,558 101,000

Aktien 0 0 0

Debitoren (Schuldner) 0 0 13,000

Sonstiges kurzfristiges Vermögen 82,000 195,558 88,000

Kassen- und Kontenbestände 51,000 127,722 41,000

Gesamtes Vermögen 98,000 217,593 119,000

Eigenkapital –537,000 –334,357 68,000

Kapital 11,000 11,000 9,000

Sonstiges Eigenkapital –548,000 –345,357 59,000

langfristige Verbindlichkeiten 526,000 485,625 28,000

langfristige Verschuldung 0 5,625 28,000

Sonstige langfristige Verbindlichkeiten 526,000 480,000 0

Rückstellungen n.a. n.a. 0

kurzfristige Verbindlichkeiten 109,000 66,324 23,000

Darlehen 6,000 7,500 0

Kreditoren (Gläubiger) 3,000 3,688 9,000

Sonstige kurzfristige Verbindlichkeiten 100,000 55,136 14,000

Ges. Eigenkapital & Verbindlichkeiten 98,000 217,593 119,000

Weitere Daten

Betriebskapital –3,000 –3,688 4,000

Nettoumlaufvermögen –27,000 129,234 78,000

Unternehmenswert n.a. n.a. n.a.

Mitarbeiter n.a. 4 3

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7BTMediaplus (Frankreich)

Rickie A. Moore

7.1 Einleitung

Floren Kreigel wusste, dass er schnell reagieren musste. Der Zeitpunkt war kritisch.Die Technologie- und Kommunikationsbranche wuchs auf allen Ebenen rasant, undSmartphone-Anwendungen wurden immer beliebter. Der ursprüngliche Markthatte sich nicht so wie erwartet entwickelt, und die Verluste begannen immer größerzu werden. Als er im Dezember 2010 CEO wurde, wusste er, welche Herausforde-rung er annahm, um BTMediaplus in ein gewinnbringendes Geschäft umzuwan-deln. Er wusste, dass man sich im Vorstand aufgrund der Situation Sorgen machte,und befragte das Management-Team zu Positionierung des Unternehmens, der Pro-dukte und Services, und auch zur Entwicklung eines Aktionsplanes, den man demVorstand zur Genehmigung vorlegen konnte.

7.2 Die Geburt von BTMediaplus

Floren Kreigel und Anten Reno lernten sich in der Münztelefon- und Multimedia-Systemabteilung eines großen Telekomanbieters kennen. Anten war dort Key Ac-count Manager, verantwortlich für das Amerikageschäft (Nord, Süd und Zentral),Floren leitete die weltweiten Projekte im Bereich interaktives Produktdesign und-entwicklung. Sie stellten den Vorstandsdirektoren einen Plan vor, um ein weiteresProdukt zu kreieren und dann ein Joint Venture mit der Muttergesellschaft zu star-ten, wobei das Ziel war, ein interaktives Münztelefon (Massenpublikum) zu entwi-ckeln. Ihr Vorschlag wurde akzeptiert, aber noch nicht als Priorität gehandelt, da dasUnternehmen zu diesem Zeitpunkt einen alternativen strategischen Weg eingeschla-gen hatte. Beide verließen Ende Sommer 2008 das Unternehmen mit der Überzeu-gung, dass Telekommunikationstechnologien unzählige und aufregende Möglichkei-ten zur Revolutionierung der öffentlichen Kommunikation boten und dass einigeneue Bereiche entstehen würden. Deshalb beschlossen sie, ihre Ressourcen und Ta-lente zusammenzulegen, um gemeinsam ein neues Projekt zu starten: BTMediaplus.Interaktivität (interaktive Kommunikation) mit der Öffentlichkeit war für Antenund Floren die Zukunft der Werbung, da es sofortige Übergabe, individualisierteAuskunft und hohe Wertsteigerung bedeutete. Sie planten, ihre unterschiedlichenAnsätze zu einer gemeinsamen Idee für interaktive Kommunikation zu kombinieren,und wollten interaktive Verbindungen zwischen Mobiltelefonen, PDAs und den ver-

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116 7 BTMediaplus (Frankreich)

schiedenen Informationsmedien, die der Öffentlichkeit schon jetzt dauerhaft zurVerfügung stehen, bieten. Mit zwei weiteren Partnern erfanden sie ein neues Me-dium, beseelt von Unternehmergeist und dem gemeinsamen Wunsch, eine ehrgei-zige Herausforderung anzunehmen, und legten damit den Grundstein für BTMedia-plus als unabhängiges Unternehmen. Der Name war noch nicht von einem großenTelekommunikationsanbieter vereinnahmt worden, sodass sie ihn für sich selbst inAnspruch nehmen konnten.

Floren und Anten hatten Damen Evra und Julen Blanco 2007 bei einer Technolo-gie- und Kommunikationskonferenz in Singapur kennengelernt. Damen und Julenhatten Floren und Anten gegenüber erwähnt, dass sie an der Gründung einer Firmaoder an einer Beteiligung im Bereich interaktive Kommunikation interessiert wären.Da sie seit ihrer Begegnung in Singapur Kontakt gehalten hatten, erkundigten sichFloren und Anten bei Damen und Julen, ob sie immer noch Interesse hätten, denSprung zu wagen. Damen und Julen, die beide die gleiche Meinung über die Rolleder Interaktivität in der Zukunft der Kommunikation teilten, schlossen sich derGruppe im September 2009 an und brachten wertvolle Erfahrung im Verkauf undFinanzbereich mit.

7.3 Von der Industrie geförderte Gelegenheiten

Floren und Anten hatten einiges an Marktforschung betrieben, um die Aussichtenfür ihr Bluetooth-Konzept zu bewerten (siehe Abb. 1 für Porters Fünf-Kräfte-Ana-lyse). Sie lernten aus ihrer Untersuchung, dass folgende drei Trends die Art undWeise verändert hatten, wie Menschen in den vergangenen zehn Jahren kommuni-zierten:1. Das Internet bietet heute Zugang zu einem enormen Umfang an Information

(„Noch mehr“);2. Der Aufstieg des Mobiltelefons hat die Möglichkeiten zum Empfangen und Wei-

tergeben von Information erhöht („von überall“);3. Die systematische Digitalisierung des Inhalts (Text, Bild, Ton und Video) ermög-

licht eine schnelle und einfache Erzeugung, Verteilung und Speicherung von In-formation („spiel damit“).

Die Kombination dieser Trends legte den Grundstein für Möglichkeiten im BereichMultimedia. Zudem brachte es weitreichende Veränderungen im Verbraucherver-halten mit sich:· Schnelligkeit: Ich sehe etwas, das mich interessiert. Ich will es jetzt und hier.· Individualität: Der Inhalt sollte exakt meinen Bedürfnissen und meinem Profil

entsprechen.

Diese Neuerungen haben die tägliche zwischenmenschliche Kommunikation dras-tisch verändert.

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Rickie A. Moore 117

Die Telekommunikations- und Werbebranche waren die beiden Hauptakteure indieser kürzlich entstandenen Entwicklung. Die Telekommunikationsbranche dientedurch die Versorgung mit Netzwerken und Geräten als Grundlage für die Verände-rung von Kommunikationsaktivitäten; ihre konstanten Innovationen (wie GSM zuUMTS, niedrige zu hoher Bandbreite, WiFi usw.) waren die wichtigsten Antreiberfür die Entwicklung neuer Protokolle, Dienstleistungen und Geschäftsmöglichkei-ten. WiMAX ist eines jener Protokolle, welches Datenübertragung im Freien mithohem Datenvolumen über große Entfernung ermöglicht. Bluetooth, eine bereitszehn Jahre alte Technologie, wird im Moment zu einem Hauptakteur, und dadurchwerden auch neue Arten des Kundenverhaltens hervorgerufen wie z. B. das „Blue-toothing“-Phänomen (kostenfreies Unterhalten von Teilnehmern auf Bluetooth-Ge-räten oder die Benutzung von Bluetooth-Kopfhörern für drahtlose/Freihand-Kom-munikation mit Mobilgeräten, besonders bei der Autofahrt, oder drahtlosesZuhören). Anten erklärte:

„Geräte, die auf der Stelle ein persönliches Bereichsnetzwerk (PAN, via Bluetooth) herstellen können,während sie gleichzeitig mobil und mit dem Internet verbunden sind (WiFi oder GPS), passen zuden Verbraucherbedürfnissen Schnelligkeit und Individualität. Diese sollten zu neuen Dienstleistun-gen führen, die auf dem Wachstum dieses Maschine-zu-Maschine (M2M)-Marktes basieren.“

Die Werbebranche war stets die Erste, die neues Verbraucherverhalten erkannte undvon neuen Technologien Gebrauch machte. Ein Beispiel dafür sind die Mitte der1990er Jahre aufgekommenen angepassten „Doppelklick“-Werbebanner, die die Be-nutzer zu den Inhalten führen, nach denen sie im Internet browsen. In der Tat ist dasAnpassen der Information, die den Kunden zugeführt wird mit der Absicht, einestärkere Wirkung zu erreichen, ein vorrangiges Ziel der Werbebranche. Einige derersten Schritte, dem Kunden so nah wie möglich zu verfolgen, sind Konzepte wieWerbebanner, SMS und Geo-Lokalisierung, und dabei zeigt die Mobilindustrienoch großes Wachstum und riesiges Potenzial. Von diesen neuen Trends sind alleWerber betroffen, und sie alle wollen die Wirkung ihrer Werbekampagnen durchdiese Technologie verstärken: durch Maximierung der Wirksamkeit der Dauer derWerbung (z. B. eine Woche) und die Anzahl von Anzeigetafeln (Plakatwände usw.).Beispielsweise sind die Rücklaufquoten für Mobilmarketing vierzigmal so hoch wiefür direktes Marketing. Floren glaubte, dass die Erhältlichkeit von kostenlosen, he-runterladbaren Bildern und Klingeltönen in unmittelbarer Nähe der Anzeigen dieMarketing-Botschaft verstärken würde, und dass dies auch die Übermittlung von di-rekt einlösbaren und nur für kurze Zeit gültigen Coupons ermöglichen würde. DieseIndustrie nutzt auch Technologie, um bereits existierende Medien wie Plasmabild-schirme (Metrobus, Clear Channel Communication) zu verbessern, und um neueMedien wie flexible Bildschirme (durch Einsetzung von Nanotechnologie) zu kreie-ren. Diesem Trend folgend könnten auch andere möglicherweise innovative Ent-wicklungen erdacht werden. Um die Fülle an Informationen anzusprechen, mit derVerbraucher heute täglich konfrontiert werden, müssen Werbefachleute eine strate-gische Rolle im Definieren neuer und nutzbarer Kommunikationsmittel spielen. WieFloren anmerkte:

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118 7 BTMediaplus (Frankreich)

„Es ist ein vorrangiges Ziel der Werbebranche, die Wirkung der Kampagnen durch die Massenme-dien zu erhöhen, indem sie passenden interaktiven Inhalt an persönliche Geräte senden. Von einemGroßteil der Werbemedien wird erwartet, dass sie mit ihrem Umfeld kommunizieren und dadurchzunehmend das derzeitige Kundenverhalten integrieren: „Ich sehe etwas, das mich interessiert; ichwill jetzt mehr darüber wissen und diese Information behalten“. Das Versenden spezifischer Inhaltean Benutzer ist ein Mittel, um Kunden zu werben und die Marke zu positionieren, was in Zukunftzunehmend unentbehrlich sein wird“.

Die Gründer von BTMediaplus glauben, dass die Technologie heute reif genug undvon einem solch breiten Publikum akzeptiert ist, dass ein neues Kommunikations-mittel für die Werbebranche entwickelt werden kann.

7.4 Die BTMediaplus-Lösung

Computer und andere elektronische Geräte können kommunizieren und Informa-tion austauschen, mittels Draht, Licht – Infrarot, Kabel usw., und benötigen spezielleVerbindungen, Anschlüsse und Installationen. Bluetooth ist eine Technologie, die esmobilen wie auch fixen Geräten ermöglicht, über kurze Entfernungen (durch die Be-nutzung von Kurzwellenradio-Übertragung) Verbindung aufzunehmen und Datenmiteinander auszutauschen, ohne dabei Kabel, spezielle Anschlüsse oder Verbindun-gen zu benötigen, und auf diese Art persönliche Netzwerke herstellen. Wenn sie ein-mal aktiviert sind, können Bluetooth-Geräte automatisch Verbindung miteinanderaufnehmen.

Die Lösung von BTMediaplus besteht darin, aktuelle Informationsmedien (Pla-katwände, Leinwände, Schaufenster, Straßenschilder, Wegweiser, digitale Tafeln,städtische Werbung, Beförderungswerbung usw.) durch ein patentiertes, interaktivesSystem in interaktive Medien umzuwandeln, welches aus einer elektronischen Karteund einer gesetzlich geschützten Softwareanwendung besteht. Das integrierte Modulist so groß wie ein PDA, und es ermöglicht drahtlose Verbindungen mit Bluetooth-aktivierten Geräten wie Mobiltelefonen, PDAs, Laptops und MP3-Spielern. Mit sei-nem integrierten Speicher fungiert das System als örtlicher Informations-Server und

Abb. 1: Funktionsweise der Bluetooth-Werbung

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Rickie A. Moore 119

sendet ergänzende Nachrichten (Text, Bilder und Videos) an verbundene Geräte.Die Nachrichten werden vom Werbebetreibenden (und den Werbeagenturen) pro-duziert, und dann für das Sendemodul von BTMediaplus angepasst und formatiert.Die Nachrichten (plus Inhalt) können erfasst (also heruntergeladen) werden undwerden vom Endverbraucher auf dessen Mobilgerät frei gespeichert. Die Endver-braucher-Software von BTMediaplus beschleunigt die Bluetooth-Verbindung, undBTMediaplus kann auf diese Weise den Inhalt ständig aktualisieren.

Werbetafel-Betreiber (Werbebeauftragte) werden von ihren Kunden (Werbende)dazu angehalten, Werbekampagnen z. B. auf Plakatwänden laufen zu lassen. Passan-ten, die durch das BEI-Logo (siehe Abb. 2) bemerken, dass die Reklametafel „Blue-tooth-fähig und interaktiv (BEI)“ ist, würden dann die Bluetoothfunktion auf ihremTelefon aktivieren und einen Zugangscode eingeben, um die Informationssendungder Reklametafel zu akzeptieren. Der gesamte Ablauf ist sehr schnell, die Datenüber-mittlung ist für die Passanten (Empfänger) kostenlos, da Bluetooth, anders als ge-bührenpflichtiges Text- oder Multimedia-Messaging, eine direkte Gerät-zu-Gerät-Übertragung umsonst (ohne versteckte Kosten) erlaubt. Durch die Benutzung vonBluetooth können die Werbebeauftragten ihren Kunden neue nutzbare Services undProdukte verkaufen, da sie die genaue Anzahl der Kunden, die ihr Bluetooth akti-viert und die Information heruntergeladen haben, ermitteln können.

Der Endverbraucher (Konsument) trifft die Entscheidung, ob er auf den Inhaltzugreifen möchte oder nicht, und zwar auf eine sogenannte „proaktive, engagierteArt und Weise“. Durch das BEI-Logo, welches auf dem Bildschirm angezeigt ist,wird der Verbraucher über die Interaktivität des Informationsmediums aufgeklärt.Das BEI-Logo ist ein Teil der Markenstrategie von BTMediaplus, um seine öffent-lichen, interaktiven Leistungen weithin bekannt zu machen. Folglich liefert BTMe-diaplus neue Leistungen für die Öffentlichkeit mittels künstlicher Intelligenz. Das in-teraktive System von BTMediaplus besteht aus einem speziellen Hardwaremodul,der Bluetooth-Anwendung und dem Überwachungsnetzwerk. Die Hauptvorteiledieser Lösung sind:

Abb. 2: Bluetooth-fähige und interaktive (BEI) Plakatwand-Kennzeichnung

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120 7 BTMediaplus (Frankreich)

· Strategisch günstig gelegen;· 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche erhältlich;· Funktioniert bei jeder Wetterlage;· Funktioniert mit jedem Informationsmedium;· Direktes Herunterladen vom lokalen Speicher (im Hardwaremodul enthalten),

um Übertragungsverzögerungen vorzubeugen;· Simultane Verbindungen;· Speichert und überträgt übliche, vorhandene Text-, Bild- und Videoformate;· Hat die gleiche ID (Kennnummer) für das gesamte Netzwerk;· Zeichnet Verbindungsstatistiken auf (Zählung des Publikums);· Kann nachgerüstet werden.

Floren behauptete:

„Die BTMediaplus-Lösung ist eine verlässliche, effiziente und erweiterbare Lösung“.

Trotzdem fragte sich die Gruppe, ob die Endverbraucher die gleiche Begeisterung fürsolche Leistungen zeigen würden, und ob das Unternehmen mehr Umsatz durchihre Idee erzeugen könnte.

Aufgrund der Marktanalyse war Floren überzeugt, dass BTMediaplus ein neues,interaktives Forum innerhalb der Werbebranche entwickeln könnte. Er glaubte,dass die wichtigsten Erfolgsfaktoren für BTMediaplus folgende waren:· Aus Sicht des Werbebeauftragten: Es besteht der Bedarf, noch mehr Nutzen pro

Werbemedium zu produzieren, um mit der Fülle verschiedenartiger Werbesitua-tionen umgehen zu können.

· Aus Sicht des Verbrauchers: Heutzutage muss man direkt mit der ursprünglichenWerbequelle interagieren. Dieses Verhalten wird durch das Aufkommen desneuen Produktmarktes „Maschine-zu-Maschine“ (M2M) verstärkt.

· Aus Sicht des werbenden Unternehmens: Um Kundentreue und damit auch deneigenen Ertrag zu steigern, brauchen Unternehmen bessere Methoden der indivi-duellen Anpassung („One2One“-Konzept), und sie sind dabei gewillt, für dieAuswirkungen zu bezahlen (Brutto-Rating-Punkte).

Floren wusste, dass sie es mit den gängigen Mobiltelekommunikations-Betreibernaufnehmen mussten, da diese momentan diejenigen sind, die Infopakete (gegen Ge-bühr) an Mobiltelefone verschicken, um ihren Datenverkehr zu erhöhen. BTMedia-plus würde im Lauf der Zeit das fehlende Glied zwischen der Öffentlichkeit und denWerbeinfopaketen liefern, indem sie erweiterte Möglichkeiten zur Verbindung mitwerbenden Unternehmen zur Verfügung stellen.

Durch das Anbieten einer Lösung mit direkter Verbindung an eine Informations-hauptquelle, welche es dem Endverbraucher ermöglicht, sofortige und kostenfreieInformation durch ihre Bluetooth-Geräte zu erhalten, richtete sich BTMediaplusgleichzeitig nach dem Bluetooth-Medium an den Medium-zu-Medium-Markt undnach dem Informationsbedarf der Öffentlichkeit. Dadurch führte BTMediapluseine neue Brücke zwischen Massen- und individueller Kommunikation ein, denn

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Rickie A. Moore 121

der interaktive Service von BTMediaplus wird durch die Werbebeauftragten verteilt.Während es sich bei den Werbebeauftragten um die direkten Kunden von BTMedia-plus handelte, stellen die öffentlichen Teilnehmer die Endverbraucher dar. Sie sindes, die von der zusätzlichen Information profitieren, während die werbenden Unter-nehmen von der neuen Art der interaktiven Präsenz profitieren.

BTMediaplus versuchte, ihr interaktives System innerhalb der Werbemedien zufestigen, und sich auf Massenwerbemedien wie Plakatwände, digitale Tafeln, Regale,Bushaltestellen und Schaufenster zu konzentrieren. Die Hauptverteilungskriterienwaren: strategisch günstige Lage, Medien, die ein Teil eines mächtigen Kommunika-tionsnetzwerkes sind, und die regelmäßig aktualisiert werden. Diesen Kriterien zu-folge hatte BTMediaplus folgende Hauptverteiler identifiziert:1. Außen-, Innen-, und Mobilwerbung: mehrere Plakatwände, Bushaltestellen,

städtische Plakatwände – Kunden: JCDecaux, Clear Channel, CBS Outdoor, Mai-den, Mediacom usw.

2. Veranstaltungen: Kongresse, Kino, Sportveranstaltungen, Jahrmärkte, Ausstellun-gen – Kunden: Anmietern von Hardware (GL Event), Event-Organisatoren usw.

3. Werbung vor Ort: Regale, Schaufenster, Plasmabildschirme – Kunden: Einzel-händler, spezielle Agenturen (Reise, Immobilien, Banken), Camping und Motel-besitzer, Restaurantketten (McDonald’s), Einkaufszentren, bekannte Markenna-men (Nestlé, L’Oreal, Coca Cola).

BTMediaplus würde sich zuerst auf die Außenwerbung konzentrieren, da 1. Betreiberihren Werbemedien (z. B. Plakatwänden) mehr Wertsteigerung zukommen lassenmüssen, 2. der Außenwerbemarkt weltweites Potenzial besitzt, und 3. Plakatwändeeines der größten und wichtigsten Massenmedien innerhalb der Öffentlichkeit blei-ben werden.

Abb. 3: BTMediaplus bietet zahlreiche Vorteile für die drei Hauptfiguren

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122 7 BTMediaplus (Frankreich)

7.5 Der Ansatz von BTMediaplus

BTMediaplus würde sich zunächst an den französischen Markt wenden, dessen Ziel-kundschaft bereits weltweite Präsenz besitzt. Es war sehr wahrscheinlich, dass einigeder werbenden Unternehmen bereit wären, diese neue Features zu verwenden, undandere wiederum nicht. Eine europaweite Kampagne zu betreiben, wurde in denletzten Jahren für einige Unternehmen unverzichtbar (Levi’s in 13 Ländern, Alcatelin sechs Ländern usw.). Diese werbenden Unternehmen würden die Lösungen vonBTMediaplus in der gleichen Werbekampagne an einigen Orten zugleich eingeführthaben wollen. Aus diesem Grund plante BTMediaplus, den internationalen Betriebschnell zu erweitern, zunächst auf Europa konzentriert (ursprüngliche Schätzungvon 200.000 Einheiten), mit Zukunftsplänen, ihre Großkunden auf den internatio-nalen Markt zu begleiten. In neuen Ländern Verkäufe zu landen, war ein Teil vonBTMediaplus‘ Wachstumsstrategie; dies würde wahrscheinlich in den nächsten zweibis drei Jahren innerhalb Europas geschehen. Der erfolgreiche Marktdurchbruch inAsien war ein etwas längerfristiges Ziel.1. Als ersten Schritt würde sich BTMediaplus auf seine französische Basis verlassen,

um dort die ersten Geräte einzusetzen. Dieser Plan war durchführbar, solange eswenig Geschäft gab und sich der Betrieb noch im Versuchsstadium befand.

2. Danach würde sich BTMediaplus Geschäftspartner mit örtlichen Verteilern/VARsuchen. BTMediaplus würde das gesamte Material und Unterstützung liefern,und voraussichtlich auch für die betrieblichen Abläufe verantwortlich sein (In-stallierung, Garantie, Instandhaltung).

Ein kritischer Punkt war, schnell erste Pilotkunden zu bekommen, die Referenz-punkte für all diejenigen darstellten, die eventuell folgen würden. Sie mussten un-bedingt sicherstellen, dass die ersten Kunden international anerkannte Markenwaren.

BTMediaplus würde sich zunächst auf den französischen Außenwerbemarkt kon-zentrieren, welcher im Hinblick auf Marktanteile in Europa am besten entwickeltwar. BTMediaplus glaubte auch, dass der französische Markt derjenige war, welchermit größter Wahrscheinlichkeit potenzielle, gewerbliche Geschäftspartner für sichgewinnen könnte (zwei Hauptakteure: ein weltweit tätiger Außenwerbebetreiberund ein weltweit tätiger Plakatwandhersteller).

BTMediaplus wird seine Lösung für elektronische Plakatwände (Hintergrundbe-leuchtung, Abrollen) am exklusiveren Teil des Marktes positionieren. Zusammenmit seinen Großkunden wird BTMediaplus die Orte sorgfältig und im Hinblick aufpassendes Publikum (Zielmarkt) (z. B. Paris – La Défense usw.) auswählen. Um dieszu erreichen, sind folgende Plakatwände nötig:1. Plakatwand 8m2, 12m2 und Trivisions, die der Veranstaltungs-/Bildförderung ge-

widmet sind;2. Plakatwand 2m2, für Werbung direkt vor Ort.

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Rickie A. Moore 123

Tab. 1: Anteil der Medieninvestition nach Ländern (%) –Weltweite Investitionen in Milliarden €

Presse TV Außenwerbung Radio KinoGlobale Inves-titionen Mrd. €

Japan 36,7 46,4 12,3 14,5 – 40,7

Frankreich 36,2 32,4 13,9 14,5 1,1 10

Belgien 45,3 38,4 5,8 9,3 1,2 2

Großbritannien 57,9 30,9 5,7 4,3 1,2 19

Spanien 45,7 41 4,6 7,9 0,8 5,5

Deutschland 63,9 26,3 4,7 4,1 1 18,5

Niederlande 67,8 21,2 3,9 6,7 0,4 4

USA 44,7 38,7 3,3 13,3 – 139

Italien 41,2 51,5 2,4 4 0,9 8

Tab. 2: Hauptwerbebetreiber in Frankreich

FRANKREICH Marktanteil Plakatwände: Zielanzahl

JCDecaux 40% 30 000

Clear Channel 30% 22 500

CBS Outdoor 20% 15 000

Zurzeit gibt es 67.500 Plakatwände, auf die diese Kriterien passen, sodass für das Un-ternehmen dort ein beachtlicher Markt vorhanden ist. Floren legte fest, dass dasErstverkaufsziel von BTMediaplus ein 30%-iger Marktanteil innerhalb eines kurzenZeitrahmens sein sollte (z. B. zwei Jahre).

Floren wusste, dass das, was das Unternehmen zu erreichen versuchte, eine großeHerausforderung darstellte, aber er war überzeugt davon, dass die Einführung ihresrevolutionärenAnsatzes ihnen einen bedeutendenWettbewerbsvorteil sichernwürde.

7.6 Der Wettbewerb und die wettbewerblichen Vorteile vonBTMediaplus

Während der Marktforschungsphase der Geschäftskonzeptplanung nahm Floreneine Analyse des Wettbewerbs aufsteigender Unternehmen vor, die zu diesem Zeit-punkt ähnlich auf dem Markt positioniert waren:1. Es gab keinen spezifischen technologischen Durchbruch im Hinblick auf gegen-

wärtige Technologien;2. Der naheliegendste Konkurrent auf dem französischen Mark war KAM. Das Un-

ternehmen besaß technologische Wettbewerbsfähigkeit, aber keine geschäft-lichen Vorteile;

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124 7 BTMediaplus (Frankreich)

3. Einige Unternehmen (MOB, SMP) hatten Software für das Herunterladen vonInformation und Datenübertragung mit anderen Bluetooth-Geräten entwickelt,aber ihre Ansätze inkludierten keinen Bluetooth-Server.

Ende 2010 waren alle Wettbewerber in einem Marktversuchsstadion stehengeblie-ben und hatten noch keine Kundenbasis, die ihre Technologien verwendete. Mo-mentan gibt es einen starken Trend in der Mobiltelefonindustrie, um Wege der di-rekten Interaktion mit dem Umfeld zu finden. Einige Technologien, die unzähligeAnwendungen bieten, existieren schon. Der Wettbewerb auf diesem Gebiet ist in An-hang 2 zusammengefasst.

Florens Nachforschungen hatten auch gezeigt, dass BTMediaplus einige wichtigeVorteile gegenüber denWettbewerbern hatte, die er seinen Kollegen wie folgt präsen-tierte:1. Produktvorteile:

a. Kostenloser, sofortiger Zugriff auf zusätzliche Information für Bluethooth-ak-tivierte Geräte, einfacher in der Handhabung als ein fester Kiosk oder ein spe-zieller Piepser;

b. Die Verbindung wird vom Endverbraucher aufgebaut; der Service ist nichtaufdringlich wie z. B. SMS;

c. Verglichen mit einem Bild aus einer Werbung (fotografiert mit einem Ka-mera-Handy) ist der Inhalt viel gehaltvoller und individueller gestaltet.

2. Die Fachkenntnis des Telekommunikationsteams (integrierte Anwendungen),das Projekt- und Innovationsmanagement, die Unternehmenserfahrung, Werbe-und Geschäftsentwicklung. Die unterschiedlichen Erfahrungen ergänzen sichperfekt. Das sich ergänzende Team ist an sich ein Wettbewerbsvorteil: es sorgtfür ein größeres Netzwerk, bringt verschiedene Anschauungen und fördert Krea-tivität.

3. Der Vorteil des Erstlingsanbieters wird durch Markenname, Zulassung der Tech-nologie und fortwährender Innovation/Verbesserung unterstützt.

4. BTMediaplus profitiert von der Unterstützung anerkannter Fachleute.5. Geistiges Eigentum: Das interaktive System wurde durch INPI patentiert (eine

weltweite Erweiterungwurde in Angriff genommen), BTMediaplus ist eineMarke.6. Strategische Partner: Die Verbesserungszyklen basieren auf technologischen Zu-

sammenschlüssen.7. Die Reaktionsfähigkeit und Modularität des Produktes: Das interaktive System ist

eine „erstklassige“ Lösung. Aufgrund des internen Konzepts kann es einfach auf-gewertet werden (Software-Download), wodurch es Reaktionsfähigkeit und dieKapazität besitzt, neue Services zu entwickeln.

8. Schnelle Durchlaufzeit: Mithilfe ihrer potenten Partner kann BTMediaplusschnell ein zuverlässiges Produkt anbieten, das in einem eingeschränkten Umfeldfunktioniert.

Aber Floren wusste auch, dass der Wettbewerbsvorteil auf dem Papier nicht genügte,um das Unternehmen erfolgreich zu machen; dazu mussten sie diese Vorteile ganzklar auf dem Markt beweisen.

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Rickie A. Moore 125

7.7 Das Geschäftsmodell

Der Plan von BTMediaplus war es, interaktive Werbung der werbenden Unterneh-men durch Werbebetreibende anzubieten. Die Werbelaufzeit ist für gewöhnlich eineWoche, und BTMediaplus kann diesen Ablauf durch die folgenden Schritte vereinfa-chen:1. BTMediaplus baut die Hardware auf;2. BTMediaplus formatiert die begleitenden Nachrichten und gibt damit den wer-

benden Unternehmen die Möglichkeit, ihre Werbekampagne aufzuwerten;3. BTMediaplus liefert die individuelle Verbindung, die es den Benutzern ermög-

licht, auf wertsteigernde Information kostenfrei zuzugreifen und sie zu speichern.

Sobald diese Schritte integriert sind, baut BTMediaplus das interaktive System inner-halb der schon existierenden Hardware der Werbebetreibenden auf. Das Geschäfts-modell unterstützt diese Aktivitäten auf zweifache Art und Weise:· Ein Hardware-Modul wird gegen Bezahlung verkauft (Werbebetreibende besit-

zen ihre eigene Hardware);· Die Benutzung der Interaktivität wird „pro Plakatwand und proWoche“ verkauft.

Durch Investition in Hardware behalten die Werbebetreiber die Kontrolle über ihrKapital. Währenddessen wird die Interaktivität ihnen die Möglichkeit bieten, denwerbenden Unternehmen neue Services anzubieten, was dem werbenden Unterneh-men eine strategische Differenzierung erlaubt und für BTMediaplus Folgeaufträgebedeutet. Zusätzlich wird BTMediaplus den Benutzern durch Inkludierung einesWAP/Web-Links die Möglichkeit geben, die Webseiten der werbenden Unterneh-men selbst aufzurufen. Die werbenden Unternehmen werden also nicht nur ihre In-vestition durch eine Umsatzsteigerung wieder einbringen, sondern auch noch Ein-nahmen mit den Mobiltelefonanbietern teilen.

Der Preis für diese Leistung wird für die Dauer von einer WocheWerbekampagneund pro Plakatwand berechnet. Der Durchschnittserlös „pro Plakatwand und proWoche“ beläuft sich auf € 100. Die Werbebetreiber haben schon jetzt bestätigt, dasssie in der Lage sein werden, den Kunden (den werbenden Unternehmen) 20% mehrfür diesen neuen Service in Rechnung zu stellen. Eine „50/50“-Gewinnteilung zwi-schen Werbebetreibern und BTMediaplus würde es BTMediaplus ermöglichen, min-destens € 10 zu verlangen. Der Endpreis der Hardware beläuft sich auf ungefähr € 600(€ 500 plus 20%, umdamit verbundene allgemeine Ausgaben zu decken); diese Schät-zung beinhaltet die Komponentenkosten ebenso wie die Herstellungskosten. DieserPreis wird je nach Skalierungseffekten und Preissenkungen reduziert werden. Einesolche Investition bedeutet 4,5% des Einkaufspreises einer Plakatwand (€ 13.000),und repräsentiert damit eine akzeptable Anfangsinvestition für Werbebetreiber. Flo-ren war bekannt, dass dieses Projekt von BTMediaplus nur mit dem Aufbau von stra-tegischen Beziehungen zuGeschäftspartnern geschehen konnte. Damit war es absolutnotwendig, ausschließlich mit angesehenen Organisationen zusammenzuarbeiten,um das Bestehen der Organisation zu gewährleisten. Aufgrund des technischen Hin-tergrundes der Gründer und ihrer Verbindungen zu der Gegend um Lyon arbeitete

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126 7 BTMediaplus (Frankreich)

BTMediaplus eng mit angesehenen Laboren für drahtlose Kommunikation zusam-men, von denen eines mit dem Nokia R&D-Zentrum kooperierte. Sie entdeckten so-fort ein gemeinsames Interesse mit BTMediaplus. Dadurchwar es BTMediaplus auchmöglich, den technologischen Fortschritt der RFID-Technologie zu beobachten. Dieberufliche Erfahrung der Gründer ermöglichte BTMediaplus auch eine enge Zusam-menarbeit mit großen Hardwareanbietern, die selber an hochspezialisierten Anwen-dungen arbeiteten (AIRBUS, EADS). Diese Zusammenarbeit befähigte BTMediaplus,ein zuverlässiges Produkt in einem integrierten Umfeld anzubieten. BTMediaplusprofitiert auch von der Unterstützung einer der drei großen Außenwerbebetreiber.Zuguterletzt wird das Projekt von BTMediaplus auch durch nationale Institutionenwie OSEO und Gründerzentren unterstützt, die ein hohes Ansehen auf dem Gebietdes „Start-up-Coachings“ genießen. Nach Florens Einschätzung hatte das Unterneh-men ein gutes Netzwerk der Zusammenarbeit aufgebaut, aber er wusste auch, dassdiese Beziehungen ständig erneuert werdenmussten.

7.8 Marketingstrategie

Wenn er in die Zukunft blickte, hatte Floren das Gefühl, dass BTMediaplus eine In-novation war, die von der Öffentlichkeit positiv angenommen würde. Trotzdemmusste eine wichtige und sorgfältige Marketingphase in Betracht gezogen werden,wenn es sich um einen neuen Service handelt, mit dem die Kunden noch nicht ver-traut waren. Floren war der Ansicht, dass sich die erste Marketingphase (im Hinblickauf anvisierte Segmente und Werbestrategien) auf Marktaufklärung konzentrierenund aus diesem Grund in zwei Schritte aufgeteilt werden musste:1. Erstbenutzer durch alternative und Nischenmarketinginstrumente anvisieren;2. Nachfolgende Benutzer durch einen eher traditionellen Ansatz und Massenme-

dien anvisieren.

Dieser Teil der Marktstrategie sollte darauf zielen, Erstbenutzer anzuwerben. Siespielen eine wesentliche Rolle in der Meinungsbildung und werden eine Schlüssel-rolle im Verbreitungsprozess der Innovation spielen, durch das Erwecken von Auf-merksamkeit und Interesse entweder durch Mund-zu-Mund-Propaganda oder ein-fach dadurch, die Existenz des Services und die Einfachheit seiner Handhabung zudemonstrieren. Die zwei Erstlingsgruppen waren:1. Junge 16 bis 22 Jahre alte Stadtbewohner, die ein beträchtliches Taschengeld von

ihren Eltern beziehen und es für Spiele, Musik und Mobiltelefone ausgeben,2. Erfolgreiche Berufstätige zwischen 25 bis 35 Jahren, die neue Technologien und

Gadgets schätzen, karriereorientiert sind und jederzeit das Beste für sich selbstwollen.

Diese zwei Gruppen haben Folgendes gemeinsam:· Sie sind Erstbenutzer von Innovationen in Bereich Mobiltelefone (jung, städ-

tisch) und technischen Geräten generell (erfolgreiche Berufstätige). Als solchessind dies die Gruppen mit der höchsten Bluetooth-Benutzerrate.

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· Sie benutzen ihre Geräte ausgiebig und beschränken die Benutzung nicht nur aufTelefongespräche. Junge städtische Teenager bekommen Musik und Videospieleauf ihre Geräte. Technisch versierte Berufstätige benutzen es für ihre Termine,E-Mail, Internetzugang, Datensammlung usw.

· Sie führen ein aktives gesellschaftliches Leben und sind gewillt, mehr über Dingezu lernen, die ihrem Geschmack entsprechen.

BTMediaplus glaubt, dass diese zwei Gruppen am besten mit individuellen Markt-strategien erreicht werden können. Sie werden ein schnelles Verständnis des BTMe-diaplus Service haben und auf diesen direkt zugreifen können. Sie werden dasBTMediaplus Kundenmodul nicht benötigen, um den Service zu benutzen. DasBTMediaplus Kundenmodul ist mehr oder weniger eine Schnellzugriffsoption, undwer es auf dem Telefon hat, braucht nicht durch die manchmal umständlichen undlangwierigen Menüs seines Mobiltelefons zu gehen, um den Blutoothzugang zu kon-figurieren. BTMediaplus glaubt, dass diese Eigenschaft für die zwei Erstbenutzer-gruppen nicht nötig ist. Deshalb ergeben sich für die Erstbenutzergruppen folgendeMarktstrategien:· Veranstaltungsbezogene Werbung: BTMediaplus wird versuchen, Beziehungen

zu Veranstaltungs-Managern aufzubauen, in erster Linie zu Konzertveranstalternfür Jugendliche in der Stadt und Ausstellungs-/Kongressveranstaltern für Berufs-tätige. Besucher wünschen sich mehr Information zu diesen Veranstaltungen,und es ist einfach, die BTMediaplus-Lösung auf dem Veranstaltungsticket oderin der Broschüre zu präsentieren.

· Örtlich motivierte Werbung: BTMediaplus denkt, dass Werbung an einigen stra-tegisch günstig gelegenen Punkten Aufmerksamkeit auf das Unternehmen ziehenwürde; in erster Linie aus diesen beiden Schichten: für die Jugend im städtischenBereich an einigen großen, angesehenen Schulen und Universitäten und für Be-rufstätige an verschiedenen wichtigen Punkten des täglichen Berufsverkehrs inden Geschäftszentren. Das Unternehmen wird versuchen, gemeinsame Markenmit Außen-Kommunikationsbetreibern an diesen Orten zu bilden, die Modulean umliegenden Plakatwänden anzubringen und einen vorübergehenden Ausstel-lungsstand aufzubauen, an welchen Repräsentanten des Unternehmens den Ser-vice vorführen und erklären.

· Mundpropaganda und Öffentlichkeitsarbeit: Die Innovation von BTMediapluswird ein konkretes Beispiel des neuen Bluetooth B2C-Service sein. Mit guter Öf-fentlichkeitsarbeit sollte es Aufmerksamkeit auf sich ziehen können.

· Werbung in der Presse: BTMediaplus wird auch in einigen spezifischen Zeitun-gen werben, allerdings in abgeschwächter Form. Verglichen mit Radio oder Fern-sehen ist die Presse besser geeignet, um den Service visuell zu erklären.

Diese erste Phase soll zwischen sechs Monaten und einem Jahr zu dauern, und hatein Budget von € 300.000.

In der zweiten Phase soll die Folgekundschaft, der breite Markt, dazu bewogenwerden, den Service anzunehmen. Dieser besteht aus Familien und Berufstätigen,dieMobiltelefone und die dazugehörende Ausstattung besitzen, aber nicht unbedingt

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128 7 BTMediaplus (Frankreich)

an Technologie interessiert sind. Das Unternehmen geht davon aus, dass diese Kate-gorien den Service von BTMediaplus nicht benutzen werden, wenn sie das BTMedia-plus-Kundenmodul nicht auf ihrem Handy oder PDA haben. Wenn das Modul abererst einmal installiert ist, ist der Service von BTMediaplus nur noch einen Klick ent-fernt. Die Marketingstrategien für den öffentlichen Markt wird auf Markenbildungbasieren, um Aufmerksamkeit und Interesse zu erwecken, um die Kosten der Kun-denmodul-Verteilung gering zu halten. Zum jetzigen Zeitpunkt ist das Ziel, die An-zahl von Personen zu erhöhen, die in der Lage sind, das BTMediaplus-Logo auf Pla-katwänden mit der Möglichkeit zum Erhalt von wertvoller Extra-Information zuassoziieren. Herkömmliche Werbekampagnen in Presse, Fernsehen und Radio kön-nen dies erreichen. Es wird auchWerbung im Internet geben (Banner auf Massenme-dien-Webseiten), da diese Kampagnen den Kunden direkt zu einer Webseite mitDownloadmöglichkeiten des BTMediaplus-Kundenmoduls leiten können. Es ist zu-sätzlich eine umfangreiche, gemeinschaftliche Markenbildung mit Außen-Kommu-nikationsbetreibern geplant, denn diese Zusammenarbeit wird notwendig sein, umdas BTMediaplus-Modul in der breiten Masse verteilen zu können. Zwei Arten vonTeilhaberschaften sind geplant:· Direkte Teilhaberschaft mit Mobiltelefonanbietern; das Geschäftsmodell von

BTMediaplus kann bedeutende Nutzung des Mobilnetzes erzeugen (WAP,iMode). In dieser Form wird es für Mobiltelefonanbieter wertvoll sein. Sie könn-ten an einer gemeinschaftlichen Markenbildung interessiert sein und sogar dasBTMediaplus-Kundenmodul direkt in ihre Telefonverpackung inkludieren. Daskönnte eine große Bedeutung für die Service-Verteilung von BTMediaplus haben,sollte aber nicht sofort erwartet werden, da für geschäftliche Kreisläufe in größe-ren Zeitspannen gerechnet werden muss.

· Teilhaberschaften mit Verteilern von Mobiltelefon-B2C-Anwendungen – Spieleund Musik auf Handys sind momentan ein lukrativer Markt und sollten ausge-nutzt werden. Viele Unternehmen verteilen schon jetzt Module oder Infor-mationsgehalt direkt an die Benutzer. BTMediaplus könnte sich den führendenUnternehmen anschließen, um deren Produkte mit dem Kundenmodul vonBTMediaplus in Verbindung zu bringen. Die Partnerunternehmen könnten sichbeispielsweise den durch Kundennutzung erbrachten Gewinn teilen.

Diese zweite Phase wird ein bis zwei Jahre andauern und ein geschätztes Budget von€ 700.000 benötigen.

7.9 Der Verkaufsplan

BTMediaplus‘ Ziel ist es, ein interaktives Konzept mit Augenmerk auf den Außen-werbemarkt einzuführen. Das Unternehmen wird anschließend schnell ihre Aktivi-täten für spezielle Veranstaltungen variieren. Das ursprüngliche Geschäftsmodell ba-siert auf Bezahlung pro Kampagne-Modell, der erste geografische Markt wirdFrankreich sein. Das Ziel ist eine Erweiterung auf den internationalen Markt basie-

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rend auf den internationalen Tätigkeiten ihrer ursprünglichen Kunden. Der franzö-sische Markt wird mit folgender Strategie in Angriff genommen:1. Zuerst soll ein wichtiger Außenwerbebetreiber eingesetzt werden, während man

mit speziellen Veranstaltern oder Ausstellungen kooperiert.2. Dann wird mit allen vorhandenen Außenwerbebetreibern und Organisatoren

von Veranstaltungen ein wesentlich größerer Markt anvisiert.

Der erste Schritt wird vom Verkaufsmanager und einem Verkäufer geleitet, die diemeiste Zeit und Energie dem Lobbying der Außenkommunikationsunternehmenwidmen. Der Berater, der für das Werbegeschäft verantwortlich ist, wird ein wichti-ger Faktor in diesem Prozess sein. Ein größeres Verkaufsteam (bis zu vier feste Posi-tionen) wird im zweiten Schritt rekrutiert, welches auf herkömmliche Art und Weiseorganisiert sein wird, mit Basisgehalt und Verkaufsbonus. Nach Abschluss derMarktforschungstätigkeit schlug Floren vor, dass die Kunden wie folgt eingeordnetwerden sollten:1. Außenplakatflächen-Betreiber – Viacom, Clear Channel, JCDecaux2. Kino/Multiplex – UGC, PATHE3. Innenwerbebetreiber (Plakatwand, Plasmabildschirme) – Clear Channel4. Sponsorenkarten in der Werbung für Personenbeförderung – Clear channel,

Metrobus5. Außen-Umgebungsplakatwände – ICVcom, Resomag6. Musik-/Theater-/Aufführungszentren – Zenith, Congress Palace . . .7. Festivals (Film, Musik) – Cannes (the Midem)8. Dauerhafte Jahrmärkte – in Paris, Lyon9. Museen – La Vilette „cité de la science“ in Paris, Futuroscope . . .10. Gemeindeverbände – Lyon,. . .

Nach drei Jahren wird BTMediaplus ihre Lösung auf dem europäischen Markt durchVerteiler/VAR anbieten. Die Verteiler bekommen das gesamteMaterial und die Unter-stützung von BTMediaplus und werden höchstwahrscheinlich für alle geschäftlichenBelange verantwortlich sein (Installation, Garantie, Instandhaltung). Das Geschäfts-modell wird auf Einnahmenbeteiligung basieren. Die Anzahl der Downloads wird an-hand eines speziellen Chips kontrolliert, der imÜbertragungsgerät eingebettet ist.

BTMediaplus beabsichtigt, seine Software-Lösungen mit bereits existierendenFormaten zu implementieren, um wertsteigernden Service von bereits ausgereiftendrahtlosen Technologien wie Bluetooth und WiFi zu schaffen. BTMediaplus wirdauch neue drahtlose Technologien übernehmen, um neuen, interaktiven Service an-zubieten. Floren hatte auch beschlossen, dass der Produktentwicklungsprozess desUnternehmens in drei Schritte mit ähnlichem Investitionsbedarf aufgeteilt werdensollte: Während des ersten Schritts sollte BTMediaplus die Grundlagen für Interakti-vität implementieren (ungefähr € 1 Million); während des zweiten Schritts sollteBTMediaplus seine ursprüngliche Lösung der Netzwerkerweiterung verbessern (un-gefähr € 1 Million); und schließlich, als Resultat der vorangegangenen Bemühungen,sollte BTMediaplus spezifische Entwicklungen implementieren, um den Massenein-satz zu sichern (ungefähr € 1.6 Millionen).

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7.10 Schlussfolgerung

Die Herausforderung wurde von den Unternehmensgründern Floren, Anten, Da-men und Julen nicht unterschätzt, da sie um die Notwendigkeit einer erfolgreichenMarkteintrittsstrategie wussten. Bluetooth war eine schnell explorierende Industriemit einer jährlichen, allgemeinen Wachstumsrate von Bluetooth-Geräten von 40%.Der internationale Versand von Bluetooth-Geräten in 2007 überstieg 100 Millionen,und man erwartete, dass Ende 2009 die Zwei-Milliardenmarke überschritten werdenwird. Die Partner wussten aufgrund des Sendebereichs der Bluetooth-Protokolle,dass das Marketing auf die nähere Umgebung begrenzt sein wird (zwischen 1 und20m zwischen Transmitter und Empfangsgerät). Außerdem wussten sie, dass das inBarcelona ansässige Unternehmen FuturLink ihr neues AP300X-Gerät mit erweiter-ter Leistungskapazität in 2009 auf den Markt brachte, das bis zu 84 Verbindungengleichzeitig zu einem Bluetooth-Transmitter aufbauen konnte. Die Mobilmarketin-gesellschaft hatte auch neue Daten zum Thema Mobilgutscheine und beste Anwen-dung veröffentlicht, in der Europa als Pionier in dieser Industrie betrachtet wurde.Floren, Anten, Damen und Julen waren entschlossen, mit einer innovativen Neue-rung auf den Markt zu stoßen, um auch am Kuchen mitnaschen zu können. Als sieum den Tisch saßen, klingelte plötzlich das Telefon. Es war Romen, ihr Professor fürEntrepreneurship aus Universitätszeiten. Er hatte ihre Entwicklung verfolgt und warauf dem Weg nach Helsinki, um leitende Angestellte der Abteilung für Entwick-lungstechnologien bei Nokia (NET) zu treffen. Romen rief an, um das Team einzu-laden, mit ihm nach Finnland zu kommen, damit er sie seinen dortigen Kontaktenvorstellen konnte. Das würde ihnen die Möglichkeit geben, ihr Produkt bzw. ihreAnwendungen bei NET vorzustellen. Sie hatten vierundzwanzig Stunden Zeit, sichzu überlegen, ob sie mitreisen wollten. Als Romen aufgelegt hatte, wurde eine Dis-kussion von Anten angestoßen:

„Sind wir wirklich schon so weit, mit einem der Weltmarktführer im Bereich Smartphones zusam-menzuarbeiten? Sollten wir nach Finnland fahren? War nicht unser ursprünglicher ZielmarktFrankreich? Was sollen wir tun?“

Die gesamten Pläne für dieses Meeting wurden umgeworfen, da sie nie über dieMöglichkeit eines solchen Telefonats nachgedacht hatten: eine Einladung zu einermöglichen Kollaboration mit einer Organisation wie Nokia. Floren fragte sich, obsie fahren sollten oder einfach den ursprünglichen Plan weiterverfolgen sollten. Erdachte, dass sie zunächst die Vor- und Nachteile eines Treffens mit Nokia besprechensollten, dann einen detaillierten Vorschlag ausarbeiten sollten, wie eine Kollabora-tion mit Nokia funktionieren könnte, und sie schließlich eine Entscheidung treffensollten im Hinblick auf die Frage, welcher Weg für die Langzeitzukunftsplanung desUnternehmens der beste wäre. Er fragte sich auch, welcher Weg die gewinnbrin-gendste Exit-Strategie für die Unternehmensgründer bieten würde. Es gab vieles zubesprechen, und Floren, Anten, Damen und Julen hatten nur 24 Stunden, um diesewichtigen Entscheidungen zu treffen.

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Anhang 1: Five Forces-Analyse nach Porter

Betreiber, Hardware-Lieferanten und Politik

Außenwerbung repräsentiert 13% der Ausgaben für Massenmedien. Dieser hoch-konzentrierte Markt (€ 1 Milliarde) wird in Frankreich von drei Hauptakteuren do-miniert: JCDecaux (40%), Clear Channel (30%) & Cbs Outdoor (20%). Der heutigeMarkt ist gesättigt und ein Preiskrieg spielt sich ab. Diese Hauptakteure kontrollierendie Implementierung sämtlicher Innovationen, sie besitzen ihre Hardware und De-sign. Es gibt zahlreiche Lieferanten, aber diese sind normalerweise nicht in der Lage,Neuerungen einzuführen. Der Kaufpreis einer Plakatwand beträgt € 13.000. Sie kön-nen Innovationen integrieren, wenn die Technologie bereits gereift ist. Die Betreibermüssen regelmäßig mit den Gemeindeverwaltungen wegen der Zuweisung von Wer-beflächen verhandeln. Sie hängen stark von ihnen ab, um ihr Netzwerk zu erweitern.

Werbende Unternehmen &Werbeagenturen

Ihre Hauptsorge ist, ihre Position zu stärken, den Verkauf zu erhöhen, und auch ihreDifferenzierung von anderen zu gewährleisten. Sie sind die Finanzquellen, und diegrößten unter ihnen sind Einzelhandelsunternehmen, Automobilhersteller und dieLebensmittelindustrie. Sie sind von den Kommunikationsagenturen abhängig, wenn

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es darum geht, ihre Kampagnen zu entwerfen, und sind gezwungen, mit denwenigenMassenmedienbetreibern umzugehen.

Zielgruppe, Kunden

Die Kommunikation durchMobiltelefone und Internet hat das Verhalten der Kundenverändert, die mit den neuen Services immer mehr vertraut werden (SMS, E-Mails,MMS, I-mode, Wap, Bluetooth). Deshalb werden Mobiltelefone noch genutzt, umWerbeinformation auszuschöpfen. Die Endverbraucher wollen jedoch nicht mitSpam überschüttet werden; sie wollen einfachen und nützlichen Service.

Anhang 2: Konkurrenz in der Mobilfunkindustrie

Konkurrent Konkurrenzprodukt Ersatzprodukte Typ Zielmarkt

WW(Frankreich)

Piepser, Werben vonzusätzlichem Inhalt,gesetzlich geschützteAnwendungen, benö-tigt spezielle Anwen-dung

DirektPoster, Werbetafel-betreiber

HY (Eng-land)

Herunterladen vonInfos auf Handys undPDAs, Benützung vonInfrarot-Technologie

DirektPoster, Werbetafeln,Events, Museen

KAM(Frankreich)

Hardware-Aufkleberfür das Herunterladenvon Infos auf Handysund PDAs, basierendauf Bluetooth-Tech-nologie

DirektPoster, Werbetafel-betreiber

MOB(Frankreich)

Software zum Herun-terladen von Materialvon Bluetooth-Quel-len (zwischen PDAs,Handys)

Poten-zial

Benutzerkommunika-tion (kostenloses Ver-senden von SMS, Ver-binden mit anderenBenutzern, Coupons)

SMP(USA)

Software zum Herun-terladen von Materialvon Bluetooth-Quel-len (zwischen PDAs,Handys)

Poten-zial

Benutzerkommunika-tion (kostenloses Ver-senden von SMS, Ver-binden mit anderenBenutzern, Coupons)

Telecom

Wap Mobiles Internet,UMTS, Drahtlosver-bindungen (außen:WIFI, Wimax)

Indirekt Mobile Anwendungen

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Konkurrent Konkurrenzprodukt Ersatzprodukte Typ Zielmarkt

TelecomSMS Mobiles Marke-ting

Indirekt Werbeindustrie

Flugblätter IndirektWerbeindustrie fürInnenanwendungen

QUP, CYBildschirmanimatio-nen

Indirekt Schaufenster

Kameras auf Mobil-geräten

Indirekt Mobile Anwendungen

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8Silver Fashion (Griechenland)

Marina Katsaiti, Panagiotis Petrakis & Christian Serarols

8.1 Einleitung

Ende April 2010 saß Afrodite Vakondiou, Eigentümerin und Managerin der griechi-schen Modeboutique Silver Fashion, am Küchentisch in ihrer Athener Wohnung. Ei-gentlich wollte sie ein gemütliches Frühstück mit ihrem Sohn Angelos genießen, einseltener Fall in der Familie Vakondiou, aber in Gedanken konnte sie sich einfachnicht von ihrem Unternehmen losreißen. Während des Gesprächs mit ihrem Sohnbeschäftigte sie sich innerlich mit der Frage, in welche Richtung sie Silver Fashion inden nächsten Monaten lenken sollte.

Die Modeboutique hatte in den letzten zehn Jahren turbulente Zeiten erlebt, da-runter Phasen rasanten Wachstums und dramatischer Schrumpfung. Nach Expan-sion, Reife und schließlich Stabilisation hatte Afrodite es schließlich geschafft, eineansehnliche Summe Geld als Betriebskapital zusammenzusparen, mit der sie zukünf-tige Wachstumsentwicklungen von Silver Fashion absichern wollte. Eine Möglichkeitwar dabei die Eröffnung einer weiteren Boutique. Ihr Sohn Angelos hatte erst vorKurzem mit dem örtlichen Banker über einen Kredit für ein solches Projekt gespro-chen. Er war angenehm überrascht gewesen, dass die Bank vor dem Hintergrund dersoliden finanziellen Situation des Geschäfts durchaus aufgeschlossen gegenüber derIdee war. In der Tat waren Bedingungen und Konditionen des vorgeschlagenen Kre-dits attraktiv und die Vorstellung, dass die Expansion von Silver Fashion günstig fi-nanzierbar und schnell umsetzbar war, gefiel Angelos, dem ein schnelles Geschäfts-wachstum mit mehreren Filialen für Silver Fashion vorschwebte. Trotzdem war sichAfrodite nicht sicher, ob die wirtschaftliche Lage und Situation in Griechenland der-zeit sicher genug sei, um eine neue Boutique zu eröffnen und damit erneut ein unter-nehmerisches Risiko einzugehen. Die Presse berichtete, dass Griechenland vor einemvolkswirtschaftlichen Staatsbankrott stehe, dass die Rückkehr zur alten Währung,den Drachmen, möglich sei und sogar, dass Griechenland die Europäische Wirt-schafts- und Währungsunion verlassen könnte.

Afrodite wollte nicht die derzeitige Stabilität und das langsame Wachstum ihresUnternehmens gefährden, das einen Großteil ihres Lebensunterhaltes und Lebens-qualität für sie und ihre Familie ausmachte. Sie wollte auch das Vermögen, das sie be-reits in wirtschaftlich anstrengenden Zeiten angespart hatte, nicht riskieren. Sie be-vorzugte einen Expansionspfad, der auf einer Steigerung des Absatzes beruhte undbei dem Silver Fashion weniger hochpreisige Artikel verkaufen würde, die sie ausChina günstig ankaufenwollte, um somehr Kunden aus der weiblichenMittelschichtanzulocken. So würde sie Erträge und Wirtschaftlichkeit steigern – nach demMotto:

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„Expansion des Absatzes und Verringerung der Kosten“. Silver Fashion war in Athenjedoch gut etabliert und bekannt für das Angebot von aktueller Mode im Hochquali-tätssegment und sie war besorgt, dass sie mit so einer Strategie viele Kunden verlierenwürde, die sie über die Jahre an sich gebunden hatte. Eine Entscheidung musste ge-troffen werden und Afrodite gab sich zwei Wochen Zeit dafür.

8.2 Die Geschichte von Silver Fashion

Anfang der 1980er Jahre eröffneten Afrodite und ihr Mann George in der Sommer-saison vonMai bis Oktober eine kleine Pizzeria. Nach drei Jahren erkannten sie, dassdas Geschäft nicht genug einbrachte, um eine junge Familie mit all ihren Bedürfnis-sen zu versorgen. Afrodite entschied sich, zusammen mit ihrem Freund Michael zuarbeiten, der in Athen zwei Modeboutiquen besaß. Die Modebranche hatte Afroditeschon immer fasziniert, und dies war ihre Chance, in die Branche hineinzuschnup-pern. Im November 1986 begann sie, für Silver Fashion zu arbeiten, und schon kurzeZeit später realisierte Michael, dass Afrodite hier echtes Talent besaß. Ihre Stärkenlagen in der Organisation der Boutique, Ausstattung und Dekoration der Schaufens-ter, Arrangement der Ware im Laden und der persönlichen Ansprache der Kunden.Afrodite war eine geborene Unternehmerin und wurde zu einer wertvollen Kolleginbei Silver Fashion. Als direktes Ergebnis ihrer Arbeit nahmen die Verkäufe zu unddie Gewinne stiegen merklich. Deshalb beförderte Michael Afrodite zur Chefeinkäu-ferin, die die Mode direkt vom Großhandel bestellte, und entdeckte dabei, dass sieauch diese Arbeit beherrschte und ein exzellentes Talent als Einkäuferin entwickelte.Michael fürchtete, dass Afrodite sich mit einer eigenen Boutique selbständig machenkönnte, und sich so zu einer ernsthaften Konkurrentin entwickeln würde. Daher luder sie ein, seine Geschäftspartnerin zu werden. Die Idee war, gemeinsam eine neueModeboutique zu eröffnen und vielleicht Silver Fashion als Großhändler weiter-zuentwickeln.

Afrodite sagte zu und kurze Zeit später eröffneten Michael und Afrodite eineneue Boutique und starteten zeitgleich einen Mode-Großhandel. Aufgrund der Ex-pansion und der neuen Aufgaben stieg ihr Bedarf an Mitarbeitern und so wurdenMary (Michaels Ehefrau) sowie George und Angelos (Afrodites Ehemann und ihrSohn) bei Silver Fashion angestellt. Die Arbeit wurde folgendermaßen verteilt: Ange-los und Mary waren für die Leitung der beiden Modeboutiquen verantwortlich,George für die Kunden und den Großhandel (hier insbesondere dafür, andere Bou-tiquen als Neukunden für den Großhandel zu gewinnen), Afrodite blieb Chefeinkäu-ferin und Michael war verantwortlich für Personal, Management und Finanzierung.Die größte Herausforderung für Afrodite und Michael war die Entwicklung vonneuen Ideen, um das Großhandelsgeschäft wettbewerbsfähig zu machen, dabei guteQualität anzubieten und dies zu günstigen Preisen. Nach reiflicher Überlegungmachten sie ihren Importeuren folgendes Angebot: Sie würden Mode in großen Lo-sen abnehmen, sie würden dafür keine Kredite aufnehmen und sie würden immerbar bezahlen. Im Gegenzug für dieses Angebot verlangten sie einen Preisnachlass

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von 15% auf alle Kleidung, die sie einkauften. Sie wurden sich mit vielen Importeu-ren auf dieser Basis einig. Mit dem rasch wachsenden Cashflow eröffneten Michaeland Afrodite einen neuen Showroom für den Großhandel mit mehr Auswahl zugünstigeren Preisen als ihre Wettbewerber in der Region.

Zu diesem Zeitpunkt produzierte die griechische Textilindustrie fast ausschließ-lich für großeModelabels. Die Branche war attraktiv, da sie die niedrigen Lohnkostenim Land ausnutzte. Ein gängiges Geschäftsverhalten war, dass die Textilunternehmen10% ihrer Aufträge als Überschuss produzierten. Zufälligerweise besaß AfroditesSchwägerin eine der größten Textilunternehmen inGriechenland, undmit ihrerHilfekonnte Silver Fashion leicht in den Markt eintreten. Afrodite konnte den Überschussder Firma günstig erwerben und so Hochqualitätsmode zu niedrigen Preisen anbie-ten. Dies brachte Silver Fashion in eine äußerst günstige Wettbewerbsposition undder Showroomwar ein voller Erfolg.

Nach der Eröffnung einer neuen Boutique (nunmehr verfügte Silver Fashionüber drei Modegeschäfte) und der Eröffnung des neuen Showrooms stieg der Bedarfan Mitarbeitern weiter. Die Firma stellte zusätzliches Verkaufspersonal ein und be-schäftigte nun auch einen Fahrer, der die Großhandelsware zu den Kunden brachte.Das Geschäft verlief extrem gut, es war sehr profitabel und die Verkaufszahlen stie-gen ständig. Die Konkurrenz im Großhandel und Mode-Importgeschäft konntenpreislich nicht mit Silver Fashion mithalten. Sie versuchten daher, Silver Fashion zuschaden, indem sie den Vertrieb und Lieferungen sabotierten, um dem Ruf von Sil-ver Fashion zu schaden. Silver Fashion reagierte darauf prompt, in dem sie das Ge-schäftsmodell auf den direkten Import ausweitete. Sie trennten sich von allen Zwi-schenhändlern und führten nunmehr Importe selbständig durch. Dieser Schritterwies sich als außerordentlich profitabel für das Unternehmen.

8.3 Die Wirtschaftskrise bringt Schwierigkeiten

Anfang 1987 belieferte der Großhandel von Silver Fashion an die 400 griechischeModeboutiquen. Diese bezahlten alle in bar. Als die neue Saison im Herbst 1987 an-brach, entschied die Firma, ihr gesamtes liquides Kapital in neue Importe zu inves-tieren. Sie bestellten Ware im Wert von 80 Millionen Drachmen (ca. € 240.000) beiausländischen Textilfabriken.

Am Abend des 26. Novembers 1987 saßen George und Afrodite beim Abendessenund sahen in ihrer Wohnung in Athen fern. Plötzlich wurde das TV-Programm füreine wichtige Nachrichtensendung unterbrochen. Der griechische Wirtschaftsminis-ter kündigte eine massive Abwertung der Währung um 15% an. Gleichzeitig verab-schiedete die Regierung ein neues Gesetz, das jedes Unternehmen mit Importge-schäft dazu verpflichtete, 80% des Wertes ihrer Warengeschäfte zinslos für 6 Monatebei der Bank von Griechenland zu hinterlegen, wenn diese den Zoll passieren sollte.George und Afrodite konnten nicht glauben, was passierte. Michael rief sie gleichnach der Bekanntgabe an. Sie hatten Ware im Wert von 80 Millionen Drachmen imHafen von Athen liegen, die am nächsten Tag vom Zoll abgefertigt werden sollte. Af-

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rodite und George waren panisch und konnten in dieser Nacht vor Sorge nicht schla-fen. Um 6:30 Uhr am frühen Morgen kamen sie am Zoll im Hafen von Piraeus an.Eine große Menschenmenge wartete bereits vor der Zollverwaltung. Jeder versuchtezu verstehen, was passiert war und was dies für das Geschäft bedeutete. Georgeglaubte, dass dies das Ende von Silver Fashion sei, denn es gab seiner Meinung nachkeine Chance, 64 Millionen Drachmen bei der Bank von Griechenland zu hinterle-gen, um die Ware durch den Zoll zu bekommen.

Die Situation für Silver Fashion stellte sich folgendermaßen dar:1. Im Athener Zoll befanden sich Waren im Wert von 80 Millionen Drachmen, die

bereits bezahlt waren.2. Aufgrund des neuen Regierungsbeschlusses musste das Unternehmen, das die

Waren durch den Zoll abfertigen lassen wollte, nunmehr 64 Millionen Drachmenzinslos bei der Bank von Griechenland hinterlegen.

3. Aufgrund der 15prozentigen Abwertung der Drachmen würde die Firma Preiseerhöhen müssen, was ihre Produkte weniger wettbewerbsfähig auf dem Marktmachte. Dies würde dazu führen, dass weniger Waren verkauft würden undmehr Waren im Lager verblieben.

4. Die 64 Millionen Drachmen, die vom Zoll verlangt wurden, konnten nur durcheinen Kredit aufgebracht werden, der Zinszahlungen mit sich bringen würde.

Die Firma stand also an einem Scheideweg, an dem sie entscheiden musste, ob sieihre Ware vom Zoll abfertigen lassen sollte oder nicht.

Die Entscheidung wurde gefällt, dass Silver Fashion das Risiko eingehen undeinen Kredit aufnehmen sollte mit allen damit verbundenen, negativen Konsequen-zen. Um die Verluste so gering wie möglich zu halten, entließen Michael und Afro-dite einige Angestellte, um die Personalkosten zu senken. Der Fahrer musste gehenund George übernahm seine Arbeit. In jeder Boutique wurde Verkaufspersonal ent-lassen, insgesamt drei Leute wurden freigesetzt. Gleichzeitig versuchten sie, neueKunden zu finden, um ihre Ware so schnell wie möglich zu verkaufen. Nach demPrinzip des „Klinkenputzens“ klapperten sie jede Stadt und jede Modeboutique inGriechenland ab, die sie erreichen konnten, und schafften es, den gesamten Waren-bestand innerhalb von 40 Tagen zu verkaufen. Dies erlaubte der Firma die 80 Millio-nen wieder zu erwirtschaften plus 20%, was gerade ausreichte, um die entstandenenKosten auszugleichen.

Das Durchleben dieser gefährlichen Geschäftssituation zeigte Afrodite und Mi-chael, welches Risiko sie eingingen, wenn sie ihr gesamtes Finanzkapital in ihre Im-porte steckten. Zu diesem Risiko kam die wachsende Unsicherheit hinzu, wie sichdie griechische Währung in Zukunft entwickeln würde. Sie fürchteten die Gefahrweiterer möglicher Abwertungen der Drachme in den kommenden Jahren. Diesbrachte die Eigentümer von Silver Fashion dazu, ihr Geschäftsmodell zu verändern.So teilten sie nun ihr Großhandelsgeschäft in nationale und internationale Zuliefererund Textil-Produzenten auf und versuchten so das Risiko, das durch Auslandstrans-aktionen und Währungsschwankungen hervorgerufen wurde, zu reduzieren. Siekonzentrierten sich auf griechische Modeproduzenten, die nunmehr einen Großteilihrer qualitativ hochwertigen Waren herstellten. Diese Lösung war ihre Rettung,

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denn Silver Fashion schaffte es so, die Krise zu überleben und wieder imModemarktFuß zu fassen. Dieser Aufschwung hielt sechs Jahre lang an. Der Großhandel florierteund auch die Modeboutiquen wirtschafteten gesund und profitabel.

Mit dem Vertrag von Maastricht 1993 galten neue Konditionen für den EU-Bin-nenmarkt, welche den freien Verkehr von Waren und Kapital begünstigten. Wirt-schaftsbarrieren zwischen den EU-Ländern wurden abgebaut. Dazu kam, dass alleLänder ihre Währungen mit festen Wechselkursraten zueinander und zum ECU fi-xierten, und so das Ziel einer gemeinsamen Währung im Jahr 2000 bereits vorberei-tet wurde. Viele Verwaltungsabläufe wurden vereinfacht, und Importe aus anderenEU-Ländern wurden nun nicht mehr durch den Zoll abgefertigt. Wechselkursewaren innerhalb Europas kein Thema mehr. Internationale Geschäfte wurden so fürSilver Fashion wieder einfacher.

8.4 Der Untergang der griechischen Textilindustrie

Mit der Unterzeichnung des Vertrags vonMaastricht trat aber auch ein neuer Verwal-tungsakt in Kraft, der wirtschaftliche Unterstützung von Unternehmen durch staat-liche Subventionen stark einschränkte. Für die griechische Regierung bedeutete dies,Subventionen an die heimische Textilindustrie einzustellen. Dies führte im Ergebnisdazu, dass die Produktion durch Wegfall der staatlichen Unterstützungszahlungenund durch gestiegene Löhne weniger wettbewerbsfähig wurde. Als Konsequenz da-raus verlagerte die Textilindustrie im großen Stil Arbeitsplätze in Niedriglohnländer,insbesondere nach Bulgarien und Rumänien. Der schnelle Untergang der heimi-schen Textilindustrie machte es für Silver Fashion unmöglich, ihre Waren im großenStil aus heimischer Produktion zu beziehen. So begann die Firma nach neuen Produ-zenten außerhalb von Griechenland zu suchen, um die zu ersetzen, die ihre Produk-tion im Land eingestellt hatten. Transportkosten waren jedoch aus der Balkan-Re-gion hoch, zudem waren diese Länder in den 1990er Jahren noch nicht Mitgliederder EU, was bedeutete, dass sie weder an der Wirtschafts- noch an der Währungs-union teilnahmen und damit auch deren Vorzüge nicht teilten. Diese Umstände führ-ten dazu, dass sich Silver Fashion schnell aus der Balkanregion zurückzog.

Der dynamische Wandel der wirtschaftlichen Kräfte rund um den Globus führtezu einer Konzentration eines großen Teils der Textilindustrie in China. Hier fandendie Textilproduzenten extrem niedrige Arbeitskosten und günstige Bedingungendurch Wanderarbeiter, die Chinas Textilbranche in eine dominante Position brach-ten. Chinesische Textilunternehmen wurden die Hauptzulieferer für den europä-ischenModemarkt. Diese chinesische Dominanz undMacht führten dazu, dass SilverFashions Großhandel sich anpassenmusste, denn das heimischeGeschäftsmodellmitgriechischen Textilunternehmen funktionierte nicht länger. Es wurde die Entschei-dung gefällt, sich vom Großhandel zu trennen. Silver Fashion stieg aus dem Import-markt aus und konzentrierte sich wieder auf die Modeboutiquen. Afrodite und Ange-los übernahmen Michaels Anteil der Firma und führten das Geschäft allein weiter.Zudem schlossen sie zwei Filialen und reduzierten damit ihre Geschäftstätigkeit nur

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noch auf eine Boutique. Afrodite war verantwortlich für den Verkauf, die Schaufens-terdekoration und Ausstattung des Ladenlokals. Angelos übernahm den Einkauf unddie Finanzierung.

2005 wurde die Wettbewerbssituation auf dem Modemarkt in Griechenland da-durch verstärkt, dass große internationale Modeketten in den Markt eintraten.Gleichzeitig waren jedoch Firmenkredite leicht verfügbar und führten zu einer Ex-pansion von kleinen Ladenlokalen, die bei Preis und Qualität miteinander im Wett-bewerb standen. Die griechische Wirtschaft profitierte noch vom Wachstum, dasdurch die Olympischen Spiele in 2004 generiert worden war. Gleichzeitig wurdeaber auch die Bildung einer gefährlichen spekulativen Wirtschaftsblase auf verschie-denen Ebenen gefördert. Dies beinhaltete Kosten für Waren, für Mieten (insbeson-dere für Ladenmieten), hohe Zinsen etc. Alle diese Elemente führten zu einer drasti-schen Überbewertung der Wirtschaft und insbesondere der Ladenmieten, die sich inbegehrten Stadtvierteln in wenigen Jahren verdoppelten und verdreifachten.

Die 2008 beginnende Finanzkrise hatte einen enormen Einfluss auf das Land. AlsErstes stoppten Banken die Vergabe von Krediten an Kleinunternehmen und Entre-preneure. Fristgerechte Zahlungsverpflichtungen, die mit kurzfristigen Krediten fi-nanziert wurde, waren so beeinträchtigt. Die gesamte Wirtschaftsentwicklung be-gann sich zu verlangsamen. Dann stoppten die Banken die Vergabe von Krediten anprivate Haushalte, und die Konsumquote fiel. Afrodite realisierte schnell, dass sichihre Verkaufszahlen ständig nach unten entwickelten und Kunden vermehrt nachgünstigerer Mode verlangten. Silver Fashion würde seine Einkaufs- und Preispolitikverändern müssen. Die Gewinnspanne wurde immer kleiner und gleichzeitig nah-men die Verkaufszahlen immer weiter ab. Die Regierungswahlen im Oktober 2009brachten dann die gesamte Krise ans Licht: Griechenland war so gut wie bankrott.Die folgenden Notfallmaßnahmen, um dies zu verhindern, hatten eine äußerst nega-tive Wirkung auf die griechischen Bürger. Der gesamte Handel war betroffen, vieleWarenhäuser mussten schließen. Die Banken stellten ihre Kreditvergabe mehr oderweniger vollständig ein, und die Arbeitslosenquote explodierte. Handel und Groß-handel hatten keine Möglichkeit, Liquidität über Kredite zu erhalten und konntenso Kauf- wie Lieferverpflichtungen nicht nachkommen. Gleichzeitig sanken die La-denmieten drastisch, Bargeld stand hoch im Kurs und allein Geschäfte, die bar abge-schlossen werden konnten, erlaubten gute Gewinne. Der Schwund in der Nachfrageführte zu einer Herabsetzung der Großhandelspreise. Langsam begann sich die spe-kulative Wirtschaftsblase aufzulösen. Immobilienbesitzer und Anbieter von Ver-kaufsflächenmit Leerständen begannen, ihreMietpreise weiter zu senken. DerMarktveränderte sich und Chancen für neues Firmenwachstum und Start-ups zu sehr nie-drigen Eintrittspreisen stiegen.

Unglücklicherweise waren die Vorhersagen für die griechische Wirtschaft insge-samt nicht gut. Die Wirtschaft trat in eine Rezessionsphase ein. Einige Wirtschaftsex-perten argumentierten, dass es mindestens fünf Jahre dauern würde, bis sich die Lagewieder erholt hätte. Andere Analysten glaubten, dass sich die wirtschaftliche LageGriechenlands weiter verschlimmern würde. Ein Staatsbankrott und eine Rückkehrzur alten Währung, d. h. der Austritt aus dem Euro-Raum, seien unausweichlich.Das resultierte in einer sehr fragilen wirtschaftlichen Entwicklung mit einem großen

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Grad an Unsicherheit für alle Wirtschaftsbeteiligten. Geschäfte schlossen weiter, dieKonkurrenz im Handel nahm weiter ab. Viele Händler wirtschafteten am absolutenExistenzminimum. Glücklicherweise hatte Silver Fashion relativ stabile Absatzzahlenund gehörte zu den Boutiquen, die auch in der Krise Profit machten. Grund dafürwaren niedrige Personalkosten, denn mittlerweile war es nur noch George, der mitAngelos und Afrodite zusammenarbeitete. Die fixen Kosten konnten stabil gehaltenwerden, und Silver Fashion schaffte es, gesund durch eine konjunkturelle Phase zukommen, die gezeichnet war von Unsicherheit und Krise.

Interessanterweise brachte die Krise sogar neue Chancen mit sich, Chancen zurExpansion, denn die Ladenmieten waren nun extrem niedrig, Warenpreise sanken,die Regierung hatte neue Gesetze zum Niedriglohn verabschiedet, die das Lohn-niveau weiter senkten und Arbeitszeiten stärker flexibilisierten. Die Marktbedingun-gen hatten sich also verändert und wurden attraktiv für Unternehmer, die zu niedri-gen Kosten nunmehr investieren konnten. Trotzdem machten die Erfahrungen derKrise und die unsicheren Prognosen jede Entscheidung für Unternehmer sehrschwierig. Der Wettbewerb hatte sich abgeschwächt, gleichzeitig waren aber auchdie Preise gesunken. Das führte dazu, dass die Konkurrenzsituation sich nur wirklichfür jene Wettbewerber entspannt hatte, die günstig einkaufen konnten. Die Finanz-krise und daraus resultierende Wirtschafts- und Staatskrisen führten dazu, dass esfür griechische Unternehmen extrem schwierig war, in dieser Situation der Unsi-cherheit zu entscheiden, in welche Richtung sich das Geschäft in den kommendenJahren entwickeln sollte.

8.5 Unterschiedliche Marketingstrategie-Optionen

Afrodite hatte immer geglaubt, dass das Angebot der Waren von Silver Fashion vonden Kunden wie Experten als „hochwertige Qualitätsware“ angesehen würde, wäh-rend die Preise als angemessen nach demMotto „value-for-money“ galten. Im Anbe-tracht der hohen Kosten für den Einkauf von Hochqualitätskleidung hatten Afroditeand Angelos in den letzten Monaten begonnen zu überlegen, ob sie sich nicht mitder Idee anfreunden könnten, Produkte mit niedrigerer Qualität zu niedrigeren Prei-sen zu verkaufen, um damit einen größeren Kundenkreis anzusprechen. Sie hattensogar bereits diese Idee angetestet, indem sie einige Stücke mit niedrigerer Qualitäteingekauft hatten und dabei beobachteten, dass dies einen positiven Effekt auf Kun-denzahl und Verkaufsvolumen mit sich brachte. Auch die „Mundpropaganda“-Wer-bung über die Boutique hatte sich dadurch nicht negativ verändert. Dieser kleine Er-folg warf die Frage auf, ob sich Silver Fashion in Richtung Einkauf von Modewaremittlerer Qualität zu niedrigeren Einkaufskosten entwickeln sollte.

DerModemarkt für Frauen in Athen konnte in zwei Kategorien unterteilt werden:1. niedrigpreisig, keine Markenware und 2. hochpreisig, etablierte Modemarken.Diese beiden Kategorien sind sehr unterschiedlich und ziehen extrem verschiedeneKäufer mit unterschiedlichen verfügbaren Budgets an. Die Kosten-Spar-Kategoriekann als ein Marktsegment beschrieben werden, in dem zwei Typen von Wettbewer-

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bern existierten: das kleine Familien-Unternehmen, das ein bis zwei Boutiquen un-terhält und in dem zumeist nur Kunden aus der direkten Nachbarschaft einkauftensowie die großen Modeketten, die standardisierte Massenware zu niedrigen Preisenanbieten. Diese befanden sich zumeist in großen Handels- und Einkaufszentren undzogen damit einen Kundenkreis aus einer größeren Region an. Dafür mussten sieaber i. d. R. auch höhere Ladenlokalmieten zahlen.

Die Geschäfte, die sich auf teurere Mode konzentrierten, zielten auf Kunden miteinem größeren Budget für den Modekauf ab, insbesondere auf Frauen, die auf Qua-lität achten und weniger auf Schnäppchen aus waren. Mit Beginn der Finanzkrisewar dieses Kundensegment stark geschrumpft und eine Vielzahl von Händlern, diesich auf diesen Kundenkreis spezialisiert hatte, mussten ihre Preise und Qualität an-passen, um Kundenwünschen nach niedrigeren Preisen und Qualität gerecht zu wer-den. Einige Händler hatten sich in diesem Zuge von Hochqualitäts-Boutiquen zuMittelqualitätshändlern entwickelt, andere schieden ganz aus dem Wettbewerb aus.Die Boutiquen, die übrig blieben, suchten nach Möglichkeiten zum günstigen Ein-kauf, um wettbewerbsfähig zu bleiben oder veränderten ihre Service-Qualität, umweiter attraktiv für Kunden und gleichzeitig profitabel zu bleiben. Währenddessenbauten die großen Modehandelsketten ihren Marktanteil weiter aus, indem sie Per-sonalkosten weiter senkten und ihre Marktmacht aufgrund von großen Einkaufsvo-lumina dazu nutzten, günstigere Einkaufspreise auszuhandeln.

Qualität und Preise in der Modebranche zu verändern, war nicht einfach. Textil-produzenten von Billigwaren waren nicht in unendlicher Zahl zu finden, schon garnicht mehr in Griechenland, und die Qualität, die sie liefern, war oftmals schlicht-weg schlecht. Auch fielen unter Umständen hohe Transportkosten aus dem Auslandan. Falls Afrodite und Angelos die Qualität ihrer Ware veränderten, riskierten sieauch, einen Großteil ihrer Kunden zu verlieren, nämlich jene, die ausschließlich aufhohe Qualität achteten. In diesem Fall würde es bedeuten, dass die Verkaufszahlendramatisch abfielen und der Ruf der Boutique negativ betroffen war. Auf der ande-ren Seite würde eine Veränderung in Richtung Medium-Qualitätsware potenzielleine große Anzahl an Neukunden anlocken, die sich bislang Silver Fashion-Modenicht leisten konnte. Damit könnte das Unternehmen sich in Richtung Medium-Qualität entwickeln, ein Marktsegment in dem aufgrund der Finanzkrise mehr Kun-den als im Hochpreis- wie Hochqualitätsmarkt zu vermuten sind. Kosten könntengesenkt werden z. B. Lagerkosten und Lagervolumen aufgrund von niedrigeren Prei-sen, was wiederum zu einem Anstieg der Verkaufszahlen führen könnte. WennSilver Fashion in der Lage wäre, die Verkaufszahlen prozentual mehr zu steigern alsdie Absenkung ihrer Preise, dann würde sie dies in die Lage versetzen, ihre Erträgeerheblich zu steigern, Kosten zu senken und damit den Gewinn der Firma zu stei-gern.

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8.6 Was blieb zu tun?

Während sie ihren Kaffee am Frühstückstisch tranken und über die Zukunft von Sil-ver Fashion sinnierten, begann Angelos laut über die Möglichkeit nachzudenken,eine neue Boutique unter einem neuen Namen und mit einer anderen Zielgruppe zueröffnen. Ein neuer Laden, der auf eine andere Käufergruppe im Markt abzielte unddamit neue Käufer in die Boutique holen könnte. Zwei Läden mit zwei Zielgruppenwürde Silver Fashion auch flexibler machen in Bezug auf Waren, die zwischen Lädenund Lagern nach Bedarf verteilt werden könnten, vor allem in der Schlussverkaufssai-son. Afrodite machte ihren Sohn jedoch darauf aufmerksam, wie riskant so ein neuesGeschäft in der aktuellen wirtschaftlichen Lage sein könnte. Eine weitere Filiale miteinem neuen Geschäftsmodell könnte Silver Fashion insgesamt gefährden. Angelosargumentierte, dass ein neuer Laden für Medium-Qualitätsmode jedoch derzeitkeine aufwändige Investition wäre, vor allem, wenn es ihm gelänge, ein freistehendesLadenlokal mit niedriger Miete zu finden. Mithilfe seines Vaters könnte er das Lokalrenovieren und einfach ausstatten mit gebrauchten Regalen und Möbeln. Afroditesollte die Dekoration übernehmen. Dadurch würden die Kosten für eine Neueröff-nung wesentlich niedriger, als dies in der Vergangenheit möglich gewesen wäre.Auch könnte man die Werbung für den neuen Laden in der Boutique von Silver Fa-shion beginnen, und so schneller in der Modeszene bekannt werden.

Afrodite konnte sich mit dieser Idee nicht anfreunden, aus ihrer Perspektiveklang die Idee ihres Sohnes zu riskant. Sie konnte sich eher vorstellen, dass Kundenvon Silver Fashion schlicht von der alten zur neuen Boutique wechseln würden unddadurch das Unternehmen insgesamt gefährdet wäre. Sie war sich außerdem nichtklar darüber, ob so ein Shop in einen der großen Verkaufszentren nicht besser ange-siedelt wäre als in einem günstigen Stadtviertel, wie es Angelos vorschwebte.

Angelos hatte noch weitere Ideen: Das neue Geschäft könnte gleichzeitig aucheinen Online-Shop aufbauen, eigene Kataloge vertreiben und damit völlig neue Ver-kaufs- und Vertriebskanäle für sich öffnen. So könnte man auch ein ganz neuesMarktsegment erreichen mit jungen Käufern, die eher virtuell shoppen. Diese On-line-Kanäle generierten natürlich zu Anfang höhere Kosten, aber dafür würden dieoperativen Kosten wesentlich niedriger sein als bei einem klassischen Ladengeschäft.

Afrodite mochte auch diese Idee nicht besonders. Alles, was sie wollte, war, dasGeschäft in der aktuellen ökonomischen Krise weiter zu stabilisieren, und nichtneue waghalsige Risiken einzugehen. Angelos argumentierte, dass dies sehr konser-vativ gedacht sei. Jetzt wäre die Zeit für unternehmerische Chancen und Möglichkei-ten, wenn man bereit sei, ein bisschen unternehmerisches Risiko einzugehen. DieDiskussion wurde lauter und erregter. George kam in den Raum und fragte, was dieSchreierei und der Lärm in der Küche solle. Afrodite erklärte, dass sie schon genugRisiko in ihrem unternehmerischen Leben eingegangen sei. Sie wolle keine weiterenmehr eingehen. Alles was sie wolle, sei, in fünf Jahren ohne finanzielle Sorgen inRente gehen zu können. Angelos, der immer angenommen hatte, dass er einmal dasFamilienunternehmen übernehmen würde, wunderte sich nun, ob sich seine Muttervielleicht mit dem Gedanken trage, das ganze Unternehmen zu verkaufen. Georgehatte ebenfalls eine neue Idee für ein Geschäft. Er träumte sich dabei zurück in die

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Vergangenheit, als er nur ein einfacher Händler war. Er dachte an ein kleines Laden-lokal auf einem Marktplatz, an den Verkauf von günstiger Mode ohne jedes Nach-denken über Modemarken, über Werbung oder Geschäftsmodelle. Sein Traum seidas simple Kaufen von Kleidung zu einem guten Preis und das simple Verkaufen zueinem höheren.

Schließlich saßen alle drei still am Tisch, ein jeder versunken in seine eigene Vor-stellung ihres zukünftigen Geschäftes.

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9David Lysaght (Irland)

Thomas Cooney

9.1 Einleitung

Von Anfang an war David Lysaght klar, dass eine Unternehmensgründung kein leich-tes Unterfangen und die Wahrscheinlichkeit zu scheitern hoch sein würde. Bedingtdurch die Wirtschaftskrise hat sich im Spätsommer 2010 die Situation regionalerUnternehmen in Irland zugespitzt, sodass David seinen Plan, ein Non-Profit-Unter-nehmen zu gründen, das Kletter- und Bergtouren und Events zur finanziellen Unter-stützung von Wohltätigkeitsorganisationen veranstalten soll, zunehmend infragestellt. In der Vergangenheit hat sich auf dem irischen Non-Profit-Markt starkerWett-bewerbsdruck gebildet. Dies hat folgende Ursachen:· Rückgang der aus öffentlicher Hand und dem privaten Sektor verfügbaren Spen-

denmittel;· die Wirtschaftskrise hat auch die ansonsten generell spendenfreudige Ober-

schicht schwer getroffen, mit der Folge der Minderung der Spendenaktivität;· Zugleich gab es einen deutlichen Anstieg der von Fördermitteln abhängigen Non-

Profit-Organisationen.

Zusätzlich hat David mit einer weiteren Herausforderung zu kämpfen, die seinenKonkurrenten fremd ist: Er leidet unter zerebraler Paralyse, einer Erkrankung, beider Betroffene – aufgrund einer Verletzung des Gehirns (zerebral = das Gehirn be-treffend) – die Kontrolle über einen Teil ihrer Körpermuskulatur verlieren. Charak-teristisch für diese Krankheit ist auch, dass man nicht gänzlich in der Lage ist, seinemotorischen Funktionen, insbesondere die der Muskelkoordination, zu steuern. Da-vid, der grundsätzlich eine sehr positive Haltung zum Leben einnimmt, fragt sichjetzt oft, ob sein Plan, Kletter- und Bergtouren zu organisieren, für jemanden mitseinen körperlichen Einschränkungen ein gutes Geschäftskonzept darstellt. Er ziehtes in Erwägung, einen Geschäftspartner einzubeziehen. Ihm ist aufgefallen, dass dieMenschen bei der persönlichen Begegnung mit ihm häufig ihr Verhalten ihm gegen-über änderten.

David ist entschlossen, in Vorbereitung auf sein Treffen mit seinem Business-Mentor in der kommenden Woche alle positiven und negativen Aspekte betreffendseiner persönlichen und seiner geschäftlichen Situation noch einmal genau abzuwä-gen. Diese Analyse soll ihm und seinem Mentor dabei behilflich sein, weitere, kon-krete Schritte in der Umsetzung seiner Geschäftsidee festzulegen.

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146 9 David Lysaght (Irland)

9.2 Davids persönlicher Hintergrund

Der 28-jährige David Lysaght lebt in dem malerischen Dorf Blackrock nahe der iri-schen Stadt Dundalk. Er ist das jüngste von fünf Kindern und wurde, wie er selbstmeint, von seinen Geschwistern – die einen sehr positiven Einfluss auf sein Lebenhatten, indem sie ihn stets zu Höchstleistungen ermutigten – stets verwöhnt.

Sein Vater Lisle, gelernter Ingenieur, hatte eine abwechslungsreiche Karrierelauf-bahn hinter sich, bevor er sich Ende der 1970er Jahre selbständig machte. Wenn-gleich er keine Konstante in seinem Lebenwar, war David vom plötzlichen Tod seinesVaters 2009 sehr ergriffen. Zweifelsohne war Davids Mutter Rosa die bisher größteInspiration in seinem Leben. Seit 35 Jahren führt sie eine Kindertagesstätte, die sie inihrem für diesen Zweck umgebauten Zuhause untergebracht hat. Sie ist diejenige, dieDavid am Meisten darin bestärkte – trotz mancher Niederlage aufgrund seiner Be-hinderung – konsequent seine Ziele zu verfolgen. Immer wieder spornte sie ihnauch zu unmöglich geglaubten Leistungen an. Sie überzeugte ihn auch davon, das Le-ben voll auszukosten und nie aufzugeben. David ist davon überzeugt, dass er Akteurim Spiel des Lebens ist, und nicht nur Tribünengast.

David besuchte zunächst die Grundschule und danach die weiterführende Schulein Dundalk. Als Teil eines Abschlussprojektes sollte er ein Kleinstunternehmen pla-nen. Damals entschied er sich für ein Unternehmen, das Weihnachtsdekorationsarti-kel und Spielsachen vertrieb, und profitierte in vielerlei Hinsicht davon. Nachdem erdie weiterführende Schule erfolgreich abgeschlossen und die Studienzugangsvoraus-setzungen erfüllt hatte, absolvierte er ein zweijähriges akademisches IT-Programm,dem er ein – mit Auszeichnung und dem Master of Business Administration-Titel ab-geschlossenes – Studium am Dundalk Institute of Technology anschloss. In diesemRahmen beschäftigte er sich insbesondere mit Entrepreneurship, Marketing undVolkswirtschaftslehre. Mit einem guten Abschluss in der Tasche glaubte er, in Irlandsdazumal boomender Wirtschaft und ihrem stabilem Arbeitsmarkt eine verheißungs-volle Karriere vor sich zu haben. Leider erwies sich das als Trugschluss. Seit er seinStudium 2004 abgeschlossen hatte, war es ihm nicht gelungen, auf dem heimischenArbeitsmarkt Fuß zu fassen. Vielmehr hatte David bereits eine Menge unterschied-lichster Stellen – bezahlte wie unbezahlte – innegehabt. Zuvor arbeitete er auch schonals Hilfsbuchhalter, Lager- oder Sozialarbeiter und Bergführer. Momentan hat ereinen befristeten Vertrag mit dem Delphi Adventure Centre an Irlands Westküste. Bis-lang war es David nicht gelungen, seinen Traumjob zu finden und er war deshalbauch nicht in der Lage, einem bestimmten Karrierepfad zu folgen. Für ihn steht fest,dass er gerne wandert und Tätigkeiten in der freien Natur genießt. Angesichts derTatsache, dass ihn Büroarbeit relativ schnell langweilt, fragt er sich, ob es ihm gelin-gen würde, sein Hobby zum Beruf zu machen.

David Lysaght wurde mit Kinderlähmung geboren. Seine Mutter erkrankte wäh-rend der Schwangerschaft an einem Virus, das zu einer kurzzeitigen Sauerstoffunter-versorgung des Ungeborenen führte. Neben einer zerebralen Paralyse litt David alsKind auch an einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte und bis zu seinem 15. Lebensjahran Epilepsie. Zerebrale Paralyse ist ein Sammelbegriff für eine Gruppe von Störun-gen des menschlichen Bewegungsapparates, des Gleichgewichtssinns oder der Kör-

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perhaltung. Der Begriff steht gleichbedeutend für Gehirnlähmung. Diese wird durchabnorme Entwicklungen in einem oder mehreren Teilen des Gehirns verursacht, diefür die Steuerung von Muskelimpulsen und -aktivität (Bewegung) zuständig sind.Daraus resultierende Beeinträchtigungen treten i. d. R. erstmalig bereits im frühenKindesalter auf. Säuglinge mit zerebraler Paralyse erreichen häufig erheblich verspä-tet die kindlichen Entwicklungsstadien des Rollens, Krabbelns, Drehens und Lau-fens. Gemein sind all diesen Menschen Schwierigkeiten mit der Kontrolle und Koor-dination der Muskeln. Selbst einfachste Bewegungsabläufe werden erschwert, da dieErkrankung häufig mit Muskelstarre, mangelnden Muskelimpulsen, unkontrollier-ten Bewegungen sowie Schwierigkeiten mit Haltung, Gleichgewichtssinn, Laufen,Sprechen, Schlucken und vielem anderen einhergeht. Die Ausprägung dieser körper-lichen Beeinträchtigungen variiert sehr zwischen sehr schwach, leicht bis stark. BeiDavid äußert sich die Behinderung in Sprechschwierigkeiten und einer Muskelkoor-dinationsschwäche, von der primär seine Hände, aber auch Beine betroffen sind. Da-vid erklärt:

„Zu meinen größten Schwächen gehört, dass ich häufig zerstreut oder verwirrt wirke. Das ist ein ty-pisches Symptom zerebraler Paralyse. Diese Tatsache frustriert mich häufig sehr, weil ich manchmaldumm erscheine, auch wenn ich weiß, dass ich es nicht bin. Beim Sprechen vergesse ich gelegentlich,was ich sagen möchte oder gebe irrtümlich nur einen Teil des Satzes wieder. Offensichtlich wird dieErkrankung auch während des Schreibens und Lesens. Oft lasse ich Textteile oder Wörter, in demGlauben, ich hätte sie bereits gelesen oder geschrieben, weg. Grundsätzlich ist es so, dass mein Gehirngelegentlich schneller agiert und arbeitet, als meine Hände oder Augen es schaffen. Ein weiteres Prob-lem, das mittlerweile glücklicherweise nur noch selten auftritt, ist, dass ich manchmal die Kontrolleüber meinen Tonfall verliere und das Gesagte aufgrund des negativen Klangs vom Empfänger alsunhöflich empfunden wird, obwohl die Botschaft völlig harmlos war.“

Davids körperlicher Zustand hatte unter anderem zur Folge, dass er in seiner Kind-heit im Hinblick auf sein Verhalten als hyperaktiv auffiel. Das wiederum führte zuphysischen und psychischen Demütigungen durch andere Kinder und Jugendliche,die sich, so glaubt er, so verhalten haben, um ihn der Gruppe fernzuhalten. Meistensaber wurde er einfach deshalb ausgeschlossen, weil er anders als die anderen war undein leichtes Angriffsziel repräsentierte.

Als er acht Jahre alt war, ließen sich Davids Eltern scheiden. Dieses Ereignis löstebei ihm ein emotionales und seelisches Betrübnis aus, unter dem er noch lange zuleiden haben sollte. Die Kombination aus seiner Behinderung, den Demütigungenin der Schule und der Trennung seiner Eltern war es seiner Ansicht nach, die einelangjährige Depression und geringes Selbstwertgefühl bei ihm bewirkte. David er-fuhr die gewöhnlichen Leiden eines pubertierenden Jugendlichen und hatte großeSchwierigkeiten, Liebesbeziehungen aufzubauen. Zudem machte er sich selbst undseine Behinderung für das Scheitern der Ehe seiner Eltern verantwortlich, was zuSchuldgefühlen und Ängsten bei ihm führte, mit denen er alleine zu kämpfen hatte– Ängste, die seine Freunde nicht nachempfinden konnten. Er gesteht sich einenHang zuWutanfällen ein und war, so glaubt er, für Andere, was den Umgang angeht,eine schwierige Person. In seinem Verhalten sah er damals eine Notwendigkeit, umseine Ängste verarbeiten zu können.

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David galt vielerorts als Unruhestifter und machte gerade denen, die ihm helfenwollten, häufig Schwierigkeiten. Immer öfter nahm er eine arrogante, ablehnendeHaltung ein, die er heute als eine Art Überlebensmechanismus beschreibt. Nichts-destotrotz ist es ihm in den vergangenen Jahren gelungen, diese Haltung abzulegenund dem Leben gegenüber nunmehr positiv gegenüberzustehen – eine Einstellung,die er als wesentlich lohnender erachtet. Seither fällt es ihm nicht nur leichter,Freundschaften zu schließen und zu pflegen; die Beziehung zu seiner Mutter uns sei-nen Geschwistern ist dadurch auch gestärkt worden. Außerdem engagiert er sich ak-tiv in der Gemeinde. Dorthin war es ein langer Weg, aber nun fühlt er sich dafür be-reit, sein erworbenes Wissen einzusetzen, um anderen zu helfen.

9.3 Das Geschäftskonzept

David möchte ein Non-Profit-Unternehmen namens Charity Voyage gründen. Unterdiesem Namen möchte er Wander- und Klettertouren und themenverwandte Eventsund Wettkämpfe veranstalten, deren Erlös die Teilnehmer einer wohltätigen Organi-sation ihrer Wahl zur Verfügung stellen. Grundsätzlich ist die Idee, dass jede aneinem Event teilnehmende Person einen bestimmten Betrag an Spendenmitteln be-schafft, wovon ein Teil zur Deckung der Organisationskosten von Charity Voyage auf-gewendet wird, der verbleibende Großteil aber der gewählten Non-Profit-Organisa-tion zugutekommt. Diese Art des Fundraising erlangte in der Vergangenheit hohePopularität. Den Teilnehmern gelingt es so, nennenswerte Summen für wohltätigeZwecke aufzutreiben, während sie attraktiven Veranstaltungen beiwohnen. Infolgetraten in Irland jüngst auch zahlreiche gewinnorientierte Unternehmen in denMarktein, die ebenfalls solche Veranstaltungen organisierten. Dabei nahmenMenge, Arten-vielfalt und die Orte, an denen sie abgehalten werden, unweigerlich zu. Ein kurzerBlick ins Internet offenbart, dass Wettbewerbe und Veranstaltungen mittlerweile na-hezu in jeder Art, weltweit und an beliebigen Orten abgehalten werden können. DieZahl der Organisationen, die man dabei mittlerweile unterstützen kann, explodiert.

Nach einer ausführlichen Online-Umfeldanalyse beschließt David, den wohltäti-gen Charakter seines Vorhabens beizubehalten und ein Non-Profit-Unternehmenanstelle eines gewinnorientierten Unternehmens zu gründen. Weiterhin möchte ersich ausschließlich auf die Organisation vonWander- und Kletterausflügen in Irlandkonzentrieren. Da er nur über wenig Kapital verfügt und das die einzigen Aktivitätensind, die er gerne ausübt und in denen er erfahren ist, möchte er sein Vorhaben in-nerhalb dieser drei Rahmenbedingungen realisieren. Im nächsten Schritt legt er fol-gende vier Veranstaltungskategorien fest:· Six of the Best – Sechs Berge werden innerhalb von drei Tagen bestiegen.· Six of the Best (deluxe) – Sechs Berge werden innerhalb von drei Tagen bestiegen.

Die Unterkunft und Verpflegung sind komfortabler.· Eine zweitägige Veranstaltung (nicht endgültig festgelegt).· Eine eintägige Veranstaltung (nicht endgültig festgelegt).

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Bevor er eine finale Entscheidung hinsichtlich der Abhaltung einer ein- bzw. zweitägi-gen Veranstaltung treffen kann, muss erst eineMenge Denkarbeit geleistet und Analy-sen angestellt werden. Außerdem plant David, nachdem sein Unternehmen erstmaletabliert war, zusätzlich eine Six of the Best Winter Series und Veranstaltungen für be-hinderte Menschen zu organisieren, das Veranstaltungsangebot auszudehnen undweitere Disziplinen wie Schwimmen, Laufen, Segeln oder Kanufahren anzubieten.

Six of the Best soll dabei den Kernpunkt seines Veranstaltungskonzepts darstellenund auch zum bestbesuchten Event werden. Die Teilnehmer sollen dabei in Gruppenzu drei Personen sechs Berge im irischen Umland, einschließlich des Carrantuohill,dem höchsten Berg Irlands, und Slieve Donard, dem höchsten Berg Nordirlands, er-klimmen. Indes hat er zunehmend Bedenken, ob er die Veranstaltungen auf dieseWeise abhalten können würde und ob es nicht eine bessere Wahl wäre, stattdessenIndividualausflüge für 20 Personen, die lediglich eine geringe Teilnahmegebühr zurDeckung der Veranstaltungskosten bezahlen sollen und ihre Erlöse an individuell,anstatt an von der Gruppe, ausgesuchte Wohltätigkeitsorganisation spenden kön-nen, zu veranstalten. So könnte jeder Teilnehmer bereits vorab festlegen, wie vielGeld er für seine Organisation beschaffen möchte.

Abb. 1: Fläche Irlands

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Der Zeitplan für die Veranstaltungen gestaltet sich folgendermaßen:1. Tag: Slieve Donard (Nr. 5 auf der Abbildung) und Abstieg über den Slieve Com-

medagh.2. Tag: Lugnaquilla (Nr. 7 auf der Abbildung) und Mullaghcleevaun in Wicklow3. Tag: Carrantuohill (Nr. 9 auf der Abbildung) and Mount Brandon in Kerry

David plant, die Zeitpläne der anderen Veranstaltungen ähnlich zu gestalten, ledig-lich die Aufenthalte sollen kürzer ausfallen. Alle Touren werden von seinem Stütz-punkt südlich von Slieve Donard aus koordiniert und eine Aussicht über DundalkBay bieten.

Anzumerken gilt es, dass es sich bei den sechs anvisierten Ausflugszielen nichtum die höchsten Berge Irlands handelt. Sie wurden primär aufgrund ihrer günstigenLage ausgewählt. Als Nächstes soll der Unterschied zwischen dem Six of the Best-und dem Six of the Best deluxe-Modell erläutert werden. Bei Ersterem handelt essich um eine Tour mit bescheidener Unterkunft und Verpflegung. Zusätzliche An-nehmlichkeiten, Ausrüstungsutensilien und Ähnliches müssen von den Teilnehmernselbst mitgebracht bzw. organisiert werden. Das Six of the Best deluxe-Modell ist andiejenigen Personen adressiert, die auf Annehmlichkeiten wie Vollverpflegung undgehobene Unterkunft nicht verzichten möchten. Sie haben zudem die Wahl zwi-schen drei verschiedenen Schwierigkeitsgraden der Tour.

9.3.1 Beschaffung von Spendenmitteln

Um sich einen klaren Überblick über die Finanzlage seines Unternehmens und dieKostenstruktur der angebotenen Leistungen zu verschaffen, hat David Untersuchun-gen zumarktüblichen Preisen angestellt. Es gelang ihmnicht, Vergleichsdaten irischerUnternehmen zu finden, jedoch zu englischen Mitbewerbern, die Ausflüge beispiels-weise zum peruanischen Pfad der Inca, dem Everest Base Camp in Nepal oder demAtlas Mountain Trek in Marokko veranstalten. Dabei zeigte sich, dass diese Unterneh-men eine Veranstaltungsgebühr in Höhe von ca. 45% der Mindestteilnahmegebührvon ihren Besuchern zur Deckung der Veranstaltungskosten einhoben. So legte etwaein Veranstalter eine Mindestteilnahmegebühr von £ 4,175 (wovon £ 1,878 dem Ver-anstalter und £ 2,297 der Wohltätigkeitsorganisation zugutekamen) fest. Ein andererverlangte £ 4,280 (£ 1,926 für den Veranstalter und £ 2,354 für die Organisation).Gleichwohl bedeutet das, dass lediglich einen Beitrag in Höhe von 55% der Mindest-teilnahmegebühr an gemeinnützige Zecke geht.Wenn sich jedoch Teilnehmer bei derSpendenbeschaffung als besonders erfolgreich erweisen und einen höheren als dengefordertenminimalen Betrag beschaffen, würden die zusätzlichenMittel vollständigder gewählten Non-Profit-Organisation gespendet werden.

Was das Angebot von Charity Voyage angeht, so glaubt David es sich erlauben zukönnen, niedrigere Beträge sowohl in Hinsicht auf die Mindestteilnahmegebühr alsauch was den einbehaltenen Beitrag zur Deckung der Veranstaltungskosten angeht,ansetzen zu können. Die geschätzten, ermittelten Werte sind die folgenden:· 35% der Einnahmen von Six of the Best.

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· 40% der Einnahmen von Six of the Best (deluxe).· 40% der Einnahmen der (noch nicht endgültig beschlossenen) zweitägigen Ver-

anstaltung Two day challenge.· 45% der Einnahmen der (noch nicht endgültig beschlossenen) eintägigen Veran-

staltung One day challenge.

Für Six of the Best möchte David eine Mindestteilnahmegebühr von £ 3.820 einhe-ben. Die Wohltätigkeitsorganisation erhält somit Spenden in Höhe des minimalenSpendenbetrags abzüglich des Satzes zur Deckung der Veranstaltungskosten. Von da-rüber hinaus erzielten Erfolgen bei der Spendenmittelbeschaffung profitiert zu100% die Wohltätigkeitsorganisation.

David weiß, dass ein guter, professioneller Webauftritt essenziell für den Erfolgseiner Geschäftsidee ist. Einer seiner Freunde ist bereit, für £ 2.500 eine einfacheWebsite zu gestalten. Da seine Website aber über zusätzliche Funktionen verfügensoll, rechnet er mit höheren Kosten. Er ist davon überzeugt, dass mittels einer einfa-chen Schritt-für-Schritt-Vorgehensweise selbst Personen mit dürftigen Computer-kenntnissen in der Lage wären, eine Veranstaltung zu buchen. Seinen Notizen fürdas Meeting mit seinem Business Mentor fügt er hinzu, dass ein Beispiel für ein sol-ches Schritt-für-Schritt-Prozedere auf www.charitychallenge.com zu finden sei. Da-rauf beruhend konstruiert er für seine Website folgenden Ansatz in sieben Schritten:

Schritt 1: Auswahl einer VeranstaltungEine Wahl bezüglich Ausflugsart, -dauer, Schwierigkeitsgrad, Zahlungsoption undzu unterstützender Wohltätigkeitsorganisation wird getroffen. Zuvor sollen sich dieTeilnehmer anhand der Veranstaltungsprospekte und der darin enthaltenen Fragen-und Antwortensektion ein ausführliches Bild über die spezifische Veranstaltung undderen Rahmenbedingungen und Programminhalte machen können. So sollen Kun-denzufriedenheit und eine größtmögliche Übereinstimmung zwischen den persön-lichen Erwartungen der Kunden und der Veranstaltung sichergestellt werden.

Schritt 2: VeranstaltungsbuchungDavid entscheidet sich für die Abwicklung von Buchungen über das Internet. Dieserscheint ihm als eine unkomplizierte und schnelle Methode. Die Teilnehmer gebendabei persönliche Informationen zur Kontaktaufnahme und ihrem Gesundheitszu-stand bekannt. Insbesondere wird auch erhoben, ob Allergien oder Nahrungsmittel-unverträglichkeiten vorliegen, die es zu berücksichtigen gilt. Zudem müssen CharityVoyage Kontaktdaten nächster Angehöriger bekannt sein. Wenn die erforderlichenInformationen vollständig vorhanden sind, wird der Teilnehmer ersucht, über einensicheren Server die Zahlung zu tätigen.

Schritt 3: Prüfung der WohltätigkeitsorganisationNach Eingang von Buchung und Zahlung fragt Charity Voyage mittels E-Mail bei dervom Teilnehmer gewählten Non-Profit-Organisation an, ob man damit einverstan-den ist, dass der Teilnehmer in ihrem Namen Spenden sammelt. Solange keine Be-

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stätigung seitens der Organisation vorliegt, kann mit dem Buchungsprozess nichtfortgefahren werden.

Schritt 4: Onlinezugang zu den Ausflugs- und ProgrammdetailsWurde die Spendenbeschaffungsaktion von der Non-Profit-Organisation erstmal ge-nehmigt, erfolgt der Versand einer E-Mail mit Zugangsdaten zum persönlichen Mit-gliedsbereich an die Teilnehmer. Dort findet man dann nähere Details zum Ablaufder Veranstaltung sowie verschiedene Formulare, Ideen für Spendenaktionen, Trai-ningspläne, Informationen zur benötigten Ausrüstung und vieles mehr.

Schritt 5: Fälligkeitsdatum der SpendenbeschaffungSpätestens zehn Wochen vor Veranstaltungsbeginn sollen alle Spenden- und Fund-raisingaktionen abgeschlossen, die Zahlung des Mindestspendenbetrags, unter Be-rücksichtigung der flexi- oder minimum-Sponsorship-Option erfolgt und auf demKonto der unterstützten Organisation eingegangen sein.

Schritt 6: Informationsupdate der TeilnehmerEinen Monat vor Beginn stellt Charity Voyage den Besuchern alle weiteren zur Teil-nahme an der Veranstaltung benötigten Daten online zum Download zur Verfügung.Neben Informationen zum genauen Ablauf und Treffpunkt der Teams enthält diesesDokument auch wichtige Kontaktinformationen.

Schritt 7: Teilnahme an der VeranstaltungNachdem die Spendenaktionen und Trainingsmaßnahmen erfolgreich abgeschlos-sen wurden, müssen die Teilnehmer nun nur noch dem Ausflug selbst und dem Klet-tervergnügen beiwohnen. Bei ihrer Rückkehr mit vielen Bildern und Erinnerungenvom Ausflug senden sie idealerweise noch ein Dankesschreiben an die Spender undUnterstützer der Veranstaltung.

Da weiterhin viele Fragen offenbleiben, weiß David, dass er seine bisherigen Er-gebnisse weiter strukturieren und mit Informationen untermauern muss. Nach wievor hat er beispielsweise keine Antwort auf die Frage, was geschieht, wenn es jeman-dem nicht gelingt, die Mindestteilnahmegebühr (bzw. den Minimum-Spendenbe-trag) aufzutreiben. Dennoch waren die bisherigen Analysen zur Vorgabe eines gro-ben Rahmens und der Vorgehensweise für die Organisation seiner Ausflüge nützlich.Anfallende administrative Tätigkeiten möchte David nach einem vorgegebenen Sys-tem möglichst automatisiert und papierlos durchführen, wenngleich dies auch hö-here Anforderungen an die Website stellt und Mehrkosten nach sich zieht, die Davidbei der bisherigen Planung noch nicht vorgesehen hat.

Auf der Website www.mycharity.ie ist verzeichnet, dass in Irland in der Vergan-genheit für rund 270 unterschiedliche Non-Profit-Organisationen Spendenaktionenabgehalten wurden. Durch diese Information kann sich David ein ungefähres Bildseines Zielmarktes und dessen Größe verschaffen, obwohl die Website kein vollstän-diges Verzeichnis seiner Mitbewerber liefert. Große Probleme bereitete ihm die Su-che nach Daten zu den jährlichen Spendenausgaben der Iren und Informationen zuden jeweiligen Marktsegmenten. Er fand keine aktuellen Studien oder Berichte zum

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Non-Profit-Markt, die ihm bei der Festlegung seiner Marketingstrategie geholfenhätten. Es gab auch niemand genaue Informationen über die Finanzen seines Unter-nehmens preis, was wiederum die Entscheidung für eine Finanzierungsart und Fi-nanzstrategie für David erschwerte. Er wusste, er müsste mehr wissen!

Nach den vorangegangenen Marktanalysen wollte David sich nun der offenenFragestellungen annehmen und Personen, die mit der Spendenbeschaffung fürWohltätigkeitsorganisationen betraut sind, zu ihrer Tätigkeit befragen. Von diesenGesprächen erhoffte sich David ein besseres Verständnis seiner Zielgruppe, den Teil-nehmern, die sich spannende Erlebnisse von bleibender Erinnerung erwarteten, vondenen nicht nur sie persönlich, sondern auch Bedürftige profitierten. Die Befragun-gen halfen David bei der Festlegung seiner anvisierten Zielklientel:1. Abenteuerlustige StudentInnen, die einen aufregenden Tag im Freien erleben und

dabei zum gesellschaftlichen Allgemeinwohl beitragen wollen. Diese Zielgruppeplant David zu erreichen, indem er nach vorherigem Versand eines Schreibensmit Informationen über Charity Voyage samt beiliegender Programmübersichtan Studentenvereinigungen und -organisationen die Studenten zwei Wochen spä-ter telefonisch kontaktiert.

2. Kleine Non-Profit-Organisationen, die ein Team bestehend aus Mitarbeitern undAnhängern bei einem von Charity Voyages Events antreten lassen möchten. Die-sen rund 100 Organisationen möchte David einen Brief und Broschüren mit In-formationen über sein Veranstaltungsangebot und die Preise zukommen lassen.In weiterer Folge möchte er die zuvor angeschriebenen Organisationen telefo-nisch kontaktieren und diese so für die Teilnahme an einer von Charity VoyagesVeranstaltungen begeistern.

3. Große irische Wohltätigkeitsorganisationen wie etwa Barnardos, Irish Cancer So-ciety, AWARE oder die Simon Community möchte er als langfristige Kunden ge-winnen.

David weiß, er würde seine bisherigen Überlegungen zu Marktsegmentierung undEintritt ausführlicher gestalten und sein Zielklientel weiter differenzieren und dabeiSchwerpunkte setzen müssen. Nach welchen Kriterien er dabei vorgehen soll und woer für sein weiteres Vorgehen notwendige Informationen findet, ist noch unklar.

9.4 SWOT-Analyse von Charity Voyage

Um auf die eventuell zu erwartenden Herausforderungen besser vorbereitet zu sein,hat sein Business Mentor David empfohlen bis zum nächsten Treffen eine SWOT-Analyse durchzuführen. David hatte Schwierigkeiten damit, die geforderte Anzahlan Unterpunkten je Kategorie zu generieren. Er dachte darüber nach, mittels Brain-stormings in der Gruppe, dem Klassiker unter den Kreativitätsmethoden, zu einembesseren Ergebnis zu finden. Stattdessen entschied er aber letztlich dafür, lediglicheinige kurze Notizen zu machen und kam so bei der SWOT-Analyse zu folgendemErgebnis:

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9.4.1 Stärken

Charity Voyages Hauptstärke liegt darin, dass bei der Six of the Best Challenge im Ver-gleich zur 4 Peaks Challenge des Mitbewerbers Focus Irelands in derselben Zeitpe-riode zwei zusätzliche Berge von Teams erklommen werden können. Das macht eszu einer besonderen Herausforderung, insbesondere für Personen, die bereits ander 4 Peaks Challenge teilgenommen haben.

Weiterhin unterscheidet sichCharity Voyage von denMitbewerbern, indemdie Er-lösemehreren – anstatt lediglich einzelnen –Non-Profit-Organisationen zugutekom-men, wie dies z. B. bei Focus Ireland der Fall ist. Das heißt weiter, David kann etwa eineVeranstaltung zugunsten der Irish Cancer Society abhalten und mit der Ausrichtunganderer das Engagement etwa der Simon Community,Barnardos u. a. fördern. Das ver-schafft Charity Voyage gegenüber Focus Ireland einen Vorteil: Die Teilnehmer könnenje nach Interesse selbst bestimmen, welche Organisation sie unterstützenmöchten.

David könnte auch öffentliche Veranstaltungen oderMultiple Charity Events statt-finden lassen. Dabei wird das Event nicht als Fundraising-Aktion für eine bestimmteNon-Profit-Organsation abgehalten, sondern von einzelnen von verschiedenen Or-ganisationen Abgesandten besucht. So können bis zu acht Teams an ein und dersel-ben Veranstaltung teilnehmen und Spendengelder für ebenso viele Non-Profit-Orga-nisationen akquirieren oder alternativ gar keine Spenden beschaffen und lediglichdie Event-Teilnahmegebühr entrichten. David sieht sich mit Charity Voyage gegen-über der Konkurrenz insbesondere deswegen im Vorteil, weil die Besucher seinerVeranstaltungen Fundraising für kleine Non-Profit-Organisationen und Vereine be-treiben können – solche, die sich eine Teilnahme an den kostspieligen, internationa-len Strecken nicht leisten können und von großen Veranstaltern aufgrund ihres rela-tiv kleinen Unterstützerkreises vernachlässigt werden.

Eine von Davids Stärken liegt in seiner Erfahrung mit Touren zu Spendenzwe-cken. Dadurch weiß er, wie man am besten Spenden akquiriert und kann so die Per-sonen, die sich für Six of the Best interessieren, optimal beraten.

9.4.2 Schwächen

Seine größte Schwäche sieht David in seinen mangelhaften Marktkenntnissen undder branchenunterdurchschnittliche Größe von Charity Voyage. Dies könnte insbe-sondere dann zu Schwierigkeiten führen, wenn es darum geht, innerhalb der Kun-den Interesse für Charity Voyages Angebot zu schüren und sich als ebenbürtiger Teil-nehmer in der Organisatorenlandschaft und am Markt zu profilieren.

Eine weitere Problematik repräsentiert Davids finanzielle Situation. CharityVoyage ist ein junges, mit wenig Startkapital ausgestattetes Unternehmen, das auf-grund der kleinen Größe eventuelle Liquiditätsengpässe nicht so unbeschadet über-winden würde wie größere Unternehmen mit einer soliden finanziellen Basis. Voneinem Liquiditätsengpass wären alle Unternehmensbereiche betroffen, was wiede-rum nicht zuletzt auch negative Auswirkungen auf die öffentliche Glaubwürdigkeitvon Charity Voyage und den Erfolg der Werbemaßnahmen zur Konsequenz hätte.

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David ist sich unschlüssig, ob er seine Behinderung auch als Schwäche anführensollte, zumal sie etwas ist, das nicht er selbst, sondern Andere als Schwäche wahrneh-men. Er sieht sich als mühelos in der Lage, das Unternehmen in geordneten Bahnenzu führen, und auch die geplanten Klettertouren stellen ihn grundsätzlich vor keineProbleme. Nichtsdestotrotz weiß David über seine Wirkung bei der persönlichen Be-gegnung mit Menschen, die ihn danach häufig auf seine körperlichen Beeinträchti-gungen reduzieren. Deshalb überlegt er, einen Geschäftspartner zu suchen, der ihmbei der Repräsentation des Unternehmens helfen soll, während er im Hintergrunddie Fäden zieht.

9.4.2.1 ChancenIn seinen guten Kenntnissen des Bergsteigermilieus und regem Kontakt zu Schlüssel-akteuren entdeckt David die Chance, die notwendigen Ressourcen und Kenntnissefür sich nutzbar machen und eine erlebnisreiche, zugleich aber auch sichere Six of theBest Challenge veranstalten zu können. Künftig könnteCharity Voyage seine Angebots-palette erweitern und zusätzliche Disziplinen und internationale Routen anbieten.

Eine große, von den Konkurrenten bislang unergriffene Chance sieht David in derVeranstaltung von Spendenaktionen für Sport- und andere, kleine Vereine. Für diesesind jährlich stattfindende Spendenaktionen häufig überlebensnotwendig und den-nochwird dieser Bereich bisher von keiner Organisation bedient. Er könnte sich aucheine Veranstaltung, bei der behinderteMenschen gegen gesunde antreten, vorstellen.

David glaubt, Sponsorship-Verträge mit ein oder zwei Hauptsponsoren wie RedBull, Lowe Alpine oder Outdoor Exchange – Unternehmen die maßgeblich mit Frei-luft- und Ausdaueraktivitäten in Verbindung gebracht werden – sichern zu können.Wenn es ihm gelingt, von jedem Sponsor € 12.000 zu erhalten, könnte er jeder seinervier geplanten Veranstaltungen € 3.000 zuteilen.

9.4.2.2 BedrohungenDie größte Gefahr stellt augenscheinlich die Rezession, die Irland momentan durch-läuft, dar. Kaufkraft und Spendenbereitschaft der Iren waren in den vergangenenJahren deutlich rückläufig. Viele würden zwar gerne spenden, können es aber nicht,weil ihnen de facto weniger Geld zur Verfügung steht. David glaubt, dass diese Krisein ein bis zwei Jahren überstanden sei und die Iren dann wieder spendenwilliger seinwürden. Dies hält er für den passenden Zeitpunkt für Charity Voyages Markteintritt.Bis neue, bessere Zeiten anbrechen, will David Charity Voyage erfolgreich am heimi-schen Markt positioniert haben.

Eine weitere Bedrohung sind, insbesondere in den Anfangsjahren, die Mitbewer-ber, die ihren Kunden ein wesentlich größeres Angebot anbieten können und übermehr Kontakte und Branchenkenntnisse verfügen.

Am Ende seiner SWOT-Analyse angekommen, weiß David, dass er sie noch umeinige Punkte erweitern müsste. Er beschließt, die Analyse bei seinem nächsten Tref-fen mit seinem Business Mentor ausführlicher zu gestalten. Das ist ein Teil der Aufga-ben seines Mentors beim Business Mentoring-Programm, an dem er teilnimmt. Erwollte lieber an diesem, als an einem anderen Programm für Jungunternehmer, dasvon derWirtschaftskammer angebotenwird, teilnehmen. Nach den ersten beiden ge-

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meinsamen Treffen hat David das Gefühl, sein Business Mentor hätte gutes Verständ-nis für seine Situation und Ziele und fühlt sich von ihm hervorragend beraten.

9.5 Finanzen

David weiß, dass für Verwaltung und Betrieb von Charity Voyage hohe Kosten anfal-len würden. Glücklicherweise könnte er sein Unternehmen vom Haus seiner Mutteraus führen. Deshalb würden keine Kosten für Miete, Heizung, Betriebskosten undMobiliar anfallen, sehr wohl aber welche für Werbung, Versicherung, Benzin und Te-lefon, die er auf € 80 pro Monat schätzt, Privatgespräche eingeschlossen. 75% davonwill er maximal für Geschäftsgespräche aufwenden. Sein Business Mentor hält diesePrognose für zu optimistisch und würde sie drei Mal höher ansetzen, da David beiseinen Berechnungen keine Internetgebühren berücksichtigt hatte.

Außer diesen Fixkosten kämen noch weitere hinzu. David möchte – einmalig zurEröffnung von Charity Voyage – den 270 Non-Profit-Organisationen, die den voran-gegangenen Analysen nach seinen Zielmarkt bilden, ein Infopaket zukommen lassen.Es würde neben einem Brief mit der Beschreibung von Charity Voyages Firmenge-schichte und -philosophie eine farbenfrohe Broschüre mit einer Veranstaltungsüber-sicht und Informationen zu den vier angebotenen Touren sowie eine Visitenkarte mitDavids Kontaktdaten beinhalten. Für die dafür anfallenden Material- und Arbeits-kosten hat er noch keine Kostenvoranschläge eingeholt. Beruhend auf Schätzungenglaubt David, mindestens € 5.000 für die Erstellung und den Versand des Infopaketeszu benötigen. Alle veranschlagten Fixkosten möchte er prozentual auf die vier ange-botenen Veranstaltungen verteilen.

Nach Erstellung einer Kostenträgerrechnung, der Aufschlüsselung der auf die je-weilige Veranstaltung anfallenden Kosten, wird David schnell klar, dass er sich keinegroßen Abweichungen vom Planbudget erlauben kann. Basierend auf Daten von Ver-anstaltungen, an denen er selbst teilgenommen hat, nimmt er für Six of the Best deluxefolgende Kostenschätzung vor (basierend auf 40 Teilnehmern und 4 Bergführern).

Nach neuerlicher Durchsicht der Zahlen von einem befreundeten Buchhalterstellt David fest, dass er in seiner Tabelle keine Kosten für den Bustransport berück-sichtigt hat. Zudem hat er die Kosten für die Bergführer, die er für € 90 pro Personund Tag veranschlagt hat, zu niedrig angenommen. Sein Freund weist in auch daraufhin, dass er den Teilnehmern des Deluxe-Modells, insbesondere im Hinblick auf Un-terkunft und Verpflegung, wenig zu bieten hatte. Er zeigt auch auf, dass, basierendauf einem Mindestspendenbetrag von € 4.500, wovon 40% Charity Voyage zufließensollen, jeder Teilnehmer € 1.800 zur Deckung der Organisationskosten beitragenwürde. Legt man diesen Zahlen Davids Annahme, dass 40 Personen an einer Veran-staltung teilnehmen, zugrunde, würde das in einem Gewinn vor Steuern pro Veran-staltung von € 66.287 (72.000 – 5.713) resultieren. Sein Freund meint, es handeltsich um eine in dieser Form einzigartige Geschäftsgelegenheit oder um einen Fehlerin Davids Berechnungen – anders könne er sich seine äußerst positiven Zahlen nichterklären.

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Tab. 1: Kostenprognose für Six of the Best deluxe

Gegenstand Einheit Kosten (in €)

Hostel für € 25/Nacht 2 Nächte 2.200

Treibstoff 1 Bus 200

Bergführer 4 1.080

Wasser 480 Liter 160

Tee 1 Schachtel 4

Kaffee 1 Schachtel 4

Sandwiches € 5 pro Kopf x 3 Tage 660

Eintopf € 5 pro Kopf x 3 Tage 660

Äpfel 1 Kiste zu 100 Stück 20

Orangen 1 Kiste zu 100 Stück 20

Müsliriegel 2 Schachteln je 48 Stück 45

Summe 5.713

Nach weiteren Gesprächen mit seinem Buchhalter stellt David fest, dass seine Zahlenstimmen. Sicherlich wären nur zwei Nächtigungen in Hotels nötig – die Veranstal-tungen würden jeweils Freitagmorgens um 10 Uhr nach einer kurzen Sicherheitsun-terweisung beginnen. Im Anschluss daran standen neun Stunden zur Verfügung. Indieser Zeit sollte es selbst den langsamsten Teams möglich sein, beide Berge zu be-steigen – vorausgesetzt, die Teilnehmer haben den Trainingsplan eingehalten und be-finden sich in einem entsprechend guten gesundheitlichen Zustand. Anschließendsollte noch ausreichend Zeit sein, um den Transfer zum Nächtigungs- und gleichzei-tig Austragungsort des nächsten Tages, der etwa drei Stunden Autofahrt entferntliegt, sicherzustellen. Unter der Annahme, dass die Veranstaltung Sonntagabendsgegen 20 Uhr endet, hätten die Teilnehmer genügend Zeit, um den Heimweg oderden Weg zu einem selbst organisierten Hotel anzutreten. Telefonische Recherchenergaben, dass der durchschnittliche Preis für eine Nacht in einem der umliegendenHotels oder Hostels bei etwa € 25 pro Person liegt.

David beschließt, bei Six of the Best keine Transferleistungen einzuschließen. Je-des Team und jeder Teilnehmer soll selbst über Anreiseroute und -art entscheidenkönnen, unter der strengen Auflage, dass – aus Sicherheitsgründen – keine Fahreran der Six of the Best-Competition teilnehmen können. Es gibt weitere Gründe, diedagegen sprechen, einen Transfer von/zu den Veranstaltungen anzubieten:· Hohe Kosten stehen einem eher bescheidenen Nutzen gegenüber;· die Teilnehmer und Teams wären zu einem gegebenen Zeitpunkt an einen Ort ge-

bunden und nicht in der Lage, nach erfolgreichem Aufstieg eines Berges, mit demBesteigen des nächsten fortzufahren, was die Wettbewerbsfähigkeit der gesamtenVeranstaltung in Frage stellen würde;

· sollte David die An-/Abreise beispielsweise mit einem Bus organisieren, gingewertvolle Zeit auf Kosten der Veranstaltung verloren. Zudem müsste er erstmaleinen geeigneten Treffpunkt finden, wo alle Teilnehmer mehrere Tage lang mög-lichst günstig oder kostenlos parken könnten.

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Nachdem er diese Einwände erneut überdacht hatte, fasst David den Entschluss, wiesein Konkurrent Focus Ireland vorzugehen und die Verantwortung über die Organi-sation eines adäquaten Transports beim Einzelnen bzw. Team zu belassen.

David hat in den letzten Jahren ein eher genügsames Leben geführt und konnteso etwa € 5.300 ansparen. Obwohl er ursprünglich gehofft hatte, das Geld in einneues Auto investieren zu können – sein jetziges war in die Jahre gekommen – infor-mierte er sich beim örtlichen Arbeitnehmerverband darüber, welche Möglichkeitenes zur Finanzierung seines Unternehmens gibt und ob er für ein staatliches, geringverzinstes Gründungsdarlehen oder eine -förderung infrage kommt. Leider mussteer dabei feststellen, dass es darum schlecht bestellt ist, wenngleich er die Möglichkeit,doch noch von Tourism Ireland in Form eines Zuschusses zum Gründungskapitalunterstützt zu werden, nicht ganz ausschließt (die Organisation selbst allerdingsmeinte, die Chancen dafür stünden schlecht). Bei der momentanen wirtschaftlichenLage im Land würde es David schwerfallen, einen Bankmanager davon zu überzeu-gen, ihm für sein – eher als riskant einzuschätzendes –Unternehmen einen Kredit zugewähren. Die Tatsache, dass er über kein nennenswertes Eigenkapital verfügte, daser als Sicherheit anbieten könnte, erschwerte seine Suche nach einem Kapitalgeberzusätzlich. Damals wie heute ist seine Familie David in vielerlei Hinsicht eine großeStütze, und so glaubt er, dass sie ihm auch dieses Mal helfen würde. Konkret hofft erdabei, seine Familie würde sein Vorhaben finanziell unterstützen und auf diese Weise(bestenfalls) € 6.000 zur Verfügung stellen. Insgesamt würde sich Davids Startkapitalso auf € 11.300 belaufen; ob das reichen würde, wusste er nicht.

9.6 Geschäftstätigkeit

Six of the Best soll Charity Voyages Zugpferd und zugleich bestbesuchte Veranstaltungwerden. Sie ist als dreitägiger Ausflug, der an drei verschiedenen Austragungsortenbzw. Gebirgsregionen abgehalten wird, konzipiert. Zu jenen gehören Down, Wick-low sowie Kerry. Die verbliebenen Veranstaltungen plant David aufgrund ihrer un-mittelbaren Nähe zu seinem Firmensitz in der Umgebung von Dundalk, entwederin Down oder in Wicklow, abzuhalten, obwohl er sich nach wie vor auch noch aufder Suche nach einem passenden Veranstaltungsort im Westen Irlands befindet, umauch potenzielle Kunden aus diesen Regionen anzusprechen und auf eventuelleNachfragen entsprechend reagieren zu können.

Den Großteil der Unternehmenskorrespondenz und -kommunikation möchteDavid via Mobiltelefon und E-Mail abwickeln. Die Öffnungszeiten und genaueLage der Charity Voyages-Geschäftsstelle muss David erst festlegen. Fest steht, in Zu-kunft würde David – unabhängig vom genauen Ort – insbesondere in Tagen unmit-telbar vor Abhaltung der Veranstaltungen in ständiger Einsatzbereitschaft für seinUnternehmen, anstatt zu vorgegebenen Zeiten in einem Büro anwesend sein undsich zwischen den einzelnen Events immer wieder ausgiebige Ruhephasen gönnenmüssen. Es würde eine Menge Disziplin erfordern, da im Haus seiner Mutter (Cha-rity Voyages Firmensitz) aufgrund ihrer eigenen Unternehmenstätigkeit zahlreiche

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Thomas Cooney 159

potenzielle Störfaktoren lauern und die Möglichkeit sich abzulenken ständig gege-ben ist.

Während jeder Veranstaltung würde Charity Voyage Erfrischungsgetränke wieWasser, Tee und Kaffee zur Verfügung stellen. Zudem würde ein Team professionel-ler Bergführer dafür sorgen, dass die Teilnehmer sicher den Gipfel erreichen. JedesBergführerteam soll eine Gruppe von ungefähr zehn Teilnehmern betreuen. Davidzieht weiterhin in Erwägung, den professionellen Bergführern erfahrene Freiwilligezur Seite zu stellen, die bei den Touren unterstützend tätig sein sollen. Die Bergfüh-rer müssen entsprechende Qualifikationen aufweisen und zuvor all jene Kurse absol-viert und Standards erfüllt haben, die von Mountaineering Ireland verlangt werden,um zur Durchführung von Bergtouren für Personengruppen zugelassen zu werden.Zudem muss jeder Bergführer ein gültiges Erste-Hilfe-Zertifikat vorweisen können,um im Notfall bis zum Eintreffen der Bergrettung hinreichende Maßnahmen ergrei-fen zu können. Vorab will David alle involvierten Bergrettungsstützpunkte aufsu-chen und die Teams über Charity Voyages geplante Touren und Routen in Kenntnissetzen. Rechtzeitig vor der Abhaltung einer Veranstaltung würde er den Bergret-tungsteams detaillierte Informationen in Form von genauen Daten, Zeiten, Treff-punkten sowie Teilnehmerzahl zukommen lassen. So wäre auch für den Ernstfallvorgesorgt.

9.7 Fazit

David hat das Gefühl, bei der Planung seines Unternehmens Fortschritte zu machen,obwohl noch immer eine Menge Arbeit auf ihn wartet. Insbesondere seitdem DavidsBuchhalter Zweifel an seinen Berechnungen geäußert hat, ist er sich nicht mehrsicher, ob seine Geschäftsidee realisierbar sein würde. Außerdem weiß David nicht,wie die einmaligen und laufenden Kosten seines Unternehmens gedeckt werdenbzw. wie Charity Voyage finanziert werden soll. Zum jetzigen Zeitpunkt hat es denAnschein, als wäre Davids Privatvermögen alles, was ihm zur Absicherung seines Un-ternehmens zur Verfügung steht. Zusätzlich bleiben immer noch die Fragen offen,welche anderen Veranstaltungen er abhalten könnte, welche Organisationen und Per-sonen er dabei zuerst adressieren und wie viele Mittel er für die Erstellung einer Web-site und für Werbung aufbringen sollte. Ferner gilt es zu klären, welche Unterkunfts-art er seinen Gästen anbieten möchte. Primär aber stellt sich die Frage, ob Davideinen Partner – jemanden, der das Unternehmen nach außen vertreten und gleichzei-tig unternehmerisches Wissen, Fertigkeiten und Geld ins Unternehmen einbringt –mit ins Boot holen sollte.

In Vorbereitung auf sein nächstes Treffen mit seinem Business Mentor versuchtDavid zu eruieren, welche zusätzlichen Informationen er benötigt. Da erhält er über-raschend einen Anruf vom Manager des Mentoring-Programms mit einer schreck-lichen Nachricht: Davids Business Mentor war am Vortag unerwartet verstorben.Der Mentor war ein erfolgreicher Geschäftsmann Anfang Fünfzig, der erst kürzlichdamit begonnen hatte, die Früchte seiner langjährigen harten Arbeit zu genießen. Er

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160 9 David Lysaght (Irland)

hinterlässt Frau und Kinder. Dieses Ereignis stimmt David sehr nachdenklich underinnert ihn einmal mehr daran, sein Leben voll auszukosten. Man weiß eben nie,was das Leben als Nächstes für einen parat hält.

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10Tecnomodel (Italien)

Luca Landoli, Marco Cucculelli, Ayman E. Tarabishy & Roberto Parente

10.1 Einleitung

Tecnomodel wurde in den frühen 1990er Jahren gegründet, als Daniele Scotucci undDaniela Funari geheiratet hatten. Zu der Zeit hatten beide bereits eine Karriere in derSchuhindustrie hinter sich. Angesichts ihrer Ehe und ihrer gemeinsamen Passion fürdas selbständige Unternehmertum hatten sie entschieden, ein eigenes neues Unter-nehmen zu gründen, das ihre technischen und kreativen Talente vereinte. Sie wolltenein erfolgreiches Unternehmen mit dem Fokus auf einem neuartigen Prozess in De-sign und Herstellung von exklusiven Schuhen in Italien schaffen.

Tecnomodel ist ein hochwertiges Dienstleistungsunternehmen und hat eine klardefinierte Wettbewerbsposition im Markt für erstklassige Schuhe. Es ist ein One-stop-shop, der die Kreativität berühmter Designer bündelt. Das Unternehmen wan-delt eine Idee für ein Design in Computerdarstellungen um, die dann wiederum inkonkrete Herstellungsschritte mit geschätzten Herstellungskosten und die Anforde-rungen an das Grundmaterial umgerechnet werden. Schließlich wird ein Prototypdes Modells entwickelt, der angefasst und getragen werden kann. Das alles ist ineinem Bruchteil an Zeit machbar, den andere Firmen im traditionellen Prozess be-nötigen. „Von der Ideengewinnung über den Projektprozess bis zu einem funktionellenPrototyp“, so könnte man die einfache, aber wirksame Logik des Dienstleistungsan-gebots des Unternehmens beschreiben.

Der Prozess beginnt mit der Umsetzung eines Schuhentwurfs in eine CAD/CAM-Anwendung und endet mit der Erstellung eines Prototyps zusammen mit einer elekt-ronischen Gebrauchsanweisung, die alle relevanten Informationen bezüglich der De-tails für eine Produktion im großen Maßstab enthält. Diese Innovation war einDurchbruch in der traditionellen Fertigungskette der Schuhindustrie. Das Unterneh-menskonzept Tecnomodel erlaubt etabliertenMarkendesignern, die explorative Phasevon der Herstellungsphase zu trennen, und gibt Designern die Möglichkeit, hoheQualitätsstandards zu behalten und gleichzeitig die Produktionskosten zu kontrollie-ren.

Nach der starkenWachstumsphase dachten die Unternehmer gegen Ende des Jah-res 2009, dass sie über eine neue Wachstumsstrategie nachdenken mussten, wenn sieihr Unternehmenweiter entwickeln wollten. Drei unterschiedliche Optionenwurdendiskutiert:1. Neue Dienstleistungen anbieten,2. In neue Märkte einsteigen,3. Einen vertikalen Integrationsprozess starten.

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Jede dieser Optionen hat ihre Stärken und Schwächen, und das Treffen einer Ent-scheidung war insofern komplex. Die Unternehmer wollten herausfinden, „welchedieser Optionen Tecnomodel die Möglichkeit für ein lang anhaltendes Wachstum bietenkönnte.“ Daniele wollte eine Entscheidung möglichst zeitnah treffen. Daniela warvorsichtiger als er, da sie nicht völlig davon überzeugt war, sich entlang dieser dreiOptionen weiterzuentwickeln.

10.2 Der Schuh: Eines der komplexesten Modeprodukte

Der Schuh gehört zu den höchst komplexen stilistischen Produkten mit Blick auf De-sign und Produktion, angefangen von der planerisch-handwerklichen Phase bis zumHerstellungsprozess. Verglichen mit anderen Modeprodukten wird der Schuh tat-sächlich als das herausforderndste Produkt angesehen. Das erste Element an Komple-xität betrifft die große Anzahl der verwendeten Komponenten und deren potenzielleVielfalt. Besonders bei Damen-Modeschuhen ist das realisierte Produkt das Resultateiner Auswahl unter mehr als 200 Elementen. Ein genauer Blick auf die Designerkrea-tion hebt die große Bandbreite der herangezogenen Elemente hervor. Sie schließendabei Leder unterschiedlicher Stärken und Farben, synthetische Materialien, Reiß-verschlüsse, Stoffe, Details aus Metall usw. ein. Im Gegensatz zu anderen Beklei-dungsprodukten hat der Schuh eine dreidimensionale Ausprägung, die mit derselbenPräzision in allen Größen exakt reproduziert und hergestellt werden muss. Planungund Design des Schuhs betreffen weiterhin nicht nur das Problem der Machbarkeitdes Produktes unter industriellem Blickwinkel, sondern auch den kritischen Punktder Qualität, der im ergonomischen Profil des Musters enthalten ist. Kein anderesModeprodukt muss sich solch einer mechanischen Belastung und Präzision unterzie-hen, wie das beim Fuß der Fall ist, auf den eine Person all ihr Gewicht legt, wenn siesteht. Wenn der Schuh nicht gut gemacht ist, werden seine Fehler sofort sichtbar undfühlbar. Der Gesamtprozess der Planung und Entwicklung beginnt mit der kreativenTätigkeit des Designers, der eine Abbildung auf ein Stück Papier zeichnet. Leider wer-den Designer oft ausschließlich von ihrem kreativen Impuls geleitet und können dasGanze oft nicht bis zur Realisierung des Produktes, der ergonomischen Qualität oderder Relevanz der Produktionskosten durchdenken.

In den frühen 1990er Jahren wurde die computergestützte Technologie in die tra-ditionelle Herstellung der Modeindustrie eingeführt. Man begann, intensiv mitCAD-CAM, computergestütztem Design und Herstellung, zu arbeiten, vor allem ingrößeren Unternehmen in der Modeindustrie. Leider schuf die Integration compu-terbasierter Technologien im speziellen Bereich der Schuhindustrie eine Reihe vonSchwierigkeiten für einen effektiven Gebrauch. Vor allem waren es zwei Haupt-hemmnisse, nämlich das dreidimensionale Exterieur des fertigen Produktes und dieEntwicklung der Größen. Diese konnte nicht in Form eines proportionalen Zuwach-ses von einer zur nächsten Größe ausgedrückt werden, sondern hatte ihre eigeneKlassifizierung an absoluten Werten (6,6mm in europäischen Größen, 8,4mm inden USA). Die Phasen vom Planen zum Entwickeln des Schuhmodells und vom

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Schneiden des Schuhs blieben deshalb getrennt von der folgenden eher mechani-schen Phase des Nähens und Zusammenbaus. Als Resultat blieben die Kenntnisseder Arbeiter im Optimieren dieser Arbeitsphasen von Planung, Entwicklung undAusführung entscheidend. Diese Kenntnisse wurden durch eine lange Ausbildungs-zeit mit erfahrenen Arbeitern möglich gemacht, was zu spezialisiertem Know-howführte, das in der Arbeit nur schwer festgeschrieben und vermittelt werden kann.Dieses implizite Wissen der Arbeiter war tatsächlich schwierig, in explizites Wissenzu übersetzten.

Weil es bei Schuhen so viele Schwierigkeiten gibt, behielten die größeren Herstel-ler von numerisch kontrollierten Maschinen (z. B. bei Nähmaschinen), die die Mo-deindustrie bedienten, ihren Hauptschwerpunkt auf der Textilindustrie. Unter denvielen Herstellern von Maschinen für die Modeherstellung war ein japanisches Un-ternehmen mit dem Namen Brother, das sich als im höchsten Maße innovativ aus-zeichnete. Deren Nähmaschinen wurden als flexibel, technologisch fortgeschrittenund robust angesehen. Sie hatten mit ihren Nähmaschinen großen Erfolg und ex-portierten ihre Maschinen für die Produktion von Modeartikeln nach Italien. DerProzess des Nähens eines Bekleidungsstückes unterschied sich substanziell nichtvom Prozess des Nähens eines Schuhs und so konnten die Brother Nähmaschinenfür das Nähen des Schuhoberteils genutzt werden. Die Schwierigkeit in der Herstel-lung des Schuhs war die Programmierung der Nähmaschinen und der direkte Ge-brauch der Daten, die auf das Schneiden der Elemente abgestimmt waren. Wenndiese technische Schwierigkeit gelöst werden könnte, gäbe es eine starke Beschleuni-gung der Produktionskapazität und eine enorme Reduzierung der Kosten für Pla-nung und Entwicklung. Durch diese Möglichkeit angespornt, kaufte ein bedeuten-des italienisches Schuhunternehmen eine numerisch kontrollierte Nähmaschinemit dem Ziel, die Software der Maschine zu modifizieren und sie dann für dieSchuhproduktion zu gebrauchen. Zu der Zeit im Jahre 1992 hatte das Unternehmenmehr als € 65.000 für den Kauf der Maschine, die Computerprogramme und die bei-gefügte Software für das Nähen von Textilien ausgegeben. Der Besitzer des Schuhun-ternehmens hatte unbeabsichtigt gegenüber jungen Leuten aus der Provinz Mace-rata15 darüber gesprochen. Und sie hatten an dieser Sache ein gewisses Interessegezeigt. Daniela Scotucci besaß bereits einige Erfahrung und Ausbildung in der Ent-wicklung von Modemustern, während Daniele Scotucci fundierte Kenntnisse inSoftwareprogrammierung hatte. Die beiden waren das ideale Paar, eine solche He-rausforderung anzunehmen. Daniela und Daniele Scotucci waren im Begriff, die Un-ternehmer zu werden, welche das zukünftige Unternehmen Tecnomodel aus derTaufe hoben. Die wesentliche Idee war es, in einer einzigen Software die Programmefür die erste Schnittphase und die nachfolgende Nähphase zusammenzufassen.

Nach sechs Monaten unfruchtbarer Versuche und damit zusammenhängenderFrustration waren Daniele und Daniela an dem Punkt angelangt, aufgeben zu wol-

15 Macerata ist eine mittelgroße italienische Stadt im Herzen der Region Marche. In dieser Gegendgibt es eine lange Tradition an Schuhproduktion, die besonders stark in einigen industriellenClustern wie dem im Umkreis von Porto Sant’Elpidio ist. Porto Sant’Elpidio ist eine kleine Stadtan der Adria, wo Tecnomodel beheimatet ist.

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len. Es gelang ihnen nicht, die Maschine mit der entsprechenden Technologie für dieBedürfnisse der Schuhproduktion herzustellen. Nach vielen Monaten wiederholterAnstrengungen hatten sie dann den Durchbruch erreicht. Als ihnen schließlichglückte, mit einer einzigen Software ein großes rotes Band zu schneiden und zu nä-hen, dachten sie, an einemWendepunkt in ihrer beruflichen Laufbahn angekommenzu sein.

Als das japanische Unternehmen Brother herausfand, dass mehr als 90 ihrer ineinem Jahr nach Italien verkauften numerisch kontrollierten Maschinen an Schuh-hersteller (und nicht wie angenommen an Textilunternehmen) verkauft wurden,fragten sie sich, was passiert war. Und deshalb fuhren 1993 zwei japanische Ingeni-eure von Brother zu den Scotuccis und besuchten sie in deren Wohnung in Porto S.Elpidio. Daniele wurde vorab von der Firma folgendermaßen informiert:

„Auch wenn Sie die Software ohne Genehmigung entschlüsselt und verändert haben, sind wir nichthier, um Sie zu verklagen. Wir sind im Gegenteil hier, um die Möglichkeit für eine gemeinsame Ar-beit vorzuschlagen“.

Die Tätigkeit hätte darin bestanden, die Beschäftigten der internationalen Betriebevon Brother im Programmieren der Maschinen auszubilden, um sie für die Schuhbe-kleidungsindustrie einsetzen zu können. Obwohl das Angebot ökonomisch verlo-ckend war (mehr als € 15.000 monatlicher Nettoverdienst), schlugen der Scotuccisdas Angebot aus. Die nächsten fünf Jahre arbeiteten sie im Vollberuf als Program-mierer von Nähmaschinen, die für die Schuhherstellung konvertiert wurden, für pri-vatwirtschaftliche italienische Schuhunternehmen. Zu Beginn des neuen Jahrtau-sends hörten sie als Softwareunternehmensberater auf und gründeten Tecnomodel.

10.3 Die Gründung von Tecnomodel

Die beiden Jungunternehmer benötigten nun einen Durchbruch, und der nahelie-gendste Weg für sie war, in die Schuhbekleidungsindustrie einzusteigen. Auf diesemWeg gab es freilich viele Hindernisse, vor allem wegen des harten Wettbewerbs, derfür die Region bezeichnend war, da die Schuhbekleidungsindustrie die beruflicheHaupttätigkeit der Einwohner in Porto S. Elpidio war. Für Daniele und Daniela wardas eine ernsthafteHerausforderung, weil keiner von ihnen vorherWettbewerb direktkennengelernt hatte. Sie sahen wegen ihrer technischen Fähigkeiten in den vorherge-hendenUnternehmen denMarkt immer in einer hauptsächlichmonopolitischen Art.Sie verstanden, dass man innovativ sein muss, um differenzierte Angebote zu habenund unmittelbare Konkurrenz zu vermeiden und um im herstellenden Gewerbe letzt-lich konkurrieren zu können.

Die beiden verbrachten beträchtliche Zeit mit der Beobachtung der laufendenVeränderungen in der Industriestruktur und dem Verhalten der größeren Unterneh-men. Was als spezifisches Detail die Aufmerksamkeit der Scotuccis fand, war die stei-gende Bedeutung von unabhängigen Stylisten und Designern im Fußbekleidungsbe-

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reich. Indem sie wie „Modemacher“ agierten, bauten diese Designer ihren Einflussin nahezu allen prinzipiellen Modesektoren aus, einschließlich dem der Fußbeklei-dung. Diese selbständigen Designer sind prinzipiell nicht Eigentümer eines Unter-nehmens, sondern sie sind von unabhängigen Herstellern abhängig, die hauptsäch-lich Kleinunternehmen sind, die Prototypen und die nachfolgende Kollektionherstellen. Als Resultat von Globalisierung und dem Eintritt von osteuropäischenund asiatischen Ländern als Hersteller in der Modeindustrie begannen diese Mode-macher und auch größere Markenhersteller, diese neuen Länder als geeignete Ortezur Herstellung von großen Teilen ihrer Kollektionen anzusehen.

Wegen der Komplexität der Herstellung vom Design bis zur Herstellung gab eszwei wichtige Phasen des Produktionsprozesses, die sich gegen das Argument derAusgliederung der Industrie aus den traditionellen räumlichen Bezügen wandte: dasHerstellen des Prototyps und die Erstellung der Musterkollektion. Das Herstelleneines Prototyps einschließlich des Designs der Komponenten und des Entwickelnsder einzelnen Phasen, dem die sorgfältige Montage der Komponenten folgte, wurdeals eine hoch komplexe Arbeit angesehen. Für gute Stylisten gilt die Entwicklung einesPrototyps als eine der kritischsten Phasen des gesamten Prozesses beimErstellen einerKollektion. Die ästhetische Schönheit eines Produkts und die ihm eigene Qualität ma-chen den Kern aus, der von der kritischen Öffentlichkeit, die Modeschauen besucht,bewertet wird. Der Schuh wird außerhalb des Ateliers eines berühmten Designers ineiner industriellen Einrichtung produziert. Der Schuh muss ergonomisch und ein-fach zumontieren sein und die Einzelteile müssen auf demZulieferermarkt verfügbarsein. Schließlich muss der Schuh preislich für das angepeilte Marktsegment interes-sant sein und zur richtigen Zeit amMarkt platziert werden. Das erfordert eine häufigeInteraktion zwischen Designer und dem Unternehmen, das für die Entwicklung desPrototyps verantwortlich ist. Normalerweise sind sofortige Anpassungen am erstenEntwurf erforderlich, bevor das Produkt eingeführt wird. Als Resultat oft fast allesüber Nacht wieder neu zusammengestellt werden. Dieses verflochtene Beziehungs-netz zwischenHerstellung vonDesign und Prototyp, Berücksichtigung vonModifika-tionen und Überarbeitungen in letzter Minute bewirken einen zeitintensiven undschwierigen Prozess. Nachdem der Prototyp entwickelt und getestet wurde, stellt derHersteller einige Musterexemplare her (zwischen einem Dutzend bis zu einigen hun-dert Schuhen), die an das Verkaufsnetzwerk verteilt werden, um sie den Händlern zupräsentieren. Solche Muster sind ein Schlüsselinstrument zur Verkaufsförderung,weil die Produktion von Mustern in allerlei Farben mit verschiedenen Farbzusam-menstellungen und Accessoires es möglich macht, eine Reaktion des Marktes auf dieKollektion zu testen. Umgekehrt wird es denHerstellerfirmen dadurchmöglich, letzt-endlich die Kollektion zusammenzustellen, die hergestellt werden soll.

Bevor der globale internationale Handel so rapide zunahm, orderten ausländi-sche und italienische Markenhersteller normalerweise Prototypen und Muster voneiner Vielzahl von italienischen Herstellern. Diese Hersteller bezahlten Designerneinen deutlich niedrigeren Preis, weil diese Phase ein vorläufiger Schritt zu einemgrößeren Verkaufsabschluss war. Die Preise für Prototypen und Musterexemplarewaren sehr niedrig (nahe an den tatsächlichen Produktionskosten), weil dann grö-ßere Gewinnspannen von einer folgenden Großserienfertigung erwartet werden

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konnten. Dieser Mechanismus band die Markenfirmen, da sie die Hersteller einesursprünglichen Prototyps dann für die gesamte Kollektion einsetzen mussten. Au-ßerdem wurden Firmen in Niedriglohn-Ländern von Markenunternehmen nur füreinen Teil der gesamten Kollektion beauftragt. Sie machten „Reverse Engineering“für die Musterexemplare, bevor die Produktion gestartet wurde, in der sie den Schuhin seine Komponenten zerlegten, um ihn kopieren zu können.

Dieser Wandel, die Globalisierung der Märkte und die räumliche Auflösung derProduktionsaktivitäten bei gleichzeitig erhöhtem Risiko für traditionelle Herstellerin Italien konnte für Tecnomodel eine außerordentliche Unternehmenschance sein.

Die Unternehmensidee der Scotuccis war es, Prototypen von hoher Qualität inVerbindung mit weiteren Dienstleistungen, die sich später als Wettbewerbsvorteilfür die wachsende Unternehmung erweisen würden, für die wesentlichen Akteure inder Modeindustrie zu erstellen. Tecnomodel bot mit anderen Worten nicht nur einenPrototyp und entsprechendeMusterexemplare, sondern auch eine Anzahl an elektro-nischen Dateien an, die alle Informationen enthielten, wie der Schuh zu produzierenist, welche Ledereigenschaften und andere Komponenten benutzt werden müssenund außerdem eine detaillierte Kostenanalyse für das Produkt. Diese elektronische„Orientierungskarte“ konnte sofort zu jedem Hersteller in irgendeinem abgelegenenTeil der Welt transferiert werden.

Eine kleine Schuhfertigungsanlage sollte auch Teil des neuen Unternehmens sein.Dort würden Prototypen und Musterexemplare gefertigt, welche die in einem klei-nen Unternehmerteam entwickelten Designs anwenden würden. Tecnomodel hattealso ein neues Unternehmensmodell entwickelt, das hauptsächlich darauf abzielte,die Herstellung von Prototypen von der Herstellungsphase zu trennen und damitgroßen Modefirmen half, der Abhängigkeit von kleinen Herstellern zu entkommen

Abb. 1: Wertschöpfungskette bei Markenherstellern und traditionellen Herstellern

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(siehe Abbildung 1). Nachdem die gemeinschaftlichen Phasen von Design und Ent-wicklung in Synergie mit dem Markenhersteller vollendet werden, würde Tecnomo-del sowohl den Prototyp als auch den ganzen Bereich an notwendiger Informationzur Herstellung des industriell gefertigten Schuhs beibringen, und dabei dem Unter-nehmen erlauben, verfügbare (Zulieferer-)Hersteller für die Produktion zu benutzen(siehe Abbildung 2).

10.4 Tecnomodel: Das am besten gehütetste Geheimnis desitalienischen Schuhdesigns

Das aus Ehemann und Ehefrau bestehende Scotucci-Team glaubte nun, dass Danie-las Fähigkeiten für Design und Herstellung in Verbindung mit Danieles Kompeten-zen im IT-Bereich und im Unternehmerischen den Weg für den innovativen Erfolgebnen würden. Tecnomodel erweiterte seine Dienstleistungsangebote im Bereich derUnterstützung der Schuhproduktion in der Herstellung und im Management, ange-fangen vom Schuhdesign und der Entwicklung bis zum Angebot einer ganzen Breitevon Dienstleistungen. Tecnomodel ist in der Lage, Kunden in allen Bereichen der Im-plementierung der Entwicklungsphase einer neuen Produktion in der Schuh- undLederindustrie zu unterstützen. Ihre Dienstleistungen konzentrieren sich auf zweiBereiche, nämlich Erstellen eines Prototyps und von Musterexemplaren. Das Erstel-len eines Prototyps besteht in der Herstellung eines funktionierenden Produkts an-gefangen bei einem Entwurf oder einer Zeichnung. Hauptsächlich zielt es darauf ab,

Abb. 2: Wertschöpfungskette der Markenhersteller– Tecnomodel Neues Unternehmensmodell

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die technischen und marktbezogenen Risiken bei der Markteinführung eines Pro-duktes zu kontrollieren. Um diesem Ziel gerecht zu werden, ist Tecnomodel in derLage, eine Testserie bezüglich der technischen Aspekte und des Designs für das beab-sichtigte Produkt zu erstellen. Bei den technischen Tests wird das Passgenauigkeitvon Schuh und Fuß und die Balance des Modells überprüft. Bei den Design Testsüberprüft das Unternehmen dagegen die optische Präsentation des Produktes, dieDurchführbarkeit der gewählten Kombinationen von Farben und Material und dieAuswahl der richtigen Accessoires und Veredelungen. Wenn die Phase des Erstellenseines Prototyps beendet ist, ist es möglich das Produkt zu sehen und anzufassen,denn vorher war es nur auf dem Computermonitor oder auf Papier verfügbar. Auchlässt sich feststellen, wie das Licht die wirkliche Form des Schuhs verändert und wieder Schuh tatsächlich passt. Die Phase des Erstellens eines Prototyps bringt nicht nurdas wirklich erste Produkt hervor, sondern eine Menge Information über die techni-schen Eigenschaften und Modecharakteristika des neuen Produktes. Die gesamtenInformationen werden in einer Dokumentation für die zweite Phase, nämlich derMusterkollektion, gesammelt. Dabei wird für den Prototyp eine kleine Kollektion in-dustriell hergestellt, die es dem Markenhersteller möglich macht, das Produkt aufMessen vorab auszustellen und das Verkaufsnetzwerk mit einem guten und testbarenProdukt zu versorgen.

Ein dritter Service liegt in der Informations- und Kommunikationstechnologie.Es ist die Zur-Verfügung-Stellung einer technischen Beschreibung für das Produkt,die alle notwendigen Informationen enthält, um das Produkt industriell herzustel-len. Diese elektronischen Daten garantieren die vollständige Übertragbarkeit der In-formationen und erlauben es einem räumlich entfernten Hersteller, das Produkt zurealisieren, ohne es gesehen zu haben.

Zusätzlich zur technischen Prozesserfassung bietet dieser Service außerdem einedetaillierte Kostenkalkulation an, die auf Standardkosten für Aufwand und Materialfür die einzelne Produktionseinheit beruht, die hergestellt wird. Sie gibt den Marken-firmen ein wichtiges Instrument für die Vertragserstellung mit Herstellern an dieHand.

Die Digitalisierung der Dienstleistungen ist ein Schlüssel in der Strategie von Tec-nomodel, aber dennoch gibt es Platz für ergänzende „offline“-basierte Dienstleistun-gen. Beispielsweise schickt Tecnomodel den Kunden zusammen mit den Informa-tions-Dateien für den Produktionsprozess des neuen Modells eine elegante Tasche,die alle einzelnen Komponenten und deren technische Beschreibung beinhaltet. In-dem es ein breites Angebot von virtuellen und realen Dienstleistungen anbietet, dif-ferenziert Tecnomodel sich von traditionellen Schuhherstellern durch die Positionie-rung des Unternehmens an der Schnittstelle zwischen Design und Produktion undwird damit ein „Partner“ für gehobene Schuhdesigner, anstatt bloß ein Zulieferer zusein.

„Nachdem wir eine grobe Skizze von der Idee gemacht haben, wie der Schuh aussehen soll, sind wirin der Lage, zu unseren Kunden mit einem technischen Leitfaden in elektronischem Format zurück-zukommen, das diese ironischerweise den „Bausatz für Dumme“ nennen. Der Leitfaden enthält de-taillierte Informationen über die Auswahl des Leders, dessen effizienten Zuschneideprozess und des-sen Behandlung, die Näh- und Fertigungsphasen und die Gesamt- und Stückkosten der Einzelteile,

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die benötigt werden, um die gesamten Herstellungskosten zu definieren. Außerdem wird ein kom-pletter Bausatz aller Komponenten als Bild und Datei beigefügt, um sicherzustellen, dass der Herstel-lungsprozess akkurat und schnell ist.“

Um eine starke Wettbewerbsposition zu erreichen, hat das Unternehmen intensivund nachhaltig in IT-Infrastruktur und in die Ausbildung des Personals investiert.Am Unternehmensbeginn kaufte das Ehepaar einen Hauptserver für € 80.000. Nurwenige Schuhunternehmen hatten unabhängig von ihrer Größe so viel Geld für eineeinzige topmoderne IT-Infrastruktur ausgegeben. Das fortwährende Umrüsten vonTecnomodel durch neue Hardware und Erwerb neuer Software für ihre IT-Plattformstellt sicher, dass Tecnomodel stets an der Innovationsfront von Design und Herstel-lung im Bereich von Schuhen ist. Ende 2008 wurden die Investitionen in die IT-Infra-struktur auf ungefähr € 200.000 geschätzt, ein bedeutender Teil des Vermögens derFirma.

Der Anstieg der wettbewerbsmäßigen und finanziellen Resultate der Firma hatseinen Ursprung in der marktmäßigen Anerkennung ihres Unternehmensmodells.Ende 2009 hatte der Umsatz bei einer Steigerung von ungefähr 60% € 1.3 Millionenüberschritten (vgl. Anlage 2; Details für Gewinn und Verlust 2006–2008). Die Zahlder Beschäftigten lag nunmehr bei 25 Mitarbeitern im Unternehmen in Porto S. El-pidio. Das Portfolio der Kundschaft beinhaltete einige der prestigestärksten Modena-men wie Diesel, Geox, La Perla und viele andere. Der allgemeine globale Abschwunghatte dennoch auch die Schuhindustrie negativ getroffen, obwohl die Marktergeb-nisse von Tecnomodel für 2010 noch sehr gut sind. Die Scotucci sind optimistisch,dass ihr Unternehmen den Wachstumstrend der vergangenen Jahre in der Zukunftfortsetzen kann.

10.5 Das Wachstum imWettbewerb

Eines der ersten Ziele der Unternehmer Scotucci war es, Innovation als ein Instru-ment zu entwickeln, um das eigene Unternehmen in der Konkurrenz von anderenabzuheben. Bis zu einem gewissen Grad hatten Daniele und Daniela die Chancenantizipiert, die die Globalisierung der italienischen Schuhindustrie bringt, und ei-nige Mitbewerber hatten schon angefangen, ihr Unternehmensmodell zu kopieren.Tatsächlich bieten eine Handvoll direkter oder indirekter Konkurrenten nun De-sign- und der Produktion vorgelagerte Dienstleistungen für mittelgroße Schuhpro-duzenten an. In Anbetracht der globalen Krise neigen kleine Schuhhersteller dazu,diesbezüglich sensibler zu sein und sie bieten das Erstellen von Prototypen und klei-nen Samples von Musterexemplaren zu einem niedrigeren Preis. Mitwettbewerberbieten gegenwärtig ein begrenzteres Portfolio an Dienstleistungen an, dieses aberzu niedrigeren Preisen. Daniele berichtete, dass Konkurrenten in Süditalien für dieEntwicklung einer Musterreihe einen Preis von € 22 pro Modell/Größe anbieten,was ein Bruchteil der € 35 ist, die sie für dieselbe Dienstleistung verlangen. Darüberhinaus fürchtet Tecnomodel die Konkurrenz aus dem Fernen Osten und Brasilien,

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das mit 110.000 Musterexemplaren nur für einen einzigen italienischen Designer inder Modeherstellung ein beträchtliches Wachstum hatte. Tecnomodel konnte nureinen Auftrag für weniger als 3.000 Paare an Land ziehen. Internationale Wettbe-werber kontrollieren nun 97% des sehr großen Budgets. Der Grund für diese Ent-wicklung war einfach zu benennen – es waren die Kosten. Der Hauptvorteil vonausländischen Wettbewerbern sind die geringeren Kosten. Tecnomodel trifft nundasselbe Schicksal wie die von ihnen anfangs besiegten Konkurrenten. Große Kun-den neigen dazu, Tecnomodel nur bei sehr komplexen Schuhmodellen heranzuzie-hen und/oder bei einem Teil der insgesamt benötigten Exemplare. Der übrige wei-tere Teil des Budgets ist für Schuhproduzenten in China, Brasilien und andernortsbestimmt. Diese Konkurrenten zahlen einen Bruchteil der Löhne, die normaler-weise an spezialisierte italienische Schuhfabrikanten gehen. Das Tageshonorar fürTecnomodel lag bei rund € 180 Euro im Vergleich zu rund USD 100 pro Monat inChina. Also war das Geschäft mit der Produktion von Musterexemplaren zumin-dest auf mittlere Sicht ernsthaft bedroht, weil ausländische Wettbewerber ihre Qua-litätsstandards verbesserten. Ein bekannter italienischer Schuhfabrikant hat kürz-lich ein sehr innovatives und komplexes Schuhmodell entworfen, das eineneuropäischen Preis in Schuhdesign gewonnen hat. Die von Tecnomodel in Rech-nung gestellten Kosten für ein Sample lagen bei ungefähr € 600 und sie hofften,den gesamten Produktionsplan zu akquirieren, der mit ungefähr 100 Paaren nochrelativ klein war. Dennoch wurde dem Unternehmen nur ein Budget von 20 Paarengewährt, während die restlichen 80 an einen Konkurrenten gingen. Tecnomodel‘sLeistungen in der Herstellung waren innovativ und effizient – ironischerweise im-plementierte der ausländische Hersteller ihr Design und konnte damit auch sehrkomplexe Schuhe produzieren.

10.6 Strategiewahl: Was bringt die Zukunft?

Gemäß Daniela und Daniele Scotucci ist Tecnomodel immer noch ein Benchmark imGewerbe für die Herstellung von Prototypen der Schuhbekleidung. Spitzenkundenbevorzugen sie auch weiterhin aus Gründen von Qualität und Preis. Allerdingsstimmten sie zu, dass ihr Geschäftsmodell bestenfalls verteidigt werden kann unddas Wachstumsmuster der Vergangenheit in der Zukunft ohne einen radikalen Stra-tegiewechsel nicht beibehalten werden kann. Deshalb zogen sie unterschiedliche Op-tionen in Erwägung, TecnomodelsGeschäftsmodell an die neueWettbewerbssituationanzupassen. Drei strategische Möglichkeiten waren soweit in die unternehmerischePrüfung gekommen:· Dienstleistungsentwicklung – Anbieten neuer Instrumente für Modedesigner

und Schuhhersteller, damit diese sich auf ihre eigentlichen Funktionen konzen-trieren können;

· Internationale Expansion – Gründung von ausführenden Filialen im Ausland;· Vertikale Integration – Akquisition eines Modelabels.

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Jede dieser Optionen erforderte detaillierte Überlegungen, weil die nächste strategi-sche Entscheidung eine entscheidende Bedeutung für das langfristige Überlegen desGeschäftes haben würde.

10.6.1 Dienstleistungsentwicklung

Die erste strategische Option dehnt die traditionelle Aktivität des Unternehmensdurch die Entwicklung eines ergänzenden Portfolios modebezogener Dienstleistun-gen aus. Diese Aktion zielt auf die bestehende Kundschaft ab. Das Hauptziel liegt da-rin, die Wertschöpfungskette von Tecnomodel mit der ihrer Klienten weiter zu integ-rieren. Tecnomodel ist ambitioniert, sich selbst als ein strategischer Partner nicht nurfür das Erstellen von Prototypen und Musterexemplaren zu positionieren, sondernauch für das übergreifende Logistikmanagement. Tecnomodel würde als ein Haupt-dienstleister Schuhproduzenten erlauben, sich auf das Ende der Wertschöpfungs-kette zu konzentrieren, nämlich das Markenmanagement, Marketing und Distribu-tion. Alle anderen Funktionen können von Tecnomodel ausgeführt werden, und zwarentweder direkt oder mit Subunternehmern unter der Weisung von Tecnomodel.

10.6.2 Internationale Expansion

Durch die Gründung von operativen Filialen imAuslandwürdeTecnomodel Schwungfür den kostenbasierten strategischen Ansatz bekommen. Gleichzeitig würde dieseAktion dem Unternehmen erlauben, in bedeutenden ausländischen Schuhproduk-tionsdistrikten präsent zu sein, was Tecnomodel auch für die jeweiligen lokalen Unter-nehmer attraktiv machen würde. Viele ausländische Länder haben die italienischeSchuhindustrie überholt und einige von ihnen scheinen ziemlich attraktiv für eineStrategie des Ressourcen- und Marktsuchens. China, Brasilien, Tunesien und Ost-europa, sind lauter potenzielle Kandidaten. Zentrale Funktionen wie besonders tech-nologische Innovationen und darauf bezogene Potenziale würden in der Zentrale inPorto S. Elpidio belassen werden, arbeitsintensive Arbeiten wie die Erstellung vonMusterexemplaren und die Herstellung könnten in ausländische Filialen verschobenwerden. Vor ein paar Jahren gründete Tecnomodel eine Filiale in einemwichtigen Fuß-bekleidungsdistrikt in Mexico. Die Aktion war erfolglos, hauptsächlich wegen der be-schränkten Erfahrungen der Gründer in ausländischer Produktion und im Manage-ment und in der Kontrolle einer ausländischen Filiale. Während Tecnomodel imitalienischen Markt schnell wuchs, entschieden Daniele und Daniela, sich völlig aufdiesen Markt zu konzentrieren und schlossen schließlich die mexikanische Filiale.Ende 2008 wurde die Idee einer internationalen Expansionsstrategie wieder aufge-worfen, weil Daniele zuversichtlicher bezüglich seiner Fähigkeiten wurde, eine aus-ländische Filiale effektiv managen zu können. Zwei Schlüsselfragen verdienten sorg-fältige Erörterung, nämlich die Wahl des Standorts und die Selektion von Partnern.Erstens müsste der Standort an ein Flughafendrehkreuz angebunden sein und Tecno-model müsste einige ortsansässige Beschäftigte in der ausländischen Filiale haben.

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172 10 Tecnomodel (Italien)

Zweitens sollte ein (verlässlicher) lokaler Partner aufgebaut werden, um das Unter-nehmen besser verstehen und das Unternehmens- und Wirtschaftsnetzwerk im Aus-land managen zu können.

10.6.3 Vertikale Integration

Die dritte Option war eine sehr riskante Strategie vertikaler Integration, die mit Da-niele’s unternehmerischen Ambitionen auf horizontale Integration oder Internatio-nalisierung korrespondierte. Wenn Tecnomodel schnell wachsen sollte, würde die In-tegration mit einem Markenhersteller die effizienteste Option sein. Eine neueaufsteigende Modemarke wäre ein ideales Ziel. Eine sehr etablierte Marke wäre zumAkquirieren zu teuer und definitiv außerhalb des Budgets von Tecnomodel. Ein De-signer am Anfang seiner Karriere könnte umgekehrt eine „faire“ Vertragsüberein-kunft für eine Markenlizenz akzeptieren. Ein junger Modedesigner ist häufig erfolg-reich, die Dämme der Medienmode zu durchbrechen, und einige dieser jungenDesigner werden zukünftige Spitzenkräfte. Freilich gibt es dafür keine Garantie unddas Einzige, was Tecnomodel tun kann, ist auf den zukünftigen Erfolg eines Designerszu spekulieren und zu vertrauen, dass es ein zukünftiger „Guru“ in der Modeindust-rie wird.

Jede dieser Optionen öffnet verschiedene Möglichkeiten für Tecnomodel und eineEntscheidung zu treffen war schwierig. Welche dieser Optionen könnte Tecnomodelden notwendigen Aufschwung für langfristiges Wachstum bieten? Daniele und Da-niela waren bezüglich der Wichtigkeit für den Zeitpunkt einer Entscheidung nichteiner Meinung. Er wollte eine Entscheidung möglichst frühzeitig treffen, aber Da-niela war von der Möglichkeit, das Unternehmen entlang einer der drei Optionenzu entwickeln, nicht völlig überzeugt.

Anhang 1: Die Macerata-Fermo-Region als Zentrum derSchuhproduktion

Die Macerata-Fermo-Region hat eine Produktionsdichte, die für italienische Verhält-nisse ziemlich einmalig ist. Sie besteht aus mehr als dreitausend kleinen und sehrkleinen Firmen, normalerweise Handwerker, die mehr als 20.000 Mitarbeiter be-schäftigen und Schuhe in Spitzenqualität produzieren mit Jahresumsätzen vonmehr als 1 Billion Euro und Exporten von etwa 56%. Das alles liegt in den engen Tä-lern zwischen den Provinzen Macerata und Fermo in einer kleinen Zahl von 36 Ort-schaften. Der industrielle Schuhdistrikt Fermano-Maceratese ist einer von ItaliensIndustrien, die wegen des hohen Grades der Produktionsintegration und der er-reichten sehr hohen Arbeitsqualität von größtem Interesse ist.16

16 ICE, Italienisches Außenhandelsinstitut – Italtrade Commission.

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Der größere Teil der Produktion in dem Distrikt zielt auf ein Produkt für die mitt-leren bis gehobenen Markennamen für Damen. 93% der Firmen und 87% der Be-schäftigten sind in einem Gebiet konzentriert, das 36 Ortschaften in den zwei Pro-vinzen Macerata und Fermo umfasst. Porto S. Elpidio, die Stadt in der Tecnomodelbeheimatet ist, ist mit einer weitverbreiteten Präsenz von kleinen und mittleren Spit-zenqualitätsproduzenten eine der am stärksten in Schuhproduktion eingebundenenOrte. Der Macerata-Fermo-Distrikt ist nach Kriterien von Beschäftigten, Unterneh-men und der Anzahl der produzierten und exportierten Schuhe der größte italieni-sche Distrikt.

Ende 2009 umfasste die Schuhindustrie in diesem Gebiet 3.100 Firmen, 3.300 lo-kale Betriebe und 21.000 Beschäftigte. Der Distrikt erfuhr in den letzten Jahrzehnteneinen enormen Rückgang in der Zahl von Firmen und Beschäftigten angesichts derzunehmenden Konkurrenz aus asiatischen Ländern im Markt für preiswerte Schuheund der Ausgliederung großer Teile der Herstellungsaktivitäten in Niedriglohnlän-der in Osteuropa und Mittelmeerländer17. Der Rückgang der regionalen Schuhin-dustrie war weniger stark ausgeprägt, als das in anderen italienischen Regionen mitderselben Spezialisierung der Fall war (Veneto, Toskana, Kampanien, Appulien).

Heute hat der Distrikt drei große Schwachpunkte. Der erste betrifft die Schwie-rigkeit, gut ausgebildete und qualifizierte Arbeiter in der Region zu finden, derenKosten bedeutend höher als die für Produzenten im Ausland sind, vor allem inAsien. Zweitens sind die Kosten für die Produktionsinfrastruktur und die Rohstoffehoch, was zudem den Wettbewerb mit asiatischen Konkurrenten verstärkt. Schließ-lich gibt es Schwierigkeiten in der Entwicklung von Exportaktivitäten, weil die klei-nen und sehr kleinen Firmengrößen eine nennenswerte kommerzielle und distribu-tive Präsenz in Auslandsmärkten verhindern.

Dennoch behält der Distrikt eine Anzahl von Schlüsselfaktoren der Wettbewerbs-fähigkeit, nämlich hohe produktive Flexibilität, hohe Qualität der Rohmaterialien,Fertigkeiten in der Herstellung, technisch-produktive Fähigkeiten und Kreativität inder Designphase. Zusätzlich ist es auch die Qualität des sehr anerkannten Endpro-duktes auf Weltniveau, das den industriellen Distrikt extrem konkurrenzfähigmacht, und zwar unabhängig von der Krise, die die Sektion durchgemacht hat.

Die Schuhindustrie spielt in dem produktiven Sektor dieser Region eine großeRolle. Das Bild der Provinz Fermo wird in Italien und der Welt von Schuhen reprä-sentiert. Ungefähr die Hälfte der erwirtschafteten Einkommen kommt aus diesemBereich und mehr als 50% der Arbeiter in der Industrie sind in der Schuhindustriebeschäftigt, zu 90% in Firmen mit weniger als fünf Beschäftigten. Trotz des gegen-wärtig beobachteten Rückganges in der Produktion und in der Beschäftigung hältdas „produktive Schuhnetzwerk“, das auf den Fermo-Macerata-Distrikt zentriert ist,eine Führungsrolle in einer Zahl von internationalen Märkten als Maßstab für Qua-lität und Stil. Ungefähr 50% aller Exporte aus dem Distrikt gehen in die Industrie-länder Europas und der USA.

17 1991 gab es 4.800 Firmen und 44.000 Beschäftigte in dem Distrikt, 2001 war die Zahl auf 4.300Firmen und 31.000 Beschäftigte zurückgegangen und 2005 gab es 4.000 Firmen und 25.800 Be-schäftigte (ISTAT, Italienisches Institut für Statistiks).

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Anhang 2: Finanzdetails von Tecnomodel

Der Unternehmenserfolg in den letzten drei Jahren zeigt die Effektivität des Unter-nehmensmodells. Der Gesamtumsatz verdreifachte sich zwischen 2006 und 2009beinahe bei einer deutlichen Zunahme des Nettogewinns. Die Zusammensetzungder Gewinn-und-Verlust-Rechnung zeigt die längerfristige Entwicklung der Lohn-kosten entsprechend der Anzahl qualifizierten Personals.

Tab. 1: Tecnomodel Gewinne und Verluste: 2006–2008

2006 2007 2008 2009*

Umsätze (in 1.000 €) 449 816 1250 1360

Umsätze (%) 100 100 100 100

Material 25,8 10,5 9,6 9,9

Dienstleistungen 45,9 46,2 44 37,7

Pauschalausgaben 8,2 11,3 9,1 17,6

Personalkosten 17,8 23 19,4 13,3

Abschreibungen 2,8 0 2,9 3,6

EBIT -0,6 8,9 15,9 17,9

Zinsausgaben 3,3 1,8 1,6 2,2

Steuern 1,2 0,2 1 0,6

Nettogewinn -5,1 6,9 13,4 15,1

*vorläufig

Danksagung

Wir bedanken uns bei Dell Inc. für die Stiftung des Global Small Business ExcellenceAward und beim International Council for Small Business (ICSB), InternationalOffice in Washington D.C., dafür, dass uns erlaubt wurde, das vorliegende Materialzu verwenden und die Fallstudie zu erarbeiten. Bitte kontaktieren Sie das ICSB-Bürofür etwaige Fragen bezüglich des Wettbewerbs oder den Unternehmensfall:[email protected]

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Bettina Thurnher, Michaela Frick, Stefan Wilhelm & Sascha Kraus

11.1 Einleitung

Es war Sommer 2002, als Christoph Wille sein Studium an der ETH Zürich erfolg-reich absolviert hatte und er sich entschied, in seine Heimat Liechtenstein zurückzu-kehren. Auf der Suche nach neuen Herausforderungen hörte er von einem Kollegen,dass Prof. Spillmann vom Universitätsklinikum Zürich eine Medizinsoftware entwi-ckeln wollte. Die Vision des Arztes war, Hörtests mittels eines virtuellen Simulatorszu üben und zu schulen. Als Einstiegsjob hörte sich das interessant an. Im Rahmendes Projekt standen für die Laufzeit von drei bis vier Monaten 13.000 CHF zur Ver-fügung. In dieser Zeit konnte sich Christoph wiederum um andere Positionen be-werben und musste sich dabei keine Gedanken über seine Finanzierung machen.

ChristophWille war schnell vom Projekt gefesselt und, ganz seinem Ingenieurwe-sen entsprechend, wollte er eine besonders ausgefeilte Softwarelösung bauen. SeinStudienkollege, Christoph Ledermann, schrieb gerade an seiner Doktorarbeit undunterstützte Christoph Wille bei der Entwicklung. Während dieser Phase wurde dieSoftware primär für das Universitätsklinikum Zürich entwickelt, jedoch bestand zueinem späteren Zeitpunkt die Möglichkeit, den virtuellen Patienten an weitere Spitä-ler und Arztpraxen weiterzuvertreiben. Im April 2004 nahm Christoph Wille am Bu-sinessplan-Wettbewerb des KMU Zentrum an der Hochschule Liechtenstein teil undwurde mit seinem ausgefeilten Produkt- und Finanzierungsplan unter die ersten dreiPlätze der 40 teilnehmenden Teams gereiht. Die Teilnahme am Businessplan-Wett-bewerb stärkte das Netzwerk und forcierte den Verkauf der Software an SchweizerOhrenärzte. Das Unternehmen war nun ein ernstzunehmender Wettbewerber imMarkt.

11.2 Die InnoForce-Produkte

Neben dem ersten Produkt, „Otis – der virtuelle Patient“, umfasst die Produktpalettevon InnoForce mittlerweile auch eine wissenschaftliche Datenbank, mit der sichTherapien effizient erfassen und statistisch auswerten lassen. Anfangs wurde Otisvor dem Hintergrund entwickelt, die Verkäufe von Hörgeräten zu steigern. Audiolo-gen konnten damit eine Vielfalt täglicher Situationen simulieren und dem Patientendie Wirkung der Hörgeräte demonstrieren. Des Weiteren war eine Datenbank ent-halten, durch welche die optimale Konfiguration des Hörgeräts berechnet werden

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konnte. Im Lauf der Zeit begann InnoForce zudem, Softwareentwicklungsdienste,Beratungsleistungen, Ausbildung- und Audiometriekurse anzubieten.

Die sogenannte Reintonaudiometrie ist in Europa die weitaus am häufigsten ver-wendete Methode, um das Hörvermögen eines Patienten bestimmen zu können. In-noForce zielte darauf ab, in diesem Feld zu einem der Marktführer zu werden. Beieiner audiometrischen Messung werden dem Patienten über einen Kopfhörer Rein-töne unterschiedlicher Frequenzen mit zunehmender Lautstärke vorgespielt. Der Pa-tient muss dabei signalisieren, wann er einen Ton hört. Ein Auszubildender lernt inrelativ kurzer Zeit ein Audiometer zu bedienen. Bis er jedoch korrekte audiometri-sche Messungen durchführen kann, vergeht oft sehr viel Zeit. Der Lernende muss da-bei Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Hörschädigungen sammeln, um dieseeinschätzen zu können. Im Besonderen sollte er vermehrt Patienten messen, die einkomplexes Messvorgehen verlangen (z. B. Rauschton auf dem Gegenohr). Solche Pa-tienten sind in der Praxis jedoch sehr selten. Dies reicht nicht aus, um die benötigteRoutine in der Beurteilung zu erlernen oder zu üben. Eine Möglichkeit für Lernende,komplizierteMessungen zu üben, besteht im gegenseitigen Simulieren. Dabei täuschtein Auszubildender eine Schwerhörigkeit vor, während sein Kollege an ihm eine Mes-sung durchführt. Dieses Verfahren führt allerdings oft zu unbefriedigenden Ergebnis-sen, da es sehr schwierig ist, eine Hörstörung authentisch vorzutäuschen. Das Übenan Schwerhörigen ist nicht zu empfehlen, da diese aufgrund ihrer Empfindlichkeitfür hohe Lautstärken bei ungeschicktem Audiometrieren bald ihre Geduld verlieren.Das Üben mithilfe einer Simulationssoftware ist hierfür geeigneter, und genau dafürbietet InnoForce eine Lösung. Die Simulationssoftware „Otis – der virtuelle Patient“simuliert verschiedenste komplexe Hörschädigungen, sodass das korrekte Audiomet-rieren selbständig geübt werden kann. Die intelligente Software erkennt sofort allfäl-lige Fehler der Lernenden. Das Programm bietet Übungen in verschiedenen Schwie-rigkeitsgraden und gibt nützliche Hilfestellungen sowie eine Selbstkontrolle.

Das Produkt „Otis – der virtuelle Patient“ besteht aus einem Simulator sowieeinem Lehrbuch mit optimal abgestimmten Übungsszenarien. Das Programm un-terscheidet zwei Versionen.1. Lernversion,2. Lehrversion.

Abb. 1: Audiometer

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Abb. 2: Virtuelles Audiometer

Für die Studenten gibt es die Lernversion, die das Üben mit dem virtuellen Patientenermöglicht. Je nach Schwierigkeitsgrad müssen unterschiedliche Aufgaben gelöstwerden. In Folge erhält man ein Feedback, was in Zukunft besser gemacht werdensollte. Zusätzlich gibt es die Lehrversion. Hierbei handelt es sich um eine (passwort-geschütze) Version, die neben den normalen Übungen die Option enthält, Prüfun-gen zu erstellen und auszuwerten.

In Abbildung 2 ist das virtuelle Audiometer dargestellt, an welchem die Übungendurchgeführt werden können. Der Lernende misst nicht mehr das Hörvermögeneines realen Patienten, sondern präsentiert dem Computer-simulierten virtuellenPatienten die Tonimpulse verschiedener Frequenzen. Wenn der virtuelle Patienteinen Ton hört, wird dies durch das rote „Leuchten“ der Anzeige „Reaktion Patient“angezeigt. Hat der Auszubildende eine Hörschwelle bestimmt, so kann er diese imangezeigten Audiogramm eintragen.

Das Produkt „Otis – AudioFit“ simuliert dem Kunden unterschiedliche Hörge-räte. Der Kunde wird mit wenigen Mausklicks in eine von über 80 verschiedenen all-täglichen Geräuschsituationen versetzt. Der Kunde erhält visuelle Unterstützungdurch Bilder oder Videos, die sich auch auf einem zweiten, ihm zugewandten Bild-schirm anzeigen lassen. „Otis – AudioFit“ eignet sich insbesondere dafür, Unter-schiede verschiedener Hörgeräte in Bezug auf Tonqualität, Rauschunterdrückungund Richtungshören zu demonstrieren. „Otis – AudioFit“ lässt sich zudem auf dieindividuellen Bedürfnisse von Kunden anpassen. Beispielsweise können Geräuschsi-tuationen mit Bildern aus der eigenen Stadt versehen und eigene Tondateien integ-riert werden.

In Zusammenarbeit mit renommierten Otologen hat InnoForce das Datenbank-programm ENTstatistics entwickelt, mit dem sich HNO-Therapien rational erfassenund statistisch auswerten lassen. Das Programm archiviert sämtliche OP-Berichte,Audiogramme, Follow-up-Berichte, OP-Skizzen und Röntgenbilder in einer benut-zerfreundlichen Datenbank. Darin gespeicherte Therapiedaten lassen sich nach viel-

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fältigen Kriterien abfragen und deren Audiogramme prä- und postoperativ verglei-chen. Per Mausklick können wichtige statistische Kenngrößen sofort berechnet undgraphisch visualisiert werden.

„Otis – AudiogramEdit“ ist die ideale Software für eine schnelle und einfache Er-stellung und Verwaltung von Audiogrammen. Diese Software ermöglicht, auf sehrintuitive und einfache Art mit wenigen Mausklicks Audiogramme zu erstellen, zuspeichern und zu editieren. Aufgerufene Audiogramme lassen sich über die Zwi-schenablage in alle gängigen Windows-Programme (z. B. MS-PowerPoint oder MS-Word) einfügen. Zudem können die Symbole nach verschiedenen Normen darge-stellt werden. „Otis – AudiogramEdit“ dient der Präsentationen sowie der professio-nellen Dokumentation und Verwaltung von Audiogrammen.

Abb. 3: Otis – AudioFit

Abb. 4: Erfassung von Therapiedaten in ENTstatistics nach der Operation

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Abb. 5: AudiogramEdit

„Otis – Expertise Manager“ ist ein Datenbankprogramm, mit dem sich der Versiche-rungswerte und die entsprechenden Zuschüsse der Versicherungen und Krankenkas-sen bei Hörgeräteverordnungen berechnen lassen. Die hierfür benötigten Ton- undSprachaudiogramme können automatisch vom Audiometer in den Expertise Mana-ger übernommen werden, wodurch wiederum erheblich Zeit gespart wird. Des Wei-teren können hierdurch mögliche Fehler beim Übertragen der Hörschwellen vermie-den werden. Die Befunde, welche aus dem Patientengespräch resultieren, kann derArzt einfach und klar strukturiert mit wenigen Mausklicks generieren. Die Befundekönnen in Folge im Format der offiziellen Formulare ausgedruckt und bei der Versi-cherung eingereicht werden. Der „Expertise Manager“ speichert und verwaltet sämt-liche Patienten-, Audiogramm- und Befund-Daten in einer Datenbank. Das Pro-gramm wurde in enger Zusammenarbeit mit Experten der Audiologie-Kommissionder Schweizerischen Gesellschaft für HNO entwickelt. Der „Otis – Expertise Mana-ger“ basiert auf dem bewährten und seit 2006 erfolgreich eingesetzten Datenbank-programm ENTstatistics. Die verwendete MS SQL Server-Technologie ist weit ver-breitet und von Praxen und Kliniken anerkannt.

11.3 Internationalisierung

In der Anfangsphase verkaufte InnoForce die Produkte an Kunden in Liechtensteinund der Schweiz. Dieser Markt bestand aus HNO-Praxen und Hörgeräteakustikern.Aufgrund einer präzisen Marktanalyse, die Christoph im Rahmen der Erstellung desBusinessplans durchführte, war klar, dass der Schweizer Markt aufgrund seiner ver-gleichsweisen geringen Größe und der dadurch begrenzten Abnehmerzahl nicht aus-reichend ist. Die Nachfrage nach Audiometrie-Ausbildungen wurde einerseits durchdie Qualitätsstandards seitens der Kostenträger des Gesundheitswesens (Kranken-kassen, Unfallversicherungen) und andererseits durch die Anzahl der Personen, wel-che eine Behandlung durch einen Arzt oder Hörgeräteakustiker aufsuchen, be-

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stimmt. Die geforderten Qualifikationen im Rahmen von Arztleistungen stiegen seitJahren stetig. In Deutschland wurde die gesetzliche Weiterbildungspflicht für Ohren-ärzte im Januar 2004 eingeführt. Analoge Trends waren in der Schweiz zu beobach-ten. Die Anzahl behandelter Personen lässt sich am Hörgerätemarkt ablesen (sieheTabelle 1).

Christoph erkannte zudem, dass 10% der Menschen in den industrialisiertenLändern unter einer starken Beeinträchtigung des Gehörs leiden, wodurch die tägli-che Kommunikation und somit das Leben deutlich erschwert wird. Lediglich 10 bis25% dieser Personen (abhängig vom Land) verwenden Hörgeräte. Dies zeigt dasenorme Potenzial dieses Markts im Gegensatz zu anderen Marktsegmenten18, welcheviel stärker einer konjunkturellen Abhängigkeit unterworfen sind. Wertmäßig be-trug das Wachstum im Jahre 2002 gegenüber dem Vorjahr 6,9% bei einem Umsatz-volumen von 2,1Mrd. CHF (Deutschland 1,1Mrd. CHF). Die Zahl der in diesemZeitraum verkauften Hörgeräte nahm um 2,4% auf 2,3Mio. zu. Prognosen zufolgewar in diesem Markt in den kommenden zwei Jahren mit einem Umsatzwachstumvon 6 bis 8% jährlich zu rechnen. Gründe für das hohe Wachstum waren vor allemdie Zunahme des Durchschnittsalters und die Tatsache, dass immer mehr jungeMenschen durch die tägliche Lärmbelastung in Beruf und Freizeit an Hörproblemenlitten. Ebenso stieg das allgemeine Bewusstsein für Hörstörungen und die Bereit-schaft zur Behandlung.

Abb. 6: Expertise Manager

18 Die Marktprognosen bezieht sich auf das Produkt „Otis – der Virtuelle Patient“.

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Tab. 1: Potenzielle Kunden in der Schweiz19 – Arztpraxen/Hörgerätehändler

Hörgeräteakustiker 250Hörgerätetechniker >250HNO-Ärzte 250Angestellte in HNO-Praxen >250Medizinstudenten (Studienbeginn 2001/02 –Medizin/Pharmakologie) 1566

Das erste Produkt, welches das Unternehmen auf den Markt brachte, war „Otis – dervirtuelle Patient“. Die potenziellen Kunden in der Schweiz stellen HNO-Ärzte undHörgeräteakustiker dar. Des Weiteren waren nachfolgend beschriebene Organisatio-nen potenzielle Kunden von InnoForce:1. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) führte jährlich

40.000–50.000 Audiogramme bei Betrieben mit Lärmemissionen durch. DieSUVA äußerte Interesse an simulierten audiometrischen Messungen für die Aus-bildung ihrer Mitarbeiter.

2. Kliniken mit audiologischer Abteilung: Klinikum Zürich, Bern, Basel, St. Gallen,Genf und Luzern.

3. Sieben Universitäten in der Schweiz haben eine medizinische Fakultät. Bspw.wird an der Universität Zürich ein Internetportal für Medizinstudenten aufge-baut. Die Auszubildenden haben dort die Möglichkeit, verschiedene interaktiveÜbungen für ihr Studium zu durchlaufen. Die Koordinatoren dieses Ausbil-dungsservers zeigten großes Interesse an der Integration von „Otis – der virtuellePatient“.

Christoph realisierte, dass der Liechtensteiner und Schweizer Markt langfristig nichtprofitabel genug war. Deshalb war es unabdingbar, die Produkte international zu ver-markten. Um dies zu realisieren, begann InnoForce auf Basis der beruflichen undmedizinischen Kontakte von Dr. Spillmann im Schweizer Markt, die Kontakte zuHörgeräteakustikern und Ärzten auszubauen. Mithilfe dieser konnte der Eintritt inweitere Märkte, speziell dem deutschen Markt, vorbereitet werden.

Tab. 2: Potenzielle Kunden in Deutschland20 –Arztpraxen/Hörgerätehändler

Hörgeräteakustiker 1800Hörgerätetechniker 5700HNO-Ärzte 5224Angestellte in HNO-Praxen 5000Medizinstudenten (Studienabgänger pro Jahr) 12000

19 Quelle: Christoph Schönenberger, Geschäftsführer von AKUSTIKA,Schweizerischer Fachverband der Hörgeräteakustik 2004;Schweizer Ohrenärztegesellschaft 2004;Bundesamt für Statistik,Schweiz, 2004.

20 Quelle: Kammer für Hörgeräteakustiker, Mainz, Daten 2002 und Deutsches Zentralinstitut fürKassenärztliche Versorgung, 2004.

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Neben den Zielgruppen die in Tabelle 2 dargestellt sind identifizierte Christophnachfolgend beschriebene potenzielle Kunden im deutschen Markt, die zusätzlichinfrage kamen:1. Die Fachhochschule Oldenburg bietet ein 4-jähriges Studium im Bereich der

„Hörgerätetechnologie und -audiologie“ an. Im Rahmen dieses Studiums erler-nen Studenten audiometrische Kenntnisse und Fähigkeiten.

2. Die Akademie für Hörgeräte-Akustik in Lübeck ist die zentrale Ausbildungsstättefür Hörgeräteakustiker im deutschsprachigen Raum.

3. Als Teil der jährlichen Ohrenarztkonvention organisierte die deutsche Gesell-schaft für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde sowie die Gesellschaft für Kopf-und Halsoperationen einen zweitägigen Ausbildungskurs für Ohrenärzte.

4. Schätzungsweise existieren 20 weitere Kliniken in Deutschland, die audiometri-sche Kurse anbieten.

5. 35 Universitäten haben eine medizinische Fakultät.

Jede der angeführten Institutionen respektive Gruppen stellte für InnoForce eine po-tenzielle Option dar, den Durchbruch zu schaffen. Christoph wusste, dass er nichtalles zur selben Zeit bewerkstelligen konnte und musste sich somit auf eine Kernziel-gruppe konzentrieren. Christoph dachte zudem über große All-inclusive-Verträgemit führenden Unternehmen nach, wodurch der Umsatz und die Gewinne erheblichgesteigert werden konnten. Diesbezüglich identifizierte er folgende potenzielle Kun-den:1. Die Amplifon AG ist mit weltweit 6.000 Geschäften eines der größten Filialunter-

nehmen für Hörgeräte. Eine Vorversion von „Otis – der virtuelle Patient“ wurdedemManagement der Amplifon AG bei einem Treffen in Mailand vorgestellt. DieIdee stieß auf sehr großes Interesse für die interne Ausbildung von Mitarbeitern.

2. Die KIND GmbH ist Marktführer in Deutschland und besitzt über 250 Fachge-schäfte in Deutschland und Europa.

3. Der größte Konkurrent der KIND GmbH ist die GEERS AGmit über 200 Filialen.„Otis – der virtuelle Patient“ könnte für die GEERS AG im Rahmen der Mitarbei-terausbildung interessant sein.

4. GN Otometrics AG ist einer der bedeutendsten Hersteller von Audiometern. DasUnternehmen könnte ihren Kunden beim Kauf eines Audiometers ein Ausbil-dungsprogramm mitliefern. Somit erhielte der Kunde nicht nur das Gerät, son-dern mit dem Simulationsprogramm ein wertvolles Hilfsmittel, um in relativ kur-zer Zeit qualitativ hochwertige Messungen durchführen zu können. Das Angeboteiner umfassenden „Gesamtlösung“ würde den Wert des Produkts erheblich stei-gern.

Christoph überdachte die Vor- und Nachteile hinsichtlich einer Vertragsbindung miteinem dieser Unternehmen. Er musste unter Mithilfe seiner Kollegen die positivenund negativen Aspekte abwägen, da das Unternehmen hieraus möglicherweise Profitoder Schaden tragen konnte.

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11.4 Strategien nach der Gründung

Mithilfe seines wachsenden Netzwerkes im Medizinsektor hatte Christoph bald dieMöglichkeit, die neuen Produkte des Unternehmens, wie beispielsweise ENTSta-tistics, auf den Märkten zu lancieren. Mit dieser neuen Technologie wurde eine glo-bale Expansion angestrebt. Christoph war der Meinung dies am besten durch diePräsentation auf Fachmessen und -kongressen (beispielsweise in London, bei demüber 400 internationale HNO-Doktoren unter den Teilnehmern waren) zu realisie-ren. Christoph hoffte zudem, dadurch weitere Kunden gewinnen und neue Märkteerschließen zu können. Folglich war InnoForce dabei, strategisch-organisatorischesWachstum mit dem Ziel einer Erhöhung des Marktanteils und der Mitarbeiterzahlzu verfolgen. Hinsichtlich der zukünftigen Planung betrachtete Christoph die Plan-zahlen für das Jahr 2004, die er, wie er sich erinnern konnte, relativ konservativ kal-kuliert hatte. Tabelle 3 und 4 zeigen den geschätzten Umsatz, die Betriebskosten undden Personalaufwande im Vergleich zu den tatsächlichen Zahlen zwischen 2004 bis2008.21

Tab. 3: Prognose im Businessplan von InnoForce

Tab. 4: Aktuelle Zahlen von InnoForce

21 Die Zahlen wurden mit einem Faktor multipliziert und unterliegen entsprechend dem Copy-rightgesetz vertraulicher Handhabung.

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Die Unterschiede zwischen den tatsächlichen und den Planzahlen waren nichtauf konservative Kosten- oder Gewinneinschätzungen zurückzuführen. Tatsachewar, dass Prognosen in einem neuartigen, durch Innovativen geprägten Markt wieim Fall von InnoForce nur schwer vorherseh- und kalkulierbar waren. Zudem wur-den zahlreiche Variablen und deren Korrelationen nur partiell berücksichtigt. Dazuzählten Folgende:1. Wie reagiert der Markt? Investieren Kunden konservativ oder wird das Produkt

ein „Bestseller“? Bei erklärungsintensiven Produkten, die wie Otis einen sehr kon-kret definierten Einsatzbereich haben, ist weniger zu erwarten, dass dies wie dieStandardsoftware MS-Office zum Massenprodukt wird.

2. Wie entwickelt sich der Kundenstamm? Die Entwicklungen am Markt vom Ein-zelkäufer, Schulungsbesucher oder Student mit Studentenlizenz bis hin zumStammkunden mit regelmäßigen Updates und Beratungsleistungen oder auchAnpassungen sind zu Beginn eines Unternehmens schwer abzuschätzen. Dies be-ruht darauf, dass a) nur ein kleiner Kundenstamm existiert und b) nicht auf Er-fahrungswerte am Markt zurückgegriffen werden kann.

3. Wie entwickelt sich der Ruf des Unternehmens? Dies ist eine gerade für kleineUnternehmen essenzielle Frage, die sich in der Planung kaum projektieren lässt.Erst durch die erfolgreiche Akquirierung und Ausführung von Aufträgen entstehteine positive oder negative Reputation bei den Kunden. Über Mundpropagandawird dies weitergetragen, wodurch mit der Zeit ein Bild in der Öffentlichkeit ent-steht und positives oder negatives Image resultiert.

Christoph erkannte die Notwendigkeit, dass die Software und die Dienstleistungenin unterschiedliche Sprachen übersetzt werden mussten, sofern InnoForce dieseinternational vertreiben wollte. Im Jahr 2006 entwickelte InnoForce eine englischeVersion von „Otis – der virtuelle Patient“, da der englischsprachige Markt den profi-tabelsten darstellte. Als die englische Version fertiggestellt war, lancierte InnoForcedas Produkt erfolgreich in England und Amerika. Im Jahr 2009 entwickelte das Un-ternehmen eine spanische Version von „Otis – der virtuelle Patient“, was den Ein-stieg in die spanischsprachigen Märkte ermöglichte. Jedoch erkannte Christoph,dass sich das Unternehmen nach wie vor auf die Produkte, und nicht auf die Märktekonzentrierte. Deshalb war eine Entscheidung nötig, auf welchen Märkten die Kon-zentration liegen sollte und in welchen Ländern die Produkte in Zukunft lanciertwerden sollten. Des Weiteren mussten Markteintrittsstrategien festgelegt werden,und – sofern möglich – exklusive Abkommen geschlossen und Kriterien zur Priori-sierung der anstehenden Aufgaben definiert werden. Zudem musste er eine interna-tionale Marketingstrategie entwickeln. Die stellte für ihn eine besondere Herausfor-derung dar, zumal er sich in seiner Diplomarbeit mit Fertigungssystemtechnikbefasste und sich mit diesem Thema nie auseinandergesetzt hatte.

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Anhang 1: Meilensteine

Jahr Meilenstein

2002 Christoph Wille absolviert sein Studium im Bereich der Fertigungs-systemtechnik an der ETH Zürich

2002 Herstellung des Kontaktes zu Dr. Spillmann; Entwicklung und Her-stellung von Simulationsprototypen

2002 Suche nach Investoren und Finanzierungsoptionen

2003 Tätigkeit an der ETH Zürich und bei BMSSkilehrer

2004 Businessplan-Wettbewerb

2004 Markteinführung von „Otis – der virtuelle Patient“ in der Schweizund Deutschland

2005 Vertrag zur Entwicklung eines Datenbankprogrammes zur HNO-Therapien für das Krankenhaus Luzern

2006 Weiterentwicklung der technischen Produkte; Übersetzung von„Otis – der virtuelle Patient“ in eine englischsprachigen Version;Produkteinführung in England und den USA

2007 Vertrag zur Entwicklung eines Datenbankprogrammes zur Therapievon Schilddrüsenerkrankungen für das Krankenhaus Luzern

2007 Produkteinführung „Otis – ENTstatistics“

2007 Produkteinführung „Otis – AudioFit“

2008 KMU-Zentrum wählt InnoForce zum „Unternehmen des Monats“

2009 Produkteinführung „Expertise Manager“

2009 Markteinführung der spanischen Version von „Otis – der virtuellePatient“

Anhang 2: Team

Geschäftsführer Christoph Wille (34) gründet nach Ab-schluss seines Studiums die Firma InnoForce. Er absolviertebei der Oerlikon Balzers AG (Liechtenstein) eine Ausbil-dung zum Physiklaboranten. Im Anschluss an die Berufs-lehre bestand er die Aufnahmeprüfung an der ETH Zürichund erlangte dort das Diplom zum Maschinenbauinge-nieur. Die Zusatzausbildung zum Gymnasiallehramt er-langte er 2004. Christoph Wille spricht fünf Fremdspra-chen. Seine Diplomarbeit „Virtuelle Umgebung für die

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186 11 InnoForce (Liechtenstein)

Force-Feedback-Forschung“ konnte er bei einem interna-tionalen Kongress in Brasilien präsentieren. Weitere zu er-wähnende Tätigkeiten im Informatikbereich sind die Mit-arbeit an einem Computerprogramm zur Videoanalyse vonTennisspielern sowie ein Arbeitsverhältnis im Dienste derBetriebsinformatik an der ETH Zürich.

Rudolf Robinigg ist Medizininformatiker FH und absol-viert derzeit ein Masterstudium. Er arbeitet seit einem Jahrbei InnoForce. Seine Tätigkeitsfelder liegen im operativenBereich – dem Programmieren. Dank seiner guten Kennt-nisse in der Medizininformatik leistet er einen wertvollenBeitrag im Rahmen der Entwicklung der InnoForce-Pro-dukte. Er steht in einem Beschäftigungsverhältnis von 60%bei InnoForce.

Daniel Baumgartner ist Maschinenbauingenieur mit Ver-tiefung in Medizintechnik. Er arbeitete 4 Jahren in der Pro-thesenforschung bei der RMS Foundation in Bettlach(Schweiz). Anschließend begann er eine Doktorarbeit amInstitut für Biomechanik der ETH in Zürich. Herr Baum-gartner ist als Teilzeitmitarbeiter bei InnoForce tätig undfür die Bereiche Kundenberatung (meist Chirurgen) undMarketing zuständig. Seit 4 Jahren ist er Verwaltungsrats-mitglied der Firma.

Prof. Thomas Spillmann unterstützt InnoForce insbeson-dere durch seine hohe medizinische Kompetenz. Seine Er-fahrungen auf dem Gebiet der Audiometrie trugen maß-geblich zur Entwicklung von „Otis – der virtuelle Patient“bei. Herr Spillmann (66) ist Facharzt für Hals-Nasen-Oh-ren-Heilkunde (ORL) und mittlerweile im Ruhestand. Erwar langjährig leitender Arzt der Abteilung für Audiopho-nologie der Universitätsklinik Zürich und unterrichteteMedizin an der Universität Zürich. Dr. Spillmann ist Mit-glied mehrerer nationaler und internationaler Fachvereini-gungen. Heute unterstützt er InnoForce als medizinischerBerater sowie Referent bei Audiometriekursen.

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Bettina Thurnher, Michaela Frick, Stefan Wilhelm & Sascha Kraus 187

Thomas Christie ist Informatikingenieur (FH) und hatsein Studium als Klassenbester abgeschlossen. Er arbeitetseit über 5 Jahren als freier Mitarbeiter für InnoForce miteiner 100%-Anstellung.

Marco Romero ist Informatikingenieur FH. Sein Spezialge-biet liegt im Bereich Datenbanken. Er unterrichtet Daten-banktheorie an der Universität Mar del Plata (Argentinien).Marco Romero arbeitet seit 3 Jahren für InnoForce.

Federico Basualdo ist Informatikstudent und arbeitet seiteinem Jahr wöchentlich 15 Stunden für InnoForce.

Alois Wille (28) absolvierte ein MBA-Studium an der Uni-versität Liechtenstein. Er befindet sich in einem Beschäfti-gungsverhältnis bei der LGT Bank in Liechtenstein undunterstützt InnoForce im Rahmen finanzadministrativerTätigkeiten.

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12E-ADMIN (Litauen)

Ilona Buciuniene, Ruta Kazlauskaite & Christian Serarols

12.1 Einleitung

Es war ein früher Morgen im Frühling 2010. Nach einer schlaflosen Nacht schauteJonas Butkus, Geschäftsführer von E-Admin122, aus dem Fenster seines luxuriösenBüros im sechsten Stock und überlegte, was er machen sollte. In der kurzen Unter-nehmensgeschichte hat E-Admin einen Ruf als zuverlässiger und qualifizierter Ver-walter von E-Commerce-Internetseiten gewonnen. Nun, da sich die globale Wirt-schaft langsam nach der Finanz- und Wirtschaftskrise wieder erholte, erhielt dasUnternehmen mehr und mehr Angebote, um seine Tätigkeiten zu erweitern undneue E-Commerce-Internetseiten zu administrieren. Kürzlich hat sich einer derweltweit führenden und größten E-Commerce Websites an E-Admin gewendet: E-Admin hätte die Möglichkeit, diesen Weltmarktführer mit Internetdiensten und des-sen Verwaltung auszustatten – eine gute Geschäftsgelegenheit! Dieses Angebot warvor allem ansprechend für E-Admin, da sie einen Großauftrag erhalten würden undsomit eine gute Einnahmequelle erzeugen könnten. Allerdings würde ein solcherGroßauftrag eine Expansion des Unternehmens und die Einstellung und Verwaltungneuer Mitarbeiter voraussetzen – dies hätte Auswirkungen auf das derzeitige Ge-schäft. Jonas fragte sich, ob es der richtige Zeitpunkt für so eine rasche Entwicklungdes Unternehmens war. In letzter Zeit tauchten immer mehr Probleme mit der Ver-waltung des Personals auf und das Personalmanagement hatte den größten Teil sei-ner Zeit in Anspruch genommen. Somit war es nicht überraschend, dass er die Mög-lichkeit zur Expansion mit großer Vorsicht behandelte. Das letzte, was er wollte, war,dass er den Konditionen zustimmen würde, die vereinbarten Ziele jedoch nicht er-füllen konnte. Er war der Meinung, dass es langfristig noch schädlicher für E-Adminwäre, nicht in der Lage zu sein, den Erwartungen ihres neuesten Kunden zu entspre-chen. Heute war der Tag, an dem Jonas eine endgültige Entscheidung treffen unddem Kunden Bescheid geben musste, ob E-Admin das Angebot, deren Website zuverwalten, annehmen würde oder nicht.

22 Der Fall stellt eine reale Situation eines Betriebes in Litauen dar. Er wurde bearbeitet, um eineLehrdiskussion über die Probleme, die beimWachstum eines Unternehmens erstehen, zu erlau-ben und soll nicht werten, ob hier effektiv oder ineffektiv gehandelt wurde. Der Name des Un-ternehmens und des Geschäftsführers wurden verändert.

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190 12 E-ADMIN (Litauen)

12.2 Hintergrundinformationen über das Unternehmen

Im Oktober des Jahres 2003 suchte Jonas, ein erstsemestriger Student für Telekom-munikation und Kommunikation an der Kaunas-Universität in Litauen, einen Job,um die Gebühren für seine Mitgliedschaft im Fitnessstudio bezahlen zu können. Al-lerdings erwies sich dies als schwieriger, als er erwartet hatte. Bei endlosen Vorstel-lungsgesprächen erhielt er immer nur den Trostpreis. Mehrfach wurde ihm die Posi-tion eines Vertriebsmitarbeiters angeboten, und er verlor beinahe die Hoffnung, einegeeignete Stelle zu finden. Glücklicherweise bot ihm ein Unternehmen, die eine aus-ländische E-Commerce-Internetseite für Litauen vertritt, eine Arbeitsstelle an, beiwelcher Jonas in einer Schicht von 18:00 bis 05:00 Uhr die E-Commerce-Internet-seite überwachen musste. Insbesondere musste er dabei neue Verkaufsartikel auf dieWebsite hochladen, die Datenbank analysieren, Kundenaktivität beobachten undden Warenbestand kontrollieren. Dabei betrug das monatliche Gehalt 500 Litas imMonat23. Dies war der ideale Job für Jonas, denn das Studentenwohnheim, wo er zuder Zeit lebte, hatte die schnellste Internetverbindung der Stadt. Zuerst arbeitete Jo-nas als freier Mitarbeiter, wobei er sich dem Gesetz entsprechend nur bei der staat-lichen Steueraufsicht registrieren und einen Gewerbeschein erwerben musste. Je-doch fand Jonas es bald zu kompliziert, die Nachtschichten mit seinem Studium zukoordinieren, sodass er beschloss zu kündigen. Da der Arbeitgeber nicht wollte, dassJonas aufhörte, bot er ihm an, bei der gleichen Bezahlung weiter zu arbeiten, ihmdabei aber einen weiteren Studenten als Hilfskraft einzustellen, um ihm eine bessereZeiteinteilung zu ermöglichen. Anfangs war Jonas erfreut, jemanden zu haben, derfür ihn arbeitete und er somit weiterhin gute Arbeit leisten und sich nebenbei trotz-dem auf sein Studium konzentrieren konnte. Allerdings musste er schon bald zuge-ben, dass die Menge an Arbeit auch für zwei Personen zu viel sei, und sie beschlossengemeinsam, mit dem Arbeitgeber noch einen weiteren Studenten einzustellen – bisletztlich alle Studenten aus Jonas Studentenwohnheim für ihn bei E-Commerce ar-beiteten. Sie alle arbeiteten als freie Mitarbeiter und berichteten an ihren Manager,Jonas. Dieser war ausschließlich für die Zusammenarbeit mit den Kunden und dieEinstellung und Verwaltung der freien Mitarbeiter verantwortlich. Die Art der Pro-dukte, die auf E-Commerces Webseiten verkauft wurden, war breit gefächert. Es gabzum Beispiel Schmuck, Mode und Accessoires, Elektronik, und sogar Kunst. An-fangs suchte Jonas nach weiteren Freiberuflern, die ihm von seinen Kommilitonenempfohlen wurden – das war ein günstiger und schneller Weg. Die Studenten konn-ten auch von ihrem Zimmer imWohnheim arbeiten, wo Jonas sie trotzdem im Augebehalten konnte. Allerdings fuhr er damit fort, lange zu arbeiten, tagsüber undnachts, an Wochenenden und sogar in seinen Ferien. Durch eine höhere Anzahl anAngestellten stieg auch sein Arbeitspensum; er musste Dienstpläne erstellen, Arbeits-aufgaben verteilen und die Qualität der Arbeit jedes einzelnen Mitarbeiters überwa-chen. Manchmal musste er sogar nachts zu seinen Mitarbeitern in die Zimmer, umsie für die Nachtschicht zu wecken. Egal, wie hart Jonas auch arbeitete, er wurde im-

23 1 € = 3,4528 Litas (fester Wechselkurs). Im Jahr 2003 betrug der durchschnittliche Nettogehaltin Litauen LTL 786,40.

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mer wieder mit unvorhersehbaren Problemen bei der Verwaltung der Studentenkonfrontiert. Als Telekommunikations- und IT-Studenten spielten sie mit der Ent-wicklung eines Programms, um die Internetseite zu überwachen und Dateien auszu-führen. Dieses Programm war fehlerhaft, sodass Systemfehler und Pannen produ-ziert wurden, die von den Website-Managern in den USA nicht unbemerkt blieben.Erfreulicherweise wurden die Fehler schnell behoben und die Funktionalität derWebsite konnte wieder gewährleistet werden. Der Umfang der Unternehmensaktivi-täten wuchs weiter, und mehr Personal wurde benötigt. Da es zu kompliziert wurde,eine Gruppe von freien Mitarbeitern zu leiten, entschied Jonas, ein Unternehmen zugründen und aus allen angestellten Freiberuflern Vollzeitbeschäftigte zu machen. So-mit mietete Jonas im Juni 2006 ein geräumiges Büro im Zentrum der Stadt und ver-lagerte alle Unternehmensaktivitäten in den neuen Bürostandort, wodurch dieFirma E-Admin entstand. Anfangs fanden seine Mitarbeiter, wovon die meisten Stu-denten waren, es schwer, sich an die neuen Arbeitsbedingungen anzupassen, da siedaran gewohnt waren, von ihren Zimmern im Studentenwohnheim aus zu arbeiten.Nun mussten sie ins Büro gehen und nach einem festen Zeitplan arbeiten. Doch diemoderne Büro-Umgebung mit komfortablen Arbeitsplätzen und der notwendigenAusstattung half ihnen bei der Anpassung an die neue Arbeitsumgebung.

Als das Unternehmen weiter wuchs, bemerkte Jonas, dass es seinen Kommilito-nen oft an Kompetenz und Motivation fehlte, um den Anforderungen gerecht zuwerden. Jonas beschloss, auch Nicht-Studenten einzustellen, um zu sehen, ob dieseinen Unterschied macht. Da die Nachfrage ständig wuchs, stellte Jonas monatlichzwei bis drei neue Mitarbeiter ein. Bis Dezember 2007 waren 27 Angestellte bei E-Admin beschäftigt, und der tägliche Umsatz der Internetseiten unter ihrer Verwal-tung hatte eine halbe Million erreicht. Im Sommer 2008, als die USA von einer Wirt-schafts- und Finanzkrise getroffen wurde, begann der Tagesumsatz der Websites zufallen, bis er August 2008 nur noch € 300.000 betrug. Dies führte unvermeidlich zueiner Optimierung der Arbeit und zum Personalabbau zum Ende des Jahres 2008.Im März 2009 hatte das Unternehmen 25 Mitarbeiter auf der Gehaltsliste (im Ver-gleich zum April 2008, als das Unternehmen 30 Mitarbeiter zählte). Allerdings be-gannen auch die Unternehmen, denen die Websites gehörten und von denen derGroßteil aus dem Ausland war, ihre Mitarbeiter aufgrund der wirtschaftlichen Situa-tion zu reduzieren. Da Arbeitskräfte in Litauen erheblich günstiger sind, verlagertenausländische Unternehmen einige Arbeitsstellen dorthin. Daher begann E-Adminein Jahr später, im November 2009, die Zahl an Mitarbeitern wieder zu erhöhen. Da-rüber hinaus hatte das Unternehmen begonnen, Dienstleistungen für neue Kundenim Bereich des E-Commerce anzubieten. Im April 2010 hatte E-Admin 36 Mitarbei-ter mit einem Durchschnittsalter von 26 Jahren.

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192 12 E-ADMIN (Litauen)

12.3 Leitung

Seit der Gründung von E-Admin hatte Jonas das Prinzip, seinen Mitarbeitern immerdas Beste zu bieten, aufrechterhalten. Auch seine Manager ermutigte er, dasselbe zutun:

„Man sollte immer versuchen, dass Menschen sich wohlfühlen. Sie werden sich dann mehr Mühe beiihrer Arbeit geben. Auf keinen Fall darf man sie demütigen oder sich über sie lustig machen. Ich er-innere Website-Manager immer wieder daran, dass es nicht nur ihre Pflicht ist, dafür zu sorgen, dassMitarbeiter ihre Arbeit machen, sondern auch daran, sie aufzumuntern und glücklich zu machen.“

Jonas bemühte sich, das Arbeitsumfeld so angenehm wie möglich zu gestalten. Erwollte ein modernes und professionelles Büro, das trotzdem gemütlich war. Er gingselbst los, um preiswerte Möbel einzukaufen, die sich für eine derartige Büroumge-bung eignen würden. So wurde das Büro mit einer Kombination aus modernen undantiken Möbelstücken eingerichtet. Für seine Angestellten hatte Jonas auch einekleine Küche im Büro aufgebaut, wo eine Kaffeemaschine platziert wurde, an derman sich kostenlos bedienen durfte. Darüber hinaus wurde den Mitarbeitern kos-tenloses Gebäck, Milch etc. zur Verfügung gestellt.

Da Jonas aus einer Kleinstadt kommt, ist er daran gewöhnt, Menschen zu ver-trauen. Daher wurden die Beziehungen zu seinen Mitarbeitern schon seit der Grün-dung auf der Grundlage von Vertrauen gebildet. Allerdings wurde ein System zurRegistrierung, wo sich jeder Mitarbeiter täglich beim Beginn und Schluss der Ar-beitszeit eintragen musste, eingeführt, um den Betrieb zu automatisieren. Zunächstmussten die Angestellten täglich aktuell Bericht erstatten, jedoch empfand Jonas esnach einer Weile als zu zeitaufwändig, und er verzichtete auf diese Berichte, vor al-lem aber auch, weil er wachsendes Vertrauen in seine Mitarbeiter hatte. Dennochzweifelte Jonas immer noch ein wenig, dass seine Angestellten ihre volle Kapazitätund ihr Potenzial bei der Arbeit voll nutzten. Er fand, dass sie das taten, was siemussten, sie jedoch kaum Eigeninitiative oder Kreativität zeigten und er überlegte,wie er das ändern konnte. Gut möglich, dass er daran selber schuld war, denn ob-wohl er nun sein eigenes Unternehmen besaß, war er in seiner Denkweise noch im-mer nur der Angestellte seines damaligen Arbeitgebers. Er verbrachte viel Zeit mitkleinen, unwesentlichen Fragen, anstatt sich mehr um die strategischen Fragen undAngelegenheiten von E-Admin zu kümmern. Nach sieben Jahren in dieser Brancheund vier Jahren des eigenen Firmenbestehens hatte sein Unternehmen noch immerkeine wirklich Vision, Mission oder Unternehmensstrategie. In letzte Zeit führte die-ses Fehlen einer klaren Richtung zur Unzufriedenheit der Mitarbeiter. Wie ein Mit-arbeiter sagte:

„Dem Unternehmen fehlt eine Vision und eine Mission. Es ist nicht deutlich, welche Ergebnisse ausjeder der Webseiten zu erwarten sind.“

Die Struktur von E-Admin ist eher flach. Es gibt drei wesentliche Stufen im Organi-sationsschaubild (siehe Anhang 2), welches Auflister, Betreiber und Seitenprüfer be-inhaltet. Auflister analysieren Datenbanken, die Informationen über die Güter und

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die Bestände enthalten und sie erstellen Listen über die Waren, die auf den Websitesplatziert werden. Sie sind auch für die Bestimmung der Preise verantwortlich. DieBetreiber/Bediener überwachen die Kundenaktivität und kontrollieren den Bestandder Ware entsprechend dem Verkauf. Auch steuern und kontrollieren sie den Waren-eingang. Auflister und Betreiber arbeiten in der gleichen Schicht von 09:00 bis 18:00Uhr. Seitenprüfer überwachen das Kundenverhalten online, analysieren die Erwerbs-geschichten von suspekten oder betrügerischen Kunden und sind verantwortlich fürdie Ermittlung und Beseitigung von technischen Problemen. Der Job an sich erfor-dert keine hohe Kreativität, es ist jedoch unerlässlich für Seitenprüfer, sehr aufmerk-sam zu sein. Da sich das Unternehmen mit Käufern aus der ganzen Welt, größten-teils aus den USA, beschäftigt, arbeiten die Seitenprüfer in drei Schichten – dieNachtschicht benötigt dabei mehr Mitarbeiter. Der Arbeitslohn hängt von der Posi-tion ab, generell kann man jedoch sagen, dass Seitenprüfer am wenigsten verdienen,während Auflister das höchste Gehalt bekommen.

12.4 Personalbeschaffung

Der Ansatz zur Einstellung von Personal änderte sich und wurde mit der Zeit profes-sionalisiert. Zunächst stellte Jonas lediglich Mitarbeiter basierend auf seiner Intui-tion ein, was meistens gut funktionierte, wenn es Freunde oder andere Studentenaus seinem Wohnheim, die ihm bekannt waren oder von schon vorhandenen Mitar-beitern empfohlen wurden, waren. Zu dieser Zeit hatte er auch Verbindung zum Ar-beitsvermittlungsbüro der Universität. Jedoch führte der konstante Zufluss an Stu-denten in den Betrieb zu einer Verschlechterung der Arbeitsmoral; es ist schwer, mitFreunden zu arbeiten und noch schwerer, sich dabei diszipliniert zu verhalten. AlsFolge davon war es auch nicht so einfach, von einem familiären Umfeld in ein pro-fessionelles zu wechseln. Dies bereitete Jonas viele Sorgen, z. B. entstanden kleineGruppen von Freunden, wobei die Mitglieder dieser „Cliquen“ sich, wenn nötig, ge-genseitig deckten. Dies führte auch zu Problemen bei der Informationsweitergabe,Kommunikation und dem allgemeinen Arbeitsklima. Neben den direkten Auswir-kungen, die diese Freundschaften auf die Arbeit hatten, wollten die Freunde auch inihrer Freizeit gerne Zeit zusammen verbringen und so bestanden viele darauf, zurgleichen Zeit Urlaub zu bekommen. Beispielsweise forderten vier Mitarbeiter mitder gleichen Position und den gleichen Aufgaben jährlich Urlaub, um zu einem Kon-zert ihrer Lieblingsband ins Ausland fahren zu können. Solche Vorfälle verursachtenerhebliche Vertretungsprobleme im Betrieb.

Allmählich, als Jonas mehr Selbstvertrauen und Erfahrung sammelte, entwickelteer sein eigenes Auswahlsystem und eine eigene Methode für Bewerbungsgespräche.Er legte nicht zu viel Wert auf die Arbeitserfahrung, da er glaubte, dass fleißige undverantwortungsvolle Studenten sich zu guten und vielversprechenden Angestelltenentwickeln können. Um diesen Prozess zu optimieren, sollten alle Kandidaten einenAbschluss in technischen Wissenschaften, Mathematik oder Informatik haben. Eineweitere notwendige Voraussetzung war, dass jede Person Kenntnisse in Microsoft Ex-

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cel besaß. Demnach wurde der Betrieb für eine lange Zeit von Angestellten miteinem mathematischen Hintergrund und guten analytischen Fähigkeiten dominiert.Schließlich realisierte Jonas, dass es dem Unternehmen an Mitarbeitern fehlt, die fä-hig waren, sich mit Mode- und Shopping-Trends zu befassen. Diese Fähigkeiten be-nötigte E-Admin jedoch, um Kundenbedürfnisse vorhersehen und um auf die sichändernden Bedürfnisse der Verbraucher reagieren zu können. Zu seinem Glückmachte es die wachsende Arbeitslosenrate in Litauen im Jahr 2009 einfacher, qualifi-zierte und kompetente Arbeiter aus dem Einzelhandel oder Angestellte, die in Mode-geschäften gearbeitet hatten und somit Erfahrungen im Verkauf hatten, anzuziehen.Außerdem begann Jonas die Dienste von Arbeitsagenturen in Anspruch zu nehmen.Das half, sein Arbeitspensum zu reduzieren, da die Agentur bereits Kandidaten fürE-Admin auswählte. Während eines Bewerbungsgesprächs beurteilte Jonas die Ar-beitserfahrung der einzelnen Kandidaten und deren Fähigkeiten zur Arbeit mit di-versen Computerprogrammen, z. B. Microsoft Dynamics AX. Jonas glaubte, dass eraufgrund des eher monotonen Charakters der Arbeit keine energiegeladenen Ange-stellten benötigte, sondern eher den bodenständigen Typ. Er stellte bevorzugt syste-matisch und detailliert arbeitende Angestellte ein. Ein wichtiges Auswahlverfahrenwar hierbei für ihn eine Versuchsaufgabe, durch die er die Fähigkeit des Kandidaten,mit großen Datenmengen umgehen zu können, testen konnte. Jonas lernte durchErfahrung und durch Fehler. Nun kontrollierte er auch die Hintergrundinformatio-nen der einzelnen Kandidaten sorgfältiger und immer, wenn er Zweifel in Bezug aufdie vorherigen Arbeitserfahrungen von Bewerbern hatte, kontaktierte er auch derenehemaligen Arbeitgeber.

12.5 Personalentwicklung

E-Admin bietet ein arbeitsbezogenes Einführungsprogramm für ihre neuen Ange-stellten. Dieses wird von einem erfahrenen Mitarbeiter durchgeführt, wo der Ar-beitsplatz des Neulings im Büro neben dem eines erfahrenen Mitarbeiters positio-niert wird, damit er in die tägliche Arbeit einbezogen wird. Durch die Beobachtungder Arbeitskollegen wird von neuen Angestellten erwartet, dass sie von ihren Kolle-gen lernen. Als erster Schritt werden den Neulingen kleine Aufgaben gegeben. Dererfahrenere Mitarbeiter ist für die Einführung verantwortlich, überwacht die Leis-tung und unterstützt bei der Integration in das Unternehmen. Das Unternehmenverfügt über kein standardisiertes Einführungsprogramm, jedoch tendieren erfah-rene Mitarbeiter dazu, gerne ihre Kenntnisse zu teilen. Sie werden trotzdem für ihreVerantwortung während der Integrierung belohnt. Wie ein erfahrener Mitarbeiter esausdrückte:

„Mein Ziel ist es, die neuen Mitarbeiter mit den grundlegenden Informationen auszustatten, welchesie für ihre Jobs benötigen; im Laufe der Zeit werden sie von sich aus detaillierter nachfragen. Ichsehe es als meine Aufgabe an, sie so gut ich kann auszubilden . . . dies ist in meinem Interesse, dennimmerhin, je weniger Fehler sie machen, desto weniger Fehler muss ich korrigieren!“

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Dennoch ist Jonas auch aufgefallen, dass einige seiner älteren Mitarbeiter sich be-droht fühlen von den „Neuen“. Er hörte zufällig jemanden sagen: „Ich bilde einenNeuling aus und er wird dafür befördert“. Um solch ein Szenario zu verhindern,stellte Jonas zwei „Berater-Kameraden“ für die neuen Angestellten ein. Somit wur-den die neuen Mitarbeiter also von mindestens zwei erfahrenen Angestellten ausge-bildet. Dies wurde durch die Organisation des Dienstplanes ermöglicht, sodass derNeuling in verschiedenen Schichten arbeiten würde, um mit beiden Ausbildern inKontakt treten zu können. Dies erleichterte Jonas auch zu sehen, ob die Angestelltenzur Schichtarbeit fähig waren. Ein weiterer Vorteil, zwei erfahrene Mitarbeiter zuhaben, die für neue Angestellte zuständig sind und die in verschiedenen Schichtenarbeiten, ist die Verfestigung der Prozesse und der Prozeduren für die neuen Ange-stellten. Der erfahrene Mitarbeiter würde nicht zwangsläufig über die Arbeitsbelas-tung aus einer anderen Schicht oder über die Aufgaben, denen der Neuling schonausgesetzt wurde, Bescheid wissen. Da das Einführungsprogramm nicht standardi-siert ist und es sehr an die Bedürfnisse der Kunden angepasst ist, kann dieser Prozessvon zwei Tagen bis zu zwei Wochen lang dauern. Dies hängt auch stets von der Rolledes neuen Mitarbeiters ab, da manche Rollen mehr Einarbeitungszeit aufgrund vonspezifischen Programmen o. ä. verlangen. Sobald die erfahrenen Angestellten derMeinung sind, dass ein neuer Mitarbeiter dafür geeignet ist, selbständig zu arbeiten,beenden sie ihr Einführungsprogramm und dem neuen Kollegen wird erlaubt, eigen-ständig zu arbeiten. Es gab Fälle, in denen Neulinge sich schon vor der Bestätigungder erfahrenenMitarbeiter fähig zur selbständigen Arbeit gefühlt haben und manchekündigten sogar, obwohl sie nur noch wenige Tage in der Probezeit gewesen wären.Manche kündigten auch, weil sie nicht dazu fähig waren, sich in das Unternehmenzu integrieren oder weil sie die Arbeitsbelastung als zu anstrengend empfanden.

Im Hinblick auf die Ausbildung des Personals und Entwicklungsmöglichkeitenfür erfahrene Mitarbeiter sind die Möglichkeiten begrenzt. Es gibt wenig oder garkeine Schulungen für sie. Einige Angestellte, die schon seit längerer Zeit bei E-Admineingestellt sind, sind an größeren Perspektiven interessiert – ihre zukünftige Karriereund das Wachstum des Unternehmens. Sie fühlen sich nun zu erfahren für ihren Jobund würden sich besser gefordert fühlen, wenn das Unternehmen weiter vorwärtsge-hen würde – mit einer Strategie und Vision, die Veränderungen und Wachstum mitsich bringen würde. Wie ein Mitarbeiter sagte:

„Wir brauchen Schulungen darüber, wie wir uns zu verhalten haben bei den Veränderungen, mitdenen dieses Unternehmen konfrontiert wird. Mir persönlich würde es helfen, wenn ich die Richtungund das Ziel dieses Unternehmens besser verstehen würde.“

Die Organisationsstruktur des Unternehmens war eher flach, sodass es nur wenigeMöglichkeiten zur Beförderung gab. Angestellte konnten sich nur zwischen Positio-nen auf der gleichen Lohnskala bewegen. Beispielsweise konnte ein Seitenprüferzum Auflister werden. Jonas war sich jedoch von Anfang an der Herausforderung be-wusst und versuchte sich damit abzufinden. Zur Belohnung für leistungsstarke Mit-arbeiter verlegte Jonas sie von der Schichtarbeit zu festgelegten Arbeitszeiten (z. B.9–17 Uhr). Einer der Mitarbeiter sagte:

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„Die Arbeit tagsüber ist angenehmer als Schichtarbeit. Es ist wirklich eine Art Beförderung . . . Es istsehr wichtig zu wissen, was deine Karrieremöglichkeiten sind.“

Jonas gewöhnte sich daran, der Hauptentscheidungsträger zu sein; es war eine Tätig-keit, die er noch ausführte, bevor E-Admin gegründet wurde. Als jedoch das Unter-nehmen wuchs und sich ständig entwickelte, realisierte Jonas, dass er sich nichtmehr allein um alles kümmern konnte. Deshalb entschied er, Team-Manager zu be-nennen. Er wollte weder eine genaue Tätigkeitsbeschreibung für diese Position auf-stellen noch wollte er diese in ihrer Funktion limitieren. Würde er die Funktion nä-her beschreiben, wäre es nicht einfach, die Fähigkeiten zu bestimmen, die für einenguten Team-Manager erforderlich sind. Anfangs dachte er, dass es nützlich wäre,wenn die Team-Manager die Möglichkeit hätten, innerhalb der verschiedenen Ar-beitsgruppen und Projekte zu rotieren. Dies wäre einfach auszuführen, da sich derGroßteil der Aufgaben in jeder Arbeitsgruppe wiederholen. Jonas dachte, dass esnützlich wäre, diese Strategie anzuwenden, um Mitarbeiter mit starken Führungs-kompetenzen identifizieren zu können; die Abwechslung in dieser Rolle würde denBereich des Team-Managers bereichern und somit anziehend für einige Mitarbeitersein. Mit der Zeit realisierte Jonas jedoch, dass das Bestimmen der Team-Managerein heikles Thema im Personalmanagement war, weil Teamführer scheinbar automa-tisch aus erfahrenen und altgedienten Mitarbeitern ernannt werden. Dies hatte dasPotenzial, Spannung zwischen Angestellten in der gleichen Arbeitsgruppe zu schaf-fen. Zum Beispiel gab ein Manager zu:

„Ich bin ein Manager. Als ich zu dieser Position bestimmt wurde, war ich krank und Jonas benanntemich, ohne mich offiziell dem Rest der Gruppe in meiner neuen Rolle vorzustellen. Dies wurde erstspäter erledigt. Nun gibt es ein wenig Spannung zwischen den Mädchen und mir in meiner Arbeits-gruppe, da ich zuvor die gleiche Position wie sie hatte. Jetzt habe ich eine Stelle mit mehr Führungs-macht. Allerdings versuche ich, persönliche Probleme zu meiden und wir reden bei der Arbeit nurüber die Arbeit.“

Jonas musste bindende und stringente Richtlinien für die Team-Manager einführen,um sicherzustellen, dass sie ihre Jobs bestmöglich ausübten, sodass alle Mitarbeiterin den Arbeitsgruppen ihr Bestes geben konnten. Insbesondere erteilt Jonas denTeam-Managern Rat über Möglichkeiten, mit ihren Angestellten zu kommunizierenund wie sie Strategien entwickeln konnten, um ihre Mitarbeiter bei der Erfüllungihrer Aufgaben zu unterstützen. Im Hinblick auf die Ausbildung zur Position desTeam-Managers wurde von einem Angestellten erwartet, dass er während des Arbei-tens durch die Praxis lernte. Es standen keine spezifischen Management-Lehrgängezur Verfügung. Die Meinungen über den Erfolg oder Misserfolg des Team-Managerswaren geteilt. Einige Angestellte in den Arbeitsgruppen waren zufrieden mit ihm:

„Mir fällt es jetzt leichter zu arbeiten, da ich nun einen Vermittler zwischen Jonas und mir habe.Verantwortlichkeiten sind jetzt viel klarer.“

Andere, allerdings, waren unzufrieden mit den neuen Managern:

„Früher, als wir noch keine Manager hatten, hatten wir mehr Verantwortung. Mir gefiel das besser.Es wäre gut zu wissen, was genau diese Manager machen.“

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Manche Gruppen hatten immer noch keine Manager und ihre Angestellten sagten:

„Wir haben die Arbeitsbelastung und die einzelnen Aufgaben untereinander verteilt . . . Wir brau-chen keinen Manager.“

Ergebnisse aus einer Mitarbeiterbefragung ergaben, dass die Mehrheit der Angestell-ten gerne an Führungsstatus gewonnen hätte, was allerdings nicht möglich war. Jo-nas fragte sich, wie er mit diese Erwartungen umgehen sollte.

12.6 Kommunikation

Im Allgemeinen vertrauten die Angestellten Jonas. Einer von ihnen sagte:

„Man kann seine Meinung frei äußern. Man geht einfach zu Jonas hin und sagt ihm, was man zusagen hat.“

Die Atmosphäre im Unternehmen war allgemein eher gelassen. Angestellte kommu-nizierten nicht nur bei der Arbeit, sondern nahmen auch gerne an Veranstaltungenteil, die nach der Arbeit organisiert wurden. Wie ein Mitarbeiter sagte:

„Die Beziehungen zwischen uns sind gut; jeder hier ist freundlich. Wir gehen auch öfters Freitag-abends zusammen in Clubs oder an anderen Orten etwas trinken und reden. Jonas organisiert auchmanchmal Gruppenausflüge für uns; jeder ist entspannt . . .“

Das Büro befindet sich auf zwei Ebenen, und die Angestellten arbeiten in zwei gro-ßen Hallen. Deswegen sind die Kontakte zwischen denen, die auf der gleichen Etagearbeiten, intensiver. Jonas versucht die Kommunikation zwischen den beiden Ebe-nen, durch technische Mittel intern zu verbessern. Mitarbeiter kommunizierenüber das Internet, was dazu führt, dass sie daran Gefallen finden, Unternehmensin-formationen zu teilen. Wie ein Angestellter formulierte:

„Wir haben unser eigenes Nachrichtenblatt namens ‚Policemen News‘. Es ist lediglich ein Dokumentin Microsoft Word, welches uns dazu dient, interne Nachrichten zu veröffentlichen und zu aktuali-sieren. Ich lese es in vollem Umfang, bevor meine Schicht beginnt.“

Außerdem können Mitarbeiter über diverse Unternehmensforen über das Internetkommunizieren. Angestellte finden diese Form von Kommunikation eher spontanund unregelmäßig, wie einer sagte:

„Einige Leute geben etwas über dieses Forum bekannt. Dann explodiert es manchmal und alle fan-gen an, dort etwas zu schreiben.“

Jonas weiß, dass falls Kommunikation auf die internen Nachrichtenblätter oder aufdie Foren begrenzt würde, es dazu führen könnte, dass Mitarbeiter bestimmte Infor-mationen nur gelegentlich erhalten und es auch keine Garantie dafür gibt, dass alle

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in die Kommunikation einbezogen werden. Neuerdings hat Jonas damit angefangen,monatliche Versammlungen für alle Angestellten zu organisieren. Die Absicht dieserVersammlungen ist es, die neuesten Angelegenheiten und anfallende Probleme zubesprechen und die Ziele und Pläne für den kommenden Monat festzulegen. Trotzall dieser Bemühungen bleiben Probleme bei der Kommunikation jedoch bestehen.

Kommunikationsprobleme bestehen häufig zwischen Mitarbeitern, die in unter-schiedlichen Schichten arbeiten; die, die in der Nachtschicht arbeiten, treffen kaumdie Kollegen, die tagsüber arbeiten. Weiterhin ist Kommunikation kompliziert beiAngestellten, die in verschiedenen Positionen arbeiten: Scheinbar benehmen sich ei-nige Auflister überheblich gegenüber den Betreibern. Jonas gibt auch dem schnellenWachstum des Unternehmens die Schuld für einige Kommunikationsprobleme zwi-schen Mitarbeitern. Aus der Sicht eines Angestellten zum Beispiel werden Arbeitsrol-len und Verantwortlichkeiten immer ungenauer. Eine Mitarbeiterin äußerte ihre An-sicht wie folgt:

„Man versteht nicht, wer welche Aufgabe zu erledigen hat. Beispielsweise hat die Automatisierungvon Internetseiten die Arbeitsbelastung verringert, jedoch weiß man nicht, ob dies für die Verwal-tung dieser Seiten genügend ist oder nicht.“

12.7 Leistungsmanagement

Ausschließlich Jonas war für die Festlegung der Lohntarife zuständig. Für jede Stelleim Unternehmen berücksichtige er Faktoren wie die Art der Arbeit, die Arbeitsbelas-tung und den Grad der Verantwortung. Dann bestimmte er ein Grundgehalt fürjeden Mitarbeiter. Auflister wurden am höchsten bezahlt, während Seitenprüfernam wenigsten gezahlt wurde. Wer in der Nachtschicht arbeitete oder Überstundenmachte, erhielt das Eineinhalbfache (entsprechend des litauischen Arbeitsgesetzes).Bis 2009, als das Unternehmen wuchs, erhöhte Jonas die Löhne jährlich um 7,5%und zahlte Boni. In Zeiten der Rezession wurde den Angestellten nur ein festes Ge-halt gezahlt. Die Löhne, die von E-Admin angeboten wurden, waren höher oder ähn-elten denen von anderen Firmen der gleichen Branche. Ein Mitarbeiter sagte:

„Im Vergleich zum Arbeitsmarkt verdiene ich sogar vielleicht zu viel. Wenn man jedoch meine Be-triebszugehörigkeit und meine berufliche Entwicklung im Unternehmen berücksichtigt, hat sichmein Lohn sich nicht sonderlich erhöht.“

E-Admin bietet auch einige zusätzliche Vergütungen, wie das Bezahlen der Telefon-rechnungen von Angestellten und die Bereitstellung von kostenlosem Kaffee, Milchund Gebäck. Um Mitarbeiter zu motivieren und ihre Leistungen zu fördern, führteJonas kollektive Boni ein. Bei Erreichen des vorbestimmten Tagesumsatzes bekam je-der Mitarbeiter einen Bonus von 50 Litas zusätzlich zu seinem Gehalt. Anfangs hatdies gut funktioniert, da sich die Leistung der Mitarbeiter beim Versuch, die tägli-chen Ziele zu erreichen, steigerte. Doch nach einiger Zeit zeigte sich, dass bestimmteAngestellte das System missbrauchen konnten, indem sie ihren eigenen Anteil nicht

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beitrugen, ihren Kollegen jedoch zumuteten, die Last auf ihren Schultern zu tragen,um dann den Bonus mit minimalem Arbeitsaufwand zu erhalten. Dieses Bonuspro-gramm hatte also das Gegenteil bewirkt: Höhere Arbeitsbelastungen für die wenigenengagierten Mitarbeiter führten selbstverständlich zu Unzufriedenheit der Angestell-ten und zur Verschlechterung von Beziehungen zwischen Kollegen. Letztendlichwurde von kollektiven Boni abgesehen und durch individuelle Belohnungen ersetzt.Mitarbeiterleistung wurde im Vergleich zu anderen Kollegen bewertet und Boni wur-den für gute Leistung, Initiative, Überstunden und andere Aktivitäten geboten.

Aufgrund von konkurrenzfähigen Gehältern, die dem Personal gezahlt wurden,litt E-Admin nicht an einer hohen Mitarbeiterfluktuation. Im November des Jahres2009, unter Berücksichtigung des Arbeitsmarktes, der hohen Arbeitslosenrate(15,6%), dem hohen Angebot an Arbeitskräften sowie niedrigen Umsätzen, wurdeneuen Mitarbeitern ein vergleichsweise niedriger Lohn angeboten, teilweise sogarfast nur die Hälfte vom marktüblichen Gehalt. Diese Entscheidung erwies sich alshoch umstritten, wie hier erläutert wird.

„Wir fühlen uns ungerecht behandelt; ich hoffe, dass die Situation sich in Zukunft verbessern wird.Ich verstehe dies alles aus der Perspektive des Firmenleiters. Derzeitig besteht ein Arbeitgebermarkt,da diese sich in solch einer Situation erlauben können, wählerisch zu sein und dazu auch das Gehaltso zu bestimmen, wie es ihnen passt. Außerdem konkurrieren wir mit günstigeren Versorgern inWeißrussland. Von daher gibt es nicht viel, was wir in dieser Lage machen können. Es gibt zurzeitkeine Arbeitsplätze in Litauen, aber wenn Angestellte ein besseres Angebot bekommen würden, wür-den sie zweifellos gehen . . . nichts würde sie hier festhalten, weder tolle Arbeitskollegen noch ein guterManager.“

Im Januar des Jahres 2010, als der Vertrieb und der Tagesumsatz wieder zu wachsenbegannen, stellte Jonas fest, dass er die Lohntarife aller Mitarbeiter nochmals nach-prüfen musste. Einige Angestellte waren der Ansicht, dass Jonas Bonusse verteilensollte, die dem jeweiligen Lohn entsprachen, sodass die Mitarbeiter dadurch moti-vierter sein würden. Ein Angestellter erklärte:

„Beispielsweise könnten die Ideen der einzelnen Mitarbeiter belohnt werden. Eine Idee sollte dabeinatürlich zur allgemeinen Leistung des Unternehmens beitragen.“

Andere glaubten:

„Boni sollten basierend auf dem Umsatz des Unternehmens berechnet werden. Dies könnte als Grup-penbonus angesehen werden und würde das Personal zur Suche nach besseren Lösungen und zurVerbesserung der internen Kommunikation ermutigen.“

Während Jonas immer an den Meinungen seiner Mitarbeiter interessiert war, war ergrundlegend gegen Gruppenboni, da er aus vergangenen Erfahrungen gelernt hat. Erweiß, dass er sich bald mit diesem Problem befassen muss, er ist sich nur noch un-sicher, wie er es am besten angehen soll.

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200 12 E-ADMIN (Litauen)

12.8 Fazit

Langsam fing es an, über Jonas zu dämmern; er hatte den ganzen Tag damit ver-bracht, die Unternehmensstrategie zu überdenken. Die Aufzeichnungen illustrierten,wie E-Admin sich in einem so kurzen Zeitraum zu einem erfolgreichen Unterneh-men unter seiner alleinigen Leitung entwickelt hatte. Er notierte sich, dass er es sichzur Priorität setzen würde, in einer Versammlung mit seinem Führungsteam einenEntwurf für die Unternehmensstrategie für die nächsten fünf Jahre zu erstellen.Nach einem Tag des Nachdenkens war sich Jonas einer Sache sicher: Ihm war nunbewusst, dass er eine Assistenz in seiner Führungsrolle benötigte. Wenn er das Ange-bot vom Weltmarktführer annehmen würde, würde er wieder dort landen, wo er2005 schon war: überarbeitet und von den komplizierten Fragen der Personalverwal-tung überfordert. Er warf einen Blick auf seine Mitarbeiter, um zu schauen, wer dasZeug zu einem guten Chef haben könnte – dabei war er sich jedoch nicht sicher, ob eseine gute Idee wäre, intern jemanden für diese leitende Position für das Unterneh-men zu benennen. Außerdem hatte das Unternehmen sicherlich Probleme im Perso-nalbereich, aber welches wachsende Unternehmen hatte diese nicht? Das derzeitigeArbeitskollektiv arbeitete gut miteinander – die Leistung war gut, und das Unterneh-men hatte einen guten Ruf im Bereich von Verwaltung für E-Commerce gewonnen;im Großen und Ganzen gab es eine gute Team-Dynamik, und die Mitarbeiter hattendie letzte gemeinsame Abendveranstaltung sehr genossen. Jonas fand, dass auch dieArbeitsmoral gut war, vielleicht war nun die richtige Zeit, um zu sehen, ob E-Adminsein hohes Potenzial abrufen konnte. Jonas erinnerte sich an ein Sprichwort, das seinGroßvater öfters benutzte: „Die Zeit wartet auf niemanden“. Er wusste, dass er sichentschieden hatte; es war nun Zeit, seine Antwort abzuliefern. Er musste sichergehen,dass er in seinem Antwortmail den richtigen Ton fand, denn dies würde den Ton fürseine Zukunft bestimmen.

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Ilona Buciuniene, Ruta Kazlauskaite & Christian Serarols 201

Anhang 1: Anzahl der Mitarbeiter und Umsatzentwicklung

Legende:Turnover, mln euro = Umsatz in Mio. €Employee number = MitarbeiterzahlQuarterly turnover (million, €) = vierteljährlicher Umsatz (Mio. €)Year‘ quarter = Jahr‘ Quartal

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202 12 E-ADMIN (Litauen)

Anhan

g2:

Organ

isationsstruk

turvo

nE-Admin

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13AXOGLIA (Luxemburg)

Rickie A. Moore & Madhumalti Sharma

13.1 Einleitung

Als Djalil Coowar seine Kindheit und Jugend an den schönen Stränden von Mauri-tius verbrachte, ahnte er noch nicht, dass er eines Tages dabei helfen würde, ein Bio-technologie-Unternehmen in einem der reichsten Länder der Welt zu gründen, inLuxemburg.

Die Idee für Djalils Unternehmen basierte auf dem Potenzial eines Wirkstoffes,ein hocheffizientes biopharmazeutisches Therapeutikum mit großer Stärke undTiefe zu werden. AxoGlia Therapeutics entstand in einem kleinen Universitätslaborin Frankreich. Da sich Djalil jedoch die Möglichkeit bot, nach Luxemburg zu ziehen,realisierte er das Projekt im Großherzogtum. Wie die meisten Start-up-Unterneh-men sah sich AxoGlia Therapeutics täglich mit neuen Herausforderungen und Prob-lemen konfrontiert. Zunächst konnte es mit den Erwartungen der Gründer Schritthalten. Das Wachstum des Unternehmens hatte alle anfänglichen Vorstellungen derGründer gesprengt. Die gute Entwicklung war das Ergebnis harter Arbeit, eines kla-ren Fokus und eines großen Netzwerkes. Der Initiator und wissenschaftliche Leitervon AxoGlia, Djalil Coowar, realisierte jedoch, dass das Unternehmen auf einen kri-tischen Punkt zusteuerte. Das Problem war, dringend benötigte finanzielle Mittel fürdie nächste Wachstumsphase des Unternehmens zu generieren. Die Entwicklung derBiotechnologie-Branche als Alternative zum starken Finanzsektor hatte eine hohePriorität für die luxemburgische Regierung. Sie versprach sich eine größere wirt-schaftliche Unabhängigkeit und höherenWohlstand. Die Entwicklung und Finanzie-rung des Unternehmens war daher auch von großem Interesse für externe Stakehol-der.

Das Unternehmen besaß eine größere Anzahl an vielversprechenden Patenten,die Multiple Sklerose (MS), Alzheimer (AD) und andere degenerative Krankheitendes zentralen Nervensystems heilen könnten. Djalil hoffte daher, dass AxoGlia einenQuantensprung in der Entwicklung machen und die Herausforderungen bewältigenwürde, mit denen das Unternehmen konfrontiert war. Dafür hatte er jedoch zuerstdie Finanzierungsfrage anzugehen. Er musste die verschiedenen Optionen des Un-ternehmens bewerten, um die Mittel für das Unternehmen zu generieren, die eszum Erreichen der nächsten Phase benötigte. Es ist eine Sache, einen Businessplanfür einen Wettbewerb wie den „Creative Young Entrepreneur and Leader Award“ zuerstellen und damit zu gewinnen. Den Businessplan dann in ein gewinnbringendesUnternehmen einer bestimmten Größe umzuwandeln, ist jedoch eine völlig andereSache!

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13.2 Hintergrund

In den vergangenen zehn Jahren hatte der Biotechnologie-Sektor mit einer durch-schnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 17,5% eine Vielzahl von Möglichkeitenfür die Bereiche Medizin, Pharmazie, Materialwissenschaften, Forensik, Nahrungs-mittelverarbeitung, Agrar- und Forstwirtschaft, Treibstoffherstellung, Informations-technologie, Verteidigungsindustrie etc. geschaffen. Von vielen Regierungen wird derBiotechnologiebereich als der nächste große technologische Motor ökonomischenWachstums gesehen. Die Forschung im Biotech-Bereich ist jedoch extrem teuer undkann mitunter Jahre dauern. Viele substanzielle Investments müssen in vielverspre-chende Ideen geleistet werden, bevor ein Fazit gezogen werden kann. Häufig endendie Bemühungen sogar in einer Sackgasse.

Eine Untersuchung der Marktdaten durch Djalil zeigte, dass sich die Umsätze derweltweiten Biotech-Industrie im Jahr 2004 auf USD 540Mrd. und im Jahr 2005 aufUSD 600Mrd. beliefen. Für das Jahr 2010 wurde ein Umsatz von einer Billion USDgeschätzt. Der amerikanische Markt umfasst dabei 70% des Weltmarktes. Dieser An-teil kann zum Großteil auf die Existenz großer Märkte für Biotech-Produkte in denUSA zurückgeführt werden. Zudemwusste er, dass die Umsätze börsennotierter Bio-tech-Unternehmen zwischen 1998 und 2003 in den USA um jährlich 115% gestie-gen waren, in Europa um 754% und in Kanada um 246%.

Hinter den Anstrengungen und Initiativen der luxemburgischen Regierung, denBiotech-Sektor zu fördern, stand die Absicht, Luxemburg als Standort für Venture Ca-pital-Finanzierungen zu stärken und das Wachstum in Forschung und Entwicklungund der Wirtschaft im Großherzogtum zu unterstützen. Im Jahr 2009 gab die luxem-burgische Regierung eine strategische Partnerschaft von drei weltweit führenden ame-rikanischen Forschungsinstitutionen mit Forschungszentren des Großherzogtumsund der Universität Luxemburg bekannt. Diese Partnerschaft konzentrierte sich aufmolekulare Diagnostik, die eine Schlüsselrolle bei personalisierten Heilverfahren be-saß. Diese Heilverfahren basieren auf den genetischen und biologischen Charakteris-tika der zu behandelnden Individuen. Im Rahmen der Partnerschaft wurde eine soge-nannte „Bio-Bank“ in Luxemburg gegründet, in der biologischesMaterial gesammeltund analysiert wurde, wie z. B. Gewebe- oder Blutproben. Diese Daten sollten be-stimmtenForschungsgebieten,wie z. B. derKrebsforschung, zugänglich gemachtwer-den und sie dadurch unterstützen. Über fünf Jahre wollte die Regierung des Großher-zogtums bis zu € 140Mio. bereitstellen und in drei Forschungsprojekte imBereich derpersonalisierten Medizin investieren. Neben dem Gesundheitsbereich und der For-schung sollte dadurch auch die Entwicklung des Life-Science-Clusters in Luxemburggefördert werden und damit dazu beitragen, dieWirtschaft des Landes zu diversifizie-ren.

Mit LUXINNOVATION wurde eine öffentliche Einrichtung für Innovation undForschung gegründet. Sie sollte als erste Anlaufstelle für F&E in Luxemburg dienen.Hierfür hatten sich sechs private und öffentliche Partner im Land gefunden, zu de-nen auch das Ministerium für Wirtschaft und Außenhandel sowie die luxemburgi-sche Industrie- und Handelskammer gehörten. Luxinnovation besaß die Aufgabe,Unternehmen (und öffentliche und private Forschungsorganisationen) zu informie-

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ren, zu fördern und zu unterstützen, um dadurch Kreativität, Forschung und Ent-wicklung zu stimulieren und den Transfer der Ergebnisse in die Praxis zu erleichtern.Die Wettbewerbsfähigkeit und Produktivität sollte erhöht werden, die Diversifika-tion der Wirtschaft steigen und die Schaffung neuer Aktivitäten und innovativer Un-ternehmen gefördert und damit die nachhaltige Entwicklung der Wirtschaft und dasWohl der Menschen in Luxemburg erhöht werden. Durch die Durchführung der Po-litik, Programme und Initiativen der Regierung und eine konkrete Ansprache derBedürfnisse seiner Zielgruppen konnte Luxinnovation durch ein Portfolio aufeinan-der abgestimmter Dienstleistungen den Zugang zu Wissen, Finanzierung, Technolo-gien, Geräten, Infrastruktur, Netzwerken, Märkten und Geschäftsmöglichkeiten er-leichtern. Dabei beteiligte es sich auf nationaler, überregionaler und internationalerEbene, um die Zusammenarbeit zu stärken und Netzwerke zu fördern. Dadurch soll-ten letztlich die Attraktivität des Standortes für F&E und die Sichtbarkeit des luxem-burgischen Wirtschaftssektors und der Wissenschaftler weltweit erhöht werden.

13.3 Das Unternehmen AxoGlia

AxoGlia war ein Spin-off, das aus einer Forschungszusammenarbeit der UniversitätLuxemburg und dem französischen Forschungszentrum „Centre national de la re-cherche scientifique“ (CNRS) hervorgegangen war. Als biopharmazeutisches Unter-nehmen war es auf die Entdeckung und Entwicklung innovativer Wirkstoffe für dieBehandlung degenerativer und entzündlicher Krankheiten des Nervensystems spezi-alisiert, wie z. B. Alzheimer oder Multiple Sklerose. Es war in Luxemburg angesiedelt,um vom vorteilhaften Steuerwesen für seine Einnahmen aus dem geistigen Eigen-tum zu profitieren.

AxoGlia hatte ein Portfolio regenerativer und entzündungshemmender Moleküleaufgebaut, die die Besserung des zentralen Nervensystems (ZNS) unterstützen soll-ten. Darüber hinaus entwickelte AxoGlia natürliche und synthetische Wirkstoffe,die mit einer einzigartigen Kombination aus entzündungshemmenden gewebsgene-rierenden Eigenschaften positive Krankheitsveränderungen bewirkten und effektivdazu genutzt werden könnten, Alzheimer oder Multiple Sklerose sowie andere dege-nerative Erkrankungen des ZNS zu heilen.

Diese Krankheiten betreffen einen zunehmend größeren Teil der Weltbevölke-rung. In den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, UK, Italien und Spanien wurdeder Markt für die Behandlung von MS und AD für das Jahr 2009 auf € 4,7Mrd. bzw.auf € 2,1Mrd. geschätzt. Keines der am Markt befindlichen Medikamente oder kurzvor der Freigabe stehenden Arzneimittel zeigte bislang eine heilende (regenerative)Wirkung für die jeweilige Krankheit. AxoGlias innovative Zusammensetzung zeigtejedoch ein hohes Potenzial, ein vielversprechendes und hochwertiges Medikamentzu werden. Dafür musste lediglich die notwendige Finanzierung stehen.

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13.4 Gründungsprozess

Djalil wurde 1975 als jüngerer von zwei Brüdern in Quatre-Bornes, Mauritius, ge-boren. Er stammt aus bescheidenen Verhältnissen und wuchs in der Obhut seinerMutter auf, die als Hebamme arbeitete. Sein Vater war pharmazeutisch-technischerLaborant. Von frühester Kindheit an sah er, wie fasziniert sein Vater von chemischenTechnologien war und er wusste, dass er auch gerne in diesem Bereich arbeitenwürde, wenn er erwachsen war. Diese Jahre waren sehr prägend für ihn. Er hörteviel über Medizin und entwickelte Interesse daran, Krankheiten zu heilen.

In Mauritius haben nur fünf % der Bevölkerung einen Schulabschluss einer wei-terführenden Schule (Abitur). Djalil entschloss sich, für das weitere Studium insAusland zu gehen. Damit folgte er einen für die Bewohner des kleinen Inselstaateseher ungewöhnlichen Weg. Mauritius ist ein kleines Land mit nur einer Universität.Da für sein Interessengebiet, Chemieingenieurwesen, keinen Hochschulstudiengangauf Mauritius gab, entschied sich Djalil, nach Frankreich zu gehen. Er hatte hervor-ragende Noten in seinen Prüfungen und erhielt ein Stipendium, um in Frankreich zustudieren. Nach dem Abschluss eines Bachelor-Studiums ging er für das Master-Stu-dium in Chemie an die Universität Louis Pasteur in Straßburg. Dort schrieb er auchseine Doktorarbeit im Bereich der medizinischen Chemie. Für Djalil war es nichtleicht, durch die Ausbildung so weit von seiner Familie entfernt zu leben. Die Fami-lie unterstützte ihn jedoch finanziell und war sehr stolz auf ihn. Er war das erste pro-movierte Familienmitglied. Nach Abschluss der Promotion verfolgte Djalil weiterhinsein Interesse an der Forschung und absolvierte ein Praktikum in einem Labor ander Universität Straßburg.

In Djalils Familie gab es keine Unternehmer, und er hätte sich nie erträumen las-sen, selbst einmal ein Entrepreneur zu werden. Er war lediglich leidenschaftlich anChemieingenieurwesen und der Heilung von Krankheiten interessiert. Djalil ver-einte das Denken zweier klassischer Wirtschaftstheoretiker in sich, dem französi-schen Ökonomen Jean Baptiste Say und dem österreichischen Harvard-Professor Jo-seph Schumpeter. Jean Baptiste Say unterschied drei ökonomische Aktivitäten vonGründern: 1. Forschung – Wissensgenerierung; 2. Entrepreneurship – Transfer desWissens durch die Rekombination vorhandener Produktionsmittel in brauchbareProdukte; und 3. Produktion. Indes argumentierte Joseph Schumpeter, dass Innova-tionsfähigkeit eine kritische Funktion von Entrepreneuren sei. Forschung und Inno-vation waren die beiden Triebkräfte für Djalil auf seiner Reise in eine Unternehmens-gründung.

An der Universität Straßburg traf Djalil den Mediziner Bang Luu, der an eineminteressanten Projekt für regenerative Medizin arbeitete. Er verwendete natürlicheStoffe, um Neuro-Stammzellen zu produzieren, die für die Regeneration von Hirn-zellen verwendet werden konnten. Einfach ausgedrückt hatte das Projekt das Ziel,das Gehirn vor dem Altern zu schützen. Inspiriert durch die Arbeiten von Luu wollteDjalil einen Schritt weitergehen und eine neue und synthetische Verbindung finden,die man aus der natürlichen Verbindung ableiten konnte, und schrieb seine Doktor-arbeit über dieses Thema. Luu betreute die Dissertation. Die Ergebnisse von DjalilsArbeit waren revolutionär und stellten einen großen Durchbruch auf dem Gebiet

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dar. Statt lediglich neue Verbindungen mit regenerativen Eigenschaften zu entwi-ckeln, war er in der Lage, solche zu entwickeln, die eine entzündungshemmendeWirkung und regenerative Eigenschaften aufwiesen.

Während seiner Zeit an der Universität baute Djalil ein Netzwerk auf und legtedas Fundament für die Gründung von AxoGlia. Djalils Arbeit war so innovativ, dassihm Räume im Gründungsinkubator der Stadt Straßburg angeboten wurden, damiter weiter an seinem Projekt arbeiten konnte. In dem Inkubator konnte Djalil seineersten Erfahrungen als zukünftiger Entrepreneur sammeln, obwohl sein Unterneh-men eigentlich noch gar nicht formell gegründet worden war. Das Umfeld sollte ihnjedoch dazu motivieren. Djalil begann sich in der folgenden Zeit einzuarbeiten, wieman ein Unternehmen gründet und entwickelt. Zwischen Dezember 2003 und No-vember 2005 setzte er seine Forschung fort und machte weitere Fortschritte bei derEntwicklung der Wirkstoffzusammensetzung. Es traten jedoch finanzielle Problemeauf, wie es typisch für viele Biotech-Start-ups ist, da während der ersten Jahre nurinvestiert wird, aber noch keine Umsätze oder Gewinne generiert werden können.Die finanziellen Mittel fingen daher an auszutrocknen.

13.5 Eine Möglichkeit beim Schopf packen

Während der Dauer eines gemeinsamen Projektes der Universität Straßburg und derUniversität Luxemburg diskutierte Djalil sein Projekt mit Professor Paul Heuschling,dem Dekan der naturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luxemburg. Seed-Kapital von der französischen Regierung oder einem Venture Capital-Fonds zu er-halten war trotz Djalils Einsatz und der exzellenten Aussichten des Projektes extremschwierig. Dadurch war Djalil mit dem Dilemma konfrontiert, entweder die Ent-wicklung der Technologie jemandem zu übertragen oder eine Lösung zu finden, einUnternehmen für die Entwicklung der Technologie und die Kommerzialisierung derProdukte zu gründen. Als jedoch Luu, Paul Heuschling und Djalil auf Luxinnovationtrafen, tat sich eine neue Möglichkeit auf. Es ergab sich die Möglichkeit für Djalilund sein Projekt, nach Luxemburg zu ziehen und ein Start-up mit Unterstützungdes luxemburgischen Wirtschaftsministeriums zu gründen. Als Bedingung für dieFörderung mussten Djalil und seine Partner ein Biotech-Unternehmen in Luxem-burg eintragen, gründen und führen. Djalil ergriff die Chance und zog nach Luxem-burg, das direkt jenseits der Grenze von Straßburg liegt.

Auf der Basis der Kooperation der Teams von Paul Heuschling im Bereich derNeurobiologie und Bang Luu im Bereich der organischen Chemie wurde im Februar2006 das Unternehmen gegründet. Im November 2006 nahm es sein operatives Ge-schäft auf (siehe Tabelle 1 für die Details der Finanzierung). Djalil erhielt einen zehn-prozentigen Anteil am Unternehmen. Der Großteil der Anteile lag in den Händenvon Professor Heuschling and Dr. Luu. AxoGlia wurde an der Universität Luxem-burg eingerichtet. Die Universität bot gut ausgestattete, moderne Labore. Von Be-ginn an wusste Djalil, dass er nicht die Geschäfte des Unternehmens führen undsich gleichzeitig der Forschung widmen konnte. Die drei Gründer trafen daher die

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Tab. 1: Finanzierung

€ 1.095.000 Finanzierung wurden bislang aufgebracht, davon € 53.000 Start-up-Kapital:

– € 795.000 staatlicher Förderung, bestehend aus:

– € 545.000 Subventionen vomWirtschaftsministerium;

– € 250.000 von SNCI durch die Universitätslabore und -einrichtungen.

Dies ist eine Kreditfazilität mit einem subventionierten Zins mit zehnjähriger Laufzeit.

€ 300.000 von 20 privaten Investoren, die jeweils zwischen € 3.000 and 50.000 investierten.

Übereinkunft, Jean-Paul Scheuren als Geschäftsführer einzustellen. Er würde dasUnternehmen führen und das entsprechende Kapital aufbringen, während sich Dja-lil auf die Forschung konzentrieren konnte.

AxoGlia wurde als GmbH gegründet. Die wichtigsten Entscheidungen wurdenvomAufsichtsrat getroffen. Der erste große Erfolg desUnternehmens ergab sichMitte2007 in Form einer Seed-Finanzierung von € 1 Million. Als die ersten € 250.000 vonprivaten Investoren gezahlt wurden, wurde die Hoffnung der Gründer geweckt, dassdies der Wendepunkt für AxoGlia sein könnte. Gleichzeitig wurde Djalil als wissen-schaftlicher Leiter und erster Angestellter des Unternehmens ernannt.

Das Gründungsteam von AxoGlia bestand aus Professor Paul Heuschling, Ex-perte für Neurobiologie, Doctor Bang Luu, Experte für organische Chemie – beidewaren aktive Mitglieder in AxoGlias Aufsichtsrat und wissenschaftlichem Beirat –

Jean-Paul Scheuren, einem erfahrenen Geschäftsentwickler und Manager mit Grün-dungs- und Finanzierungserfahrung und Djalil Coowar, der für die Entwicklung desKnow-hows und die Gründung von AxoGlia Therapeutics SA unentbehrlich war.Der Aufsichtsrat (Board of Directors) von AxoGlia, inklusive des ehemaligen Vize-präsidenten von Lundbeck A/S aus Dänemark, der Erfahrung in der Geschäftsent-wicklung, Lizenzierung und Marktzugang besaß, kombinierte Forschungs- und Ma-nagementkompetenz. Er konzentrierte sich darauf, AxoGlia in eine Spitzenpositionbei Innovation und Wertschöpfung in seinen Zielmärkten zu führen. AxoGlias Ma-nagementteam vereinte die wissenschaftliche Kompetenz von Djalil Coowar mit derManagementerfahrung des Geschäftsführers Jean-Paul Scheuren. Ein starker wissen-schaftlicher Beirat beriet in technologischen und methodischen Fragen, die bei derEntwicklung von erfolgreichen Produkten entstanden.

Die Mitglieder des Vorstandes waren Jean-Paul Scheuren (CEO), Djalil Coowar(CSO), Paul Heuschling, Bang Luu, Eric Tschirhart (Verwaltungsleiter der Universi-tät Luxemburg), Mondher Toumi (ehemaliger Vizepräsident von H. Lundbeck A/S,Berater bei Creativ Ceutical), Joel Schons (Freiberufler), Patrick Moes (Freiberufler)und Jos Bourg (Freiberufler). Die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirates waren:Paul Heuschling, Bang Luu, Marcel Hibert, Jacques Mallet und Eric Tschirhart. Inder Zwischenzeit beschäftigte das Unternehmen vier Mitarbeiter, und die Anzahlder Mitarbeiter sollte in den nächsten Jahren weiter zunehmen (siehe Tabelle 2).

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Abb. 1: Organisationaler Aufbau von AxoGlia

Tab. 2: Mitarbeiterprognose für 2009 bis 2012 für AxoGlia

AxogliaAnzahl der Mitarbeiter

2009 2010 2011 2012

CEO 1 1 1 1

CSO 1 1 1 1

Biochemie Leiter 1 1 2 2

Technische Mitarbeiter – 1 1 2

Pharmakologie Leiter – 1 1 1

Technische Mitarbeiter – – – –

Medizinische Chemie Leiter 2 2 2 3

Technische Mitarbeiter 1 2 2 2

Verwaltung Vertrieb – 1 1 1

Gesamtanzahl derMitarbeiter

6 10 11 13

Quelle: AxoGlia

13.6 Das Produkt

Der Eckpfeiler von AxoGlias Produktentwicklung war eine Familie innovativer che-mischer Verbindungen, die aus der Kombination eines langkettigen w-Alcanols miteinem antioxidanten Kern bestand (siehe Abbildung 2).

Eines dieser Moleküle, TFA12 (AGT0048) wies sehr vielversprechende neurotro-phische Eigenschaften auf, die Überleben und Reifung von Nervenzellen verlänger-ten. Zusätzlich zeigte das Molekül entzündungshemmende Effekte, indem es die Ak-tivierung der Gliazellen, die in den Entzündungsprozessen beteiligt sind, veränderte.

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210 13 AXOGLIA (Luxemburg)

TFA12 war das erste Molekül, das AxoGlia für die Forschung zur Behandlung vonMS verwendete. Parallel wurden weitere Arzneimittelkandidaten aus derselbenWirkstofffamilie entwickelt und getestet, falls sich TFA12 im Rahmen weiterer klini-scher Test als unbrauchbar erweisen sollte. Die vorklinischen Testergebnisse vonTierversuchen mit Hilfe von Mäusen fielen positiv aus. Die Behandlung von MS mitTFA12 führte zu einer Rückbildung der fortschreitenden motorischen Einschrän-kungen der Mäuse. Diese Ergebnisse deuteten auf ein hohes Potenzial von TFA12für die Behandlung von neurodegenerativen und entzündlichen Krankheiten deszentralen Nervensystems hin.

AxoGlia konzentrierte sich insbesondere auf die beiden Krankheiten MultipleSklerose und Alzheimer, obwohl sich der Wirkstoff zu einem späteren Zeitpunktauch für andere Anwendungsgebiete eignen könnte. Der aktuelle Wirkstoffkandidatsollte daher bis zur Phase II für MS entwickelt, und im Anschluss die Lizenz an einengroßen Pharmakonzern verkauft werden. Phase II ist normalerweise die optimaleEntwicklungsphase, in der das Wertschöpfungspotenzial für aufstrebende Pharma-unternehmen, die ihre Wirkstoffkandidaten lizenzieren wollen, am höchsten ist.

AxoGlia kaufte eine exklusive Lizenz für TFA12 (AGT0048) im April 2005, diedurch das französische Patent FR2860233 geschützt war. Eine Studie zur Handlungs-freiheit (freedom to operate study) im Jahr 2004 erhob keine wesentlichen Bedenkengegen die technologische Anwendung des Patentes für die Behandlung neurodegene-rativer Krankheiten. Die Erweiterung des Patentes auf internationale Ebene wurde2006 abgeschlossen. Im April 2008 und imMai 2009 wurden zwei zusätzliche Patentefür andere Molekültypen angemeldet, was die Fähigkeit von AxoGlia, wertvollesgeistiges Eigentum herzustellen, unter Beweis stellte. Durch die steten Bemühungen,neue und vielversprechendeWirkstoffkandidaten zu entdecken und auszuwählen, er-wartete AxoGlia, sein Patent-Portfolio bis zum Jahr 2012 auf ein Dutzend erhöhen zukönnen.

Abb. 2: AxoGlias Prozess der Molekularen Synthese

Quelle: AxoGlia

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Mittelfristig zielte das Unternehmen darauf ab, mindestens zwei Wirkstoffe proJahr in eine vorklinische oder klinische Phase zu bringen. Die Machbarkeit diesesZiels wurde durch das bewiesene Potenzial dieser Wirkstofffamilie unterstützt sowiedurch das hocheffiziente Auswahlverfahren der Wirkstoffe durch das Unternehmen.Das Hauptaugenmerk des Unternehmens lag zunächst auf neurodegenerativenKrankheiten. Später würde AxoGlia auch die Entwicklung von Produkten für alter-native Anwendungsgebiete in Auge fassen, für die sich die bewiesenen Eigenschaftender Verbindung als nützlich erwiesen. Anti-Aging- oder Kosmetikprodukte wäreneine naheliegende alternative Anwendungsmöglichkeit der Wirkstoffe. Die weitereAusbeutung des geistigen Eigentums könnte dabei entweder durch eine interne Ent-wicklung oder durch eine Zusammenarbeit mit externen Partnern geschehen, ab-hängig von den relevanten Kompetenzen und kommerziellen Prioritäten.

Die klinische Entwicklung von TFA12 (AGT0048) machte Fortschritte. Das Zielwar, die Entwicklung der Verbindung bis zu einem Stadium voranzutreiben, bei demdie Lizenzierung für das Unternehmen optimal war.

13.7 Wettbewerbs- und Marktanalyse

Der ZNS-Markt repräsentierte im Jahr 2007 15% des weltweiten Umsatzes an al-len Medikamenten. Innerhalb des ZNS-Marktes machte das Neurologie-Gebiet€ 16Mrd. bzw. 21% der Gesamtumsätze aus. Neurologie war zudem das am schnells-ten wachsende ZNS-Gebiet mit einem zwölfprozentigen Umsatzwachstum im Jahr2007. Es gab keinerlei Therapien oderMedikamente, dieMS oder AD behandeln oderheilen konnten, d. h. den Verlust von Neurotransmitterzellen. Existierende Therapie-formen und Medikamente behandelten bislang lediglich die Effekte und Symptome,die durch einen Verlust der Neurotransmitterzellen verursacht werden, und versuch-ten diesen Verlust zu kompensieren, sodass der Patient zu einem gewissen Grad nor-mal funktionieren konnte. Es gab jedoch keinerlei Behandlungsmöglichkeit, die dieNeurotransmitterzellen regenerieren und die abgestorbenen Zellen ersetzen konnte.

AxoGlia nahm den Markt für neurodegenerative Krankheiten mit den beidenHauptindikationen Multiple Sklerose und Alzheimer ins Visier. Der Markt für Arz-neimittel für die Behandlung beider Krankheiten war kontinuierlich gewachsen undes war zu erwarten, dass dies auch in Zukunft der Fall sein würde.

13.7.1 Multiple Sklerose

Eine Analyse von AxoGlia zeigte, dass weltweit 2,5Mio. Menschen an Multipler Skle-rose (MS) leiden. Der pharmazeutische Markt für MS wurde auf € 4,7Mrd. in densieben größten Märkten (USA, Japan, Deutschland, Frankreich, UK, Italien und Spa-nien) für das Jahr 2009 geschätzt, mit einem Wachstum von 20% im Jahr 2008. AlsDaumenregel kann für eine Prognose des globalen Marktpotenzials das Zweifachedes Marktes dieser sieben Länder verwendet werden.

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Abb. 3: Umsätze im Pharmazeutischen Markt

Abb. 4: Wachstum von MS in den sieben Hauptländern

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Abb. 5: Erwartetes Marktwachstum von Alzheimer

13.7.2 Alzheimer

Alzheimer (AD) ist ein Gesundheitszustand, der im Zusammenhang mit dem Alternsteht. Auswertungen von AxoGlia zeigen, dass die weltweite Population von Men-schenmit Alzheimer kontinuierlich steigt und damit auch derMarkt für Arzneimittelzur Behandlung der Krankheit. Der Markt wurde für das Jahr 2009 auf € 2,1Mrd. inden sieben Ländern geschätzt, mit einem fünfprozentigen Wachstum im Jahr 2008.Wird auch hier die Daumenregel angewandt, ergibt sich ein Marktpotenzial durchdie Verdopplung der Zahlen der sieben Länder. In entwickelten Ländern erkrankenungefähr zehn % der Bevölkerung im Alter über 65 Jahren an dieser Krankheit und50% der Menschen über 85. Mit weltweit gestiegener Lebenserwartung nahm auchdie Verbreitung der Krankheit in den vergangenen zehn Jahren drastisch zu. DasMarktpotenzial für AxoGlia war daher enorm, wie Abbildung 5 zu entnehmen ist.

13.8 Vorbereitung eines Investitionsantrages – Finanzierungeiner Hightech-Gründung

Seit seiner Gründung hatte AxoGlia verschiedene Preise im Bereich Business Innova-tionen und Venture Capital erhalten. Im Jahr 2005 gewann AxoGlia den vierten Platzim luxemburgischen „1,2,3 Go Contest“. Im Jahr 2009 war das Unternehmen Ge-winner des Halbfinales des „Eurecan European Venture Contest“, Luxemburg, imBereich der Kategorie „Life Science“ und hatte sich damit für das Finale in Barcelonaqualifiziert. Darüber hinaus hatte es auch den „Best Luxembourg Company StrategyAward“ erhalten und war im Jahr 2010 Gewinner des „Creative Young EntrepreneurLuxembourg“-Preises, der von internationalen Wirtschaftsjunioren vergeben wird.Um von dieser Werbung zu profitieren, mussten sie den Wert ihres geistigen Eigen-

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tums maximieren und die Hauptkomponenten bis zum Jahr 2012 zur Phase IIa wei-terentwickeln. AxoGlia benötigte daher eine Finanzierung von € 5,5Mio. für dieJahre 2010 und 2011 als erstem Teil eines € 12Mio. Investmentprogramms. Die Mit-tel sollten dazu verwendet werden, die Entwicklung der Hauptwirkstoffkandidatenbis zur Phase II voranzutreiben, neue patentierfähige Kandidaten für die Pipelinedes Unternehmens zu gewinnen und Schlüsselfiguren für die nächste Wachstums-phase des Unternehmens zu rekrutieren.

Als erstes Biotech-Unternehmen in Luxemburg war es für AxoGlia schwierig, denstaatlichen Stellen zu erklären, dass es sich von anderen Unternehmensgründungenim Land unterschied. Bislang generierte das Unternehmen noch keinerlei Umsätze.Es benötigte jedoch dringend die Finanzierung durch einen Venture Capital-Fonds,der verstand, dass eine Investitionsrendite in der Biotech-Branche gewöhnlicher-weise erst nach ausgesprochen langen Zeitperioden (wenn überhaupt) erreicht wird.Da der Sektor relativ neu in Luxemburg war, gab es jedoch noch nicht genügend aus-gewiesene Experten in dem Gebiet, obwohl Luxinnovation gerade erst einen neuenMitarbeiter für das Biotech-Cluster eingestellt hatte, der sich in der Biotech-Brancheauskannte. Wenn es jedoch AxoGlia nicht gelang, das benötigte Kapital aufzubrin-gen, würde das Unternehmen im nächsten Jahr aufgeben müssen. Dem Finanzmarktin Luxemburg fehlte ein Venture Capital-Fonds, der auf den Life-Science-Sektor spe-zialisiert war, und der der Biotech-Industrie und AxoGlia helfen konnte.

13.9 Zukunftsausblick

AxoGlia war an einem kritischen Punkt angekommen, und Djalils persönliche Moti-vation veränderte sich von der Forschung hin zum kommerziellen Bereich der In-dustrie:

„Wenn ich die Forschung noch einmal durchführen müsste, hätte ich bei den Entscheidungen stärkerkommerzielle Belange berücksichtigt. Ich habe viel zu viel Zeit mit Dingen zugebracht, die nichtwirklich notwendig waren. Ich denke jedoch nicht daran aufzuhören. Das hier ist ein gutes Projekt,und wenn wir die richtige Finanzierung erhalten, können wir signifikante Umsätze erzielen.“

Djalil wollte als wissenschaftlicher Leiter mehr tun, als nur die Entwicklung der Me-dikamente und der Umsätze voranzutreiben. Er brachte seine Ehefrau Fetzer Ludi-vine, eine Doktorandin, im Jahr 2009 in das Unternehmen und investierte nicht un-erhebliche eigene Mittel. AxoGlia beauftragte externe Berater zur Unterstützung beider Akquise finanzieller Mittel aus anderen Ländern, um die zukünftigen Herausfor-derungen bewältigen zu können und AxoGlia vorwärts zu bringen. Sie sahen, dassAxoGlia eine spezifische Nische in der Biotech-Industrie bearbeiten wollte und dasses das erste Unternehmen weltweit war, das entzündungshemmende und regenera-tive Moleküle entwickeln wollte. Da das nächste Treffen mit dem Aufsichtsrat nocheinen Monat entfernt lag, fragten die Berater Djalil, ob er eine Liste mit verschiede-nen Optionen bezüglich der Zukunft des Unternehmens erarbeiten könnte. Als Dja-

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lil die verschiedenen Strategiealternativen betrachtete, um die Venture Capital-Ge-ber zu überzeugen, wusste er, dass er an einer Wegkreuzung angekommen und dassVC-Mittel dringend nötig waren, um das Unternehmen fortzuführen.

Anhang 1: Biografien ausgewählter Mitglieder desAufsichtsrats

Jean-Paul Scheuren ist CEO and Mitgründer von AxoGlia Therapautics SA. Er ver-fügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung im Bereich Finanzierung und Management.Er war Geschäftsführer einer Reihe von Unternehmen und arbeitete als CEO vonAxoGlia Therapeutics von Beginn an. Bis 2007 brachte er € 1,1Mio. an privater Fi-nanzierung und staatlicher Förderung auf.

Djalil Coowar ist wissenschaftlicher Leiter (CSO) und Mitgründer von AxoGliaTherapautics SA. Er promovierte in medizinischer Chemie an der Universität LouisPasteur (Straßburg, Frankreich) und forschte im Bereich Entwicklung von kleinensynthetischenMolekülen mit entzündungshemmenden Eigenschaften, die als Induk-toren für die Differenzierung neuraler Stammzellen dienen. Er eignete sich eine hoheFachkompetenz im Bereich der Zellerneuerung und der Neurogenese an. Er ist Ko-Autor zahlreicher Patente und Publikationen über die Entwicklung solcherMoleküle.Seit seiner Ernennung als wissenschaftlicher Leiter von AxoGlia Therapeutics SA ar-beitete er an der vorklinischen Entwicklung vonmehreren Ausgangsverbindungen.

Paul Heuschling ist Gründungsmitglied von AxoGlia Therapeutics SA und seit 2001Professor für Biologie (Zell- und Tierbiologie) an der Universität Luxemburg. SeineForschung setzt sich mit Signalwegen auseinander, die die abschließende Differen-zierung des zentralen Nervensystems kontrollieren, Gliazellen sowie zentrale und pe-riphere immunkompetente Zellen und entzündlichen Bedingungen. Paul Heusch-ling verfügt über Erfahrung in der Zellbiologie, Molekularbiologie, Proteinchemieund Immunzellenchemie, die auf Gliazellen angewendet werden. Er ist Gutachterzahlreicher wichtiger neurowissenschaftlicher Fachzeitschriften und Mitglied der eu-ropäischen Arbeitsgruppe für Gehirnforschung.

Bang Luu ist Mitgründer von AxoGlia Therapeutics SA und war bis zu seiner Pensio-nierung im April 2007 Forschungsdirektor am CNRS. Seine Forschung am Labor fürorganische Chemie (Laboratoire de Chimie Organique des Substances Naturelles) ander Universität Louis Pasteur in Straßburg beschäftigte sich mit Arbeiten zur biologi-schen Aktivität natürlicher Produkte. Nachdem er die Anti-Tumor-Wirkung vonme-dizinischen Pilzen und bestimmten Insekten in der chinesischen Pharmakopöe nach-gewiesen hatte, widmete er sich Verbindungen chinesischer medizinischer Pflanzen,die neurotrophische Aktivitäten aufwiesen und die Neurogenese beeinflussten. AlsAutor von schätzungsweise 20 internationalen Patenten, von denen mehr als zehnneurotrophische Aktivitäten einschlossen, beteiligte er sich an der Gründung von

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zwei Start-up-Unternehmen in Straßburg (Médafor and EntoMed). Darüber hinausverfügt er über zahlreiche Kontakte zu vielen akademischen und industriellen Part-nern im Nahen Osten.

Mondher Toumi ist Präsident und Gründer von Creativ-Ceutical und Professor amDepartment für Entscheidungswissenschaften und Gesundheitspolitik an der Uni-versität Lyon I. Dort hat er einen Lehrstuhl für Marktzugang (market access) inne.Sein Fachwissen umfasst die Bereiche Geschäftsentwicklung, Lizensierung, M&A,Marktzugang, Preisbildung, Entschädigung und kompetitive Intelligenz. MondherToumi ist Mediziner, hat jedoch auch einen Master in Biologie und einen Doktor inVolkswirtschaftslehre. Er arbeitete im Labor für Pharmakologie des Instituts für Ge-sundheitswesen an der Universität Marseille. Im Jahr 1995 begann er seine Karrierein der Forschung und Entwicklung der pharmazeutischen Industrie und wurde 2000Vizepräsident des Unternehmens Lundbeck. Dort war er für die folgenden Bereicheverantwortlich: Ökonomie, Preisbildung, Marktzugang, Epidemiologie, Risikoma-nagement und kompetitive Intelligenz. Er war Mitglied der Unternehmensführungund in zahlreiche Lizenzierungs- und M&A-Projekte involviert. Im Jahr 2008 verließer Lundbeck um Creativ-Ceutical zu gründen, ein Beratungsunternehmen im Be-reich der Life-Science-Industrie. Ein Jahr später wurde er Aufsichtsratsmitglied beiAxoGlia Therapeutics S.A.

Marcel Hibert ist Direktor des Departments für pharmazeutische Chemie und Zell-kommunikation, Direktor der französischen Nationalbibliothek für Chemie undstellvertretender Direktor von IFR85 am CNRS. Seit 1997 ist er Leiter des Labors fürmedizinische Chemie an der Universität Straßburg. Er graduierte 1980 im Bereich or-ganischer Chemie am Guy Solladiés Labor der Universität Straßburg. Nach einerPost-Doc-Zeit im Bereich der medizinischen Chemie in C. G. Wermuths Labor ginger in die pharmazeutische Industrie und arbeitete dort 16 Jahre. Er beteiligte sich anunterschiedlichen Forschungsprojekten auf demGebiet Serotonin, die zu verschiede-nen klinischen Kandidaten und zu einem amMarkt erhältlichenMedikament (Anze-met® von Sanofi-Aventis) führten. Marcel publizierte 1991 das erste detaillierte 3D-Modell von G-Protein gekoppelten Rezeptoren, die an ihre Neurotransmitter gebun-den waren (einschließlich Dopamin, Adrenalin, Serotonin und Vasopressin). Zusam-men mit seinen Kollegen vom Illkirch Campus entwickelte er neue Strategien undtechnische Plattformen, um die Entdeckung von Liganden auf genomischen Zielenzu rationalisieren und voranzutreiben. Diese Aktivitäten trugen zur Entwicklung desStraßburger Génopole „von Genen zu Arzneimitteln“ und nationalen Netzwerken,wie z. B. der „Chimiothèque Nationale“ bei. Ein weiterer Wirkstoff befindet sich mo-mentan in Phase 1 der klinischen Tests für die Behandlung von Alzheimer (Minozac®von Neuromedix). Im Jahr 2006 erhielt er die Silbermedaille von CNRS.

Jacques Mallet ist Direktor des Labors für Molekulargenetik der Neurotransmissiondes CNRS am Universitätsklinikum von Pitié Salpetrière (CHUPS) in Paris. JacquesMallet schloss seine Promotion im Bereich physische organische Chemie in Harvardab. Im Jahr 1980 gründete er ein Labor für Molekulargenetik für Neurotransmission

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und neurodegenerative Prozesse (LGN). Dieses Labor war für das molekulare Klo-nen der ersten Enzyme der Synthese von Neurotransmittern und Rezeptoren desNervensystems verantwortlich. Das Labor ist ein Pionier in der Entwicklung der Ge-ntherapie des Nervensystems. Jacques Mallet untersucht die molekularen und gene-tischen Mechanismen psychiatrischer und neurodegenerativer Krankheiten.

Eric Tschirhart ist Professor für Physiologie an der Universität Luxemburg. Seine For-schungsbereiche umfassen bronchiale Hyperreagibilität und die Entwicklung von En-dothelin-Rezeptor-Antagonisten am pharmazeutischen Forschungszentrum fürHerz-, Gefäß- und Lungenkrankheiten. Als Gruppenleiter am Centre de RecherchePublic-Santé in Luxemburg konzentrierte er sich auf die Erklärung der Kontrolle derAusscheidung von Hyperoxid-Anion durch Kalzium-Ionen-Flüsse in menschlichenImmunzellen. Seine Bemühungen regten die Entwicklung von Technologien zurFluoreszenzanalyse von biologischen und biochemischen Prozessen in lebenden Zel-len imReagenzglas an, die einen tiefen Einblick in die Zellaktivitäten und -dynamikenerlauben. Eric Tschirhart ist seit 2007 administrativer Direktor der Universität Lu-xemburg und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats am „European Centre for theValidation of Alternative Methods“ (ECVAM) – einem gemeinsamen Forschungsver-bund der Europäischen Kommission. Darüber hinaus ist er Herausgeber des Bereichs„Immunopharmacology & Inflammation“der Zeitschrift „Fundamental and ClinicalPharmocology“ und Gutachter für diverse internationale Fachzeitschriften imGebietder Physiologie und Pharmakologie (einschließlich Fund. Clin. Pharmacol., Eur. J.Pharmacol.,Med. Chem. online). Eric Tschirhart hat einenDoktorgrad in Pharmako-logie und Physiologie von der Universität Louis Pasteur (1988) und einen Master inBetriebswirtschaftslehre undManagement von der Universität Nancy II (1997).

Anhang 2: AxoGlia Therapeutics S.A. – HistorischeErfolgsrechnung

in € Geschäftsjahr 2006 Geschäftsjahr 2007 Geschäftsjahr 2008

Umsatz 6.000,0 – 142.327,3

Bestandsänderungen – 44.500,0 –40.750,0

Sonstige Erträge – 2832,3 3.693,7

Gesamterträge 6.000,0 47.332,3 105.271,0

Betriebskosten – –44.500,0 –173.761,1

Personalaufwand –9.478.0 –83.877,0 –176.760,4

Sonstige Aufwendungen –1.882,7 –17.321,3 –29.251,7

Gesamte betriebliche Auf-wendungen

–11.360,6 –145.698,3 –379.773,3

Abschreibungen –761,4 –10.904,0 –11.165,6

Zinsen –219,3 –281,2 –1.589,7

Jahresüberschuss –6.341,3 –109.551,2 –287.257,6

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14Café Jubilee (Malta)

Omar Cutajar & Thomas Cooney

14.1 Einleitung

Alex Scicluna ruht sich nach einem anstrengenden Arbeitstag auf der Weltausstel-lung in Shanghai aus und geht einige Akten durch, um sich auf ein für den nächstenTag geplantes Treffen mit einem neuen Geschäftspartner in Peking vorzubereiten.Alex ist 9.374 km weit entfernt von seinem Heimatland, der Insel Gozo, einer klei-nen Insel neben Malta im Mittelmeer. Solch weite Reisen zu unternehmen ist einEinsatz, den nur ein sehr motivierter Unternehmer auf der Suche nach neuen Ge-schäftsgelegenheiten auf sich nimmt. Die letzten fünfzehn Jahre waren für Alex Scic-luna eine endlose Reise, bildlich wie auch buchstäblich, in das Unternehmertum, dieihn von den Inseln in den maltesischen Gewässern bis zum europäischen Festlandund zu exotischen Zielen, bisher vor allem Indien und China, führte. Alex ist CEOvon Café Jubilee, einer maltesischen Café-/Bistrokette, die in Gozo gegründet wurde,dann mit Filialen nach Malta expandierte und schließlich in Budapest (Ungarn) dieerste ausländische Filiale eröffnete. Wenige maltesische Unternehmer können sichmit Alex‘ Leistung und mit der Geschwindigkeit seines Erfolges messen, mit dem erin den letzten zehn Jahren sein Geschäft von der ursprünglichen Idee bis hin zurlangsamen, aber erfolgreichen Erweiterung des Geschäftes, zunächst auf dem In-lands- und dann auf dem internationalen Markt, lenken konnte. Tatsächlich kannAlex mit Stolz auf die bescheidenen Anfänge seines Geschäftslebens zurückblicken,er fragt sich aber doch, ob eine Erweiterung des Betriebs nach China und Indiennicht doch eine Nummer zu groß sein würde. Wenn er in diesen großen Ländern Fi-lialen aufbauen wollte, wie würde er dort dann den Franchise-Betrieb aufziehen?Seine bisherige bescheidene Erfahrung auf internationalem Parkett hat ihn auf dieseArt von Herausforderung nicht vorbereitet.

14.2 Die Anfänge – Eine Geschäftsidee

Alex Scicluna hat immer davon geträumt, selbständig zu sein. Nachdem er seinenManagement-Kurs am Institut für Touristik (ITS), einem Weiterbildungsinstitut deszweiten Bildungsweges, welches Trainings und Kurse für die Tourismus- und Hospi-tality-Industrie anbietet, abgeschlossen hatte, arbeitete er für ein Jahr als Oberkellnerim Corinthia Attard, einem führenden Hotel Maltas. Kaum war ein Jahr vergangen,beschloss Alex, eine unternehmerische Herausforderung anzunehmen. Zusammen

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220 14 Café Jubilee (Malta)

mit seinen Brüdern bewarb er sich auf eine Ausschreibung, einen Gastronomiebe-trieb namens „Otters Waterpolo Club“ zu leiten. Es handelte sich um ein kleines Res-taurant mit Barbetrieb an der Marsalforn-Bucht auf seiner Heimatinsel Gozo. Dieseanfängliche Erfahrung empfanden die Scicluna-Brüder als lohnend, besonders wäh-rend der Sommermonate, als die Catering-Bar gern von Touristen und maltesischenUrlaubern frequentiert wurde. Vom finanziellen Standpunkt aus war das Manage-ment dieses Gastronomiebetriebes langfristig gesehen nicht aufrecht zu halten, dadie Wintermonate durch den ausbleibenden Tourismus zu einem drastischen Rück-gang der Geschäfte führten. Logischerweise benötigte man einen ganzjährigen Res-taurantbetrieb, der auch in den Wintermonaten für Einnahmen sorgte.

Die Scicluna-Brüder packten die erste sich ergebende Gelegenheit beim Schopf,das Management für eine Bar namens „Silber Jubilee“ im Zentrum von Victoria,der Hauptstadt von Gozo, zu übernehmen. Die Übernahme der Bar bedeutete deneigentlichen Beginn von Alex Sciclunas Reise in die Selbständigkeit und seiner der-zeitigen Unternehmensmarke „Café Jubilee“. Der Name war eine Abwandlung desalten Namens der Bar, die 1998 von Alex und seinen zwei Brüdern Mario und An-thony übernommen wurde. Weitaus bedeutender war die neue Geschäftsausrich-tung, die zu dieser Zeit noch von keinem Unternehmen der Unterhaltungs- undGastronomiebranche auf den maltesischen Inseln getragen wurde. Es war das ersteCafé, das als Bistro-Restaurant den ganzen Tag über geöffnet hatte. Alex profitiertevon einer Marktlücke in der Café-, Bar- und Restaurantszene auf Gozo. Das „CaféJubilee“ sprach ein klar definiertes Marktsegment an, das bis zu diesem Zeitpunktauf dem örtlichen Markt nicht bedient wurde. Aus Unternehmerperspektive wurdedas Erkennen dieser Marktlücke zum Schlüssel für den geschäftlichen Erfolg und derGrundstein für die zukünftige Erweiterung.

14.3 Café Jubilee – Die Umsetzung einer Geschäftsidee in einneues Produkt und Marktangebot

Die Erzeugung eines neuartigen Produktes/Services als Antwort auf eine bestehendeMarktlücke erforderte unweigerlich einen Bruch mit den herkömmlichen Trends,wie beispielsweise das Produkt präsentiert werden sollte. Der Entwurf des neuen Ge-schäftes musste die Einführung des neuen, noch nie da gewesenen Produktes in Mal-tas Café- und Gastronomiemarkt ergänzen. Genauso wichtig war, dass die Erschei-nung und Verpackung deutlich anders sein mussten als die herkömmlichenMassenoptionen, um die Kundennachfrage im neuen Café Jubilee zu sichern undauch für die Zukunft zu gewährleisten. Aus diesem Grund beschlossen Alex undseine Brüder, dass sich die Ausstattung des neuen Cafés von der konventionellen In-neneinrichtung aller anderen Bars, Cafés und Restaurants auf Gozo unterscheidenmusste. Alex erklärt, dass

„. . . bis zu diesem Zeitpunkt alle Designs in Gozo ländlich inspiriert und die Wände oft aus unbe-handeltem Kalkstein waren“.

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Omar Cutajar & Thomas Cooney 221

Die Scicluna-Brüder entschieden sich für eine innovative Veränderung im Dekor,einem Stil der mit den vorherrschenden Trends und dem Zeitgeschmack auf denmaltesischen Inseln nichts gemein hatte. Die Sanierung der alten Einrichtung wardahingehend konzipiert, mit hölzernen Böden und tapezierten Wänden ein Ambi-ente ganz im Stil eines traditionellen französischen Bistro-Cafés zu schaffen. Es warbeabsichtigt, mit der Inneneinrichtung des ersten Café Jubilee ein Geschäftsmodellzu schaffen, welches an anderen Standorten nachgebildet werden konnte. Aus die-sem Grund versuchte man, so wenig wie möglich auf individuelles Dekor – odermit anderen Worten, speziell vor Ort zur Verfügung stehende Produkte – zurückzu-greifen, um den Nachbau relativ einfach gestalten zu können. Das Geschäftsmodellvon Café Jubilee war zu diesem frühen Zeitpunkt schon geboren, aber es dauertenoch lange, bis das Konzept genug Marktstärke gewonnen hatte, um auf eigenen Fü-ßen stehen zu können.

Nach einem Jahr Geschäftstätigkeit in Victoria war den Scicluna-Brüdern klar,dass die durch den Rückgang der Kundschaft in den Wintermonaten entstehendewirtschaftliche Belastung zu groß war und sie sich um einen größeren Kundenstammbemühenmussten. Café Jubilee mit seinem neuartigen Produktangebot und der indi-viduellen Inneneinrichtung war im Gründungsjahr sehr erfolgreich, aber die Nach-frage hing noch zu sehr von maltesischen Urlaubern ab. Das strukturelle Problem,das die Unterhaltungsbranche von Gozo einschränkte, nämlich die geringe örtlicheNachfrage, die eine Abhängigkeit von externer Kundschaft (ob von maltesischenoder ausländischen Touristen) unvermeidbar machte, war den Scicluna-Brüdern be-kannt. Das Café wurde zu einem beliebten Bar/Bistro-Treffpunkt im Zentrum Victo-rias, das besonders für die frühabendliche Unterhaltung in Gozo sorgte. Trotzdemschien die Distanz zum lokalen Kundenmarkt ein frühes Anzeichen von geschäft-licher Strukturschwäche zu sein, das schneller Abhilfe bedurfte, um die Geschäftstä-tigkeit über längere Zeit zu erhalten.

Alex erinnert sich:

„2000, also zwei Jahre nach der Eröffnung des Cafés Jubilee in einer renovierten Bar, wurde die Aus-weitung zum relativ großen Markt in Malta eine logische Entscheidung und eine attraktive Ge-schäftsmöglichkeit“.

Die Überfahrt durch den engen Meereskanal zwischen Gozo und Malta ist eineReise, die bei normalen, ruhigen Gewässern durchaus angenehm ist, die unterneh-merische Reise war etwas turbulenter. Es wurde in Alex‘ Fall auch zu einem Test sei-ner Willensstärke, an sein Geschäftsvorhaben zu glauben, obwohl das Unternehmennoch in den Kinderschuhen steckte und deswegen für eine Verausgabung der finan-ziellen Ressourcen durchaus anfällig war. Alex und seine Brüder, die sich dieses star-ken Wettbewerbs bewusst waren, sahen, dass sie sich um eine innovative Lösung be-mühen mussten, dieses Mal im Hinblick auf den Standort.

Das zweite Café Jubilee wurde in Valletta, der Hauptstadt von Malta, eröffnet.Hauptstädte werden normalerweise mit einem geschäftigen Nachtleben in Verbin-dung gebracht, wo es viel Auswahl im Hinblick auf Veranstaltungen im Unterhal-tungsbereich gibt, wie z. B. Restaurants, Bars, Kinos und anderen Einrichtungen der

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222 14 Café Jubilee (Malta)

Vergnügungsindustrie. Zu der Zeit als die Entscheidung fiel, eine Filiale des Cafés Ju-bilee zu eröffnen, war die Unterhaltungsszene in Valletta auf ein paar Bars be-schränkt, die oft schon am frühen Abend schlossen. Obwohl Valletta die Hauptstadtvon Malta ist, handelt es sich in erster Linie um ein Verwaltungszentrum für denStaatsdienst, und infolgedessen um einen Standort für die meisten Regierungsminis-terien und -abteilungen. Beamte, Touristen und örtliche Kunden drängen sich aufden Hauptstraßen von Valletta während der Geschäftszeiten, jedoch ebbt der Kun-denstrom nach Schließung der Verwaltungsdienste sehr schnell ab. Am Ende desletzten Jahrhunderts war Valetta eine sprichwörtliche Wüste im Unterhaltungsbe-reich und nicht die logische Wahl für den Abend, und schon gar nicht für nächtlicheUnterhaltung. Aus diesem Gesichtspunkt war es kein Wunder, dass viele Verwandteund Freunde die Entscheidung der Scicluna-Brüder, in ein zweites Café zu investie-ren, aus geschäftlicher Sicht als unklug einschätzten. Die Entscheidung wurde aller-dings aufgrund der Beliebtheit der ersten Café Jubilee-Filiale dennoch getroffen. DieEröffnung der zweiten Filiale brachte auch eine durchdachte Bewertung der kauf-männischen Vorzüge eines neuen Betriebes mit sich, wobei besonderes Augenmerkauf zu verbessernde Elemente im Servicebereich mit Hinblick auf die Kunden vonCafé Jubilee gerichtet wurde. Alex eröffnete im Anschluss die zweite Café Jubilee-Fi-liale in der Nähe eines Einkaufszentrums im Herzen Vallettas, das gleichzeitig auchin der Nähe der Fußgängerzone (Republic Way) gelegen war, welche täglich von Tau-senden Maltesern und auch Touristen frequentiert wird. Die zweite Filiale war eineexakte Nachbildung in Konzept, Design und Dienstleistung des ersten Café Jubilee,welches gerade einmal zwei Jahre zuvor in Victoria eröffnet wurde.

14.4 Das Geschäftsmodell – Die Erfolgsgeschichte

Die zweite Filiale kopierte den Stil und die Einrichtung der ersten, welche die Basisfür den ursprünglichen Erfolg in Gozo darstellte, und geschäftlicher Erfolg folgte aufdie gleiche Art und Weise mit dem Betrieb in Valetta. Den Erfolg von Café Jubileeallerdings nur aufgrund des Umsatzes oder gar des Gewinns zu messen, wäre, als obman nur ein Teilbild der erfolgreichen geschäftlichen Wirkung der frühen Jahre desUnternehmens darstellen würde. Alex wusste, wie sich die Neueröffnungen der zweiersten Café Jubilee-Filialen auf den Zeitrhythmus der Unterhaltungsszene von Victo-ria und Valletta auswirkten. Das ursprüngliche Café Jubilee in Victoria war das ersteCafé, das nach 17 Uhr noch geöffnet hatte, während die zweite Filiale in Valletta, er-öffnet im Jahr 2000, als erstes Café noch nach 19 Uhr geöffnet hatte. Ihr wachsenderErfolg in der maltesischen Gastronomieszene war letztlich dem Geschäftsmodell zuverdanken, welches die Scicluna-Brüder in ihren Café Jubilee-Filialen konzipiert,entwickelt und umgesetzt hatten.

Alex erklärt:

„Café Jubilee ist weder ein traditionelles Café noch ein typisches französisches Bistro-Restaurant mitDekor aus den 1920ern/1930ern. Das Konzept von Café Jubilee folgt keinem der beiden Gastrono-

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mieideen und ist auch keine bloße Summe der beiden bekannten Konzepte. Ganz anders als andereMainstream-Restaurants ist es eine Kreuzung von verschiedenen Produktangeboten, die normaler-weise auf dem Gastronomiemarkt zu finden sind, welche zu einem einzigartigen, gezielten und kun-denorientierten Angebot geformt sind.“

Café Jubilee hat das vorherrschende Denkmuster und auch die geltenden Gepflogen-heiten für die Leitung von Gastronomiebetrieben in Malta gebrochen. Bis vorKurzem haben solche Betriebe durch das Angebot ihrer Dienste zu einem bestimm-ten, festen Zeitpunkt (tagsüber oder nachts) ein bestimmtes Marktsegment ange-sprochen. Café Jubilee hat dieses traditionelle Denken, welches in der Gastronomie-branche oft als betriebliche Zwangsjacke galt, abgelehnt. Von Anfang an war derGeschäftsentwurf eklektisch, hergeleitet aus einem Mix von traditionellem italieni-schem Restaurant, französischem Café und englischem Pub. Café Jubilee wurde aufdiese Weise zu einem effektiven Geschäftskonzept für einen breiten Kundenstammund durch ein Produkt, welches für Kundenvielfalt konzipiert ist und zu verschiede-nen Tageszeiten zur Verfügung steht.

Für einen solchen Geschäftsansatz ist die Idee maßgebend, dass die verschiede-nen Kundenkategorien unterschiedlichen Service zu verschiedenen Tageszeiten er-fordern, am Tag, am Abend oder in der Nacht. Die Café Jubilee-Filialen in Victoriaund Valletta, und auch später die dritte Filiale in Gzira, sind darauf ausgerichtet,einer breiten Kundschaft zu dienen, angefangen bei Büroangestellten am Morgenund am Mittag, Kauflustigen am Nachmittag, Einwohnern und „übergelaufenen“Kunden anderer Unterhaltungsveranstaltungen vom frühen Abend bis zur Sperr-stunde. Zwei Faktoren wurden damit die kritischen Merkmale einer erfolgreichenunternehmerischen Matrix, um die Geschäftsbemühungen des Café Jubilees zu er-halten: Preis und Zeit. Die Preisgestaltung war eine zentrale Überlegung aus zweiwichtigen verschiedenen, aber dennoch verwandten Gründen. Die Preisstrukturie-rung der Produktpalette bei Café Jubilee musste vernünftig sein, und im Verhältniszum Produktangebot und zur Qualität, die die Scicluna-Brüder für ihre Marke CaféJubilee auf dem maltesischen Markt erwarteten, stehen. Aus diesem Grund wurdedie Stabilität der Preisstruktur zum Kernstück der Unternehmensstrategie von CaféJubilee mit dem Ziel, einen nachhaltigen Geschäftsertrag zu generieren. Das Preisan-gebot und die Qualität der erbrachten Dienstleistung wurden als Hauptgründe fürdie wiederholte Rückkehr – anstelle eines einmaligen Besuches – der Kunden zumCafé Jubilee genannt. Die Preisgestaltung war auch wegen des starken Wettbewerbsinnerhalb Maltas Gastronomiegewerbe kritisch. Der Wettbewerb war unbarmherzig,nicht nur weil Café Jubilee ein Gastronomiebetrieb war, der mit den etabliertenGastronomiebetrieben konkurrieren musste, sondern auch, weil es mit einer ande-ren wettbewerbsstarken Industrie wetteiferte: der Unterhaltungsindustrie. Aufgrundseiner Angebotsüberkreuzung musste Café Jubilee sein Geschäftsmodell so ausrich-ten, dass es dem Wettbewerbsansturm der Gastronomiebranche und den früh- undspätabendlichen Unterhaltungsveranstaltungen standhalten konnte. Aus diesemGrund war ein Zusammenschluss des Geschäfts erforderlich, wodurch beide Filialenso geführt werden mussten, dass ein hoher Umsatz entstand, und nicht nur einekleine Gewinnspanne.

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224 14 Café Jubilee (Malta)

Nach der Eröffnung der zweiten Café Jubilee-Filiale wurde es nicht nur Zeit fürdie Scicluna-Brüder, ihre Einkünfte zusammenzulegen, sondern auch, die Unterneh-mensorganisation zu strukturieren, bevor sie über eine zusätzliche Erweiterungnachdenken konnten. Genau wie die meisten anderen Unternehmensgründungenauf Malta wurde Café Jubilee als Familienbetrieb aufgebaut und geführt, von denScicluna-Brüdern selbst geleitet, nicht selten mit einem sehr pragmatischen Ansatz,um den täglichen Ablauf der Geschäftsanforderungen zu beobachten. Dieser Ansatzmusste für zukünftige, etwaige Geschäftserweiterungen geändert werden.

14.5 Zusammenlegung führt zur Café Jubilee-Kette

Es dauerte nicht lange, bis die Planung der Erweiterung auch in die Tat umgesetztwurde. Nachdem die beiden Café Jubilee-Filialen nach der Zusammenlegung etab-liert waren und sich immer größerer Nachfrage von einer aus maltesischen und aus-ländischen Gästen bestehenden breit gefächerten Kundschaft erfreuten, wurde dieEntscheidung gefällt, eine weitere Filiale zu eröffnen. Diese Entscheidung wurde auf-grund von weiteren bewussten Erweiterungsbemühungen getroffen, die zum Zielhatten, die Unternehmung in eine Kette umzuwandeln. Die Hauptüberlegung in die-ser Entscheidungsfindung war die Auswahl des Standortes. Die dritte Café Jubilee-Filiale musste anhand der Marktauswertung und einer Standortanalyse gegründetwerden, und zwar bevorzugt in einer mit Gaststätten und frühabendlichen Unter-haltungsveranstaltern ausgestatteten Gegend. Somit wurde Gzira der auserwählteStandort der dritten Café Jubilee-Filiale, eine urbanisierte Hafengegend, die an derHauptverkehrsstraße zu den Touristengebieten Sliema-St. Julians gelegen war. Alexoffenbart:

„Die Entscheidung, Gzira als Standort auszuwählen, kommt daher, weil die Mittelklasse weder vonder Gastronomie noch der Unterhaltungsbranche vor Ort bedient wurde. Der Standort der drittenCafé Jubilee-Filiale erwies sich als umsichtige Wahl, da die neue Niederlassung ein recht großesKlientel von Angestellten ansprach, die in der Nachbarschaft arbeiteten. Eine Reihe von Versiche-rungsbüros, Automobilhändlern und Englisch-Nachhilfezentren waren alle nahe der dritten Café Ju-bilee-Filiale gelegen“.

Die Eröffnung der dritten Café Jubilee-Filiale wurde für die Scicluna-Brüder zueinem wichtigen Meilenstein, da die „Kette“ zu diesem Zeitpunkt tatsächlich For-men annahm. Drei Filialen zu betreiben war eine beträchtliche Leistung, ganz beson-ders, wenn man die Anfangsbedingungen von Café Jubilee als kaufmännisches Un-terfangen betrachtet. Den Betrieb mit einer zweiten Filiale auf eine neue Inselauszudehnen war eine riskante Entscheidung, zu einem Zeitpunkt, als die Marktbe-dingungen in Valletta hohes, nicht zu unterschätzendes kommerzielles Risiko vo-raussagten. Außerdem haben die Marktbedingungen Firmen aus Gozo davon abge-halten, auf den größeren Markt in Malta vorzustoßen. Mit der Eröffnung der drittenFiliale hatte Café Jubilee diese Logik besiegt, und alle mit dem Markt zusammenhän-genden Herausforderungen bewältigt.

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Eine Firmenstruktur, die den Anforderungen eines wachsenden, komplexen Un-ternehmens verteilt auf drei Filialen an verschiedenen Standorten der maltesischenInseln gerecht wurde, entwickelte sich langsam. Die Vermarktung von Café Jubileeentwickelte sich auch durch das erfolgreiche Nachbildungsmodell, das während derersten Expansion zwischen den Inseln angewandt wurde. Ein Kundenstamm, der dasWachstum der Café Jubilee-Kette gewährleistete, war bis 2005 geschaffen, ausrei-chend in Kundenanzahl und verteilt über eine große Breite von Bevölkerungsschich-ten. Die Eröffnung der dritten Filiale war möglicherweise ein Ergebnis des vorherexistierenden Geschäftsmodells, welches den verschiedenen Betrieben die Möglich-keit zur Maximierung ihrer Gewinnspanne gab. Der Erfolg der Café Jubilee-Marke,der Produktpalette, der Dienstleistung und des Kundenstamms ist daran zu erken-nen, dass es geschätzte 24 Monate (nach Eröffnung einer Filiale) andauerte, bis dieInvestition amortisiert war. Alex Scicluna erklärt:

„Es ist außergewöhnlich für diese Branche, besonders im Zusammenhang mit dem maltesischenMark gesehen, wo amtierende Betreiber einen strukturierten Wettbewerbsvorteil haben, und wo dieHauptsaison im Sommer auch durch das „Aus-dem-Boden-Sprießen“ von Teilzeitbars und -restau-rants aufgrund der steigenden saisonalen Touristennachfrage charakterisiert ist“.

14.6 Geschäftsdiversifizierung

Nachdem Alex acht Jahre lang die langsame, aber regelmäßige Erweiterung seinesBetriebes beaufsichtigt hatte, fragte er sich selbst oftmals: „Was nun und wohin jetzt?“Das waren sicher schwierige Fragen, für welche Alex keine einfache oder direkte Ant-wort hatte. Die Expansionsstrategie auf dem Inlandsmarkt wurde relativ glatt durch-geführt, und deshalb gab es keinen direkten Grund, die geschäftliche Situation nachder Konsolidierung in den Hintergrund zu stellen. Dennoch dauerte es nicht lange,bis sich eine neue Geschäftsgelegenheit bot, dieses Mal ohne Vorausplanung, abereher als Antwort auf eine Marktnachfrage, die von den Kunden von Café Jubilee er-zeugt wurde. Seit der Eröffnung des ersten Café Jubilee waren die Gerichte, die aufder Karte des Bistros angeboten wurden, die attraktivsten im Angebot, wodurch sieüber die Jahre an Popularität gewannen. Die richtige Balance zwischen dem Gastro-nomie- und dem Unterhaltungsbereich zu finden, war und ist der Hauptverkaufs-schlager und in der Tat die Besonderheit, die das Café Jubilee von seinen Mitbewer-bern unterscheidet. Alex erinnert sich:

„Die Gäste haben die Gerichte, die in den Filialen angeboten wurden, oft empfohlen und gefragt, obsie die Produkte, die im Café Jubilee serviert werden, auch kaufen könnten, um sie zu Hause zu kon-sumieren“.

Diese Nachfrage nach der Erhältlichkeit von Café Jubilee-Produkten in örtlichen Ge-schäften war eine zufriedenstellende Entwicklung für die Scicluna-Brüder. Es bestä-tigte ihre Meinung, dass sorgfältige Planung ohne die richtige Speisekarte bedeu-tungslos gewesen wäre, denn die Qualität und Vielfalt des Essensangebots bei Café

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Jubilee war der Schlüssel zum Erfolg. Bei der Auswahl der Gerichte war ein gutesPreis-Leistungs-Verhältnis, gesundes und auf der Mittelmeerküche basierendes Es-sen, welches mit der regionalen Küche eines solchen Touristenziels im Herzen desMittelmeers in Verbindung gebracht wird, unerlässlich. Die Diversifizierung desCafé Jubilee-Betriebes zur Verkaufsbranche war eng verflochtenmit demQualitätsan-gebot an Gerichten in den drei Filialen.

Von Anfang an war es das Ziel der Scicluna-Brüder, dass die in den Café Jubilee-Filialen gekochten und servierten Gerichte aus frischen, lokalen Zutaten zubereitetwurden, damit die Kunden das Gefühl hatten, „hausgemachtes“ Essen zu genießen.Genausowichtig war die Entscheidung, dass die Gerichte nicht vorgekocht und direktvor dem Servieren aufgewärmt würden, sondern dass man sich ganz und gar auf dieKundenwünsche einstellen könnte. Als Folge wurde den Kunden zur Auswahl gestellt,ihre Gerichte persönlich zusammenstellen zu können, während man eine Reihe sichtäglich wechselnder Gerichte kreierte, um das Essensangebot abwechslungsreich undattraktiv für die Stammkundschaft zu gestalten. DerWeg zumvielfältigen Essensange-bot war eine interne Folge der umfangreichen Investitionen, die im Rahmen des Um-baus und der Neudekorierung der verschiedenen Standorte durchgeführt wurden,um neue Café Jubilee-Filialen zu schaffen. Das Speisenangebot bei Café Jubilee ist diewichtigste immaterielle Investition, die die Einzigartigkeit der Marke unterstreichtund die vorteilhaften Verkaufsargumente gewährleistet, während es gleichzeitig dieAnsicht der Scicluna-Brüder darüber, wie die Kunden ihren Besuch in ihren Filialenerleben sollten, ergänzt. Das Ziel war hierbei, ein heimeliges Gefühl zu erzeugen, so-dass die Kunden diesen Ort als denjenigen betrachten würden, an welchem sie gernsein mochten. Das „Gefühl“ des Ortes war in der Auffassung der „Café Jubilee-Erfah-rung“ der kritische Punkt, welcher folglich die notwendige Dynamik brachte, um dasGeschäft für viele als attraktiv und innovativ zu bewahren. Dadurch gab es viele wie-derkehrende Kunden, aber es half auch, das unerwartete Wachstum des Betriebes imBereich Einzelhandelsverkauf zu fördern, was die Scicluna-Brüder sehr freute. Als dieNachfrage seitens der Supermärkte nach den Produkten immer größer wurde, be-schloss Alex, den Betrieb nochmals zu diversifizieren, und gründete „Jubilee Foods“,wodurch Café Jubilee in mehrere Subfirmen unterteilt wurde, und sich der Betriebvon der ursprünglichen Gastronomieunternehmung der Scicluna-Brüder etwas weg-bewegte.

Jubilee Foods Ltd. wurde als Hersteller- und Verkaufsbetrieb von hausgemachten,küchenfertig gefrorenen Lebensmitteln gegründet. Die Produkte gab es das ganzeJahr über (und auch einige saisonale Produkte), sie wurden aus frischen, örtlichenErzeugnissen ohne Zugabe von Konservierungsmitteln oder Zusatzstoffen herge-stellt. Der neue Betrieb wurde mit der gleichen Geschäftsgesinnung konzipiert wieCafé Jubilee. Hierbei war auch der Wunsch Inspiration, die Kundennachfrage durchVersorgung mit unverfälschten Produkten zu befriedigen. Die Originalität des Pro-duktangebotes spiegelt sich in der Herkunft der Zutaten, welche meistens aus tradi-tionellen Lebensmitteln aus Gozo bestehen. Jubilee Foods Ltd. bot eine Auswahl anDosen- und eingemachten Produkten an, wobei die meisten ländliche Spezialitätenaus Gozo waren, welche nach Familienrezepten zubereitet und die von einer Genera-tion an die nächste weitergegeben wurden. Jubilee Foods Ltd. war ein schlagartiger

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Erfolg, unterstützt auch durch die Geschwindigkeit, mit welcher drei Verkaufsfilia-len Ende 2009 innerhalb von drei Monaten eröffnet wurden. Einige der Produktewaren schon in bestimmten Supermärkten auf der Insel getestet worden, und die Ak-zeptanz der Lebensmittel, die zum Verkauf in den Regalen standen, war gut. Trotz-dem beschloss Alex, dass Café Jubilee seinen eigenen Markenverkauf anbieten sollte,um die Produkte an solchen Standorten zu verkaufen, wo man den größten Ertragerwartete, was das Verkaufsvolumen betraf. Infolgedessen tätigte Alex die Erweite-rung der Jubilee Foods Ltd. durch die Eröffnung zweier Verkaufsfilialen in Maltaund einer in Gozo – einer bei Ta’Ibragg, einer weiteren auf dem Gelände von Maltasgrößten Supermärkten und der dritten angrenzend an das erste Café Jubilee auf Vic-torias Hauptplatz. Die drei Filialen öffneten nacheinander am 25. September, 12. Ok-tober und am 27. November 2009.

Die Verkaufsfilialen bieten eine breite Auswahl an traditioneller maltesischer Kü-che und Gerichten aus Gozo an und reflektieren das „Kundenerlebnis“-Konzept,welches in den Café Jubilee-Bistros verkörpert ist. Das Einkaufserlebnis der drei Fi-lialen lockt Kunden durch regelmäßig stattfindende Kochvorführungen und Probier-veranstaltungen zu wiederholten Besuchen. Die Lebensmittel der Jubilee Foods-Kette werden den Kunden nur nach ausgiebiger Nachforschung zum Kauf angebo-ten, dabei werden die wirkliche Nachfrage und der Kundenwunsch im Hinblick aufein bestimmtes Produkt berücksichtigt. Jubilee Foods war dank dieser treffendenNachforschungen erfolgreich im Zusammenstellen einer Reihe von ungefähr 40 ver-schiedenen Lebensmittelprodukten wie Marmeladen, Chutneys, Sirup, Comino-Ho-nig, traditionelles Tomatenmark, getrocknete Tomaten, gepfeffertes Käsegebäck undhandgepflückte Kapern. Alle Markenprodukte von Jubilee Foods werden zertifiziert,die Verpackungen enthalten ausführliche Diät- und Nahrungsmittelinformationen,um den Kunden eine gesunde und sachkundige Wahl zu ermöglichen.

Der durchschlagende Erfolg von Jubilee Foods lässt eine weitere, zukünftige Ent-wicklung des Verkaufszweiges des Betriebes erahnen. Weniger als ein Jahr nach derGründung von Jubilee Foods hat Alex Scicluna Erwartungen im Hinblick auf dieEntwicklung neuer Produkte und auch an die Ladenkette an sich, was die Entwick-lung des Betriebs betrifft. Insgesamt ist eine Erweiterung der Kette auf neun Jubilee-Lebensmittelgeschäfte in Malta und Gozo geplant, wobei sechs Geschäfte in dennächsten drei Jahren eröffnet werden, damit die Kunden ihre Lieblingsprodukte ein-facher und in nächster Nähe bekommen können. Natürlich geht es bei Jubilee FoodsLtd. nicht nur um den Einzelhandel. Es handelt sich auch um einen lebensmittelver-arbeitenden Betrieb, der alle derzeitigen Verkaufsfilialen beliefert. Der Standort derFabrik ist in Gozo mit fünf Vollzeitangestellten, die unter der direkten Leitung vonAnthony Scicluna stehen, der sowohl die Produktion als auch den Einzelhandelsver-kauf von Jubilee Food Ltd. verantwortlich ist.

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14.7 Den strukturellen Herausforderungen derInternationalisierung gerecht werden

Die Gründung des Einzelhandelsverkaufszweiges brachte den Scicluna-Brüdern neueHerausforderungen im Hinblick auf ihre Geschäftstätigkeit, aber es half ihnen auch,sich auf die notwendigen Verbesserungen vorzubereiten, die für Alex‘ persönlicheAmbition, eine Café Jubilee-Filiale im Ausland zu eröffnen, erforderlich waren. CaféJubilee hatte über eine relativ kurze Zeit eine erfolgreiche Geschäftsstruktur entwi-ckelt, unterstützt von einer Langzeit-Unternehmensstrategie, die zum Ziel hatte, Er-träge zu erhalten, und sowohl die Betriebsführung als auch vorausschauende Projekt-planung zu gewährleisten. Jede der Café Jubilee-Filialen wird von einem Managergeleitet, während das Verwaltungsbüro die Führung, den Einkauf und die Lieferungder Betriebsmittel überwacht, und die Finanzabteilung für die finanzielle Führungdes Betriebes verantwortlich ist, einschließlich der Gehaltslisten für die Angestelltendes Unternehmens. Ende 2009 waren bei Café Jubilee rund 130 Mitarbeiter beschäf-tigt, wobei die genaue Zahl durch die saisonal bedingten Schwankungen der Arbeits-nachfrage innerhalb der Filialen variierte. Trotz der relativ bescheidenen Größe derCafé Jubilee-Kette erwies sich der Gastronomiebetrieb als recht arbeitsintensiv, wo-durch die Trennung des Umsatzes des Unternehmens von der Gesamtanzahl derMit-arbeiter, die den erforderlichen Service leisteten, nötig wurde. Alex hatte schon im-mer an höhere Gehälter für seine Mitarbeiter geglaubt, um ihren Anteil an derQualitätsarbeit zu gewährleisten.Wie auch andere Betreiber in der Gastronomiebran-che blieb auch Alex von dem Problem nicht verschont, Personal über einen längerenZeitraum nicht halten zu können, da die Gastronomie- und UnterhaltungsbrancheMaltas generell von einem hohen Personalwechsel geprägt sind. Unglücklicherweiseist die Gastronomiebranche noch dazumit demMakel eines tief verwurzelten, negati-ven Images behaftet, schlechte Arbeitsbedingungen und niedrige Bezahlung zu bie-ten. Alex selbst hat einige Male die Erfahrung gemacht, dass Arbeiter der Gastrono-mieindustrie nur für kurze Zeit anheuerten, um entweder ihr normales Gehalt durchTeilzeitarbeit aufzustocken, als kurzfristigen Job während der Übergangsphase zwi-schen Studium und Beruf oder als „Zwischenjob“.

Die jetzigen Schwierigkeiten von Alex hatten in erster Linie mit dem Angebot anFachleuten zu tun, und auchmit der Verfügbarkeit der notwendigen finanziellenMit-tel, um den wohlstrukturierten Versuch zu starten, den Café Jubilee-Betrieb außer-halb der maltesischen Grenze zu internationalisieren. Alex Scicluna hatte lange überdie verschiedenen Optionen, eine Café Jubilee-Filiale im Ausland zu gründen, nach-gedacht. Die beiden anderen Scicluna-Brüder waren derMeinung, jegliche Gedankenan Internationalisierung zu verwerfen, die an die Basis der Ressourcen ihres Unter-nehmens gehen würden, und eine etwaige Kreditaufnahme durch traditionelle Bank-kredite mit unerschwinglichen Konditionen nötig machen würde. In Malta ist dasAufbringen von Kapital für große Investitionen ein riskantes Geschäft, da Bankkre-dite oft nur gegen hohe Bürgschaften vergeben werden, meistens handelt es sich umEigentum als Sicherheit für den Kredit. Auf der anderen Seite hängt der Geschäftser-folg nicht selten davon ab, wie leicht man Kapital zur Finanzierung für Geschäftsun-

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ternehmungen bekommen kann. Als solches ist der Zugriff auf Kapital ein entschei-dendes Thema für alle Unternehmen, nicht nur am Anfang des Unterfangens, son-dern auch über den gesamten Lebenszyklus hinweg. Ganz besonders kritisch wird es,eine Finanzierung zu erhalten, wenn eine Firma auf dem Inlandsmarkt eine gewisseReife erreicht hat und über die Grenzen hinaus Geschäfte tätigen will. Nachdem Alecmit JosephXuereb, einemFreund undGeschäftsexperten vorOrtMarktforschung be-trieben hatte, wurde klar, dass ein Internationalisierungsmodell nach dem Franchise-Konzept die einzige Optionwar, diemanverfolgen konnte. Also traf Alex die sachkun-dige Entscheidung, dass eine internationale Erweiterung der Café Jubilee-Kette nurdurch Franchising möglich war, da die nötigen Ressourcen von einer anderen Personbeschafft werdenmussten, und damit das Ausmaß der eigenen, finanziellen Belastungdurch Investitionen vonAlex eingeschränkt würde.Hinzu kommt, dass die Franchise-Methode für ein auf einem Inselmarkt entstandenes Unternehmen als sehr verlo-ckend erschien, da es die Möglichkeit für attraktiven Gewinn auf großen Märktendes europäischen Kontinentes in Aussicht stellte. Deshalb erachtete es Alex als sinn-voll, Franchising als den natürlichen Weg zur Langzeitentwicklung seiner Geschäftezu wählen.

Franchising ist eine Methode, bei der das erprobte und erfolgreiche Geschäftsmo-dell eines anderen Betriebes übernommen wird. Franchising lässt sich am besten aufBetriebe anwenden, die sich zum einen durch eine gute Ertragslage auszeichnen undderen Geschäftsmodell sich leicht auf einen anderen Standort übertragen lässt. Wasdies betrifft, erfüllte Café Jubilee die Anforderungen, um sich auf den Franchisingsek-tor zu wagen. Für Alex war das Franchisingmodell eine Geschäftsmöglichkeit, die dieScicluna-Brüder einfach nicht ignorieren konnten. Die Entscheidung, den Café Jubi-lee-Betrieb zu konzessionieren, wurde mit dem Hintergedanken getroffen, dass dieKette möglicherweise stark expandieren könnte, sobald der Durchbruch im Auslandgeschafft war. Für einen Neuling auf dem Markt und mit eingeschränktem Zugriffauf die Absatzmärkte des Festlandes brachte das Franchising einen weiteren bedeu-tenden Vorteil für das Café Jubilee: Man konnte durch den Konzessionsnehmer dieAbsatzmärkte am neuen Standort kennenlernen. Schlussendlich machte diese Ge-schäftsoption für Alex Sinn, da es dadurch möglich war, die Marke auch auf deminternationalen Markt sehr gut zu kontrollieren. Alex‘ Bestrebungen, Café Jubilee zuinternationalisieren, waren seit Langem ein strategisches Ziel der Kette gewesen, undwurden durch seine eigenen Ambitionen getrieben, die erste maltesische Café/Bistro-Kette im Ausland zu eröffnen. Nach der Geschäftszusammenführung und währendder Zeit, als in 2005 die dritte Filiale eröffnet wurde, hatte Alex bereits begonnen,mit Joseph Xuereb die internationale Abteilung von Café Jubilee aufzubauen. Da-durch ergaben sich für das Langzeitkonzept und die letztendliche Umsetzung der In-ternationalisierung sowohl strategische wie auch strukturelle Impulse. Für die Um-setzung wurde Howarth Franchising UK Ltd., Europas größte Beraterfirma auf demGebiet Franchising, beauftragt, Café Jubilee bei der Formulierung des internationa-len Franchiseangebots zu unterstützen.

Aus Sicht des Managements bedeutete die Internationalisierung von Café Jubileeeinen Bruch mit dem alten, bewährten aber doch überholten Managementsystem,das auf dem traditionellen Modell eines Familienbetriebs fußte. Diese Entwicklung

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hatte zur Folge, dass sich der Betrieb ganz entschieden und dauerhaft als ein gutstrukturiertes Unternehmen etablieren musste, ausgerichtet auf die Erfüllung dervon der Firma vorgegebenen Wachstumspolitik und um damit die Glaubwürdigkeitder Marke gewährleisten zu können. Letztendlich würde der Erfolg des Franchising-projekts von Café Jubilee erheblich von gerade dieser Glaubwürdigkeit abhängen, dasich Konzessionsbetriebe in angemessener Art und Weise von ihrer Konkurrenz aufdem Franchisingmarkt unterscheiden müssen. Die Einzigartigkeit des angebotenenProdukts und dessen Unterstützung durch ein bewährtes Management sind Schlüs-selfaktoren, die den Erfolg oder das Scheitern einer Franchiseoption bestimmen. Ausdiesem Grund war die Umstrukturierung von Café Jubilee in ein professionelles,strukturell geführtes Unternehmen ein vorrangiger Wechsel in der unternehmeri-schen Gestaltung des Betriebs im Vorfeld des Franchiseangebots. Die Entwicklungdes Franchiseangebots bedurfte eines konzentrierten, kritischen Vorgehens, wo undwie Café Jubilee sich im Ausland positionieren könnte, um seine charakteristische,maltesische Marke und die geschäftliche Abgrenzung zu garantieren und dies trotzdes unbarmherzigen Wettbewerbs im Café- bzw. Bistrogeschäft. Der Ausgangspunktfür die Strategie der internationalen Entwicklung von Café Jubilee war, den bestenEinstiegspunkt im Franchisemarkt zu finden und zu nutzen, um bestehende Markt-lücken zu füllen. Für Alex war das Ziel des Unterfangens von Anfang an klar:

„Café Jubilee sollte in jenem Bereich positioniert werden, der noch nicht von anderen Einrichtungender örtlichen kulinarischen Szene in verschiedenen europäischen Märkten besetzt war und der auf-nahmebereit für die von Café Jubilee angebotene, einzigartige Nischenproduktpalette ist.“

Der Fokus der Marktanalyse war in der Tat entscheidend für den schlussendlichenErfolg der internationalen Entwicklung von Café Jubilee. Die Kernaussage bezüglichder strategischen Ausrichtung von Howarth Franchising UK Ltd. war, sich beim Ein-stieg in das Franchise im Ausland ausschließlich auf jene Märkte zu konzentrieren, indenen ein großes Maß an Aufgeschlossenheit gegenüber europäischer Kultur, Kücheund Gepflogenheiten gegeben ist. Das war ein sinnvoller Ratschlag aus zwei Gründen,erstens um das Risiko zu minimieren, und zweitens, um dem wirtschaftlichen Kon-zept zu ermöglichen, sich gut in die vorherrschenden, örtlichenMarktentwicklungeneinzufügen, was auch dieMöglichkeit mit einschloss, örtliche Gastronomie einzubin-den, um den Anreiz des Mischcharakters von Café Jubilees zu vergrößern. Die inter-nationale Entwicklungsstrategie von Café Jubilee musste sich auf einige Prioritäts-märkte festlegen, um die Anstrengungen zu konzentrieren und um zu vermeiden,dass das Marketinggebiet nicht überzogen wurde, ohne die erwünschten Auswirkun-gen und Resultate zu erhalten. Die Prioritätsmärkte für die geplante Erweiterung vonCafé Jubilee wurden sorgfältig ausgewählt, wobei vier wesentliche Punkte berücksich-tigt wurden:· Marktpotenzial;· Die Einfachheit des geschäftlichen Aufbaus einschließlich operationeller Kosten;· Arbeitsmarktbedingungen;· Die Schutzmaßnahmen der Behörden, welche juristischen Schutz für den Fran-

chisenehmer und Franchisegeber bieten.

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Neben diesen obenstehenden Betrachtungen wurde den Scicluna-Brüdern geraten,

„. . . die Bemühungen zur Entwicklung des Café Jubilee-Franchiseangebots auf die Märkte der zent-ral- und osteuropäischen Länder zu konzentrieren, die bereits EU-Mitgliedsstaaten oder zu demZeitpunkt Beitrittsstaaten sind, und in denen die Einwohner bereits kulturell mit dem Café/Bistro-prinzip vertraut sind.“

Eine kurze Liste der Vorzugsmärkte wurde angefertigt, wobei Polen als Testgebiet fürdie internationale Franchise-Entwicklung der Café Jubilee-Kette ganz oben platziertwurde. Nachdem dann der Durchbruch gelungen war, sah der Franchise-Geschäfts-plan einen natürlichen Progressionspfad auf die Märkte der benachbarten Ländervor, allen voran Ungarn, Rumänien und Bulgarien. Diesem Plan zufolge wurde vo-rausgesehen, dass sich langsam einCafé Jubilee-Netzwerk in dieser Region entwickelnwürde. Alex‘ Brüder hatten eine Reihe von Bedenken wegen des vorgeschlagenenPlans, unter anderem: Wie viele Leute in Osteuropa kennen Malta und seine Küche?Würde man in dieses Franchiseunternehmen auch die lokale Küche der osteuropäi-schen Filialen einschließenmüssen? Diese Länder verfügen bereits über eine gut ange-legte Unterhaltung- und Gastronomieindustrie (anders als Malta), also wieso würdeihr Konzept dann einzigartig sein können? Wie konnten sie vereinheitlichen, wennjede Filiale individuell angepasst werden musste? Alex versicherte ihnen, dass er diesim Griff haben würde, da gutes Planen ihnen immer erfolgreiche Ergebnisse gebrachthatte. Er wollte jedenMarkt sorgfältig erforschen, umherauszufinden, obCafé Jubileedie richtigeMischung von ursprünglichemDesign und örtlichen Bedürfnissen sei.

Wie jeder andere herkömmliche Businessplan wurde auch der strategische Ge-schäftsvorschlag aufgrund der Marktanalyse der britischen Beratungsfirma aufge-stellt. Allerdings verlief die internationale Entwicklung von Café Jubilee nicht ganznach Plan. Der vorgeschlageneMarkt-Franchise-Durchbruchwar aufgrund der Ano-nymität der maltesischen Kette für die lokalen Geschäftsleute nur schwer zu erlangen,und auch die geografischen Entfernungen und kulturellen Unterschiede gekoppeltmit dem Mangel an direkten, glaubwürdigen Kontakt mit potenziell interessiertenFranchisenehmern waren ein Problem. Dieser internationale Durchbruch gelang erstam zehnten Jahrestag von Café Jubilee, und er wurde durch den direkten Geschäfts-kontakt zwischen Alex und Alfred Pisani ermöglicht, Vorsitzender der CorinthiaGroup, der größten Hotel-Investment und Management-Firma Maltas, die mehrereFünf-Sterne-Hotels in verschiedenen europäischen Ländern betrieb. Diese Gelegen-heit, die durch die Corinthia Group of Companies vermittelt wurde, ermöglichte denScicluna-Brüdern den Eintritt in eine Gemeinschaftspartnerschaft, die die Eröffnungder ersten internationalen Filiale von Café Jubilee auf Überseegelände der CorinthiaGroup zuließ. Dieses Joint Venture zwischen Café Jubilee und der Corinthia Groupwurde Mitte 2009 bekanntgegeben. Es sah eine Gelegenheit für die Scicluna-Brüdervor, ein neues Café Jubilee-Bistro/Pub auf einem größeren Gelände zu eröffnen, dasvon der Corinthia-Gruppe für die Neuentwicklung eines Tophotels im Zentrum vonBudapest erworben wurde. Der Standort für das neue Café Jubilee-Bistro war ideal,ein Eckgrundstück der Corinthia Group und im Herzen der ungarischen Hauptstadtgelegen. Das schon existierende Gebäude wurde umfassend renoviert, was einigeMo-nate in Anspruch nahm, sodass das offizielle Eröffnungsdatum der ersten internatio-

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nalen Café Jubilee-Filiale ein wenig verschoben wurde, und zwar auf den 27. Februar2010. Das Bistro-Café wurde mit einer kleinen Zeremonie eingeweiht, welche vomVorsitzenden der Corinthia Group Alfred Pisani und von Alex Scicluna, seines Zei-chens CEO der Jubilee Group of Companies, geleitet wurde. Die erste internationaleFiliale war nun das vierte Café Jubilee und das erste Übersee-Joint Venture derMarke.Geplant ist eine laufende Geschäftsentwicklungs-Partnerschaft zwischen der Corin-thia Group und der Jubilee Group of Companies. Während der Eröffnungszeremo-nie, die von ungefähr 300 Gästen besucht wurde, redete Alex mit Stolz von der Ver-wirklichung seines Traums, Café Jubilee ins Ausland zu bringen. In der Tat war dieEröffnung des Café Jubilee Budapest das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit und Ent-schlossenheit seitens der Scicluna-Brüder, die unzählige Herausforderungen beste-hen mussten, die eine wahrhaftig gute Leistung eines kleinen familienbetriebenenGastronomieunternehmens hätten schwächen können.

Nur ein paarMonate sind seit dem bemerkenswertenMoment vergangen, und ob-wohl es noch früh ist, kann Alex mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass das Kun-denverhalten bisher sehr vielversprechend erscheint. Sobald die Budapester Filiale er-öffnet und in Betrieb war, begann das Management mit einer Werbekampagne, dieauf jene Nische abgezielt war, die sie ansprechen wollten. Alex zeigt sich optimistisch,dass das Café Jubilee Budapest trotz der anfänglichen Schwierigkeiten bald besser insGeschäft kommen wird, und er ist zuversichtlich, dass die Café-Kultur eine beliebteArt der Unterhaltung ganz besonders für junge aufstrebende Ungarn ist. Aus derLangzeit-Perspektive gesehen stellt die Eröffnung von Café Jubilee Budapest einenMeilenstein in der Entwicklung der maltesischen Franchise-Industrie dar. Ganz be-sonders für Alex Scicluna wird sich die Budapester Filiale hoffentlich im Hinblick aufeine weitere lebenslange Ambition lohnen: ein erstes und erfolgreiches maltesischesFranchise-Unternehmen im Ausland zu schaffen. Die Internationalisierung von CaféJubilee mit der Eröffnung der ersten Auslands-Filiale hat Alex geholfen, einige der ge-machten, wichtigen Lektionen schätzen zu lernen. Die Erfahrung hat gezeigt, dass,obwohl die Franchise-Option aus einer strategischen Perspektive betrachtet in derTat die beste war, Franchising ein schwieriges und überfülltes Geschäftssegment ist.Mehrere Betreiber konkurrieren auf demMarkt und versuchen, die Geschäftsmodelleder Gastronomie- und des Fast-Food-Bereiches zu kopieren. Alex hatte zwei Jahre ak-tiv nach Franchisenehmern gesucht, und obwohl einige Kontakte hergestellt wurden,erzielte keiner die erwünschten Endergebnisse, bis das Partnerschaftsabkommen mitder Corinthia Group abgeschlossen wurde.

Rückblickend erscheint es so, dass die strategische Partnerschaft mit CorinthiaGroup für Alex Scicluna nicht nur den Stillstand bei den Bemühungen um das Er-schließen von Auslandsmärkten beendet hatte, sondern dass diese Partnerschaft aucheinen beträchtlichen Mehrwert für die Café Jubilee-Marke bedeutete. Sie hat Café Ju-bilee direkt geholfen, die langjährige Expertise osteuropäischer Märkte anzuzapfen,die aufgrund der langjährigen Tätigkeit der Corinthia Group im Hotelbusiness inPrag und St. Petersburg akkumuliert worden war. Die Partnerschaft mit CorinthiaGroup erlaubte auch den Austausch vonWissen zwischen den beiden Unternehmen,was dasVordringen in ausländischeMärkte betrifft, welcheswiederumCafé Jubilee er-möglichte, durch die Franchise-Entwicklungsstrategie eine neue unternehmerische

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Einstellung inHinblick auf Internationalisierung undUnternehmenskultur anzuneh-men, noch verstärkt durch das Joint Venturemit der Corinthia Group.Diese Faktorenwaren während der Aufbauphase der ersten Café Jubilee-Auslandsfiliale für die inter-nenGeschäftsabläufe der Bistrokette von beträchtlichemWert.

14.8 In 30 Tagen von Budapest nach Shanghai

Café Jubilee befand sich kurz nach der Eröffnung der ersten Auslandsfiliale in wei-tere Auslandsvorhaben verwickelt, dieses Mal auf der Weltausstellung in Shanghai,China. Alex wurde von Malta Enterprise (die Investment Promotion Agency dermaltesischen Regierung) gefragt, ob er eine vorübergehende Filiale auf dem Geländedes maltesischen Stands aufbauen würde, um die Attraktivität für den durchschnitt-lichen Besucheraufenthalt zu verbessern. In weniger als drei Monaten eröffnete CaféJubilee seine zweite Auslandsfiliale innerhalb des Malta-Pavillons, unter völlig ande-ren Umständen, Absichten und Möglichkeiten. Anders als der Budapester Betriebbesteht die Präsenz der Café Jubilee-Filiale auf der Weltausstellung in Shanghai nurfür den Zeitraum der Ausstellung, vom 1.Mai bis 31. Oktober 2010.

Alex beschloss, selbst die Herausforderung anzunehmen und die Nachbildungender anderen Café Jubilee-Filialen im Malta-Pavillon zu gestalten, einschließlich allercharakteristischen Firmenmerkmale, Ausstattung, Besteck und Geschirr. Dies be-inhaltete eine beträchtliche Anstrengung im Bereich Kosten, Logistik und Mobil-machung, das Verschiffen der charakteristischen Innenausstattung der Marke CaféJubilee per Containerschiff nach China mit einbegriffen. Ein Montageteam mussteebenfalls nach Shanghai gebracht werden, um den Zusammenbau und den Betriebder Filiale zu beaufsichtigen. Eigens für die Weltausstellung wurde eine neue Speise-karte entwickelt, modelliert nach jener der Filialen in Malta, Gozo und Budapest, al-lerdings angepasst für die Belange der Weltausstellung. Das Ziel der Café-Nachbil-dung im Malta-Pavillon war, für maltesische Produkte zu werben und gleichzeitigdas Besuchererlebnis am Stand zu intensivieren. Der Partnerschaftsansatz war wiedermal ein entscheidender Faktor für Alex, insbesondere um sicherzustellen, dass fri-sches Essen und die Getränke direkt vonmaltesischen Partnerunternehmen bereitge-stellt wurden, Farsons für das Bier und DelicataWinery für dieWeine.

Die reine logistische Herausforderung, ein vorübergehendes Café Jubilee bei derWeltausstellung in Shanghai zu organisieren, könnte einige Leute abgeschreckthaben, aber für Alex Scicluna stellte es die passende Gelegenheit dar, das Potenzialfür eine weitere Entwicklung der Kette im Fernen Osten selbst zu erforschen. Alexglaubte, dass die befristete Unternehmung im Malta-Pavillon in der allgemeineninternationalen Entwicklungsstrategie von Café Jubilee Sinn machte, weil es die bis-her unternommenen Bemühungen, auf dieMarke und ihr einzigartiges Produktange-bot im Ausland aufmerksam zumachen, ergänzte. Alex bleibt, was die Entwicklungs-aussichten der Marke auf dem chinesischen Markt betrifft, konsequent positiv. SeineBrüder sind weniger enthusiastisch, da sie denken, das Unternehmen sei finanziellschon genug belastet, weil in China keine maltesischen Partner zur Verfügung stehen

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wie beispielsweise in Ungarn, sie wenig über die chinesische Kultur wissen, und we-nige Leute in China überhaupt vonMalta gehört haben. Auch das Konzept wäre kom-plett neu aus chinesischer Sicht, die Geschäftspraktiken ganz anders, und der neue Be-richt der Beratungsfirma zeigt imMoment bessere Resultate für den indischenMarkt,was das Vorausplanen der Firmenstrategie betrifft. Sie glauben auch, dass das Unter-nehmen zu schnell wächst, besonders in einer Zeit globaler ökonomischer Krisen undhaben Alex unzählige Beispiele von Firmen präsentiert, die sich übernommen habenund damit aus dem Geschäft ausscheiden mussten. Sie wollen eine weniger offensiveStrategie. Trotzdem glaubt Alex, dass der chinesischeMarkt ein gutes Langzeit-Poten-zial für Café Jubilee aufzeigt, obwohl das Unternehmen zunächst die hohen Investitio-nen sicherstellen muss, um eine nachhaltiges Franchise-Vereinbarung zu garantieren.

14.9 Eine freundliche Zukunft winkt

Trotz der täglichenHerausforderungen, diemit der Leitung der Kette verbunden sind,hält Alex Scicluna an seiner Vision fest, erstmalig ein maltesisches Café/Bistro-Fran-chise Unternehmen mit einem breitbandigen, internationalen Netz von Betrieben inverschiedenen Ländern und sogar in verschiedenen Kontinenten aufzustellen. DasJahr 2010 war bisher ein sehr gutes Jahr für die Scicluna-Brüder durch die Eröffnungihrer ersten Auslandsfiliale in Budapest, dem temporären Aufbau des Cafés imMalta-Pavillon in Shanghai, aber auch durch den Beginn der sachgemäßen Erforschung desCafé/Bistro-Marktpotenzials in Indien. Café Jubilee versuchtmit der Hilfe von „Fran-chise India International“ – einem Ableger von Asiens größtem, integrierten Fran-chise- und Einzelhandels-Lösungsanbieter „Franchise India“, einen Fuß in die Türzum indischen Markt zu bekommen. Diese Firma ist darauf spezialisiert, ausländi-schenMarkenmit ihrer indischenMarkteintrittsstrategie und imVermitteln von Part-nerschaften mit zuverlässigen indischen Investoren, zu assistieren. Insbesondere hilftdie Beratungsfirma Café Jubilee, eine passende Markteintrittsstrategie zu entwickeln,während sie auch eine Industrieanalyse unternahm, die dazu beitrug, das Franchise-Angebot speziell dem indischenMarkt anzupassen. Das beinhaltet die Anpassung desursprünglichen Café/Bistrokonzepts, um eine reibungslose Annahme durch die indi-schen Kunden und Investoren zu gewährleisten. „Franchise India International“ hilftder Marke, ihr Franchise-Angebot zu vermarkten, wobei ein besonderes Augenmerkauf die großen Städte wie Mumbai, Delhi, Chennai und Bangalore gerichtet wurde.Alex ist im Hinblick auf seine andauernde Suche in Richtung Gründung der erstenmaltesischen Café/Bistro-Kette im Ausland positiv eingestellt. Während die Ge-schäftstreffen mit dem angepassten Markenkonzept langsam Formen annehmen,freut sich Alex auf die Dinge, die vor ihm liegen. In seinem bequemen Sessel in Shang-hai sitzend bleibt er mit seiner unternehmerischeMotivation auf dem Boden der Rea-lität mit dem zweigleisigen Ziel, die Kapitalinvestitionen wieder einzuwerben und ge-sunde Gewinne zu erzielen, während er ernsthaft seinen Traum verfolgt, Café Jubileein die erste maltesische internationale Franchise-Kette umzuwandeln. Wird die Ver-folgung dieser Ziele zu großem Erfolg führen oder werden sich die Ängste seiner Brü-der bewahrheiten?

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15Virobuster (Niederlande)

Paula Englis, Marianne van der Steen & Rainer Harms

15.1 Einleitung

Herbert Silderhuiswar inGedankenvertieft, als er langsamvomBüro imZentrumEn-schedes nachHause fuhr. EswarMärz 2009, und obwohl dasWochenende vorder Türstand, war er gedanklich nachwie vor bei demZeitungsartikel, den ermorgens gelesenhatte. „Sofortige Schließung der Krankenhäuser in Enschede und Henglo aufgrundvon tödlichemVirus“. DasThemawurde bereits in derMittagszeit zumStadtgespräch.DieMenschenwunderten sich, dass ein derartiger Vorfall in ihremörtlichenKranken-haus vorkommen konnte. Herbert warWissenschaftler und leidenschaftlicher Unter-nehmer, weshalb sich ihm folgende Frage stellte:Wie konnte ein derartigesDesaster inZukunft verhindert werden? Über drei Jahrzehnte hinweg hatte er fünf Unternehmengegründet, die sich auf unterschiedliche Gesundheitsaspekte konzentrierten und imKrankenhaussektor etabliert waren.Während dieser Zeit beschäftigte er sichmit demUmgang mit Viren und entwickelte daraus resultierend Methoden zur Herstellungvon Medikamenten gegen Grippe. Zuletzt gründete er „Virobuster“, um Luftfilter-technologien voranzutreiben.

Herbert überlegte angestrengt, wie sich aus der aktuellen Schließung von Kran-kenhäusern aus dem erläuterten Grund eine Geschäftsidee entwickeln ließ. Er hattedas Problem kommen sehen und hatte Virobuster gegründet, weil er sicher war, dassKrankenhäuser an seinen Erfindungen Interesse haben könnten. Die Schließung derKrankenhäuser in Enschede und Henglo war für die dort lebenden Menschen ver-heerend. Durch den Vorfall war die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein derartigesProblem in weiteren Krankenhäusern Europas oder gar weltweit auftreten könnte.Er überlegte ob Virobuster für die Krankenhäuser in Enschede und Henglo eine Lö-sung bereitstellen konnte. Konnte Virobuster eine Präventivlösung für den Rest Eu-ropas bieten? Wie sollte das Unternehmen verfahren? Wenn Herbert versuchte, demProblem in Enschede und Henglo entgegenzuwirken, war er sich im Klaren, dass eseine Herausforderung war, zwei Krankenhäuser gleichzeitig versorgen zu müssen. Erfragte sich, ob er in der Lage war seine Reputation und Erfahrung in der Luftsterili-sierung im Gesundheits- und Nahrungsmittelsektor wirksam einzusetzen, um indiesen neuen Markt eintreten zu können. Er wusste, dass der Zugang zu Europavom Erfolg in Enschede und Henglo abhing. Herbert evaluierte seine Optionen, ent-weder durch eigene Verkaufsteams in den einzelnen Ländern zu expandieren oderalternativ Lizenzen der Technologie an Lieferanten zu vergeben, was ihm erlaubenwürde in mehrere Märkte Europas simultan einzutreten. In Anbetracht beider Op-tionen bestanden positive als auch negative Aspekte.

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236 15 Virobuster (Niederlande)

15.2 Unternehmensgeschichte

Wie viele andere innovativ und unternehmerisch denkende Personen gründete Her-bert ein Unternehmen, sobald er eine Problematik erkannte und eine Lösung dazuhatte. Anfang 2002 begann sich Herbert aufgrund der steigenden Todesfälle und Er-krankungen bei Krankenhausaufenthalten in den Niederlanden mit Luftsterilisie-rungsprozessen zu beschäftigen. Dies war wiederum kein Problem, das ausschließ-lich die Niederlande betraf, wie aus dem im Jahr 2005 veröffentlichten Bericht derSeuchenschutzbehörde hervorgeht:

„Über zwei Millionen Patienten amerikanischer Krankenhäuser wurden durch Bakterien oder Vireninfiziert, die nicht mit dem eigentlichen Grund ihres Besuchs in Verbindung stehen. Davon sind90.000 Menschen aufgrund der Infektion verstorben. Tod durch Infektionen, welche durch Kranken-hausaufenthalte ausgelöst werden, stellt die vierthäufigste Todesursache in den USA dar.“

Aufgrund dieser beunruhigenden Statistiken wollte Virobuster mit seinem AngebotamMarkt aktiv werden. Herbert dachte sowohl in Holland als auch in anderen euro-päischen Ländern ähnliche Ursachen zu finden, sodass dem Problem gesamtheitlichentgegengewirkt werden konnte. Aerogene Krankheiten wie u. a. MRSA, SARS koste-ten Krankenhäuser weltweit jährlich Millionen von Euro. Noch beunruhigender wardie steigende Sterberate aufgrund derartiger Erkrankungen. Virobuster hatte zumZiel, Geräte herzustellen, die die Ausbreitung aerogener Krankheiten nicht nur ver-hindern, sondern gänzlich eliminieren konnten.

Herbert hatte das Unternehmen immer als „Born Global“ betrachtet und war in-nerhalb von acht Jahren mit Virobuster zu einer Größe in der Industrie geworden.Mit einemsoliden auf Luftsterilisierung fokussiertenProduktportfoliowarVirobusterin der Szene zum Führer, Pionier und Vorzeigemodell der Industrie herangewachsen.Herbert hatte das Unternehmen auf Basis der Möglichkeit gründet, Krankenhausbe-dingungen zu verbessern und es zu einem global erfolgreichen und profitablen Unter-nehmen gemacht, das weltweit Leben rettet. StetigesWachstumund eine global ausge-richtete Unternehmensstrategie hatten Virobuster geholfen, den Führungsstatus inder Industrie zu behaupten, mit Kunden erfolgreich zu arbeiten und sich intensiv aufF&E zu konzentrieren und dadurch die Produkte fortwährend zu verbessern. Herbertglaubte, je besser Virobuster ausgestattet sei, desto erfolgreicher konnten ein globalesMarkenprofil sowie Produkte geschaffen und eine starke Differenzierung imWettbe-werb realisiert werden.

15.3 Strategie

Seit Beginn der unternehmerischen Aktivität bestand die Mission von Virobuster da-rin, Hygiene zu fördern. Das Kernziel stellte die Entwicklung neuer Lösungen zurVerbesserung der Hygienestandards dar. Mit der Zunahme möglicher Viren-Konta-minationsherde stieg auch die Präsenz der Thematik in der internationalen Presse.

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Paula Englis, Marianne van der Steen & Rainer Harms 237

Virobuster war bedacht, Bedrohungen durch Luftverunreinigungen im Gesundheits-wesen und der Nahrungsmittelindustrie auf Basis von Richtlinien, die von der Welt-gesundheitsorganisation empfohlen wurden, zu eliminieren. Herbert machte dazufolgende Angaben:

„Wir bemerkten, dass, obwohl Sauberkeit jeglicher Art hohe Priorität hatte, oft Luftreinheit vernach-lässigt wurde. Mit den Produkten von Virobuster wird die bisherige Produktpalette meiner Unter-nehmen vervollständigt und allumfassende Hygiene forciert. Die Vision von Virobuster ist es, zu-künftig durchgängig Hygienestandards sicherzustellen.“

Wie viele andere Start-ups und Kleinunternehmen war Virobuster horizontal orga-nisiert. Während der frühen Entwicklungsphasen profitierte das Unternehmen vonder offenen und unkomplizierten Kommunikation sowie der rationalisierten Struk-tur. Zudem förderte die horizontale Struktur die Beteiligung der Angestellten auf-grund dezentralisierter Entscheidungsprozesse. Da alle Angestellten von Virobusterauf derselben Stufe standen, wurden überdies Verantwortungsbewusstsein und of-fene Kommunikation gefördert. Diese Art der Kommunikation war ebenso hinsicht-lich der Kundenbeziehungen von Vorteil, da Probleme schneller gelöst und Managereng mit ihren Klienten zusammenarbeiten konnten. Das Management und die F&E-Abteilung waren von Anfang an in den Niederlanden angesiedelt und wurden durchVerkaufsbüros in strategischen Standorten ergänzt. Die Produktion wiederumwurde an ein deutsches Unternehmen namens „JK-Produkte“ ausgelagert. Das Un-ternehmen hatte zwei Werke, eines in Windhagen (Deutschland) und eines in Ken-tucky (USA). Des Weiteren wurde die F&E-Abteilung durch Kooperation mit Uni-

Abb. 1: Messfelder der Sauberkeit von Virobuster

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238 15 Virobuster (Niederlande)

versitäten und Hochschulen weltweit u. a. mit Penn State (USA) und der UniversitätTwente (NL) gefördert. Die Kooperationspartner arbeiteten zudemmit weiteren Un-ternehmen, Laboren und Forschungsunternehmen wie beispielsweise Philips, LightTech, EBMPaspt, BioTec und Microsearch Labatories zusammen. Während einigeUnternehmen die Produktion von Virobuster unterstützen, profitierten andere wiebeispielsweise Blygold von der Kooperation. In den Vereinigten Staaten verwendeteBlygold die Technologie von Virobuster, um ähnliche Produkte unter anderen Mar-kennamen zu verkaufen. Die globale Strategie von Virobuster hatte sich aufgrundder Kooperationen als erfolgreich erwiesen, da durch die Kooperationspartner derMarkteintritt ermöglicht respektive erleichtert wurde.

15.4 Marketing- und Verkaufsstrategie

Herbert war davon überzeugt, dass für ein erfolgreiches Unternehmen von Beginn aneine adäquate Strategie entwickelt und zielgerichtet verfolgt werden musste. Herberthatte fürVirobuster eineMarketing- undVerkaufsstrategie entwickelt und implemen-tiert, um in der Industrie konkurrierenund sichvondenMitbewerbern differenzierenzu können. Nach detaillierter Marktanalyse erkannten Herbert und sein Manage-mentteam zahlreiche potenzielle Märkte. Diese umfassten Institutionen (staatlicheund öffentliche Büros), Bildungsstätten (Schulen und Universitäten), Wohnhäuser(private Haushalte), das Gesundheitswesen (Krankenhäuser, Pflegeheime) und Sons-tige (Industrie, Labore und Transportunternehmen). Herbert entschied, die Marke-ting- und Verkaufsstrategie auf zwei Prinzipien aufzubauen. Das erste war „sinnvolleInvestition“, das zweite „Markenimage“. Sinnvolle Investition, umdie KundenvonderZweckmäßigkeit zu überzeugen und problemlos großeMengen verkaufen zu können.

Abb. 2: Born Global

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Paula Englis, Marianne van der Steen & Rainer Harms 239

Deshalb forcierte Virobuster den Verkauf der Produkte an die Nahrungsmittel-industrie, da fürNahrungsmittelhersteller, Küchen und andereNahrungsmittelanbie-ter eine sterile Umgebung für die Zubereitung und Frische der Nahrung sowie für Ge-sundheitsinspektionen von essenzieller Bedeutung war. Virobuster fokussierte sichaufgrund des hohen Verkaufspotenzials, des geringen Überzeugungsaufwands undder schnellen Verkaufsabschlüsse auf die Nahrungsmittelindustrie, um schnell hoheUmsätze zu generieren.

Das zweite Prinzip war das Markenimage, oder, wie es das Unternehmen bezeich-net, die „Top-down-Strategie“. Durch ein positives Ausgangsimage der Produkte inder Anfangsphase war es möglich, dies peu á peu in den Zielmärkten zu festigen, umgrößtmöglichen Erfolg zu forcieren. Wie im Fall vieler anderer Unternehmen warendas Markenimage und die Reputation für den Erfolg von essenzieller Bedeutung. Vi-robuster versuchte, das Image weniger durch die Akkreditierung, Technologie oderihre Erfolge, sondern vielmehr durch die Differenzierung zu fördern. Durch die Ein-zigartigkeit sowie die Barriere der Imitierbarkeit der Produkte und des Servicekonnte sich das Unternehmen erfolgreich von anderen Wettbewerbern und derenProdukten absetzen. Dies war u. a. der Grund, weshalb Virobuster in den Gesund-heitsmarkt einstieg. Mit zahlreichen Kunden wie Krankenhäusern und Pflegeheimenhatte Virobuster die Möglichkeit, ein bedeutendes Zielpublikum anzuvisieren. Viro-buster konnte aufgrund der Problematik verunreinigter Luft schnell Kunden vonihren Produkten überzeugen. Letztlich stellte sich die Kombination beider Prinzipienfür Virobuster als sehr erfolgreich heraus.

15.5 Produktportfolio

Virobuster realisierte den Einstieg in die globale Szene mit dem „Steritube“, einemGerät mit dem Potenzial, die Art der eingeatmeten Luft zu revolutionieren. Angefan-gen bei der Nahrungsmittelproduktion, Krankenhäusern und Regierungsgebäudenbewiesen die Produkte von Virobuster Umweltverträglichkeit und waren überalleinsetzbar. Der Steritube verwendete einen Mikrochip, der spezielle Glühbirnensteuerte, um in der Luft befindliche Viren, Schimmel, Bakterien und andere Gefahr-stoffe zu eliminieren. Das Steritube nutze einen nicht-statisch dynamischen Prozess,um die Luft zu reinigen. Das Gerät verfügte über Kontrollmess-, Fernbedienungs-und Energiespartechnologie sowie über weitere patentierte Technologien, die dasProdukt einzigartig machten und die Pionierstellung auf dem globalen Markt sicher-stellten. Den Steritube gab es als Bausteinsystem und als eigenständige Einheit.

Abb. 3: Steritube

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240 15 Virobuster (Niederlande)

Virobuster im Allgemeinen· 100% elektronische Luftsterilisation ohne Undichtigkeiten bei hohem Durchzug

(300m2/Std. pro Steritube)· Steritube ergänzt sich optimal mit bekannten Filtertechnologien

Vorteile· Wirtschaftlicher Verbrauch· Reduktion von Krankheiten· Erhöht Produktivität

Nachteile· Mikrochip kontrolliert den Prozess und die benötigten Wartungszyklen

Garantie· Sicherheit für Menschen und das Umfeld wird gewährleistet· Erfolgreich durch akkreditierte Labore und Krankenhäuser getestet

Überdies entwickelte Virobuster Geräte für Regierungen, das Gesundheitswesen unddie Nahrungsmittelindustrie, die Schadstoffe aus der Luft entfernten und zur Sterili-sation der Umgebung dienten, jedoch ebenso in anderem Kontext verwendet wer-den konnten. Zudem wurde vor Kurzem die Entwicklung des „Microbeaters“ sowiedes „Odourbeaters“ abgeschlossen. Das Microbeater steigerte die mikrobiologischeLagerfähigkeit von Lebensmitteln. Der Microbeater verwendete zwar dieselbe Tech-nologie wie der Steritube, jedoch mit andersartigen Lampen, die die Frische und dieQualität von Nahrungsmitteln nicht beeinflussten, um bedenkenlos in der Lebens-mittelproduktion, -distribution und -verpackung eingesetzt zu werden. Ähnlichdem Steritube und dem Microbeater eliminierte der Odourbeater jegliche orga-nisch-basierten Aromen und Gerüche in der Luft. Er war auch in der Lage, industri-elle Abgase zu beseitigen. Das computergesteuerte Gerät verwendete Luftproben, umdie umliegende Umgebung zu kontrollieren und die verpestete Luft zu reinigen.Durch den Verkauf unterschiedlicher Modelle mit unterschiedlichem Nutzenkonnte sich das Unternehmen vom ursprünglichen Image eines Ein-Produktunter-nehmens entfernen. Virobuster war in der Lage, die Ausgangstechnologie an eineVielzahl von Bedürfnissen anzupassen und dabei nach wie vor wettbewerbsfähig, er-folgreich und profitabel zu operieren.

15.6 Nachhaltiger Wettbewerbsvorteil

AufgrundVirobusters Einzigartigkeit war die Konkurrenz sehr überschaubar. Die ver-wendete Technologie war neuartig und schwer zu imitieren. Demnach war es heraus-fordernd, Plagiate respektive Nachahmungen ausfindig zumachen. Überdies wurdendie entwickelten Technologien geschützt und patentiert, sodass möglichen Imitato-ren, die versuchten, die Prozesse zu kopieren, entgegengewirkt werden konnte. Es

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Paula Englis, Marianne van der Steen & Rainer Harms 241

existierten nicht viele Wettbewerber im Markt für Luftsterilisationsprodukte. MitProdukten zur Luftreinigung, zur Geruchsneutralisierung und zur Steigerung der La-gerfähigkeit agierte das Unternehmen in mehreren Industrien gleichzeitig, wodurchsich die Konkurrenz vervielfachte. Die Konkurrenz hinsichtlich der Luftsterilisations-produkte, die für Virobuster den Kern darstellten, vertrieben zudem HaushaltsgeräteundMaschinen, die dem Steritube ähnlichwaren. Bislang gab es zwar keine Produkte,die Virobuster in Sachen Design und Prozess gleichkamen, jedochwürde sich dies än-dern, sobald die Patente auslaufen und Konkurrenten wie Haie im Wasser in denMarkt eindringen können. Die Stärke von Virobuster lag in der Technologie, wasauch den größten Wettbewerbsvorteil darstellte. Die Bemühungen hinsichtlich For-schung und Innovation gaben dem Unternehmen in vielen Märkten und Industrieneinen Wettbewerbsvorsprung. Zukünftig sollte diese Strategie fortgeführt werden,umweiterhin konkurrenzfähig zu bleiben.

Als Kleinunternehmen global zu operieren, gestaltete sich für Virobuster heraus-fordernd, da die Produkte auf all den Märkten weltweit platzieren werden mussten.Während dies kein beträchtliches Problem darstellte, gab es einen Konflikt aufgrundder erschwerendenWeltwirtschaftsbedingungen und der Tatsache, dass die Produkteals Luxusartikel betrachtet wurden. Eine Option war, dass Virobuster die Märktehinsichtlich der Notwendigkeit von Hygiene, Gesundheit und allgemeinem Wohlbe-finden sensibilisierte, um die Produkte zu vermarkten. Da die Patente die Technolo-gie nach wie vor schützten, konnte Virobuster den Konsumenten demonstrierenund plausibel erläutern, weshalb die Produkte sowohl im beruflichen als auch priva-ten Alltag benötigt wurden. Wettbewerber wurden zur Gefahr, sobald von der Profi-tabilität des Marktes Kenntnis genommen wurde. Herbert fragte sich, ob die Zieleunter derart schwierigen Gegebenheiten erreicht werden konnten. War es für Viro-buster möglich, unter Berücksichtigung der problematischen wirtschaftlichen Be-dingungen die Führerschaft in der Branche zu halten und weiter zu wachsen?

15.7 Wettbewerber in der Luftsterilisationsindustrie

Um die zukünftige Strategie festlegen zu können, analysierte Herbert die Hauptkon-kurrenten. Boi-Oxygenwar ein australisches Unternehmen, das ähnlich wie Virobus-ter von Beginn an global ausgerichtet war. Das Unternehmen war auf Desinfektions-und Luftsterilisationstechnik für Klimaanlagen spezialisiert. Bio-Oxygen machtedazu folgende Angaben:

„Die Luftsterilisatoren desinfizieren die Versorgungsluft und schützen vor Kreuzinfektionen unterMenschen, die durch Klimaanlagen verursacht werden.“

Auf seiner Website schmückte sich das Unternehmen mit einer Erfolgsquote von99% bezüglich allgemeiner Luftsterilisation. Das Unternehmen hatte Niederlassun-gen in Australien, den Vereinigten Staaten und den Vereinigten Arabischen Emira-ten. Aufgrund mehrerer Produktmodelle ist Bio-Oxygen als direkter respektive

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242 15 Virobuster (Niederlande)

Hauptkonkurrent von Virobuster einzustufen. Vergleichbar mit Bio-Oxygen stelltdas Unternehmen Breathe Free Technologies eine weitere potenzielle Bedrohung fürVirobuster dar. Breathe Free Technologies ist auf die Diagnose verunreinigter Luftin Krankenhäusern spezialisiert. Das Unternehmen argumentiert, dass verunreinigteLuft zu Krankheiten der Besucher, Patienten und Arbeitskräfte führt und verfolgt dasZiel, sterile Luft für einen gesunden Lebensstil zu liefern, indem Keime und Bakte-rien im Innenraum von Gebäuden beseitigt werden. Der Website zufolge ist BreatheFree Technologies ein progressives dynamisches Unternehmen, das sich der Schaf-fung einer gesunden Umwelt verpflichtet fühlt und einzigartigen Kundenserviceund Produkte bietet. Während sich das Produktdesign unterschied, wurden diesel-ben Standards wie im Fall des Sertitube verwendet: 254 mn UV C-Strahlungen, umBakterien abzutöten. Das Unternehmen mit Sitz in Ontario (Kanada) hielt ebenfallsPatente seiner Technologie, um sich vor Nachahmern zu schützen.

Beide Unternehmen waren professionell und boten qualitativ hochwertige Pro-dukte. Demnach musste Virobuster scharfsinnig agieren, um die Position als Markt-führer zu halten.

15.8 Finanz-Management

Nachdem Virobuster von Beginn an global agierte, musste sich das Unternehmennicht an amerikanische Geschäftspraktiken und -pflichten hinsichtlich finanziellerBerichterstattung und anderer Bestimmungen halten. Stattdessen verwendete dasUnternehmen die finanziellen Informationen als internes Prognose- und Kontrollin-strument zur Anpassung und Überarbeitung der finanziellen Verteilung. Da mitneuartigen und hochinnovativen Technologien und Produkten gearbeitet wurde,waren keine historischen Statistiken über die Industrie verfügbar. Seit den Anfängenseiner unternehmerischen Tätigkeit war Herbert der Überzeugung, dass Virobusterprimär in die F&E investieren musste. Jedoch versuchte das Unternehmen aktuellaufgrund der Vielzahl entwickelter Produkte, durch Investitionen den Markenna-men und das Image zu fördern, um die Rentabilitätsgrenze schneller zu erreichen.Virobuster steigerte zudem durch den Verkauf von Verschleißteilen wie Glühbirnenund dem Angebot von Serviceleistungen wie Kunden- und Wartungsdiensten dieUmsätze. Finanziell hatte das Unternehmen starken Rückhalt durch die Forschung,genoss Partnerschaften mit anderen Unternehmen und lagerte die Produktion ausum Kosten zu reduzieren. Die finanzielle Situation des Unternehmens blieb stabilund profitabel, da sich die Marke zunehmender Beliebtheit erfreute und Virobusterfortwährendes Wachstum realisieren konnte.

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Paula Englis, Marianne van der Steen & Rainer Harms 243

15.9 Zusammenfassung

Seit den Anfängen seiner unternehmerischen Aktivität entwickelte Herbert Pro-dukte zur Prävention von Krankheiten, die durch verunreinigte Luft verursacht wer-den und wirkte dadurch dem negativen Trend entgegen, der die europäischen Kran-kenhäuser diesbezüglich prägte. Herbert hatte soeben im Einverständnis mit demAufsichtsrat Alain le Loux als CEO von Virobuster eingestellt, da er nun primär dengemeinnützigen Aktivitäten des Unternehmens nachgehen wollte. Persönlich warHerbert davon besessen, Möglichkeiten zu finden, die Luftqualität zu optimieren,um die Welt zu einer sichereren Umgebung zu machen. Er war zudem aufgrund desProblems in Enschede und Henglo sehr besorgt. Konnte Virobuster für Enschedeund Henglo eine Lösung bieten? Wen kannte er im Gesundheitsministerium sowieim Regional- und Stadtrat von Enschede und Henglo? Aus seiner bisherigen Erfah-rung wusste er, dass der Verkauf von neuartigen Geräten an Krankenhäuser nichtleicht war. Konnte Virobuster auch für Europa eine Lösung bieten? Falls ja, wasmüsste er tun? Er stoppte an einem Kiosk und kaufte eine Tageszeitung. Als er seinBüro betrat, bat er seine Sekretärin, den Artikel über die Krankenhaussituation ein-zuscannen. Im Anschluss ging er hinüber zu Alains Büro, zeigte ihm den Artikel undmeinte: „Ich glaube, wir müssen uns unterhalten!“

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244 15 Virobuster (Niederlande)

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246 15 Virobuster (Niederlande)

Anhang 3: Virobusters Effektivitätsdiagramm

Anhang 4: Produktportfolio von Virobuster

Produkt Anwendungsbereich

Page 247: Entrepreneurship — Fallstudien: Unternehmensgr¼ndung, Intrapreneurship und Innovationsmanagement

Paula Englis, Marianne van der Steen & Rainer Harms 247

Anhang 5: Virobuster Managementteam

Gründer

Alain le Loux CEOLe Loux war Manager und Direktor von GetronicsPinkRoccade, bevor er zum CEO von Virobuster wurde.

Fahmi Yigit CTO

Ivar Hommar Produktmanager

Herbert Silderhuis Gründer und InvestorSilderhuis ist Gründer und Besitzer von Sirex Computer,einem Unternehmen, das Computer nach Kundenwünschenproduziert. Er ist zudem Gründer und Besitzer von InventiveEurope, einer Entwicklungs-, Verkaufs- und Marketin-gorganisation, die auf Basis von Umwelt-, Sicherheits- undKomfortzwecken operiert. Bei Virobuster fokussiert sichSilderhuis auf die Unternehmensentwicklung, Investoren-beziehungen, die Marketing- und Kommunikationsstrategie,die Produktstrategie und den Vertrieb.

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16Troms Offshore (Norwegen)

Odd Jarl Borch & Luca Iandoli

16.1 Einleitung

Der erste Maat auf der Brücke informierte seinen Kapitän, dass die M/V Clean De-sign Arctic nun den Polarkreis überquerte. Für den Kapitän war es ungewöhnlich,vom Schiffseigner begleitet zu werden, aber diese Exkursion war eine Entdeckungs-reise. Thor Olsen schaute hinaus auf die Fjorde und die magischen Berge der Nord-land-Küstenlinie. Seit er Investor in der Schiffsindustrie geworden war, hatte er fastalle seiner Schiffe zum südlichen Teil der Nordsee geschickt, aber nun war er auf demWeg nach Norden. Die Ölausbeutung war auf dem Höhepunkt, und alle großen Öl-firmen suchten nördlich des Polarkreises nach neuen Reservoirs des „schwarzen Gol-des“. Als Besitzer eines neuen und fortschrittlichen Plattformlieferantenschiffes(PSV) für die Troms Offshore-Firma dachte er an die Möglichkeiten, die in den ark-tischen Gewässern liegen könnten. Eine neue Schätzung der US Geological Surveysagte voraus, dass 20% der bleibenden Öl- und Gasressourcen in den arktischen Re-gionen gefunden werden könnten. Jedoch würde es eine herausfordernde Aufgabesein, das Öl in den rauen Gewässern zu erreichen. Thor erinnerte sich an seine erstenJahre auf See als Krabbenfischer entlang der Küsten von Spitzbergen und Grönland.Nebel, Eis, polare Tiefdruckgebiete und sogar Eisberge waren dauernde Gefahren.Wie Thor sehr genau wusste, konnte einen die Umwelt angreifbar machen. DieseFahrt wurde zudem dadurch erschwert, dass die Einheimischen starken Widerstandgegen jegliche Ölausbeutung zeigten, und so erwartete er eigentlich nur einen nettenSchiffstörn.

In die Arktis zu streben, würde für dieses eher kleine Unternehmen einen giganti-schen Sprung bedeuten, aber Thor fragte sich, ob seine Angestellten, insbesonderedie Kapitäne und die Crews, dies eher als Chance oder als Risiko sehen würden. VieleFragen gingen durch seinen Kopf, zum Beispiel welche neuen Märkte im Norden zufinden sein würden und ob das Unternehmen die nötigen Ressourcen und organisa-torischen Fähigkeiten hatte, um mit der neuen Herausforderung fertig zu werden.Thor überlegte, wie die Struktur des Unternehmens angepasst werden müsste, umin den neuen nordischen Märkten erfolgreich zu sein. Schlüsselpersonal müsste mo-bilisiert und zusätzliche Mitarbeiter müssten eingestellt werden. Würde die neue Un-ternehmung zu viel kosten und daher die Qualität und Sicherheit des Nordseege-schäfts des Unternehmens beeinflussen?

„Vielleicht würde es trotz des Rückgangs und des starken Wettbewerbs besser sein, im gegenwärtigenMarkt zu bleiben?“

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250 16 Troms Offshore (Norwegen)

Der Eigentümer war froh, dass er jetzt noch keine Entscheidung treffen musste. Ineiner Woche würde er nach Hause zurückkehren und seine Überlegungen darüber,ob Troms Offshore in die arktischen Gewässer expandieren sollte oder nicht, der Ge-schäftsleitung mitteilen.

16.2 Branchenhintergrund

Die norwegische Öl- und Gasschiffsindustrie wird als eines der interessantesten in-dustriellen Cluster in Europa angesehen. Dies liegt an anspruchsvollen Kunden, star-kem, aber transparentem Wettbewerb, Zugang zu innovativen Faktormärkten undKooperationen sogar zwischen Konkurrenten (im Besonderen bei der Finanzierungvon innovativen Projekten, gemeinsamer Ausbildung und Forschungsinitiativen).Die Kundenseite dieser Branche besteht aus großen Ölfirmen, die Schiffe für ihre Er-kundungs- und Ausbeutungsaktivitäten auf See chartern. Diese Ölfirmen mietetenSchiffe für kurzzeitigen Gebrauch (ein paar Tage oder Monate) und auch für Lang-zeitverträge (5 bis 15 Jahre). Die sehr großen Ölfirmen wie Exxon-Mobil, BP, Shell,ENI, Total, Gazprom und Statoil sind besonders einflussreiche Kunden mit großerVerhandlungsmacht. Wenn diese Unternehmen Schiffe für den kurzzeitigen Ge-brauch mieten, schwanken die Preise je nach Nachfrage und Verfügung. Die Ölgi-ganten laden Tender für die Langzeitverträge neuer Schiffe ein, wenn es neue Ölfel-der zu entwickeln gibt. Die Angebote werden auf Grundlage vieler Kriterien wieKosten, technischer Qualität, Funktionalität, Sicherheit und Umweltfreundlichkeitausgewertet. Der Chef-Logistikmanager einer großen Ölfirma erklärt dies weitermit den Worten:

„Wir ermutigen die Schiffseigner, innovativ zu sein. Unter anderem laden wir sie dazu ein, überneue Technologien nachzudenken, die umweltfreundlicher sind, die Sicherheit verbessern und dieAnzahl an Unfällen in der Mannschaft verringern. Wir geben zudem Feedback an die Schiffsbauerin den Werften, an die Zubehörlieferanten und an die Schiffseigner. Wenn ein Unternehmen gezeigthat, dass es sich an solche Kriterien hält, erhält es insbesondere bei Langfristverträgen einen höherenPunktewert.“

Für die Manager an Land und an Bord des Schiffes (Schiffsmeister) bedeutet dieseine Herausforderung und führt zu intensivem Wettbewerb zwischen den Lieferan-ten. Daher versuchen die Lieferanten, ein Gleichgewicht zwischen Verbesserungender Produktqualität und Kosteneffizienz zu erreichen, um auch preislich konkurrie-ren zu können. Thor ist sich dieser Abwägungen nur zu gut bewusst. Er beobachtet:

„Die Ölfirmen sind in erster Linie an hohem Service und schneller Lieferung von uns interessiert.Dies muss mit dem niedrigsten Angebotspreis einhergehen, wenn wir die Tender gewinnen wollen.Zur gleichen Zeit wollen sie, dass wir den höchsten Standards an Sicherheit, Betriebssicherheit undUmweltschutz folgen. Das ist sehr herausfordernd! Sie untersuchen die Schiffe oft und stufen uns je-des Jahr nach der Leistung ein. Wenn wir nicht ihre Standards erfüllen, werden Nicht-Erfüllungsbe-richte geschrieben und wir begehen Vertragsbruch.“

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Odd Jarl Borch & Luca Iandoli 251

Da die Ölfirmen hohe Profite erwirtschaften, können sie Marktmacht ausüben, wosie es für nötig erachten. Die Nachfrage der Ölfirmen schwankt abhängig von zweiSchlüsselfaktoren: 1. die internationale Nachfrage nach Öl und 2. der Erkundungs-aktivitäten der anderen Ölfirmen. Niedrige Ölpreise und Schwankungen in der inter-nationalen Wirtschaft könnten einen starken Preissturz auslösen, welcher einen ver-heerenden Effekt auf Lieferanten hätte. Zum Beispiel reduzierten die Ölfirmenwährend der Finanzkrise 2009 und 2010 die Preise weit unter der Kostendeckungund die Schiffseigner mussten unter den Konsequenzen leiden. Als Folge musstendie Reedereien Fahrten annehmen, bei denen nur die variablen Kosten gedecktwaren. Das erhöhte den Druck auf die Geschäftsleitung des Schiffes und die Besat-zung und erzeugte hohe Unzufriedenheit bei den Investoren, da ein Schiff bis zu €

40 Millionen kosten kann. Zusätzlich zu den Kundenanforderungen wird die lokaleRegierung die Schiffsindustrie auf jährlicher Basis nach Erfüllung der Regeln derinternationalen Seegesellschaft (International maritime Society) kontrollieren. Fürdie Schiffseigner bedeutet dies, dass strenge Prozeduren befolgt werden müssen, wel-che zu erheblichen Kosten für Verbesserungen und ähnlichen Maßnahmen führenkönnen. Thor hatte das ganze Ausmaß der starken Einflussfaktoren nicht realisiert,als er in das Geschäft investiert hatte, sodass er nun nach neuen Möglichkeitensuchte, die Troms Offshore wettbewerbsfähiger zu machen.

16.3 Wettbewerb und Zusammenarbeit in der Industrie

Die Öl-Schiffsindustrie ist sehr wettbewerbsorientiert auf Preisbasis, wie dies in rei-fen Branchen oft der Fall ist. Die Industrie ist global integriert mit den geografischenHauptmärkten der Nordsee in Europa, dem mexikanischen Golf in den USA undder brasilianischen Küste in Südamerika. Troms Offshore hat seinen Hauptmarkt inder Nordsee, und in dieser Region sind viele neue Schiffe der größten Marktteilneh-mer der Welt vertreten. Die größeren Unternehmen machen fast jedes Jahr Verträgemit neuen und besser entwickelten Schiffen zum Zweck seismographischer Analy-sen, Ankerbedienung, Plattformtransport und Plattformbelieferung. Daher machtder Besitz einer großen Flotte mit neuen und alten Schiffen Firmen flexibel undwettbewerbsfähig beim Preis für zahlreiche Arten von Anmietungen. Zudem gibt esSkalenvorteile, da die größeren Unternehmen die Verwaltungskosten pro Einheitsenken können. Die größten Reeder sind global positioniert, mit Büros und Schiffenweltweit. Das erlaubt es ihnen, neue Schiffe und Equipment dort zu erwerben, wodie Preise am niedrigsten sind.

In Norwegen gab es im letzten Jahrzehnt relativ leichten Zugang zu finanziellemKapital, obwohl die Finanzkrise und Überkapazität in der Industrie diese Versorgungziemlich reduziert hat. Norwegen hat zahlreiche Schiffswerften, Ausrüstungs- undServicelieferanten. Die Bezahlung in der Branche ist gut und die Arbeit ist attraktivfür ausländische Seemänner, welche unter Vertrag genommen werden können,wenn es nicht genug Norweger gibt, die die verschiedenen Positionen füllen können.Kürzlich haben einige Schiffseigner und Manager Besatzung aus Niedriglohnländern

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252 16 Troms Offshore (Norwegen)

als eine kostensparende Maßnahme unter Vertrag genommen (zum Beispiel kanndas Anwerben einer polnischen Besatzung die Personalkosten um ungefähr 20%pro Schiff reduzieren).

Norwegische Unternehmen profitieren davon, dass es Seefahrschulen gibt, dieanerkannte Kurse für Seemänner anbieten. Viele der Universitäten und Forschungs-institute führen F&E für die Branchen durch. Mehr als die Hälfte der F&E-Kostenwerden von der Regierung finanziert, und diese etablierten Beziehungen regen Inno-vation, Wissenstransfer und Lernen in der Branche an. Normalerweise bauen solcheForschungskooperationen auf informellen Netzwerken auf, aber sie können auchdurch formelle Projekte und in strategischen Partnerschaften stattfinden. In der nor-wegischen Schiffsindustrie gibt es zahlreiche Ebenen der Kooperation zwischen denUnternehmen und Regionen. So gibt es an der Nordwestküste starke Verbindungenzwischen den Reedereien, den Schiffswerften, dem Bau, den Schiffseignern, Ausstat-tungslieferanten und anderen Branchenpartnern. In der Tat gibt es an der Nordwest-küste die innovativsten und dynamischsten Offshore-Dienstleistungsunternehmen.Dort geht man gemeinsam davon aus, dass es von hohem strategischem Wert ist,wenn man zusammenarbeitet. Hier gibt es ein Kompetenzzentrum für die Marinein-dustrie, in dem Schiffskonstrukteure, Werften, Ausstattungs- und Dienstlieferanteneng in F&E und Ausbildungsnetzwerken zusammenarbeiten. Die Schiffseigner spie-len eine zentrale Rolle in diesem Netzwerk, auch weil sie die Vorteile einer solchenMitarbeit in einem Branchencluster erkennen.

16.4 Unternehmenshintergrund

Troms Offshore ist eine norwegische Reederei, die im Jahre 2005 nach einem Mana-gement-Buy-Out gegründet wurde. Sie ist in den fünf Jahren schnell gewachsen. DieHauptkunden sind Ölfirmen, die imMeer nach Öl bohren. Troms Offshore transpor-tiert Fracht und Flüssigkeiten zu und von den Offshore-Einrichtungen und Plattfor-men; die Firma hat einen Umsatz von ungefähr € 50 Millionen sowie 300 Angestellte.Das Verwaltungsteam umfasst 15 Mitarbeiter, die übrigen Angestellten arbeiten anBord der zehn Schiffe, die von der Firma kontrolliert werden. Die Nordsee ist derHauptmarkt. Zusätzlich zu den Offshore Öl- und Gas-Diensten betreibt Troms Off-shore ein Polarforschungsschiff im Auftrag des norwegischen Polarforschungsinsti-tutes. So konnte das Unternehmen Erfahrung in polaren Gewässern gewinnen. DieGeschäftsleitung befindet sich in Tromsø, auch als „Tor zur Arktis“ bekannt. FürThor ist die arktische Region daher eine logische und interessante Gegend für einegeografische Ausweitung der Firma.

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16.5 Die Herausforderung: der neue Markt in der Arktis

Seit ein paar Jahren hat sich die Ölindustrie nun in Richtung entfernter, rauer Ge-wässer bewegt, in Richtung der arktischen Regionen, in die Barent-See zwischenNorwegen und Russland, Grönland, Kanada und Alaska. Tiefes Wasser, größere Ent-fernungen zur nächsten Basis an Land und raues Wetter sind nur einige der Heraus-forderungen, die den Transport und die Handhabung von Fracht zu einer schwieri-gen Aufgabe in diesen Regionen machen. Weiter nördlich werden die Schiffe zudemdurch Eisberge, die See bedeckendes Eis und Vereisungen auf dem Schiff gefordert.All das führt zu einer hohen Belastung für das Schiff und die Besatzung. In diesemZusammenhang sieht sich die Firma einem bedeutend erhöhten Maß an Risikenund Unsicherheit ausgesetzt. Thor erklärt:

„Dies ist für uns eine andere Welt, als küstennahe Öl- und Gasplattformen zu bedienen. Plötzlichkann ein Polartief mit heftigen Winden und Wellen auftreten. Nebel und Dunkelheit reduzieren dieSichtbarkeit und man riskiert Kollisionen mit Eisbergen. Das Satelliten-Navigationssystem ist soweit nördlich einfach unzuverlässig. Es gibt große Gegenden mit ungenauen Karten und um die An-gelegenheit noch schlimmer zu machen, ist man außerhalb der Reichweite von Hubschraubern, fallsirgendetwas mit der Besatzung passieren sollte. Zusätzlich gibt es nur eine begrenzte Infrastruktur,weshalb alles länger dauert. Alles in allem muss man auf das Ungewisse vorbereitet und bereit sein,mit unlösbaren Problemen umzugehen.“

Unsicherheit ist für diesen Markt charakteristisch. Maßgeschneiderte Schiffe mitbesserer Infrastruktur und noch mehr Zusammenarbeit zwischen den Partnernsind nötig, um jenseits der Nordsee vorzurücken. Es ist zudem entscheidend, eineVerbindung mit Schlüsselakteuren in der Arktis herzustellen, wie zum Beispiel Um-weltschützern, regionalen Regierungen, Einheimischen und anderen Gruppen mitgegensätzlichen Interessen. Dieser konsensorientierte Ansatz vergrößert die Komple-xität der Unternehmungen. So sind Umweltgruppen wie WWF, Greenpeace und Bel-lona gegen das Bohren in diesen Gewässern. Thor erinnert sich an einen früherenVorfall, bei dem eines seiner Schiffe beteiligt war:

„In einem isländischen Hafen mussten der Kapitän und die Besatzung von der Küstenwache eskor-tiert und vor Sabotage durch lokale Aktivistengruppen geschützt werden, die gegen Ölausbeutungprotestierten. Dies war für die Crew eine harte Zeit und erhöhte die Unsicherheit für die ganze Un-ternehmung.“

Die Risiken für Troms Offshore in den arktischen Gewässern sind offensichtlich. Al-lerdings kann sich ein Unternehmen, das diese Herausforderungen annimmt, vomWettbewerb differenzieren. Troms Offshore hat bereits mehr Erfahrung als viele an-dere in der arktischen Region. Da es Ölfirmen speziell an Erfahrung in dieser Regionmangelt, würde Troms Offshore in einer Position sein, um höherwertige Dienste an-zubieten. Troms Offshore könnte Ölfirmen (einschließlich der Marktgiganten) bera-ten, wie man Arbeiten in arktischen Gewässern erfolgreich durchführt. Thor deutetedas Potenzial dieses Marktes an, als wir uns kürzlich bei einem Abendessen mit demKapitän der M/V Clean Design Arctic unterhielten:

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„Wir betreiben ein Schiff in der Arktis. Es ist ein Polarforschungsschiff. Wir könnten leicht die Navi-gationserfahrung von diesem Schiff auf andere Schiffe übertragen. Es wäre eine neue Geschäftsplatt-form. Wir könnten maßgeschneiderte Beratungsleistungen für die Ölfirmen anbieten. Zusätzlich zurLieferung hochwertiger Logistik könnten wir den Ölfirmen laufende Unterstützung bei Planung undDurchführung von Arbeiten in diesen Gewässern anbieten. Tatsächlich könnten wir in andere Berei-che der Wertekette expandieren, woraus ein neues Geschäftskonzept entstehen könnte.“

Thor war sich sehr sicher, dass Ölfirmen in den arktischen Gewässern ihre Ge-schäftsfähigkeit aufbauen mussten. Sie brauchen zudem qualifizierte Mitarbeiter,die mit der Unsicherheit und Komplexität solcher Unternehmungen umgehen kön-nen. Thor dachte, dass die Ölfirmen bereit wären, einen hohen Preis zu bezahlen,um dieses Expertenwissen zu erwerben. Aber die Frage, ob Troms Offshores mo-mentanes Geschäftsmodell die neuen Herausforderungen dieser Marktregion an-nehmen könnte, beschäftigt ihn. Wie Thor erklärt:

„Es ist eine ganz andere Aufgabe, in diesem neuen Mark zu arbeiten – im Vergleich zu dem traditio-nellen Markt in der Nordsee. Wir haben das Potenzial, unsere Dienstleistungen zu erweitern, aberdafür müssen wir eventuell unsere Organisations- und Managementsysteme umstrukturieren, umflexibel und innovativ genug zu sein . . . und schließlich um komplexere Produkte anzubieten.“

Thor spürte, dass das größte Risiko darin lag, Schiffsverträge im derzeitigen Marktzu verlieren. Wie leicht wäre es tatsächlich für Troms Offshore, seine Geschäftstätig-keit von einem stabilen Markt mit etablierten Abläufen auf einen Markt mit hoherUnsicherheit und Komplexität zu übertragen? Er notierte sich, dass er bei seinerRückkehr mit der Geschäftsleitung ihre neue Wettbewerbsstrategie und die Gestal-tung eines neuen Geschäftsmodells diskutieren musste. Ebenfalls musste er anspre-chen, wie man diesen Wandel gemeinsam mit Kunden und Mitarbeitern anging.

16.6 Unternehmensstrategie

Als Thor über das Gespräch mit dem Managementteam nachdachte, begann er, dieStrategiemöglichkeiten zu analysieren:1. Aggressivität auf dem Markt im Hinblick auf das Ausprobieren neuer Konzepte.

Aggressivität variiert von einer reaktiven Nachahmungsstrategie hin zu einer of-fensiven, proaktiven Strategie.

2. Produktdifferenzierung, um speziellen Bedürfnissen ausgewählter Kundengrup-pen gerecht zu werden. So können Standardprodukte (Schleppausrüstung etc.)bis hin zu maßgeschneiderten Produkten (z. B. der Zusammenarbeit mit dem Po-larforschungsinstitut auf dem Forschungsschiff ) angeboten werden.

3. Kostenführerschaft, welche den Preissetzungsspielraum bei neuen Verträgen be-einflusst.

4. Produktvielfalt, die zum Abdecken von speziellen Projektanforderungen benötigtwird. Diese variiert vom Angebot nur eines Produktes bis hin zum Angebot vielerProduktarten.

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Der traditionelle Fokus von Troms Offshore lag auf Kosteneffizienz. Innerhalb etab-lierter Branchenstandards musste so kostengünstig wie möglich gearbeitet werden.Der Geschäftsführer von Troms Offshore erklärte auf dem letzten monatlichen Tref-fen:

„Unsere Strategie ist es nicht so sehr, mit neuen Technologieentwicklungen zu experimentieren. Wirüberlassen dies den größten und unternehmerischsten Firmen, die größeren Gewinn haben. DieseUnternehmen können es sich leisten, selbst F&E durchzuführen und riskante Experimente zu wagen.Sie entwickeln und testen Maschinen, Brennstoffarten und Schiffstypen, die teilweise mit öffent-lichen Forschungsgeldern finanziert werden. Hoffentlich wird diese Technologie nach ein paar Jahrenfür alle verfügbar sein.“

Bei schlechten Marktphasen sind die Gewinnspannen niedrig, und das muss wäh-rend guter Marktphasen ausgeglichen werden. Um in dieser wettbewerbsstarkenBranche zu überleben, achtet Troms Offshore darauf, erfahrenes Personal mit einemgründlichen Verständnis von Kosteneffizienz und effektiven Arbeitsabläufen einzu-setzen.

16.7 Das Geschäftsmodell

Wie jedes andere Geschäftsmodell auch wird im Geschäftsmodell von Troms Off-shore die strukturelle und finanzielle Architektur des Unternehmens, die Geschäfts-logik, die Wertkette, die Technologie und die Unternehmenssteuerung sowie die ex-ternen Beziehungen definiert. Das Geschäftsmodell folgt normalerweise eng demUnternehmensleitbild und der Wettbewerbsstrategie, während die Wertkette die Ab-folge von standardisierten, aufeinander aufbauenden Wertschöpfungsaktivitäten ab-bildet. Die Wertkette von Troms Offshore ist eher stromlinienförmig. Zuerst ent-scheiden die Besitzer als Investoren darüber, ein Schiff für einen bestimmten Marktzu finanzieren. Sobald ein Schiff entworfen und die Entwurfspläne von den Eignernund Investoren unterzeichnet wurden, kann der Konstruktionsprozess beginnen.Das Unternehmen begleitet den Bauprozess mit spezialisierten Inspektoren der tech-nischen Abteilung und erfahrenen Schiffsoffizieren, die sicher gehen, dass das Schiffnach den erforderlichen technischen Daten erbaut wird. Nach Fertigstellung rüsteteine erfahrene Besatzung das Schiff aus und es wird zahlreichen Test während der ers-ten Fahrten unterzogen. Die Verkaufsabteilung bietet das Schiff dann für kurze Nut-zungszeiträume an. Alle weiteren Dienstleistungen, die ein Kunde benötigt, werdenüber einen zuverlässigen Pool aus Lieferanten beschafft. Einige dieser Lieferantensind Langzeitpartner, die das Unternehmen schon seit Langem auch mit interessan-ten Informationen versorgen. Aber Thor ist darauf bedacht, darauf hinzuweisen,dass alle gleichbehandelt werden, wenn Preise verhandelt werden. Wenn Troms Off-shore die Kosten durch Einsatz einer gut qualifizierten und niedrig bezahlten auslän-dischen Besatzung tief haltenmuss, verwenden sie wenige ausgewählte Unternehmenzur Anwerbung. Sie arbeiten zudem mit einer ausgewählten Anzahl an Schiffsagen-ten zur Unterstützung bei der Akquirierung von neuen Verträgen zusammen.

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16.8 Organisationsstruktur

Die Organisationsstruktur von Troms Offshore besteht aus vier Abteilungen: Perso-nal, Charter, Technik und Buchführung. Zusätzlich dazu gibt es noch Mitarbeiter fürdie Qualitäts-, Gesundheits-, Sicherheits- und Umwelt-Koordination. Die Organisa-tion ist eher flach mit einem leitenden Direktor, einem Assistenten und vier Abtei-lungsleitern. Es gibt zwei Kapitäne auf jedem Schiff. Von ihnen wird erwartet, dasssie einen Monat auf dem Schiff arbeiten, danach gibt es einen Monat frei. Die exter-nen Beziehungen des Unternehmens basieren hauptsächlich auf Standardprozedu-ren mit Lieferanten und Kunden. Zusätzlich gibt es vereinzelte Ad-hoc-Entwick-lungsprojekte mit externen Investoren und Konstrukteuren, z. B. wenn neueLangzeitverträge mit neuen Schiffen geschlossen werden. Dies ist hauptsächlich dieVerantwortung der Geschäftsleitung, welche ein großes informelles Netzwerk in derBranche hat, aus dem es eine Vielzahl nützlicher Informationen gewinnt.

Die Bürokratie funktioniert nahtlos, und jede Abteilung hat klare Aufgaben. Al-lerdings gibt es in einem kleinen Unternehmen viel informelle Kommunikation zwi-schen den Abteilungen. Dies beinhaltet auch häufige Kontakte mit Kapitänen undIngenieuren an Bord der Schiffe. Thor betont die Bedeutung dieser informellenKommunikation zwischen seinen Schlüsselmitarbeitern. Dies ist ein Teil der mo-mentanen Firmenkultur, den er gerne bewahren will. Wie Thor erklärt:

„Wir sind wie eine große Familie. Der Kapitän des Schiffes spricht mehrere Male am Tag mit denManagern an Land, um die Arbeit zu koordinieren, Probleme zu lösen und den Schiffsbetrieb auf-rechtzuerhalten. Der Umgang ist freundlich, auch wenn sie nicht immer einer Meinung sind. BeideSeiten wollen Feedback für ihre Lösungen und oft können wir als Ergebnis eine Reihe an kleinen Ver-besserungen einführen, die lang anhaltenden Einfluss auf die Firma haben.“

Jedes der zehn Schiffe kann als moderne „Produktionsmaschine“ gesehen werden,die rund € 20–40 Millionen kostet. Die Schiffe sind zugleich Fracht- und Tankschiffemit hoch entwickelten Ladeapparaten und Lagesystemen. Die neuen Schiffe zeich-nen sich durch einen hohen Grad an Automatisierung aus, was bedeutet, dass die Be-satzung an Bord gut geschult und qualifiziert in Elektronik und Maschinenführungsein muss. So ist es in ihren Jobbeschreibungen, Rollen und Verantwortlichkeitenumrissen. Zudem gibt es strikte Schiffsregeln, welche im Firmenhandbuch stehenund die Besatzung muss an Bord formelle Autoritäten akzeptieren. Das Schiff istnach den Regularien der „International Maritime Organisation“ zertifiziert und dieFirma hat das Qualitätsmanagement Zertifikat ISO 9001:2000, was die strikte Ein-haltung der zusätzlichen Qualitätsstandards für das Management bedeutet. Das Um-weltzertifikat (ISO 14001: 2004) ist ebenfalls in der Branche bekannt, und das Unter-nehmen besitzt auch dieses.

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16.9 Ressourcen

Die Ressourcen eines Unternehmens können in Basisressourcen, Managementres-sourcen und dynamische Fähigkeiten (dynamic capabilities) eingeteilt werden. Dieletzteren sind Ressourcen, die im Unternehmen Wandel und Innovation ermög-lichen. Diese Änderungen können kleine Verbesserungen sein, oder auch radikaleVeränderungen, die die gesamte Wettbewerbsbasis durch unternehmerische Hand-lungen verändern. Die Basisressourcen von Troms Offshore beziehen sich auf die Fä-higkeit, einen reibungslosen Betriebsablauf auf den Schiffen zu garantieren. Dabeisind die Ressourcen die fähigen Seemänner und Offiziere an Bord der Schiffe undein gut funktionierendes Betriebspersonal an Land. In Bezug auf die Management-ressourcen ist Troms Offshore stark abhängig von gut ausgebildeten Kapitänen anBord der Schiffe und der Führungskompetenz der Abteilungsleiter an Land, die dieverschiedenen Funktionen und Personen managen. So müssen die folgenden kriti-schen Ressourcen verfügbar sein, um jedes der zehn Schiffe betreiben zu können:1. Eine Charterabteilung, die die höchstmöglichen Tagesraten in jedem Vertrag er-

reicht, basierend auf besonders guten Marktkenntnissen und Kundennetzwerken.2. Eine leistungsfähige technische Abteilung, die die Betriebskosten beim Betreiben

des Schiffes (speziell die Kosten für Reparaturen und Lohn) niedrig halten kann,basierend auf technischem und organisatorischem Wissen und auf engen Bezie-hungen zum Offizier an Bord.

3. Eine Qualitätsmanagement-Abteilung, die die Einhaltung von Regierungsvor-schriften sichert, Qualitätszertifikate managt und die Qualitätsforderungen derKunden und Verträge durch ein angemessenes Qualitätsmanagement-System si-chert.

4. Eine Personalabteilung, die das am besten ausgebildete Personal und Besatzungs-mitglieder einstellt, das Wohl aller Mitarbeiter schützt und gute Moral der Besat-zung bewahrt (um hohe Motivation bei der Besatzung zu erreichen, Krankheitenzu reduzieren und Lohnforderungen zu mäßigen).

Die Führungsebenen von Troms Offshore sind fest miteinander verbunden. Die mitt-lere Führungsebene muss formelle und betriebliche Erfahrung vereinbaren, währenddie Geschäftsführung stark in die täglichen Arbeiten einbezogen ist, aber zur gleichenZeit eine eher strategische Rolle einnimmt (zum Beispiel wenn sie mit strategischenPartnern interagiert). Die Geschäftsleitung setzt auf ein ausgedehntes Kontaktnetz-werk in der Industrie, das während vieler Jahre aufgebaut wurde. Da es wenig unge-nutzte Ressourcen im Unternehmen gibt, ist die Fähigkeit zur Veränderung (ein-schließlich kleinen Veränderungen und innovativen Schritten) hauptsächlich dieVerantwortlichkeit des Managements. Sie sind eine unternehmerische Schlüsselres-source des Unternehmens, da Troms Offshore begrenzte Ressourcen für F&E hatund sich stattdessen auf die Kooperation mit Forschungsinstituten verlässt.

Innerhalb von Troms Offshore basiert das System für Beschlussfassungen, Ar-beitsanweisungen und Kommunikation mit Angestellten auf standardisierten Ver-fahren. Die Aufgaben der Besatzung und der Angestellten an Land sind in formalenProzeduren und Anweisungen festgelegt. Das Management muss sich nach interna-

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258 16 Troms Offshore (Norwegen)

tional obligatorischen Regeln und Vorschriften richten, die ihre Aktionen im Hin-blick auf Navigation, Ladung, Verschmutzung und Sicherheit regeln. Die Offizierean Bord des Schiffes müssen ein spezielles Training absolviert haben. Das Schiffmuss zudem die Akkreditierung durch Regierungsbehörden anstreben und Verbän-den sind Prüfungspflichten übertragen worden. An sich könnte dies Anreize für hö-here Effizienz setzten. Allerdings ist der Preisdruck auch sehr wirkungsvoll. Es istschwierig, unternehmerisch und innovativ zu sein in solch einem reglementiertenund preisbewussten Markt.

16.10 Schlussfolgerung

Troms Offshore ist mit einer neuen Möglichkeit konfrontiert, welche das Unterneh-men in eine ganz andere Richtung als die jetzige Positionierung lenken kann. DerEigner, Thor Olsen, ist sich klar darüber, dass er für seine Entscheidung die ganzeUnterstützung seines Managementteams benötigen wird. Das Team war über dieJahre loyal zu ihm und das Unternehmen hatte relativ guten Erfolg mit ihren Nord-see-Aktivitäten. Sein Unternehmen war immer fortschrittlich, aber eine Ausdeh-nung in die arktischen Gewässer könnte nach Meinung seines Chefberaters einSchritt zu viel sein. Thor war immer kalkulierbare Risiken eingegangen, und er warsich klar darüber, dass er, wenn er nicht das Risiko eingegangen wäre und sich vorzwölf Jahren in die Schiffsindustrie gewagt hätte, immer noch ein Krabbenfischeran der grönländischen Küste sein würde, wo die Herausforderungen und Belohnun-gen auf jeden Fall ganz andere sind!

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17Anders Müller Dental AG (Österreich)

Andreas Müller & Sascha Kraus

17.1 Einleitung

ImMärz 2011 saß Dr.Markus Oberhuber in seinem Büro in Bregenz und las denMil-lenniumsforschungsgruppenbericht über den Dentaltechnikmarkt, der vor ihm auf-geschlagen lag. Er war von der Anders Müller Dental AG24 eingestellt worden, um dieGesellschaft an die Börse zu führen und sehr erfreut darüber, dass sich das Unterneh-men in die richtige Richtung bewegte. Nach dem Überwinden einiger Schwierigkei-ten aufgrund der Fusion zweier Unternehmen aus verschiedenen Ländern, aus derdie Firma hervorgegangen war, hatte die Anders Müller Dental AG schnell ein erfol-greiches Geschäftsmodell entwickelt, das ausgezeichnete Verkäufe und Gewinnzah-len generierte. Im Jahr 2009 eröffnete das Unternehmen ein Zahnproduktionszent-rum in St. Gallen, an das Zahntechniker die Daten ihrer Zahnprothesen schickenkonnten und den fertigen Zahnersatz innerhalb von 48 Stunden zurückgeschickt er-hielten. Jedoch musste Markus jetzt entscheiden, was das Unternehmen als Nächstesforcieren sollte. Es ging darum, das Unternehmen für Anleger attraktiver zu machenund profitable Möglichkeiten auf dem Absatzmarkt zu suchen. Er hatte in der kom-menden Woche eine Besprechung mit dem Aufsichtsrat und war gebeten worden,ihnen eine Serie von Empfehlungen respektive Maßnahmen zu überreichen, die dasUnternehmen im darauffolgenden Jahr ergreifen sollte.

17.2 Das Unternehmen

Die Firmengeschichte unter dem Namen Anders Müller Dental AG begann im Jahre2002, als das inzwischen in der Dentaltechnik führende Unternehmen Österreichsaus der Fusion der beiden Familienunternehmen Anders Dental GmbH aus Bregenz(Österreich) und Müller Zahntechnik OHG aus Stuttgart (Deutschland) entstand.Bis dahin war die Müller Zahntechnik OHG eine reine Handelsgesellschaft mit Sitzin Deutschland und die Anders Dental GmbH ein Produkthersteller und Entwick-lungspartner mit Händlerstrukturen inweltweit 25 Ländern. Nach über 30 Jahren en-ger Zusammenarbeit, weit über eine normale Kunden-Lieferanten-Beziehung hinaus,wurde schließlich beiderseits der Entschluss gefasst, die offenkundig vorhandenen Sy-nergien zu nutzen und zu fusionieren. Das derzeit ungefähr 190 Mitarbeiter beschäf-

24 Unternehmens-, Personen- und Ortsnamen der vorliegenden Fallstudie wurden anonymisiert,und etwaige Geschäftszahlen verändert.

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260 17 Anders Müller Dental AG (Österreich)

tigende KMU hat drei Anteilseigner zu jeweils gleichen Geschäftsanteilen: die Fami-lienholdings Anders GmbH und Müller Holding GmbH sowie einen Finanzinvestor.Entsprechend der Konstellation der Hauptgesellschafter befinden sich auch drei Vor-stände im Amt, die für die Leitung des Unternehmens verantwortlich zeichnen.

Im Anschluss an die Fusion wurden alle doppelt vorhandenen Abteilungen an je-weils einem Standort zentralisiert. Nach der schrittweisen Überführung der Ab-teilungen befinden sich mittlerweile alle Bereiche, die in Zusammenhang mit derProduktherstellung stehen, am Firmensitz und Hauptstandort der Anders MüllerDental AG in Bregenz. Dies sind die Abteilungen F&E und Produktmanagement,alle Abteilungen der internen supply chain sowie das Halbfertigwarenlager. Fertigwa-ren der Eigenproduktion sowie Handelsware von anderen Herstellern werden hin-gegen in Stuttgart gelagert, bei Bedarf konfektioniert und von dort aus direkt zumKunden geliefert. Der Bereich Marketing und Vertrieb wie auch das Kurswesen sindnach Vertriebskanal den Standorten zugeteilt. Aus der Historie resultierend ist derStandort Stuttgart nach wie vor für den Direktvertrieb im deutschsprachigen Raumverantwortlich, während von Bregenz aus die Händler in mittlerweile über 50 weite-ren Ländern der Welt betreut werden.

Der hauptsächliche Fokus der direkt auf die Fusion folgenden Jahre war nebenden bereits angesprochenen strukturellen Veränderungen, dem Finanzinvestor dievorab angekündigten Effektivitäts- und Effizienzsteigerungen und damit verbundeneine entsprechende Wertsteigerung darzulegen. Dies sollte durch Nutzung von Sy-nergieeffekten der beiden Unternehmen sowie durch die Realisierung der im Zugeder Vorbereitungsmaßnahmen auf die Fusion geplante Internationalisierung gesche-hen. In Abbildung 1 sind die Umsatzzahlen und prozentuellen Wachstumsraten desbereits fusionierten Unternehmens der Jahre 2003 bis 2009 dargestellt, die belegen,

Abb. 1: Absatzentwicklung Anders Müller AG (2003–2009)

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Andreas Müller & Sascha Kraus 261

dass die bei der Fusion getroffenen Wachstumsankündigungen realisiert werdenkonnten. Zwischen den Umsatzbalken zweier Jahre ist jeweils die Wachstumsratevom einen zum Folgejahr angeführt. Da die Anders Müller Dental AG in den siebenhervorgehobenen Jahren eine positive Umsatzentwicklung auswies, prüften die dreiAktionäre verschiedene Szenarien und entschieden sich letztlich für einen Börsen-gang (IPO) als die beste Option für das Unternehmen.

Zum Zeitpunkt des Beschlusses, mit dem Unternehmen an die Börse zu gehen,stellte sich jedoch die Problematik, dass in der zu dieser Zeit vorherrschenden inter-nen personellen Konstellation weder die Kapazität noch die fachliche Kompetenzvorhanden war, einen Börsengang mit einer wünschenswert hohen Erfolgswahr-scheinlichkeit vorzubereiten. Nach längerer Suche nach externen Experten, die fürein derartiges Projekt gewonnen werden konnten, wurde schlussendlich die Ent-scheidung gefällt, mit Dr. Markus Oberhuber einen Mitarbeiter des Private Equity-Investors für die Vorbereitung des Börsengangs einzustellen. Mit dieser Maßnahmeging die Umfirmierung von einer GmbH auf eine AG einher, da ein Börsengang nurin der Rechtsform einer AG realisierbar ist. Jedoch hatte die sehr kritische Wirt-schaftslage und deren Folgen die Aussicht auf einen erfolgreichen Börsengang in ab-sehbarer Zeit zunehmend unwahrscheinlicher gemacht.

17.3 Das Sortiment

Die Produktpalette der Anders Müller Dental AG richtet sich nach der Prozessketteder dentalprothetischen Maßnahmen. Beginnend mit der Abformung beim Zahn-arzt bis zum Zeitpunkt, zu dem der fertige Zahnersatz beim Patienten eingesetztwird, gliedert sich der dazwischenliegende Prozess im zahntechnischen Labor indrei wesentliche Schritte:· die Modellherstellung (Gipsabbild des Gebisses);· die Gerüstherstellung (des Zahnersatzes);· die keramische Verblendung (des Gerüstes).

Zur Herstellung von Modellen und Gerüsten kommen hauptsächlich elektromecha-nische bzw. auch rein mechanische Geräte zum Einsatz. Die Kernkompetenzen derAnders Müller Dental AG liegen in der Entwicklung dieser Geräte, in deren Her-stellung sowie in Marketing und Vertrieb. Zur Herstellung der Geräte werden mehr-heitlich aus Aluminium gefertigte Komponenten benötigt, die im eigenen CNC-Maschinenpark produziert werden. Sobald dort alle Komponenten für eine Serie fer-tiggestellt und alle zugekauften Artikel vorrätig sind, werden die Geräte im zweitengroßen Bereich der Produktion – im Gerätebau – versandfertig montiert. Seit demJahr 2005 ist die Anders Müller Dental AG außerdem Hersteller von Rohlingen auseiner Hochleistungskeramik („Zirkoniumdioxidkeramik“, kurz als „Zirkonoxid“ be-zeichnet), aus denen Zahnersatz gefräst werden kann. Somit ist die Anders MüllerDental AG in der Lage, für die gesamte Prozesskette im Dentallabor die notwendigenGeräte sowie das Rohmaterial zu liefern.

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Über mehrere Jahrzehnte hat sich in der Zahntechnik kaum etwas verändert. DasGipsmodell wird durch das Eingießen diverser Gipse in den vom Zahnarzt genom-menen Abdruck erstellt. Mithilfe des Gipsmodells wird ein Gerüst konstruiert. Zu-letzt wird das Gerüst in einem mehrstufigen keramischen Beschichtungsverfahrenverblendet, um die Ästhetik natürlicher Zähne zu erreichen. Zur Gerüstherstellunghat sich seit Langem das Metallgussverfahren etabliert. Dabei wird der Zahnersatzmit Wachs auf das Gipsmodell aufgebracht. Das Käppchen bzw. die Brücke wird da-nach vom Modell abgezogen, auf Wachsstiften in einer Muffel eingebettet und dieangestifteten Wachs-Käppchen dabei mit einer Einbettmasse umgossen. Nachdemdiese ausgetrocknet ist, kann das Wachs durch Aufwärmen geschmolzen und derentstehende Hohlraum mit flüssigem Metall ausgegossen werden. Anschließendwird das Gussobjekt ausgebettet und die Metallstifte in einem letzten Schritt abge-schliffen. Nachdem in der Medizintechnik seit Anfang der 1990er Jahre die bereitserwähnte Hochleistungskeramik Zirkonoxid eine immer breitere Verwendung (z. B.für künstliche Hüftgelenke) gefunden hatte, kam zur Jahrtausendwende aufgrundder hervorragenden mechanischen Eigenschaften des Materials auch in der Dental-technik der Wunsch auf, Zirkonoxid zur Herstellung von Zahnersatz zu verwenden.Dabei ergab sich allerdings das Problem, dass Zirkonoxid nicht gegossen, sondernausschließlich zerspant werden kann. Demzufolge wird zur Herstellung einer gefräs-ten Krone oder Brücke eine Vorlage benötigt, die anschließend nachgebildet werdenkann. Dies war die Geburtsstunde des „Kopierfräsens“. Eine Kopierfräse ist ein elekt-romechanisches Gerät, das die seit dem 17. Jahrhundert bekannte Funktion einesPantografen nutzt. Ein Pantograf ist ein Gerät, mit dem Zeichnungen in gleichemoder anderem Maßstab kopiert werden können. Analog zu dieser Funktion wirdeine wie beim Gussverfahren hergestellte Kappe mit einem Arm der Kopierfräse ab-getastet, während der zweite Arm die Kappe vergrößert aus einem Keramikblockfräst. Die Notwendigkeit der Vergrößerung rührt daher, dass Zirkonoxid zur Errei-chung seiner Endhärte nach dem Fräsen noch in einem Ofen gesintert werdenmuss, wodurch das Material um ca. 20–30% schwindet. Im Unterschied zum Me-tallguss wird die Kappe aus lichthärtendem Kunststoff hergestellt, damit die Formdes Zahnersatzes beim Abtasten nicht verändert wird.

Im Jahr 2005 wurde von der Anders Müller Dental AG eine derartige Kopierfräseentwickelt, die nach ihrem Verkaufsstart Ende 2005 im Folgejahr für einen Großteildes in Abbildung 1 dargestellten 11,8% Umsatzwachstums verantwortlich war. Diesnicht zuletzt deshalb, weil es nur wenige Hersteller gab, die überhaupt eine Kopier-fräse entwickelt hatten. Doch auch die Blütezeit des Kopierfräsens hielt nicht langean. Schon Anfang des Jahres 2007 sanken langsam aber stetig die Verkaufszahlen die-ses manuellen Gerätes und gleichzeitig tauchten auf dem Dentalmarkt die ersten vollfunktionsfähigen digitalen Systeme auf. Im digitalen Prozess müssen keine Wachs-oder Kunststoffkäppchen mehr auf das Gipsmodell konstruiert werden. Stattdessenwird es eingescannt, sodass ein dreidimensionales Abbild des Modells auf dem zuge-hörigen Computer zur weiteren Bearbeitung zur Verfügung steht. Mit Hilfe von spe-ziell für diesen Zweck entwickelter CAD-Software kann der Dentaltechniker denZahnersatz am Bildschirm konstruieren. Das Ergebnis dieses Prozesses sind alsoeine oder mehrere Dateien, die die Daten zur Herstellung des zuvor konstruierten

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Zahnersatzes enthalten. Die Herstellung selber wird hauptsächlich mittels CNC-Frä-sen vollzogen, also einem abtragenden Verfahren, mit dessen Hilfe inzwischen außerZirkonoxid auch diverse Kunststoffe und Metalle verarbeitet werden können. Diedemgegenüber wesentlich kostengünstigere Variante ist ein aufbauendes Verfahrenohne Materialverlust, bei dem die Konstruktion in sehr dünne (20–30μm) horizon-tale Schichten unterteilt wird, die anschließend Schicht für Schicht aus Metallpulvermit einem Laser verschmolzen werden. In der Fachsprache heißt dieses generativeSchichtbauverfahren „Selective Laser Melting“ (SLM). Allerdings lassen sich damitvon den zahntechnischen Materialien bislang nur Metall-Gerüste produzieren, undes gibt für dieses Verfahren ausschließlich große Anlagen, die für ein typisches klei-nes zahntechnisches Labor überdimensioniert sind.

17.4 Das Dental Center-Projekt

Für Markus Oberhuber war bereits lange klar, dass eine Investition in diese zukunfts-trächtige Technologie unbedingt notwendig war, um konkurrenzfähig zu bleiben.Neben dem Umsatzrückgang im Bereich Kopierfräsen und der Zukunftsträchtigkeitdes digitalen Konzeptes war ein weiterer wichtiger Grund für das Interesse die imMärz 2009 anstehende „International Dental Show“ (IDS). Die IDS ist die weltweitgrößte Messe der Dentalbranche, die im Zyklus von zwei Jahren in Köln (Deutsch-land) stattfindet und i. d. R. richtungweisend für Erfolg bzw. Misserfolg der Ausstel-ler in naher Zukunft ist. Die Anders Müller Dental AG initiierte Anfang des Jahres2008 ein Projekt, das bis zum Ende des ersten Quartals die Entwicklung eines Scan-ners, eines CAD-Software-Tools sowie einer Fräsmaschine vorsah. Nachdem das Un-ternehmen aus der Historie betrachtet durch die Komplettierung des Sortimentsbereits vom Produkthersteller zu einem Anbieter ganzheitlicher Herstellungsmetho-den geworden war, sollte in diesem Projekt ein weiterer Schritt folgen. Dies verlangtenach einem entsprechenden Marketingkonzept. Markus Oberhuber zielte darauf ab,den Kunden in Form von Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen einen weiteren überge-ordneten Nutzen anbieten zu können. Daher wurde der Beschluss gefasst, bei derIDS für alle Herstellungsvarianten von Gerüsten eine Lösung zu präsentieren und so-mit jedem potenziellen Kunden individuell und bedarfsgerecht die wirtschaftlichsteLösung für seine Anforderungen empfehlen zu können. Als Konsequenz darauswurde das Produktkonzept um einen Baustein erweitert. Da eine Tischfräsmaschinenicht für jedes Dentallabor finanzierbar oder zumindest rentabel wäre, sollte außer-dem ein Dienstleistungszentrum aufgebaut werden, dem die Zahntechniker die Da-tensätze ihrer Konstruktionen elektronisch zukommen lassen konnten und das dengefertigten Zahnersatz 48 Stunden später an sie zurückschicken würde. Der Hinter-grund der Marketingstrategie war, einen USP zu erreichen, da es bis dato keinen an-deren Anbieter gab, der alle Herstellungsvarianten bedienen konnte und dafür auchnicht viele infrage kamen, da der Markt des Kopierfräsens unter wenigen Unterneh-men aufgeteilt war. Die folgende Tabelle 1 zeigt die Herstellungswege der drei demKonzept zugrunde liegenden Varianten.

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Tab. 1: Herstellungswege der Dental Center-Varianten

Variante Modellherstellung Konstruktion Fertigung

Manuell im Labor Gipsmodell Modellierung inWachs

Gießen

Modellierung inKunststoff

Kopierfräsen

Digital im Labor Gipsmodell Scan/CAD-Konstruk-tion

CNC-Fräsen

Digital im Fertigungs-zentrum

Gipsmodell Scan/CAD-Konstruk-tion

CNC-Fräsen oderLaserschmelzen

Mit großemAnklang wurde das Gesamtprojekt an der IDSunter demNamen „DentalCenter“ vorgestellt. Es wurde ein „Center“ präsentiert, in dem sich jeder Kunde sei-nenWünschen entsprechend bedienen konnte. Das Dental Center umfasst demnachdie manuelle Methode im zahntechnischen Labor, also das Gießen oder Kopierfräsen,wie auch die beiden digitalen Varianten, entweder den am Computer konstruiertenZahnersatz mit der eigenen Fräsmaschine zu fertigen oder ihn zum externen Dienst-leistungspartner – einem sogenannten Fertigungszentrum – zu schicken.

Im Laufe des Dental Center-Projekts wurde schließlich die Entscheidung gefällt,das Dienstleistungszentrum im Bereich des externen Fertigungszentrums in Formeines Spin-offs auszugründen. Nach einer Vielzahl an vorbereitenden Maßnahmenwurde schließlich im Januar 2010 das Unternehmen Dental Production Center in derRechtsform einer AG gegründet. Als Firmensitz konnte eine 1000m2 große Flächeeines neu errichteten Industriegebäudes in St. Gallen (Schweiz) angemietet werden,ca. 40 km entfernt vom Hauptsitz des Mutterunternehmens, das sich zu dieser Zeitnoch im Rohbau befand. Aufgrund dessen war das erste halbe Jahr des Bestehensdes Dental Production Center neben dem Gründungsprozess hauptsächlich von ar-chitektonischer Planung, von Bauverhandlungen sowie von Umbauarbeiten geprägt.Parallel dazu wurden alle Prozesse zur industriellen Fertigung von Zahnersatz defi-niert und in Folge alle dafür nötigen Komponenten organisiert. Der Produktions-start des Unternehmens und somit die ersten Umsätze konnten im November 2010realisiert werden.

Als die Renovierungsarbeiten abgeschlossen waren, wurde die Bürofläche in vierHauptabschnitte unterteilt:1. CNC-Fertigung: Zahnersatz wird mit Hilfe von 5-Achs-Technologie und High

Speed Cutting (HSC) gefräst. Die fünf Achsen werden hauptsächlich dazu benö-tigt Unterschnitte fräsen zu können, wohingegen die meisten Tischfräsen in denzahntechnischen Labors lediglich drei Achsen haben und daher nicht über dieseMöglichkeit verfügen. HSC ist eine Technologie, die mit höheren Spindeldreh-zahlen (³ 40’000 U/min) arbeitet, wodurch geringere Durchlaufzeiten erreichtwerden können.

2. SLM-Fertigung: Kobalt-Chrom-Pulver wird in einem generativen Schichtbauver-fahren mit einem Laser Schicht für Schicht verschmolzen, sodass die entstehen-den festen Metallkomponenten die konstruierten Kronen und Brücken ergeben.

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3. Warenausgang: In der abschließenden Qualitätskontrolle wird der manuell ver-schliffene Zahnersatz auf Mängel überprüft, im Fehlerfall erneut gefertigt undversandfertig verpackt.

4. Verwaltung: Dort werden neben der Verwaltung alle am Computer notwendigenVorbereitungsmaßnahmen für die Fertigung vollzogen.

5. Inzwischen beschäftigt das Dental Production Center zehn Mitarbeiter, von denendrei ehemals bei der Muttergesellschaft, der Anders Müller Dental AG, angestelltwaren. Das Unternehmen gewährleistet den Kunden, den von ihnen konstruiertenZahnersatz nach einer maximalen Zeitspanne von 48 Stunden ab Dateneingangdem Versandlogistik-Anbieter zu übergeben. Dementsprechend sind optimierteProzesse und eine geringe Fehleranfälligkeit notwendig. Neben den bereits ge-nannten Materialien Zirkonoxid (gefräst) und Kobalt-Chrom (SLM-Verfahren)werden den Kunden weitere gefräste Materialien wie diverse Kunststoffe oder Ti-tan in verschiedenen Reinheitsgraden angeboten.

Markus Oberhuber erklärt dazu Folgendes:

„Dieser Erfolg war fantastisch! In den ersten zwei Monaten wuchsen wir im Vergleich zum Vorjahrum 57%. Dies spricht für sich. Überdies hinaus wir haben noch nicht einmal damit begonnen, un-sere Produkte in den potenziellen Märkten zu lancieren. Dies ist schlicht und einfach unglaublich! Eswird nun schwierig dies aufzuholen, da die potenziellen Mitbewerber sicherlich mitbekommenhaben was wir erreicht haben. Allerdings ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir den Druck von ihnenzu spüren bekommen. Jedoch kann der Erfolg, den wir bisher hatten, nicht dementiert werden.“

Während viele Dinge besser liefen als gedacht, entwickelten sich andere Dingeschlechter als erwartet. Die Zeit für die Planung des Gebäudes wurde unterschätztund obwohl die Idee einer Fräsmaschine für ein Labor bestand, gab es auf den Plä-nen keine dafür vorgesehene Fläche. Dies fiel auch während der Planungsphase nichtauf, da niemand die Aufmerksamkeit entsprechend darauf richtete.

Des Weiteren wurde davon ausgegangen, dass sich die Scanner wie geplant ver-kaufen. Dementsprechend wurden auch die Mengen festgelegt, die an das Herstel-lungszentrum ausgeliefert werden müssen. Die Fräsmaschine ist ein System, welchesdie Marktbedürfnisse zu 100% befriedigt, wodurch die Konzentration in eine völligandere Richtung gelenkt werden musste. Es werden derzeit viel mehr Laborsystemeverkauft, dadurch werden die Einheiten in eigenen Labors gefräst und müssen somitnicht weiter an das Herstellungszentrum gesandt werden. Die zweite Sache, die nichtwie vorgesehen verlief, war, dass die Scanner nicht in der geplanten Zeit geliefertwurden und somit die Prothetik nicht fertiggestellt werden konnte.

17.5 Zukunftsziele

Als Markus Oberhuber den im Jahr 2010 veröffentlichten Millenniumsforschungs-gruppenbericht über den Dentaltechnik-Markt las, zog vor allem der folgende Ab-schnitt seine Aufmerksamkeit auf sich:

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266 17 Anders Müller Dental AG (Österreich)

Der globale Markt für computergestützten Zahnentwurf/computergestützte Herstellungssysteme(CAD/CAM) umfasst den Verkauf von vollständigen Systemen, Scannern in Laboren und das Be-handlungsstuhl-Segmenten in die USA, Europa (Frankreich, Deutschland, Italien und das VereinigteKönigreich) und Japan. Im Jahr 2009 wurde das Marktwachstum von der globalen ökonomischen Re-zession gehemmt, was die Patienten veranlasste, kostspielige Zahnwiederherstellungsbehandlungenzu verschieben oder abzubrechen. Folglich erfuhren Zahnarztpraxen in den meisten Teilen der Welteine mäßige Nachfrage und scheuten sich, in die Ausstattung wie CAD/CAM-Systeme zu investieren.Dieses Problem resultiert zudem aus der Tatsache, dass die Beschaffung einer Finanzierung, um solchein System zu kaufen, im Jahr 2009 äußerst schwierig war. Dennoch wuchs der globale CAD/CAM-System-Markt dieses Jahr moderat, was in erster Linie auf die steigende Beliebtheit von Behandlungs-stuhl-Systemen und Scannern zurückzuführen ist. Mit der Einführung von neuen Produktenwie dem3M ESPES’s Behandlungsstuhl-Oral-Scanner (COS) und dem Sirona’s CEREC AC nutzen vieleZahnärzte die Markteinführungsprogramme und flexiblen Finanzierungsoptionen, die von Herstel-lern und Verteilern angeboten werden. Zudem kauften viele Zahnlabors CAD/CAM-Systeme zugünstigen Preisen zu Zeiten, als die Märkte in Europa noch nicht durchdrungen respektive gesättigtwaren. Der Prognoseperiode zufolge nehmen Zahnbehandlungen mit dem nach der Wirtschaftskriseeintretenden Aufschwung wieder zu. Damit einhergehend wird der globale CAD/CAM-Markt bis2014 stark wachsen.

Es waren also folgende zentrale Aspekte zu berücksichtigen:1. In den USA, Frankreich, Italien, Vereinigtem Königreich und Japan existieren

überwiegend kleine Zahnlabors, während jene in Deutschland mehrheitlich mitt-lerer Größe sind. Wie beeinflusst die Laborgröße in diesen Ländern die Trendshinsichtlich der Nachfrage nach Scannern und gesamtheitlichen Systemen überdie Prognoseperiode hinweg? In welcher Form beeinflusst die Nachfrage das Um-satzwachstum?

2. Jüngste Neuerungen im französischen Gesundheitsversicherungssystem deckenab dem Jahr 2010 Zahnersatz aus Vollkeramik einschließlich Keramikverblen-dungen auf Zirkonbasis. In welchem Maß beeinflussen die Neuerungen im fran-zösischen Gesundheitsversicherungssystem das Wachstum des Dentalmarkts inFrankreich in der Prognoseperiode? Wie verändern diese Trends die Zahnmedi-zin und die Zahntechnik?

3. Es gibt eine große Anzahl von Zahnkliniken und Zahnarztpraxen in Japan unddemzufolge eminenten Wettbewerb um Patienten. Wie groß ist das Wachstums-potenzial im japanischen Markt für Behandlungsstühle in Anbetracht der großenAnzahl an Zahnärzten? Wie wird die konkurrierende Dynamik unter Zahnärztenden Absatz von Behandlungsstuhlsystemen und intraoralen Scannern beeinflus-sen?

4. Trotz der ökonomischen Rezession wuchsen die US-amerikanischen und europä-ischen Märkte für CAD/-Systeme im Jahr 2009, während der japanische Marktnur eine leichte Kontraktion erfuhr. Welche Faktoren forcierten trotz des finanzi-ellen Rückgangs das Wachstum des US-amerikanischen und europäischen Mark-tes? Wie beeinflusste die Wirtschaftskrise das Wachstum der Behandlungsstuhl-und Labor-CAD-/CAM-Märkte im Vergleich zum Jahr 2009? Wie wurde jedesder genannten Länder durch den globalen Markt beeinflusst?

Markus wusste, dass der Aufsichtsrat Antworten statt Fragen wollte. Wieder einmalhatte er nicht ausreichend Zeit, um alle relevanten Informationen vor dem Meeting

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Andreas Müller & Sascha Kraus 267

in der darauffolgenden Woche zusammenzutragen. Was er benötigte, waren Emp-fehlungen hinsichtlich der Konzeption einer Gesamtstrategie für das Unternehmensowie für die drei Betriebsstätten in den drei Ländern. Überdies sollte er Maßnah-men für die kommenden Monate festlegen, anhand derer der Aufsichtsrat eine Ent-scheidungen treffen konnte, durch welche das Gesamtziel des Fortbestehens erreichtund der Börsengang realisiert würde.

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18Getmor (Polen)

Jerzy Cieslik, Izabela Koładkiewicz & Thomas Cooney

18.1 Einleitung

„Schon wieder ein Tag voller trouble-shooting“, seufzte Łukasz Mroczkowski, CEO von Getmor.„Mir reicht es! So kann es nicht weiter gehen. Ich muss einige Entscheidungen treffen, sonst wird die-ser tägliche Kampf, den Tag heil zu überstehen, nicht nur mich umbringen, sondern auch ein weite-res Wachstum des Unternehmens unmöglich machen.“

Wie gewöhnlich war sein geplanter Tagesablauf völlig über den Haufen geworfen.Łukasz kam morgens zur Arbeit in der Hoffnung, eine Einschätzung der Marktlageausarbeiten zu können und basierend auf den letzten Ergebnissen Ausbaumöglich-keiten für Getmor zu verfolgen. Leider kam es mal wieder anders, als er dachte.Gegen 10 Uhr morgens wurde Łukasz bei der Analyse der Umsatzentwicklung voneinem Telefonanruf unterbrochen. Die Rezeptionistin hatte einen potenziellen Kun-den am Apparat und wollte wissen, ob sie das Gespräch durchstellen sollte. Das Tele-fonat dauerte ca. 40 Minuten. Verärgert über sich selbst, noch immer keinen Ablauffür die Abwicklung solcher Gespräche ausgearbeitet zu haben, legte er den Hörer auf.Jeder einzelne Anruf wurde zu ihm, anstatt an einen Verkäufer durchgestellt, der denKunden professionell bedienen konnte. Kaum war das Gespräch beendet, begannauch schon der alltägliche Kampf. Probleme in Getmors Einzelhandelsverkaufstellenschossen wie Pilze aus dem Boden. Wie gewöhnlich war Łukasz der einzig Befähigte,der diese Probleme lösen konnte. Und als wäre dies nicht schon genug, musste erauch noch einige Entscheidungen bezüglich des Auslandsverkaufs treffen (Erstkun-den, neue Abwicklungsprozesse). Zudem benötigte die Technologieabteilung drin-gend seine Hilfe. Zuguterletzt musste Łukasz auch noch Zeit finden, um GetmorsAußenhandelsabteilung zu verwalten. Und so ging es weiter bis in den Abend.

Die Ereignisse des vergangenen Tages verdeutlichten Łukasz, dass er den BereichInlandsverkauf delegieren musste, einschließlich der Verwaltung der Einzelhandels-kette. Obwohl das Unternehmen schon seit vielen Jahren eine Vertriebsabteilung hat,kann sich Łukasz nicht dazu entscheiden, einen Inlandsvertriebsleiter zu ernennen,der die Aufgaben des CEOs in diesem Bereich übernehmen könnte. Zurzeit ist ernicht nur Getmors CEO, sondern auch Leiter der Vertriebsabteilung. Diese Doppel-verantwortung ist ganz offensichtlich zu viel Verantwortung, um nur von einer Per-son abgedeckt zu werden. Durch das Delegieren der Vertriebsaufgaben an einen Ver-triebsleiter könnte Łukasz seine Aufgabenbereiche als CEO von Getmore wesentlicheffektiver wahrnehmen. Er müsste sich endlich keine Sorgen mehr um verpasste Ab-satzmöglichkeiten wegen der alltäglichen Routinearbeit machen. Nach einer gewis-

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270 18 Getmor (Polen)

sen Zeit könnte er sogar noch einen Schritt weiter gehen und selbst neue Marktchan-cen entwickeln, anstatt den Markt mühsam danach zu durchkämmen. Für all das be-nötigt man allerdings einen klaren Kopf. Einen neuen Vetriebsdirektor zu bestellen,ist leider kein leichtes Unterfangen. Getmor ist ein Familienunternehmen, das vonŁukasz Mroczkowskis Eltern gegründet wurde. Einen der Kernbereiche des Unter-nehmens an einen Fremden zu übergeben, ist emotional nicht leicht. Es ist einegrosse Herausforderung, jemandem außerhalb der Familie zu vertrauen, ein ähn-liches Engagement an den Tag zu legen, wie dies Łukasz‘ Eltern taten und er selbstzu tun im Stande ist. Ein weiterer, wichtiger Aspekt der Berufung des neuen Abtei-lungsleiters betrifft den Bewerberkreis. Sollte der Kandidat aus der aktuellen Beleg-schaft oder als Externer engagiert werden?

18.2 Vom Pilzzüchter ins Fleischgeschäft

Die Geschichte der Mroczkowskis ist typisch für polnische Familienunternehmen.Zurzeit wird das Fleischereiunternehmen vom Sohn der Gründer – Łukasz – geleitet,der nach und nach die Verantwortung über das Tagesgeschäft übernommen hat. Ge-tmor selbst ist ein mittelgroßes Unternehmen mit 144 Angestellten, die organisatori-sche Struktur des Betriebs ist mit der Zeit immer aufwändiger geworden. Das Fami-lienunternehmen besteht momentan aus zwei Geschäftseinheiten – Getmor, einemEinzelunternehmen, das von Herr und Frau Mroczkowski (Łukasz‘ Eltern) aufge-baut wurde, und dem Tochterunternehmen Merca-Meat, einer GmbH, die von Łu-kasz selbst gegründet wurde. Łukasz ist CEO beider Unternehmen. Getmor unter-hält einen Schlachthof für Schweine, Rinder und Pferde, und verarbeitet daraushochwertige Fleischprodukte. Das Unternehmen bietet außerdem Tierviertel vomSchwein und Rind für den heimischen Markt und für Spezialkunden. Die Wurstwa-renverarbeitung ist ein weiteres Kerngeschäft des Unternehmens. Die Erfolge derMroczkowskis und deren Sohn Łukasz lassen sich direkt auf die konsequente Verfol-gung des eingeschlagenen Weges, die einheitliche Linie und ihrer Risikobereitschaftzurückführen.

Die Mroczkowskis gründeten ihr Unternehmen kurz nach ihrer Heirat. Ihr erstesgeschäftliches Unterfangen war eine Pilzzucht, die sie von Grund auf aufbauten.Ohne Eigenkapital zu besitzen, beantragten sie ein Bankdarlehen, das ihnen er-laubte, das Unternehmen zu gründen. Dieses Unternehmen war ihrer erste Gelegen-heit, Erfahrung in Betriebsführung und Auslandsverkauf zu sammeln. Mit der Zeitwarf der Betrieb allerdings immer weniger Profite ab, da sich die Marktlage verän-derte. Schlussendlich waren die Mroczkowskis gezwungen, eine Entscheidung fürihre Zukunft zu fällen. Sie gründeten den Fleischbetrieb Getmor im Jahr 1992, undzogen sich gleichzeitig aus dem Pilzgeschäft zurück. Die Gründer selbst ändertensich nicht, ihre Tätigkeit hatte sich jedoch komplett geändert.

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18.3 Getmor – Ein Wechsel nach dem anderen

Mroczkowskis’ Geschäftswahl wurde zum größten Teil durch die Region, in der sielebten, beeinflusst (ländlicher Bereich, ca. 100 km entfernt von Warschau), undauch durch die Knappheit an Fleischprodukten im Polen der frühen 1990er Jahre.Sie entschlossen sich, diese Marktchance und den Vorteil ihres Standortes zu nutzen,und eine Fleischerei aufzubauen, die sich zu Beginn auf die Schweineschlachtung spe-zialisierte. Abgesehen von denMöglichkeiten, die sich dem Betrieb eröffneten, gab esauch erhebliche Gefahren, die nicht ignoriert werden durften. Durch den Einstieg inein neues Marktsegment mussten die Mroczkowskis wieder von vorne beginnen,zum einen, was Geschäftsbeziehungen betraf, zum anderen bezüglich des Aufbauseiner Marktpräsenz. Trotz allem profitierten sie von den Erfahrungen aus ihrem Pilz-geschäft.

Getmor spezialisierte sich in den ersten vier Jahren vorwiegend auf die Produk-tion von Schweinefleisch, das sie an Fleischverarbeitungsbetriebe absetzte. Nach Ana-lyse der aktuellen Marktentwicklung gelangten die Mroczkowskis zu der Erkenntnis,dass mehr getan werdenmusste, wenn sie als Betrieb vorankommenwollten. Bald da-rauf wurde die notwendige Verfahrenstechnik zur Fleischverarbeitung und zahlrei-che Grundrezepte gekauft, mit denen man laut Aussage von Łukasz Mroczkowski„voll ins Schwarze traf“. Die Verfahrenstechniken wurden aus dem Westen impor-tiert, die Rezepte stammten allerdings alle aus der Region – es wurde nach alter polni-scher Tradition geräuchert und geselcht. Die Anstellungen eines Fachmanns mit aus-gedehnter Erfahrung im Bereich der großindustriellen Fleischverarbeitung war eineder wichtigeren Entscheidungen, die, wie sich herausstellen sollte, einen großen An-teil am Erfolg des Unternehmens hatte. Durch die Einbringung seiner Erfahrung warer imstande, die neu gekaufte Verfahrenstechnik, Prozesse und Rezepte erfolgreichbei Getmor einzusetzen. Die Fleischverarbeitung begann 1996, in dem Jahr, in demGetmor erstmals Aufschnitte auf den Markt brachte. Die Mroczkowskis konzentrier-ten sich weiterhin auf die Befriedigung der Kundenwünsche, während sich dieFleischfabrik noch im Frühstadium der Entwicklung befand. Sie waren so sehr damitbeschäftigt, den Betrieb am Leben zu erhalten, dass sie künftige Entwicklungsmög-lichkeiten gar nicht erkannten. Das unsichere Wirtschaftsumfeld und das sich ten-denziell verschlechternde Marktverhalten, die drastischen wirtschaftlichen Verände-rungen und die schwere Geburt einer Marktwirtschaft in Polen sprachen gegenLangzeitplanungen. Bis 2001 waren die Mroczkowskis überzeugt, dass sich der Be-trieb auf den lokalen, einheimischen Markt beschränken würde.

Aber: Wechsel ist die einzige Konstante im Leben. Obwohl die Mroczkowskiseinen Maßnahmenplan ausgearbeitet hatten, waren sie wieder einmal dazu gezwun-gen, eine wichtige Entscheidung hinsichtlich der Zukunft des Unternehmens zu tref-fen. Der Grund hierfür lag dieses Mal am bevorstehenden Beitritt zur EuropäischenUnion und im Besonderen an den Richtlinien zur Regulierung des Betriebes auf demFleischsektors, die zwischen den Jahren 2001 und 2002 eingeführt wurden. Die Ge-setzgebung legte Anforderungen für die Fleischerzeuger fest, die erfüllt werdenmuss-ten, um Produkte in der EU verkaufen zu können (die Richtlinien schrieben Anfor-derungen zur Angleichung von örtlichen Prozessen an tierärztliche Standards und

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272 18 Getmor (Polen)

Fertigungstechniken der EU, die Einführung des HACCP-Systems und andere Quali-tätszertifikate vor). Fleischproduzenten, die ihren Betrieb nicht an die von der Legis-lative der EU geforderten Bestimmungen anpassten, war eine Aufrechterhaltung desBetriebs nach der Übergangsfrist, welche im Jahr 2005 auslief, nicht gestattet. Dieswar ein schwerer Schlag für die polnischen Fleisch- und Räucherfleischproduzenten,zu denen auch die Mroczkowskis zählten. Als die neuen Richtlinien in Kraft getretenwaren, hatte sich das Unternehmen einer Sanierung unterzogen, konnte aber die An-forderungen der EU nur zum Teil erfüllen, da die technologischen Verfahrensliniennoch immer nicht den geforderten Standards entsprachen.

Die Mroczkowskis mussten sich die nächsten Schritte überlegen. Sie konnten ent-scheiden, nichts zu tun und ab dem Jahr 2005 auf den Inlandsmarkt beschränkt zubleiben und ihre Produkte zusätzlich durch gesetzliche Bestimmungen eingeschränktwissen, oder sie konnten in ihrem Betrieb weitere Anpassungen vornehmen, um ihreProdukte im ganzen EU-Raum verkaufen zu können. Die Mroczkowskis veranstalte-ten eine Brainstormingsitzung, in dem einer der Vertreter der nächsten Generation –

ihr Sohn Łukasz – eine aktive Rolle übernahm. Die Besprechung wurde mit dem Fa-zit abgeschlossen, nicht aufzugeben und die von der EU gestellte Herausforderunganzunehmen. Die Mroczkowskis und ihr Sohn machten sich daran, den Betrieb andie von der EU geforderten Standards anzupassen: Eine neue, große Fabrikanlagewar bald entworfen. Die Firma entschloss sich, die Investition mit EU-Geldern undeinem Bankdarlehen zu finanzieren. Łukasz Mroczkowski bereitete einen Antrag aufEU-Gelder vor, um den Neubau zu subventionieren. Und wieder einmal „verausgab-ten“ sich die Mroczkowskis, wie Łukasz es ausdrückte. Der Neubau der Fabrik wurdeim Jahr 2004 abgeschlossen und war mit den neuesten Technologien ausgerüstet,welche die Familie in ähnlichen Produktionsstätten in Dänemark und der Schweizgesehen hatte. Auch die Maschinenanlagen wurden in diesen Ländern gekauft. Dieneue Fabrikanlage hatte zwei unabhängige Prozesslinien für Schweinefleisch, Rindund Geflügel (wie es die EU-Standards vorschreiben, geraten die verschiedenenFleischsorten nicht miteinander in Kontakt). Innovative Lösungen wurden bei derAbfallentsorgung angewandt. Die neue Fabrik konnte alle für die betreffenden EU-Anweisungen benötigten Zertifikate erlangen, einschließlich des HACCP-Zertifika-tes. Die Produktion wurde zwischen Ende 2004 und Anfang 2005 Schritt für Schrittin die neue Fabrik verlagert. Die alten Fabrikhallen wurden im Anschluss daran alsLagerhaus und für andere Zwecke verwendet. Und die Neuerungen beschränktensich nicht nur auf die Umstrukturierung des Betriebs mit Hinblick auf Technologieund Qualitätsstandards der EU. Ein wichtiger Gesichtspunkt des Umbruchs war dasAnwerben neuer Mitarbeiter mit entsprechenden Fähigkeiten und Erfahrung. 2004wurden rund 50 neue Mitarbeiter angestellt, die zuvor in Betrieben mit ähnlichenProduktionssystemen gearbeitet hatten.

Einer der wichtigsten Entwicklungsschritte bei Getmor war die Festigung seinerPosition auf dem heimischen Markt durch Einführung einer eigenen Einzelhandels-kette. Diese Entwicklung wurde allerdings während des Neubaus der Fabrik undihrer Anpassung an EU-Standards auf Eis gelegt. Nach 2005 wurde dieses Vorhabennoch einmal in Angriff genommen und eine Kette von Groß- und Einzelhandelskun-den aufgebaut. Interessanterweise kooperiert Getmor nicht mit anderen großen, hei-

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mischen Handelsketten. Der Grund hierfür liegt in der Befürchtung, den positivenMarkenwert zu gefährden, der mit den hochqualitativen Produkten assoziiert wird.Der hohe Preis, den Kunden für die Qualitätsprodukte zahlen müssen, war ein weite-rer Hinderungsgrund für eine Kooperation.

18.4 Getmors Personalwesen

Das Auffüllen bestehender Wissenslücken innerhalb des Betriebs war eines derHauptaugenmerke, nach denen neue Mitarbeiter ausgesucht wurden. Dies war auchder Fall, als Getmor 1996 die Produktpalette um Wurstwaren erweiterte. Ein Spezia-list auf diesem Gebiet wurde eingestellt, und die Firmenchefs merkten bald, dass dieseine gute Entscheidung gewesen war. Die gleiche Entscheidung wurde 2004–2005gefällt, als die neue HACCP-zertifizierte Produktionsstätte eröffnet wurde. NeueMitarbeiter wurden aus Betrieben angestellt, in denen HACCP bereits umgesetztwar und die dadurch die notwendigen Fähigkeiten mitbrachten (2004 waren es circa50 Mitarbeiter). Eine weitere wichtige Entscheidung war das Anwerben eines profes-sionellen Leiters für den Auslandsverkauf, als die Firma das Auslandsgeschäft im Jahr2006 startete. Dabei mussten die neuen Mitarbeiter nicht immer aus dem Metierkommen. Beispielsweise hatte keiner der Mitarbeiter, die für die Abteilung Inlands-verkauf angeworben wurden, zuvor im Fleischgeschäft gearbeitet. Diese Mitarbeitermussten die Grundlagen des Fleischgeschäfts von der Pike auf erlernen.

Getmor nutzt mehrere Wege, um neue Mitarbeiter anzuwerben. Für Mitarbeitermit weniger Verantwortung – wie beispielsweise einfaches Fertigungspersonal – wirdderzeit eine Ausschreibung getätigt und dann durch den Abteilungsleiter Produktionein Anwerbungs- und Auswahlverfahren durchgeführt. Kandidaten werden oftmalsdurch hauseigenes Personal empfohlen, sobald Ausschreibungen getätigt wurden.Eine beträchtliche Anzahl der Kandidaten, die sich heute für dieses Stellen bewer-ben, kehren aus dem Ausland zurück und haben in anderen EU-Staaten Industrieer-fahrung gesammelt. Gleichzeitig wurden berufliche oder Geschäftsfreunde angewor-ben, um die strategisch wichtigen Positionen zu besetzen. Der Abteilungsleiter fürAuslandsverkauf (der übrigens nicht nur mit finanziellen Anreizen, sondern auch

Abb. 1: Getmors Organigramm

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durch die Herausforderungen und Möglichkeiten in der beruflichen Weiterentwick-lung gelockt werden konnte) ist ein solches Beispiel. Łukasz bemerkt, dass der „Ge-schäftsfreund-Faktor“ in Zukunft nicht mehr reichen würde und dass das Unterneh-men sich an professionelle Headhunting-Firmen würde wenden müssen, umerfahrenes Schlüsselpersonal anwerben zu können, da möglicherweise Geheimhal-tungsüberlegungen gewöhnliche Ausschreibungen als ein potenzielles Auswahlver-fahren ausschließen könnten.

Łukasz ist sich bewusst, dass es durchaus nicht einfach ist, die passendenMitarbei-ter für eine entsprechende Stelle zu finden, ganz besonders für Führungspositionen,obwohl es ihm bisher gelungen ist, ein gutes Team zusammenzustellen. Das erkannteer am relativ geringen Personalwechsel der Langzeitmitarbeiter und dem angemesse-nen, mäßigen Personalwechsel bei jungen Mitarbeitern. Die Tatsache, dass die Grün-der von Getmor das Unternehmen so lange mit ihrem Sohn zusammen verwaltethaben, erschwert besonders die Besetzung von Führungspositionen. Die Übergabevon Befugnissen und Vollmachten, die von ihnen so lange persönlich ausgeübt wur-den, war nicht einfach. Auch wird es nicht leicht sein, größere Geschäftsbereicheeinem Fremden anzuvertrauen. Die Übertragung der Verbindlichkeiten an eine Per-son außerhalb der Familie bedeutet immer Stress und Unsicherheit, was den Füh-rungsstil betrifft, aber das rasche Wachstum ihrer Geschäfte lässt den Mroczkowskiskaum eine andereWahl. Łukasz erinnert sich noch gut daran, dass er und seine Elternfür jede Kleinigkeit verantwortlich waren, als das Werk in den Jahren 2004–2005 ge-baut wurde, und dass dies einen hohen persönlichen Tribut forderte. In Anbetrachtder Vielschichtigkeit des Unterfangens wollte die Familie so viel Macht wie möglichbehalten; sie wollten die größtmögliche Kontrolle über alles haben, was in der Orga-nisation vor sich ging, um etwaige Probleme sofort lösen zu können. Das war einebesonders schwierige Zeit in ihrem Leben. Über die Zeit stießen Fachleute von Au-ßen dazu, die nach und nach einen Teil ihrer Aufgaben übernahmen.

In Jahr 2009 wurde Łukasz mit einer neuen Herausforderung im Personalbereichkonfrontiert. Seine Eltern wurden älter und gebrechlicher, zogen sich nach und nachaus dem Betrieb zurück, und legten die Geschäfte in die Hände ihres Sohnes Łukasz.Er war nicht ganz allein, da einer seiner Brüdern für Getmors technischen Betriebverantwortlich war, dieser war jedoch kein Mitglied des oberen Managements. SeineSchwester und ein weiterer Bruder gehen noch zur Schule, und es ist schwer zu sa-gen, ob sie tatsächlich beruflich in den Betrieb einsteigen wollen. Im Moment ist Łu-kasz das einzige Familienmitglied der Mroczkowskis, das die volle Verantwortungfür die Geschäfte und die Zukunft des Familienunternehmens trägt. Getmors Perso-nalmanagement setzt eine gewisse Portion Vertrauen in die Mitarbeiter, was zumCharakter des Unternehmens beigetragen hat. Dies drückt sich aus in einem unge-zwungenen Arbeitsstil und dem Mangel an strenger Überwachung und wurzelt da-rin, dass die Besitzer den Mitarbeitern von Anfang an Verantwortung für ihre Arbeitübertrugen. Jeder Neueingestellte wurde sofort mit seinen Verantwortlichkeiten ver-traut gemacht. Dadurch wurde auch erreicht, dass sich die Mitarbeiter mit dem Un-ternehmen stark identifizieren.

Die ständige Entwicklung und Verbesserung der Mitarbeiterqualifikationen isteine wichtige Maßnahme des Personalwesens bei Getmor. Dies wird größtenteils

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durch den Einsatz interner Ressourcen erreicht. Die neuen Mitarbeiter erhalten einegrundlegende Einführung durch ältere Mitarbeiter, welche die nötigen Qualifikatio-nen besitzen. Die Angestellten in gehobenen Positionen können auch externe Wei-terbildung erhalten, was aber eher ungewöhnlich ist; es hängt von den individuellenBedürfnissen ab. Die Möglichkeiten der internen Schulung bei Getmor sind einge-schränkt und die Auslagerung der Schulungen ist eher selten (wie z. B. eine Schu-lung, die dem Erwerb von Qualitätszertifikaten gewidmet war). Der Geschäftsführervon Getmor hält die vorhandene Wissensbasis für ausreichend, aber die Weiterbil-dung der Belegschaft und der Bedarf, organisatorisches Wissen zu erweitern, sindnoch immer ein wichtiges Thema. Immerhin erfährt das Unternehmen ein konti-nuierliches Wachstum, weswegen eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben die effi-zientere und gut durchdachte Mitarbeiterschulung ist. Bezüglich Mitarbeitermotiva-tion stellen derzeit in erster Linie finanzielle Boni einen Anreiz dar. Es wurde nochkein Motivationssystem für alle Mitarbeiteranforderungen und -profile entworfen.Es gibt zurzeit niemanden, der für die Personalführung zuständig ist. Alle Aktivitä-ten, die in diese Kategorie fallen, werden als Mitarbeiterverwaltung betrachtet undvon zwei Mitarbeitern betreut.

18.5 Der Verkauf

Łukasz Mroczkowski gründete Ende 2004 eine Verkaufsabteilung für den Inlandsver-kauf, als er nach seinem Universitätsabschluss in den Betrieb zurückkehrte. DieHauptaufgabe der Verkaufsabteilung besteht darin, eine Kette von Verkaufsfilialen inMasowien zu verwalten. Łukasz hatte die Idee für dieses Projekt im Jahr 2001, als ernoch Betriebswirtschaft studierte. 2004 waren schon vier dieser Geschäfte eröffnet,die Gründung der Verkaufsabteilung beschleunigte das Wachstum der Verkaufskette.25Verkaufsstellenwaren zuBeginn 2010 eröffnet, und innaherZukunft sollenweiterefolgen. 2005 stellte Łukasz Anna ein, um in der neugegründeten Verkaufsabteilung zuarbeiten und die Entwicklung der Verkaufskette zu unterstützen. Sie entwickelte sichschnell zu einerwertvollenMitarbeiterin. Sie hatte relativwenig Erfahrung imVerkaufund wenigWissen auf dem Fleischsektor, was jedoch durch ihre Offenheit gegenüberneuenHerausforderungen und ihre Bereitschaft, sich so schnell wiemöglich in die In-dustriematerie einzufinden,mehr als kompensiert wurde. Sie wurde Łukasz‘Assisten-tin, und durch die Zusammenarbeitmit ihm lernte sie die Regeln der Branche und sei-nen Führungsstil. Aufgrund ihrer schnell wachsenden Kompetenz, ihrer Kenntnis desMarkts und des Unternehmens ließ Łukasz seinerseits Anna in weiten Bereichen freieHand. Er vertraute ihr immer mehr. Ihre außergewöhnliche Auffassungsgabe für diespezifische Beschaffenheit desGeschäftes und ihr kreativer Beitrag in der Entwicklungund im Aufbau der Kette schätzte er ammeisten. Die beiden rekrutierten kompetenteGeschäftsleiter und Verkäufer für ihre Filialen. Da Anna eine gute Menschenkenntnisbesaß, beriet er sich mit ihr bei der Einstellung von neuen Mitarbeitern. Die ausge-wähltenKandidatenwaren stets die besteWahl, dank Annas hervorragender Kenntnisdes Unternehmens und ihrerUmsichtigkeit.

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Heute umfasst ihr Tätigkeitsfeld die Verwaltung der Filialen, für die sie verant-wortlich ist, sodass diese effizient und effektiv operieren können. Anna ist auch inden Aufbau neuer Filialen involviert. Ende 2009 und Anfang 2010 beispielsweisewar sie verantwortlich für die Eröffnung von drei neuen Filialen, die Auswahl undRekrutierung der Mitarbeiter (Filialleiter und vier bis sechs Verkäufer pro Filiale),die Inneneinrichtung und für die Genehmigungen der entsprechenden Behördendafür (z. B. der Gesundheitsbehörde). Łukasz delegierte die meisten Dienstleister-Kontakte an Anna, angefangen bei den Medienanbietern bis hin zu den Herstellernvon Ladeneinrichtung. Daneben unterstehen alle Filialleiter Anna, sie managt auchdie übrigen Mitarbeiter des Verkaufsteams, welches zurzeit aus zwei weiteren Perso-nen besteht (einer wurde 2007, der andere 2010 eingestellt). Jeder von ihnen ist alsVertreter eingestellt, erhält ein monatliches Gehalt und ist für ungefähr acht Filialenzuständig. Sie überwachen die Markttendenzen. Diese Branche ist ein sehr speziellerMarkt mit vielen Eigenheiten, besonders der Preisbereich ist sehr unbeständig. DieVertreter müssen sehr aufmerksam sein und dürfen die Konkurrenz nicht aus denAugen verlieren. Wie schnell Getmor auf Veränderungen des Markts reagieren kann,hängt zum größten Teil von ihrer Wahrnehmung ab. Anna ist ganz klar die de facto-Leiterin der Verkaufsabteilung und verantwortlich für die Verkaufsfilialen des Unter-nehmens. Es ist jedoch Łukasz, der alle wichtigen Entscheidungen trifft. Er ist derje-nige, zu dem alle kommen, wann immer ein Problem auftaucht, und er ist derjenige,der stets eine Lösung findet. Anna übernimmt ab dem Zeitpunkt, wenn Łukasz ihrseine Entscheidungen mitteilt hat##Satz stimmt nicht##. Das aber kann zeitintensivsein, und die tägliche Betreuung der Verkaufsfilialen nimmt bereits genug Zeit in An-spruch.

18.6 Wichtigste Unternehmensressource: die Verkaufsfilialen

Getmor besitzt eine Kette von Metzgereifachgeschäften, mit der Absicht, weitere Fi-lialen zu eröffnen, und durch ausgezeichneten Kundenservice und einem Angebotan hochqualitativen Produkten jeder Filiale weiteres Wachstum zu garantieren. Ge-tmors Filialen bieten eine komplette Reihe an Schweine-, Rind- und Geflügelfleisch-produkten sowie Wurstwaren an. Das Unternehmen hat seine Produktpalette umBrotwaren (oft direkt in den Filialen gebacken) und Gewürze erweitert, um dem ge-samten Bedarf des Kunden nachkommen zu können. Getmor verkauft seit mehr alseinem Jahr Ökofleisch (eine Produktlinie mit sieben „prämierten“ Produkten besterQualität mit Salz als einzigem Konservierungsmittel) und garantiert, dass dieFleischwaren, die in ihren Verkaufsstellen angeboten werden, von höchster Qualitätsind. Qualitätssicherung hatte bei den Mroczkowskis schon immer höchste Priorität.Um die Qualität von Getmor garantieren zu können, werden nur die besten Mitar-beiter eingestellt, die zu bekommen sind, zudem sind die Anforderungen an die Ver-käufer sehr strikt. Ihnen wird vom ersten Tag an klargemacht, dass sie hochwertigeQualitätsprodukte verkaufen und dass Qualität seinen Preis hat. Das gilt für Verkäu-fer genauso wie für Filialleiter. In der Praxis heißt dies, dass jeder Kunde das Geschäft

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mit dem Gefühl verlassen muss, ein Qualitätsprodukt gekauft zu haben. Die Beleg-schaft jeder Filiale besteht aus einem Filialleiter und vier bis sechs Verkäufern. Fürdie Auswahl und die Rekrutierung verantwortlich ist Anna. Die Vergütung der Mit-arbeiter in den Filialen basiert auf Provisionen. Łukasz selbst besucht die Filialen ge-legentlich; teils um zu kontrollieren, ob alles glatt läuft und seine Erwartungen erfülltwerden, aber vor allem, um seine Mitarbeiter und Kunden persönlich zu treffen. Łu-kasz sagt dazu:

„Wenn ich Zeit habe, besichtige ich die Geschäfte kurz. Es ist schön, persönlich mit den Mitarbeiternzu reden und zu sehen, wie die Ware in den Auslagen präsentiert wird, zu hören, was die Kundenüber unsere Produkte zu sagen haben und mit ihnen zu reden. Oftmals treffe ich die Mitarbeiter,die von Anna eingestellt wurden, persönlich zum ersten Mal während dieser Besuche.“

Laut Łukasz ist das Potenzial des Inlandsmarktes noch nicht völlig ausgeschöpft,wenn man die Qualität der Getmor-Produkte betrachtet. Er denkt darüber nach,die Verkaufskette in Masowien weiter auszubauen und die Inlandsverkäufe zu stei-gern. Das Unternehmen plant, für die nächsten Jahre noch weitere Verkaufsstellenzu eröffnen, was auch eine größere Anzahl von Vertretern bedeuten wird. Geplantist ein Vertreter pro zehn Verkaufsstellen. Aus praktischer Sicht bedeutet das mehrProbleme im täglichen Betriebsablauf der Vertriebsabteilung und der einzelnen Filia-len. Die jetzigen Vertreter haben einen guten Bezug zum Unternehmen und Pro-bleme treten eher selten auf. Nicht die volle Kontrolle über ihre Arbeit zu haben, istein unangenehmes Problem für Łukasz, denn je mehr Vertreter es gibt, umso mehrAufsicht wird benötigt, und das wird den Verkaufsdirektor viel Zeit kosten. Dass die25 Filialen und ungefähr 120 Mitarbeiter genug Kopfzerbrechen bereiten, weiß nie-mand besser als Łukasz. An manchen Tagen kommt es vor, dass er aus jeder einzel-nen der 25 Filialen Anrufe wegen auftretender Probleme bekommt. Obwohl jederweiß, dass Anna für die Filialen zuständig ist, rufen sie Łukasz an. Es scheint schwie-rig zu sein, die Tatsache zu vermitteln, dass Anna jetzt die Ansprechpartnerin fürProbleme im Tagesgeschäft ist. Diese unsichtbare Barriere muss verschwinden, be-vor es mehr Filialen geben kann.

Łukasz hat sich selbst ein Ziel gesetzt, außerhalb der existierenden Verkaufsketteweiter zu expandieren und eine überregionale, landesweite Präsenz zu gründen. Na-hezu alle Produkte werden durch unternehmenseigene Verkaufsfilialen vertrieben.Auf der einen Seite ist Getmor aufgrund der hohen Produktqualität nicht an einerKooperation mit großen Verkaufsketten interessiert, die mehr auf den Preis als aufQualität Wert legen. Andererseits verlangen der Großhandel und die Großhandels-ketten, die am Verkauf von Getmors Qualitätsprodukten interessiert sein könnten,intensive Promotion, aber leider gibt es zurzeit in der Firma niemanden, der für Pro-motion zuständig ist. Abgesehen von einigen vereinzelten Aktionen betreibt das Un-ternehmen keine derartigen Aktivitäten. Auch ist niemand zuständig für die Herstel-lung eines Katalogs, der alle aktuellen Produkte auflistet, oder für die Wartung derWebseite. Łukasz hat nicht genug Zeit, sich um diesen Aspekt des Unternehmens zukümmern, und alle Versuche, diese Dienstleistung auszulagern, sind bisher geschei-tert (laut Łukasz, „weil Website-Designer die Erwartungen des Unternehmens nicht

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erfüllen können, da das Unternehmen selbst nicht weiß, was es will“). Ein weiteresProblem ist es, einen Mitarbeiter des Verkaufsteams zu nominieren, der sich mitden Interessenten befasst und ihre Fragen beantwortet. Łukasz behauptet hartnä-ckig, dass er nicht der richtige Kandidat für den Job sei.

18.7 Eine Herausforderung für Getmors CEO

Die Pläne für Getmors Geschäftsentwicklung und die daraus resultierenden Anforde-rungen haben dem CEO klargemacht, dass die Entscheidung, einen Verkaufsdirektorzu ernennen und die Verantwortung zu delegieren, nicht mehr länger aufgeschobenwerden kann. Die derzeit bestehende Situation mit Anna als inoffizieller Verantwort-licher für die Vertriebsabteilung und die Verkaufsfilialen ist höchst ineffizient. Immerwieder ist Łukasz die Hauptkontaktperson, nicht Anna, wenn Probleme auftauchen.Die Entscheidung, eine professionelle Leitung der Vertriebsabteilung zu ernennen,muss bald getroffen werden, aber die Antwort auf die Frage, wie der richtige Kandi-dat gefunden werden kann, bleibt unklar. Auf den ersten Blick erscheint Anna als dernaheliegendste Kandidat, da sie am längsten für die Vertriebsabteilung gearbeitet hat,mit dem Führungsstil des CEOs vertraut ist, das Unternehmen sehr gut kennt, undihre Intuition, immer wieder die besten Kandidaten für Getmor gefunden zu haben,bestätigt wurde. Auch war sie aktiv und effektiv involviert im Aufbau der Verkaufs-kette. Leider glaubt Łukasz, dass Annas Überlegungen, ein zweites Kind zu bekom-men, mit ihrem Engagement für die Vertriebsabteilung kollidieren werden, sodass erein großes Fragezeichen hinter ihrer Zukunft bei Getmor sieht. Er weiß von früherenBegebenheiten, dass Anna die Arbeit verlässt, wenn ihr Kind sie braucht, und ein wei-teres Kind würde diese Komplikation noch vergrößern. Łukasz weiß, dass ihm sexis-tisches Denken vorgeworfen werden könnte, weil er so urteilt, aber er vermutet, dassjeder Inhaber eines KMU auf dieses Dilemma stößt. Er ist sich auch dessen bewusst,dass er Annas Fähigkeiten im Job aufgrund ihrer professionellen Fähigkeiten, undnicht aufgrund ihres Privatlebens beurteilen sollte. Er ist der Meinung, dass er eineverständnisvolle Person mit einer positiven Einstellung gegenüber seinen Mitmen-schen ist, aber er ist sich nicht sicher, ob er sein Familienunternehmen von Annaskonkurrierenden Ansprüchen als Mutter beeinflussen lassen kann.

Einen externen Kandidaten einzustellen, könnte sich aufgrund von Getmors geo-graphischer Lage als schwierig herausstellen. Das Unternehmen und die Produk-tionsstätte befinden sich in der Nähe kleiner Städte wie Pułtusk oder Ostrołeka, beidesind ungefähr 100 km von Warschau entfernt. Ein weiteres Problem bei der Einstel-lung eines externen Kandidaten ist, dass der erfolgreiche Bewerber sich schnell in dieBesonderheiten des Unternehmens einarbeiten und die „Getmor-Denkweise“ über-nehmen müsste. Dies ist besonders wichtig, da die Getmor-Produkte hohe Qualitätaufweisen, welches sich in höheren Preisen niederschlägt. Das wiederum macht denErwerb neuer Kunden schwieriger, als dies mit Produkten durchschnittlicher Quali-tät der Fall wäre. Der potenzielle Verkaufsdirektor sollte Erfahrung in der fleischver-arbeitenden Industrie und ein fundiertes Wissen des Marktes besitzen. Er oder sie

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sollte auch über das nötige Know-how verfügen, das Getmor im Moment am drin-gendsten braucht. Eine weitere Frage betrifft Annas Reaktion auf einen externen Ver-kaufsdirektor. Wird sie das demotivieren, oder im schlimmsten Fall sogar dazu bewe-gen, das Unternehmen zu verlassen? Łukasz muss sich entscheiden, wie er dieRekrutierung durchführen wird und welche Ressourcen er nutzen will –Headhunter,Zeitungsanzeigen oder eine andere Option?

Der CEO steht zudem vor der Aufgabe, einen effektiven Steuerungs- und Kon-trollmechanismus für den neuen Verkaufsdirektor und die Abteilung zu entwerfenund zu implementieren. Auf der einen Seite sollten diese Maßnahmen dem Direktorein hohes Maß an Autonomie geben, aber auf der anderen Seite sollten sie Łukasz dieSicherheit vermitteln, dass die Abteilung effektiv arbeitet und dass die Resultate mitden Erwartungen der Inhaber übereinstimmen. Das ist ganz besonders wichtig, weildie Entwicklung der Filialen eine von Getmors Hauptinteressen ist. Łukasz denkt,dass ein wichtiger Aspekt des neuen Kontrollmechanismus sein sollte, die Identitätdes Familienunternehmens nicht zu gefährden, und das Geschäft nicht in eine ge-sichtslose Gesellschaft zu verwandeln. Bisher hat er seinen Mitarbeitern viel Freiheitgelassen, aber gleichzeitig hat er sich auch stets vergewissert, dass jedem der Umfangseines Verantwortungsbereichs bekannt ist. Łukasz ist sich bewusst, dass dieser An-satz für das weiter wachsende Unternehmen unzureichend sein könnte, und dass ef-fiziente Steuer- und Kontrollmechanismen notwendig sein werden.

Łukasz hat versucht, die Kommunikation innerhalb des Unternehmens formellerzu gestalten. Aufgrund der Eigenheiten des Markets und der beträchtlichen Preis-schwankungen der Fleischprodukte muss die Unternehmensleitung so schnell wiemöglich informiert sein, wenn das Unternehmen effektiv operieren soll. Die bisheri-gen Lösungsansätze haben sich als ineffektiv herausgestellt, die momentan stattfin-denden Besprechungen der Verkaufsmitarbeiter, die jeden Montag oder jeden zweitenMontag gehalten werden, haben nicht die erwünschten Resultate erzielt. Entwederwerden die Besprechungen abgesagt, da etwas Dringendes vorgefallen war, oder dieMenge an Daten, die die Vertreter gesammelt haben, ist so groß, dass die wichtigstenFakten und Zahlen schwer zu entnehmen sind.

Da es einige Probleme gibt, die wiederholt in verschiedenen Filialen auftreten,muss ein System entworfen und implementiert werden, das der Unterstützung derVerkaufsfilialen dient. Es wäre deshalb sinnvoll, ein Handbuch oder eine Vorgehens-weise zu entwickeln, die es den Filialleitern und den Mitarbeitern der Vertriebsabtei-lung vereinfachen würde, die am häufigsten auftretenden Probleme zu lösen. Dieswürde ihnen auch ermöglichen, anderen Aufgaben mehr Zeit zu widmen. Auch derVerkaufsdirektor würde davon profitieren, da er oder sie sich besser auf die Expansionder Verkaufskette und auf die Suche nach neuen Standorten konzentrieren könnte.

Die Leitung der Vertriebsabteilung offiziell an einen neu ernannten Manager zuübertragen, würde dem CEO sicher mehr Zeit geben, sich um strategische Aufgabenwie z. B. das Unternehmenswachstum und die Festigung des Unternehmens im In-und Auslandsmarkt zu kümmern. Der neue Vertriebsdirektor könnte die effektiveEntwicklung der Verkaufskette garantieren, was für den Unternehmensbetrieb vonentscheidender Bedeutung ist. Łukasz ist sich darüber im Klaren, dass die Fülle antäglichen Pflichten, die seine Position als CEO von zwei Unternehmen mit sich

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bringt, eine effiziente Leitung beider unmöglich macht. So wie bisher weiterzuma-chen, dass Anna und die zwei Vertreter für die Entwicklung der Verkaufskette verant-wortlich sind, wäre nicht sehr effizient, denn die tägliche Leitung der Filialen lässtihnen keine Zeit für die Suche nach neuen Standorten. Auch würde der neue Ver-kaufsdirektor sicherstellen, dass ein System zur Überwachung des Markts implemen-tiert wird, sodass Getmor auf Änderungen des Markts sofort reagieren könnte.

18.8 Schlussfolgerung

Als Łukasz Mroczkowski nach einem weiteren langen Tag im Büro das Licht aus-schaltete, war er davon überzeugt, dass die Ernennung eines Vertriebsdirektors unddas Delegieren seiner Arbeit auf diese Person unumgänglich sind. Er wusste aberauch, dass das keine einfache Aufgabe werden würde. Was ihn bisher davon abgehal-ten hatte, diesen Schritt zu unternehmen, war die Sorge, dass jemand außerhalb derFamilie nicht in der Lage sein würde, den Job zu bewältigen. Er war sich sicher, nichtmehr alles allein schaffen zu können, aber er konnte die psychologische Barriere,einem Fremden diese Aufgaben zu übertragen, noch immer nicht überwinden. DerGrund dafür war, dass er genau wusste, wie schwer die Familie daran gearbeitethatte, das Unternehmen aus dem Nichts aufzubauen. Diese Belastung war gewaltig,seitdem seine Eltern alt und gebrechlich geworden waren und ihm praktisch die Un-ternehmensführung übertragen hatten. Im Moment ist Łukasz der einzige Vertreterder Mroczkowski-Familie, er leitet das Unternehmen selbst und ist für alles verant-wortlich. Dieses Verantwortungsgefühl ist umso größer, da er als der älteste Sohnauch für die jüngeren Geschwister verantwortlich ist. Seine jüngsten Geschwisterstudieren noch, und niemand weiß, ob sie nach Beendigung des Studiums in das Fa-milienunternehmen einsteigen wollen. Soll er in den nächsten Jahren weiter dieganze Verantwortung tragen und auf die spätere Mitarbeit seiner Geschwister hof-fen, oder muss er bald handeln und umstrukturieren?

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19.1 Einleitung

António Ezequiel, Unternehmer und Gründer der Firma Antonio Ezequiel GmbH(AEZ), die sich in erster Linie auf den Vertrieb von Nahrungsmitteln für den HO-RECA-Bereich (Hotel- und Restaurant-Sektor) spezialisiert hatte, war sehr erfreutüber die feierliche Eröffnung der modernen Anlagen seines Unternehmens im In-dustriepark von Tortosendo, Covilhã in Portugal im Jahr 2010. Die Anlagen hatteneine Investition von zwei Millionen Euro erfordert, welche zu 70% aus Eigen- undzu 30% aus Fremdkapital finanziert wurde. Der Industriepark mit seinen breitenStraßen, schön gestalteten Flächen und einer privilegierten Anbindung an die Auto-bahn A23, dem Tor nach Europa, bot eine moderne Infrastruktur und begünstigtedie Ansiedlung anderer Unternehmen. Mit diesem neuen Gebäude hatte AEZ dasProblem der Anbindung und Erreichbarkeit gelöst, das früher bestanden hatte, alsdie Firma in einem umfunktionierten Gebäude einer ehemaligen Textilfirma inmit-ten eines besiedelten Gebietes untergebracht war. Die neuen Anlagen boten bessereLagerungsbedingungen für eine breite Palette an vermarkteten Produkten, einfache-res logistisches Handling und geeignete Räume für alle geschäftlichen und administ-rativen Anforderungen. Das Gebäude verfügte über drei Tiefkühlräume (–18 °C bis25 °C) mit einer Gesamtkapazität von 3.000m3 und einem Kühlraum (0 °C bis 5 °C)mit 600m3.

António Ezequiel war stolz auf seine Leistung, denn er hatte sich einen Traum er-füllt, den er seit Beginn seiner unternehmerischen Tätigkeit hatte. Da seine Firma vonden Problemen, die durch die Wirtschaftskrise ausgelöst wurden, weitgehend ver-schont blieb, konnte er neue Ideen zur Erweiterung der Aktivitäten seines Unterneh-mens in die Tat umsetzen. Dank seiner Hartnäckigkeit, seinem großen Arbeitseinsatzund seinem unternehmerischen Esprit gelang ihm die Umsetzung seiner Unterneh-mensstrategie in einer hart umkämpften Industriebranche, die enormen Umstruktu-rierungen unterworfen war. Seine ausgezeichnete Unternehmensstrategie, die vonnachhaltigen operativen Pfeilern und starker Markenbindung, welche das Unterneh-men repräsentierte, unterstützt wurde, ermöglichte ihm, den effizientesten Weg zusuchen, um seine Produkte auf den Markt zu bringen. António Ezequiel überlegte,den geografischen Wirkungsbereich des Unternehmens auf den Rest des Landes mit-tels Gründung einer neuenTochtergesellschaft und der Eröffnung eines Lebensmittel-Ladens auszuweiten und den Internationalisierungsprozess in Spanien in Gang zubringen.

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282 19 Antonio Ezequiel GmbH (Portugal)

Der Eintritt seines ältesten Sohnes, Nuno Ezequiel, 28, in das Unternehmen voreinigen Jahren hatte ihm zusätzliche Motivation verschafft, um neue Strategien fürseine Firma und deren Expansion zu definieren. Jedoch bemerkte er schnell, dasssein Sohn mit seiner Ausbildung in Management und einem Post-Graduate-Ab-schluss in Marketing unterschiedliche Vorstellungen in Bezug auf die weitere Unter-nehmensentwicklung hatte.

19.2 Gründung und Entwicklung der Firma

Das Unternehmen AEZ hatte seinen Standort in Portugal in der Gemeinde Covilhã;es handelte sich um ein Familienunternehmen, welches zu gleichen Teilen AntónioEzequiel und seiner Ehefrau gehörte. Nach der Gründung im Jahr 1988 (der Ge-schäftsbetrieb wurde im Januar 1989 aufgenommen) begann António mit einemTeam von fünf Mitarbeitern und arbeitete vorübergehend in der Garage seines Hau-ses. Bereits in früher Jugend zeigte António einen starken Willen, etwas Eigenes auf-zubauen. Seine Risikobereitschaft, seine Selbstdisziplin und der Wunsch, Wohl-stand zu schaffen, wurden bereits zuvor in einem anderen Familienbetrieb, den ermit seinen vier Brüdern gegründet hatte, erprobt. Im Jahr 1978 begann er seine un-ternehmerische Tätigkeit im Bereich des Lebensmittelgroßhandels. Diese frühereTätigkeit ermöglichte der Familie, das notwendige Kapital für neue Projekte aufzu-bringen. Damals hatte das Land gerade erst die Diktatur von Salazar überstandenund genoss neue, veränderte wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die nach mehrProduktvielfalt verlangten. Dies ebnete den Weg für neue Vertriebsgesellschaften imZentrum des Landes, das bis zu dieser Zeit vertriebstechnisch kaum erschlossenwar.

Die Mission von AEZ war es, seinen Kunden hochwertige Produkte bekannterMarken zu möglichst geringen Kosten und exzellentem Service anzubieten, und da-bei die Lebensmittelqualität und -sicherheit zu gewährleisten. Angesichts der hohenInvestitionen, welche für den Aufbau des Unternehmens nötig waren, war es Antó-nios Absicht, die Marktperformance von AEZ auszuweiten und eine wachsendeZahl von Kunden zu versorgen. Im Wesentlichen handelte AEZ mit Nahrungsmit-teln mit Konzentration auf das B2B-Marktsegment, und insbesondere auf den HO-RECA-Vertriebskanal. Das Unternehmen vertrieb ein breites Sortiment an Waren(etwa 2.000 verschiedene Produkte), die in folgende Produktkategorien zusammen-gefasst wurden:· Kaffee· Pralinen und Schokolade· Tiefkühlkost (vorgekochtes Fertigessen und Desserts)· Gefrorenes (Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte)· Trockenwaren (Öl, Margarine, Zucker, Teigwaren, Reis, Desserts, Kekse)· Gebäck und tiefgekühlte Bäckereiprodukte· Eiscreme· Weinkeller (Wein, Likör, Spirituosen, Whiskey und alkoholfreie Getränke)

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· Kühlware (Milchprodukte und Delikatessen)· Gourmetprodukte (Wein und regionale Produkte)

Seit der Gründung hatte AEZ immer ein positives Wachstum verzeichnet. 1991 über-siedelte die Firma in das Gebäude eines ehemaligen Textilunternehmens. In diesenEinrichtungen erzielte die Firma ihr größtes Wachstum, das folgenden Gründen zu-geschrieben wurde: der steigenden Anzahl verkaufter Produkte, der Ausdehnung aufneue geographische Gebiete und der Erhöhung der Kundenzahl. Innovation wurdein der Firma stets groß geschrieben. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, er-richtete man ein Ladenlokal auf dem firmeneigenen Grundstück, damit die Kundendie Produktpalette sehen und direkt vor Ort in einem Cash-and-carry-Markt erwer-ben konnten.

Tab. 1: Stationen der Unternehmensentwicklung von AEZ

Jahr Beschreibung Tätigkeiten

1989 Gründung von AEZ Branche: Vertrieb von Lebensmittel imGroßhandel

1991 Umzug und Übernahme einer Firma,die in Konkurs gegangen war

Ziel: Ausweitung des Betätigungsfeldesder Firma

1992 Eröffnung eines Geschäftes für denHORECA – Vertriebskanal

Eröffnung eines Geschäftes zur Pro-duktausstellung für den HORECA-Vertriebskanal und Direktverkauf anKunden in diesem Cash-and-carry-Markt

1992 Gründung von ADISCOACE Grün-dungspartner zusammen mit 14 ande-ren Firmen

Verkaufszentrum für den Impulskaufvon Backwaren und Konditorei-produkten

1999 Gründung von DIHOR ACEGründungspartner zusammen mit7 anderen Firmen

Verkaufszentrum von Eigenmarken fürden HORECA-Vertriebskanal

1999 Unternehmensgründung vonEstrelalimentar

Vertrieb von regionalen Produkten:Weine, Käse, Delikatessen und eine neueKaffee Handelsmarke

2002 Gründung der Immobilienfirma LITOPREDIAL, SA

Kauf, Verkauf und Vermietung vonImmobilien

2006 Gründungspartner von ADISCOComercial GmbH

ausgerichtet auf den Import und Exportvon Backwaren und Konditorei-produkten

2007 Gründung von KAVA Confeitaria eVenda automática GmbH

Einzelhandelsverkauf und Cafeterias

2009 Gründung einer Tochtergesellschaft vonAEZ in Coimbra

Erkundung neuer Möglichkeiten undMarkterweiterung

2010 Einweihung neuer Anlagen der AEZGmbH

Verbesserung der Lagerbedingungen dervermarkten Produkte, vereinfachte Ab-wicklung der Logistik

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BeständigesWachstum stand für das Unternehmen stets an erster Stelle, somit weitetesich das Unternehmen im Laufe der Zeit auf andere Unternehmen und Märkte aus.Im Jahr 1999 gründete António die Firma „Estrelalimentar“ für den Vertrieb von re-gionalen Produkten wie Wein, Käse, Delikatessen und einer neuen Kaffeemarke. Est-relalimentar vertrat namhafte Marken, die für Zuverlässigkeit und Qualität standen.Dies fungierte als wesentlicher Aspekt der Differenzierung und Marktdurchdrin-gungsstrategie. Mit der Absicht, das Unternehmenweiter zu diversifizieren, gründeteer im Jahr 2002 eine Immobilienfirma. Im Jahr 2007 gründete Antóniomit der FirmaKAVA ein Unternehmen für den Einzel- und Automatenverkauf und Cafeterias. ZweiJahre später gründete er in Coimbra die AEZ-Tochtergesellschaft, um neueMärkte zuerschließen. António erkannte zwar die großeHerausforderung, die die neue Tochter-gesellschaft für die Entwicklung des Unternehmens darstellte, er zeigte sich jedochüber deren Erfolg zuversichtlich. Er nahm den gesteigerten Wettbewerb an diesemOrt zur Kenntnis, rechnete jedoch auch mit einem höheren Verbrauch in der Region,zumal sich dort ein Absatzmarkt mit 800.000 Einwohnern erschloss. Da sämtlicheVerkaufsgeschäfte fortan online getätigt werden würden, hoffte António, die Bedürf-nisse seiner Kunden in einem schnelleren und effektiveren Ausmaß decken zu kön-nen. Dafür engagierte er ein Team von sieben Mitarbeitern, die mit demHauptunter-nehmen per Internet verbunden waren. Neben diesen Entwicklungen war Antónioauch für die Gründung von zwei Partnerschaften innerhalb der Branche verantwort-lich. Der Unternehmer erklärte:

„Um Mengenvorteile und Verhandlungsmacht gegenüber Lieferanten zu erreichen, entwickelte dasUnternehmen verschiedene Partnerschaften. Im Jahre 1992 wurde mit 14 anderen Unternehmendes Lebensmittelvertriebs ADISCO ACE gegründet. Im Jahr 1999, zusammen mit sieben anderenVertriebsgesellschaften, gründeten wir DIHOR ACE für den Vertrieb von eigenen Marken. Durchdiese Partnerschaften brachte AEZ die notwendigen Voraussetzungen mit, um mit großen Verbän-den nationaler und internationaler Vertriebsfirmen, die in Portugal entstanden, konkurrieren zukönnen. Mit dieser Strategie und Zukunftsvision war es möglich, die Schwierigkeiten des Markteserfolgreich zu überwinden.“

In der Aufbauphase des Unternehmens begann António allmählich, seine zwei Kin-der in das Familienunternehmen einzubeziehen und sogar das Unternehmenskapitalunter ihnen aufzuteilen. Im Laufe der Zeit erklärte er seinen Sohn Nuno zum ge-schäftsführenden Vorstandsmitglied von Estrelalimentar und ließ ihn eigenständigdiesen Bereich des Unternehmens entwickeln.

19.3 Bestehende und potenzielle Rolle von Nuno

Als das Unternehmen expandierte, hatte Antonio immer noch die Schlüsselrolle beiallen notwendigen Entscheidungen inne. Die Organisationsstruktur der Gruppe, be-stehend aus vier Ebenen, basierte auf einer funktionalen Struktur mit zentralisierterEntscheidungsmacht – alle wichtigen Entscheidungen wurden an der Spitze getrof-fen. AEZ bestand aus 39 Mitarbeitern (Verkäufe an den HORECA-Vertriebskanal),

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das Unternehmen seines Sohnes – Estrelalimentar – beschäftigte zwölf Mitarbeiter(Verkäufe an Endverbraucher).

Bereits seit langer Zeit wurde Antonios Sohn Nuno als der künftige Nachfolgerfür die Führungsposition des Unternehmens gehandelt, da sein Eintritt in das Fami-lienunternehmen stark von seinem Vater unterstützt wurde. Antonio sah darin nichtnur die Möglichkeit, die Pflichten aufzuteilen, sondern auch die Bedeutung und denWert für die zukünftige Entwicklung des Unternehmens, zumal Nuno neue Ideenund Wissen beitragen konnte. In der Tat war Nunos akademische Ausbildung mitSchwerpunkt in Unternehmensführung und Management für das Familienunter-nehmen ein wichtiger Beitrag zur strategischen Zukunft des Unternehmens. Ange-regt durch Nuno konzentrierte sich das Unternehmen auf die Entwicklung von na-tionalen und internationalen Partnerschaften in wichtigen Bereichen der Wirtschaft.Hinsichtlich der Zukunft des Unternehmens gingen die Meinungen des Vaters unddes Sohnes manchmal auseinander. Laut Nuno musste das Unternehmen auch wei-terhin wachsen, und zwar einerseits durch Markterweiterung, Einführung neuerProdukte, Erhöhung der Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen, um organisa-torische Synergien zu erzielen, andererseits durch die Erhöhung der Handelsmargendurch Massenproduktion. Darüber hinaus glaubte Nuno, dass das Unternehmen innaher Zukunft einen Fusionsprozess vornehmen sollte. Dies würde dem Unterneh-men ermöglichen, mehr Marktbereiche zu erobern und neue, anspruchsvollereMärkte erreichen zu können. Allerdings nahm die strategische Entscheidung sehrviel Zeit in Anspruch, da strategische Entscheidungen prinzipiell immer vom Grün-der genehmigt werden mussten. Nuno argumentierte: „Wenn die endgültige Ent-scheidung an mir liegen würde, hätte das Unternehmen längst neue Märkte erschlos-sen“. Allerdings verstand der Sohn des Firmengründers die Notwendigkeit fürgemeinsame Entscheidungen, geteilte Macht und Verantwortung und ihm war auchklar, dass all dies Teil des Evolutionsprozesses des Unternehmens für die Familie war.Nuno war aber fest davon überzeugt, dass er durch sein Wissen und seine akademi-sche Ausbildung in Management ein exzellenter Entscheidungsträger für die Mög-lichkeiten und Herausforderungen der Branche war.

Abb. 1: Organisationsstruktur

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Antonio aber war anderer Meinung, und obwohl er die Möglichkeiten und dieChance der Erschließung neuer Märkte erkannte, war er der Ansicht, dass die Exis-tenz kultureller Unterschiede in neuen Märkten ein großes Hindernis für die inter-nationale Expansion wäre. In Bezug auf die Machtverteilung von Kompetenzen zwi-schen ihm und seinem Sohn verteidigte Antonio seine langsame, aber nachhaltigeWachstumsstrategie und erklärte, dass die in der Vergangenheit verfolgte Strategiedem Unternehmen zu großem regionalen Erfolg verholfen hatte. Antonio war zuver-sichtlich, dass diese Meinungsverschiedenheit nicht in einen Generationskonflikt in-nerhalb des Familienunternehmens münden würde, nichtsdestotrotz war er besorgt.Mittlerweile sollte sein jüngstes Kind, Joana Ezequiel, ihr BWL-Studium Ende desJahres abschließen. Joana begann, im finanziellen Bereich des Unternehmens zu ar-beiten. Antonio hoffte, dass sie in der Zukunft die erforderlichen Fähigkeiten entwi-ckeln würde, um die Verantwortung für den finanziellen Bereich innerhalb des Un-ternehmens vollständig zu übernehmen, in dem zu jenem Zeitpunkt noch AntoniosFrau tätig war. Allerdings waren seine beiden Kinder sehr unterschiedliche Persön-lichkeiten und er fragte sich, wie gut Nuno und Joana zusammen im selben Fami-lienunternehmen arbeiten würden.

19.4 Produktstrategie

Da dieMehrzahl der Produkte, mit denen das Unternehmen operierte, gefrorene undgekühlteWaren umfasste, hatte AEZ eine große Kapazität für die Kühllagerung, ange-passt an die Bedürfnisse verschiedenster Produkte. Das gesamte Produktsortimenterforderte eine strenge Kontrolle der Bestände, somit war alles computergesteuert.Ein Softwareprogramm ermöglichte die laufende Bestimmung des Lagerbestandes.Dies war auch insofern wichtig, als die Kunden bereits zum Zeitpunkt der Bestellungerwarteten, dass das Unternehmen innerhalb von 24 Stunden liefern würde. DieFirma führte im Produktsortiment mehrere renommierte Marken von nationalenund multinationalen Unternehmen, die in AEZs Fähigkeit, daraus einen Wettbe-werbsvorteil gegenüber Mitbewerbern zu erzielen, vertrauten. Im Hinblick auf dieWettbewerbssituation in der Region hatte eine von AEZs repräsentierten Marken fürTiefkühlprodukte die Rolle des Marktführers übernommen.

Um die Qualitätssicherung zusätzlich zu erhöhen, bemühte sich AEZ sehr umamtliche Bescheinigungen für seine Leistungen. AEZ erhielt im Jahr 2006 eine dop-pelte Zertifizierung, die Qualitäts-Zertifizierung ISO 9001 und die Lebensmittelsi-cherheits-Zertifizierung nach ISO 22.000. AEZwar das erste KMU der Zentralregiondes Landes, das diese doppelte Zertifizierung erlangte. Angesichts der Bekanntheitund des Images der verkauften Produkte und Dienstleistungen des Unternehmenswurde AEZ von vielen Kunden, trotz der hohen Preise, aufgrund der gebotenen Qua-lität und des Service bevorzugt. Um auf die großen Handelsunternehmen, die direktan den Endverbraucher verkaufen, zu reagieren, hatte AEZ – in enger Zusammenar-beit mit anderen KMU für Nahrungsmittel – im Jahre 1999 ein Spezial-Verkaufs-zentrum gegründet, in dem eine breite Palette an Produkten unter der Eigenmarke

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DIHOR angeboten wurden. Dies ermöglichte eine Erhöhung der Wirtschaftlichkeitaufgrund von Massenproduktion mit niedrigeren Preisen. Die DIHOR-Eigenmar-ken waren für rund 10% des Umsatzes von AEZ verantwortlich.

Die Produkte von AEZ wurden auf verschiedene Weise beworben. Die von AEZverkauften Produkte nationaler und internationaler Firmen wurden teils von diesenselbst promotet. Je nach Produkt gab es auch direkte Promotion-Maßnahmen, diegemeinsam durchgeführt wurden. Da die Haupttätigkeit des Unternehmens der Ver-trieb an Einzelhändler war, stellte das Team von AEZ, bestehend aus 18 Verkäufern,das wichtigste Verkaufsförderungsinstrument dar. Die Verkäufer statteten ihrenKunden zahlreiche Besuche ab, sei es vierzehntägig, wöchentlich oder sogar täglich,oder kontaktieren sie telefonisch. Zu den wichtigsten Elementen für den wirtschaft-lichen Erfolg und die Qualitätssicherung hinsichtlich Kundenbetreuung zählten dieStärke der Marken, die die Verkäufer vertraten, und deren Know-how, erworbendurch die langjährige Erfahrung in diesem Bereich. Dank neuer Kommunikations-und Informationstechnologien konnten Bestellungen online vorgenommen undsehr schnell bearbeitet werden. Das Unternehmen arbeitete eng mit den Marken,die sie vertrat, zusammen, organisierte Werbekampagnen und pflegte den Kontaktmit Kunden mittels Broschüren (Versand per Post und Internet). Zusätzlich betriebman aktive Verkaufsförderung durch die Anwesenheit auf Fachmessen in Portugalund Spanien. Da das Unternehmen in naher Zukunft mit der Herausforderung einerInternationalisierungsstrategie konfrontiert sein würde, wurden die Investitionen inSpanien mithilfe nachhaltiger verkaufsfördernden Aktivitäten verstärkt.

19.5 Personalstrategie

In den vergangenen Jahren hatte das Unternehmen eine Strategie für die kontinuier-liche Verbesserung der Geschäftsprozesse auf organisatorischer Ebene, einschließ-lich der Festlegung von Maßnahmen, definiert:1. Umstellung der Services auf Computer, einschließlich Business-Dienstleistungen

und Vertrieb.2. Netzwerk-Management innerhalb des Unternehmens und zwischen Unterneh-

men innerhalb der Gruppe, die Verbesserung der internen Kommunikation unddie Festlegung einer Politik der „offenen Tür“, damit alle Mitarbeiter offen disku-tieren und Vorschläge für Verbesserungsmaßnahmen einbringen konnten, undZugang zu Informationen, die sie für die Erbringung guter Leistungen benötig-ten, erhielten.

Diese Strategie wurde in eine äußerst funktionelle Struktur umgewandelt, in der dieInformationen ungehindert flossen, um dem Top-Management den Zugriff auf we-sentliche Informationen zur Entscheidungsfindung zu ermöglichen. AEZ gab dermenschlichen Arbeitskraft den ihr gebührenden Platz, indem in die Ausbildung derMitarbeiter investiert wurde. Man betrachtete diesen Schritt als eine wesentliche In-vestition für das Wachstum des Unternehmens, aber auch, um in der Lage sein zu

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können, Marktentwicklungen zu leiten und/oder zu verändern. Demzufolge erwiessich die Qualität und die Professionalität der Mitarbeiter als Wettbewerbsvorteil. Zu-sätzlich verfolgte AEZ stets aufmerksam die Entwicklung und das Wachstum desMarktes und versuchte, die besten Fachleute aus verschiedenen Bereichen für sichzu gewinnen, um sich so schnell und effektiv wie möglich den Herausforderungen,die das Unternehmen betrafen, zu stellen. Effektive Personalsuche galt daher alsSchlüsselinstrument für Wachstum einerseits und zur Stärkung der Organisationund ihrer unterschiedlichen funktionalen Bereiche andererseits. Im Bezug auf dieAnzahl der Mitarbeiter war AEZ stetig gewachsen und hatte bis 2009 insgesamt 51Mitarbeiter (inklusive Estrelalimentar).

Die Wachstumsstrategie des Unternehmens würde auch ein Wachstum der Hu-manressourcen-Struktur bedingen, insbesondere in Vertrieb, Logistik und an denVertriebsstandorten.

19.6 Lebensmittelqualität und -sicherheit

Die Qualität war ein wichtiges Ziel von AEZ, das es zu erreichen galt, um vollständigeKundenzufriedenheit anzustreben. Deshalb kaufte die Firma Produkte von bekann-tenMarken amMarkt ein, und garantierte somit die Einhaltung der grundlegendstenAnforderungen zur Lebensmittelsicherheit durch die Erzeuger. Den gesamten Ver-triebsprozess hindurch, von der Bestellung bis zur Lieferung an den Kunden, garan-tierte das Unternehmen die Erhaltung der Produktqualität mittels geeigneter Bedin-gungen für die ordnungsgemäße Lagerung und Verpackung. Zu diesem Zweckverfügte AEZ über ein ausgeklügeltes System zur Überwachung der Temperaturen,die von einem Team der Lebensmittelsicherheit beaufsichtigt wurden. Die Lkw wur-den mit digitalen Thermografen ausgestattet, um die Eintragung und die ständigeÜberwachung der Temperaturen zu garantieren. Dadurch war es möglich, die Pro-dukte bei drei verschiedenen Temperaturen zu transportieren. Die Zertifizierungvon Managementsystemen und dem Qualitätsmanagement-System von Lebensmit-

Abb. 2: Entwicklung der Mitarbeiterzahlen

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telsicherheitsnormen ISO 9001 und ISO 22.000 diente als Maßstab der strategischenBelange des Unternehmens imHinblick auf Qualität und Lebensmittelsicherheit. DieQualitätsabteilung hatte sich zum Ziel gesetzt, dem Kunden ein sicheres Produktdurch Rückverfolgbarkeit, rasche Beantwortung auf Abweichungen, Temperaturkon-trollen, Informationsblättern und Kontrollmethoden anzubieten. Zu denwichtigstenPrioritäten von AEZ zählte die durch den Vertrieb ermöglichte schnelle und sichereLieferung der Güter.

AEZs Kriterien für die Auswahl seiner Lieferanten waren streng und äußerst se-lektiv, da diese eine Reihe von festgelegten Bedingungen erfüllen mussten, um dieQualität des Produktes während der Produktion, Verteilung und Abwicklung zu ga-rantieren. Als eines der wertvollsten Zertifikate ermöglichten die Hygiene-Richtli-nien (HACCP) die Rückverfolgbarkeit des Produktes von der Produktion bis zurAuslieferung. Da sich die Produktpalette auf den Wiederverkaufs-Sektor konzent-rierte, war AEZ darauf angewiesen, dass seine Lieferanten täglich nur die besten Pro-dukte zum besten Preis und zu garantierter Qualität anboten.

19.7 Kunden und Märkte

Da das Unternehmen dem Sektor des Nahrungsmittelvertriebs angehörte, war dieVertriebsstrategie für den Erfolg des Unternehmens offensichtlich entscheidend.Das Unternehmen hatte einen Fuhrpark von 38 Fahrzeugen, davon waren zehn mitinnovativen Kühlsystemen ausgestattet, die den Transport von Tiefkühlproduktenzu drei verschiedenen Temperaturen ermöglichten. Geographisch deckte das Unter-nehmen mit der permanenten Präsenz von 18 Außendienstmitarbeitern das gesamteLandesinnere ab. Alle waren mit der Firma via Laptops mit Internetanschluss ver-bunden. Der Verkaufsterminal schickte den Auftrag zum Server des Unternehmensund registrierte sofort die Anfrage und den Kunden, informierte den Kunden überdie Annahme der Bestellung und fuhr mit der Ausstellung des Lieferscheins und derRechnung fort. Sobald die Bestellung bestätigt wurde, stellte AEZ die Produkte in-nerhalb von 24 Stunden zu. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeiteten die Lagerarbeiterdes Unternehmens in täglichen Schichten von 08:00 bis 24:00 Uhr. Dies war einwichtiger Vorteil gegenüber den Mitbewerbern. Die wöchentlichen Meetings mitder gesamten Vertriebsmannschaft dienten zur fortdauernden Evaluierung desMarktes, der Einholung von Feedbacks und der Überprüfung der Arbeit. Im vergan-genen Jahrzehnt hatte AEZ eine deutliche Umsatzsteigerung erzielt (siehe Abb. 3),die auf eine starke Marktpräsenz auf seinem Gebiet zurückzuführen war.

Die geografische Expansion des Unternehmens wurde von AEZ angestrebt, umdie Anforderungen des Marktes zu erfüllen. Der Standort des Unternehmens befandsich in einer portugiesischen Region mit niedriger Bevölkerungsdichte und Wachs-tumsrückgang (die Bezirke Guarda und Castelo Branco). Dieser Umstand reduziertetatsächlich die lokalen Wachstumsmöglichkeiten des Unternehmens und begüns-tigte daher in der ersten Phase die Expansion auf angrenzende Regionen (BezirkeAveiro, Coimbra, Leiria und Santarém), die eine relativ hohe Bevölkerungsdichte

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290 19 Antonio Ezequiel GmbH (Portugal)

aufwiesen. In der Folge erweiterte das Unternehmen neben der bis dato bestehendenEinflusszone von 250.000 Menschen seine Tätigkeit auf ein weiteres Gebiet, CentroNUTII, mit 1,5 Millionen Einwohnern. Der nächsten Phase gingen Verhandlungenmit verschiedenen Marken in Bezug auf Exklusivität voraus, mit dem Ziel, in diesenneuen Bereichen tätig werden zu können. Als Fazit waren hervorragende Leistungenim Bezug auf Markt-und Kundenwachstum zu verbuchen.

Die nächste Phase bezog sich auf die Ausdehnung auf internationale Märkte, wo-bei der Einstig in den spanischenMarkt als die naheliegendste Option gesehenwurde.Grundsätzlich lagen die Schwierigkeiten bei der Vorgehensweise am spanischenMarkt an den Unternehmerverträgen bei der Mehrzahl der Produkte. Im Vertragwurde AEZ exklusiv das Recht auf seine angegebenen geografischen Bereiche in Por-tugal eingeräumt, diese Exklusivität implizierte aber nicht dieMöglichkeit der Expan-sion auf ein anderes Land. Diese Situation hatte zur Folge, dass der Eintritt in den spa-nischen Markt nur durch eine Partnerschaft mit verschiedenen portugiesischenUnternehmen als realisierbar eingeschätzt wurde. Weiterhin sollten portugiesischeMarken für gefrorene Desserts und salziges Knabbergebäck geschaffen werden, diebereits einen Verkaufsvorteil am spanischen Markt erzielten. Diese strategische Ent-scheidung des Unternehmens, in einem geographisch benachbarten internationalenMarkt tätig zu werden, spiegelt die übliche Entwicklung eines KMU in einer Grenzre-gion wieder, die versucht, in den ersten Phasen der Internationalisierung jeneMärktezu bevorzugen, die hinsichtlich des Konsummusters und der Käuferkultur hohe Ähn-lichkeiten aufweisen. Auf der anderen Seite wusste der Unternehmer um die Schwie-rigkeit, auf dem spanischen Markt Fuß zu fassen, vor allem aufgrund der „patrioti-schen“Kultur der Menschen und ihrer Vorliebe für Produkte heimischer Herkunft.

Die Ausweitung auf andere Märkte innerhalb des globalen Marktes war zweifelloseines der wichtigsten Ziele im strategischen Plan des Unternehmens. Angesichtshoher Investitionen im Bereich der Infrastruktur und Organisation war das Unter-nehmen auf seine Erweiterung der Marktleistung ausgerichtet, um eine wachsendeZahl an Kunden zu versorgen. AEZ zielte darauf ab, demMarkt diversifiziert qualita-tiv hochwertige Produkte und Service anzubieten, um:

Abb. 3: Verkaufszuwächse

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João Ferreira, Mário Raposo & Christian Serarols 291

· die Bedürfnisse und Erwartungen der Kunden durch eine starke Beziehung zuihnen, Termintreue, Qualität der Produkte und Service zu verstehen und zu er-füllen;

· die Prozesse zu optimieren;· die Anforderungen, insbesondere an Aktivitäten oder Transaktionen, die die Le-

bensmittelsicherheit beeinflussen, zu erfüllen;· die Voraussetzungen für die anhaltende Motivation und Engagement aller Mitar-

beiter zu schaffen;· unnötige Kosten zu vermeiden;· die notwendige finanzielle Stabilität zu gewährleisten und die nötige Infrastruk-

tur für die Entwicklung und den Fortschritt des Unternehmens zu bieten;· die Qualität und Lebensmittelsicherheit als Schlüsselfaktor für die Wettbewerbs-

fähigkeit und Profitabilität zu verstehen;

Antonio wusste, dass jedes Land seine eigenen Vorschriften zur Lebensmittelsicher-heit und Hygiene hatte, an die es sich anzupassen galt. Das unterschiedliche Kaufver-halten und die verschiedenen Landessprachen würden Änderungen an der Verpa-ckung nötig machen. Er fragte sich, ob es besser wäre, lediglich in Portugal zuexpandieren, da seine frühen Erfahrungen auf dem spanischen Markt ihn nicht ge-rade mit Zuversicht erfüllt hatten.

19.8 Konkurrenz

Der Vertriebssektor des Lebensmitteleinzelhandels galt als hoch kompetitiver Sektorin Portugal. In den vergangenen 20 Jahren verzeichnete man einen drastischen Rück-gang bei den Einzelhandelsgeschäften aufgrund der Entstehung großer Supermärkte.Diese hatten sich auf das ganze Land ausgedehnt und die Verdrängung kleiner Ver-triebe und des Einzelhandels zur Folge. Dieser Trend hatte großen Einfluss auf AEZ,da man vieler der eigenen Kunden verschwinden sah, aber auch viele Großhandels-und Verteilungsunternehmen, die ehemalige Konkurrenten waren. Trotz dieser Si-tuation hatte AEZ immer ein positives Wachstum bei Umsatz, Gewinn und Mitar-beiteranzahl vorgelegt. Im Vergleich zu 2008 hatte das Unternehmen im Jahr 2009seinen Umsatz um 8% erhöht; ein bemerkenswertes Ergebnis in einem Jahr der star-ken wirtschaftlichen Rezession. Im HORECA-Vertriebskanal hielt AEZ 25% desMarktanteils in der Region Beira Interior. Von den rund 300.000 Unternehmen imLand waren rund 99,5% KMU, und zwei Drittel davon präsentieren im selben Jahrnegative Ergebnisse. Tatsächlich wurde AEZ von IAPMEI (Institut für die Unterstüt-zung kleiner und mittlerer Unternehmen und Innovation) 2008 und 2009 als einesder führenden KMU betrachtet.

In seinem Bereich hatte AEZ einige Konkurrenten, drei davon mit größerenMarktanteilen. Im Gegensatz zu den 2.000 Produkten von AEZ operierten diese Un-ternehmen mit rund 7.000 verschiedenen Produkten amMarkt. Laut Antonio führtedies zwar zu einem größeren Marktanteil für diese Unternehmen, jedoch zu geringe-

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292 19 Antonio Ezequiel GmbH (Portugal)

rer Rentabilität aufgrund der höheren Kosten, die sie hatten, um ihre größere Anzahlan Artikeln zu verwalten. Antonio erwartete, dass sowohl ein neues innovatives Kon-zept als auch seine Bemühungen in Bezug auf renommierte Produkte einen entschei-denden Wettbewerbsvorteil für AEZ gegenüber seinen Wettbewerbern bringenwürde.

19.9 Herausforderungen für die Zukunft

Als Antonio den Erfolg seines Unternehmens überprüfte, glaubte er, dass folgendeGründe für den Erfolg seines Unternehmens entscheidend waren:· Fähigkeit zur Ermittlung des Bedarfs und Markttrends;· Breites Produktportfolio zur Befriedigung der Kundenbedürfnisse;· Vorzügliche Leistung und qualitativ hochwertiger Service: „Der Kunde ist

König!“;· Fokus auf Kundenbeziehungsmanagement (CRM);· Innovation im Vertrieb: neue Methoden und Konzepte;· Grundsatz der Partnerschaftlichkeit mit Lieferanten und Kunden;· Vertrieb der führenden Marken in Portugal;· Starkes Engagement für die Ausbildung von menschlicher Arbeitskraft;· Voller Einsatz des Unternehmers.

Das Unternehmen beabsichtigte, seine Tätigkeiten nicht nur in Portugal, sondernauch nach Spanien durch Schaffung von strategischen Partnerschaften auszuweiten.Das Unternehmen würde später in diesem Jahr ein Gourmetgeschäft mit Direktver-kauf eröffnen. Dabei lag das Interesse auf der Verbreitung von regionalen Produkten,wie Käse, Weine, Delikatessen, Süßwaren und Früchten. Mit der großen Auswahl anauthentischen traditionellen Produkten hoffte António, viele interessierte Touristenin das Geschäft zu locken. Er wollte auch eine Website erstellen, die im Verkauf vonProdukten mit regionalen Gourmet-Lieferungen landesweit spezialisiert war.

Ein weiteres starkes Engagement war die Gründung und Entwicklung der eigenenMarke, QUIEL, mit dem Ziel, den HORECA-Vertriebskanal mit neuen Produktli-nien wie Tiefkühlkost, Fertigwaren (Kroketten, Pasteten, Kabeljau etc.) und Snackszu versorgen. Dies ermöglichte AEZ, höhere Handelsspannen zu erzielen und Ab-hängigkeiten zu verringern. Die gesamte Produktion würde ausgelagert und genauüberwacht werden. António plante ebenfalls die Eröffnung eines zweiten Geschäftesfür Anfang 2011 in der Innenstadt von Lissabon. Diese strategische Entscheidungzielte auf die Nutzung des Marktes mit der größten Kaufkraft in Portugal ab. LautAntonio sollte sich AEZ auf folgende Bereiche konzentrieren: Verkauf an den End-verbraucher, Erhöhung der kommerziellen Margen, Erhalt von prompter Bezah-lung, Erweiterung des Kundenstammes, Verbesserung des Ansehens der Produktedes Unternehmens, Ausweitung des guten Images des Unternehmens bis zum End-verbraucher. Er erkannte auch, dass AEZ einige negative Aspekte seines Geschäftesbeheben musste, darunter: großer Bedarf an kommerziellen Mehraufwand, Bedarf

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João Ferreira, Mário Raposo & Christian Serarols 293

an erhöhter organisatorischer Effizienz, Bedarf an Ausbildung von Fachpersonal,Auseinandersetzung mit starker Konkurrenz im Einzelhandel. Allerdings hatteNuno unterschiedliche Ideen und er glaubte immer noch, dass die internationale Ex-pansion langfristig gesehen die effektivste Strategie wäre. Nuno formulierte zwarLangzeitstrategien für 20 Jahre, ignorierte jedoch weitgehend die nahe Zukunft. Erglaubte, dass das Nichteintreten in den Markt jenseits der Iberischen Halbinsel imJahr 2011 lediglich die Aktionen, die in Zukunft sowieso unausweichlich sein wür-den, verzögerten. Antonio und Nuno waren sich nicht sicher, ob ihre Differenzendem üblichen Generationskonflikt in Familienunternehmen oder den unterschied-lichen geschäftlichen Ansichten zuzuschreiben waren.

19.10 Danksagung

Die Forschung wurde unterstützt von Programa de Financiamento Plurianual dasUnidades de I& D und von der Science and Tecnology Foundation (FCT).

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20Beck Hallestrøm (Schweden)

Jennifer Manning & Thomas Cooney

20.1 Einleitung

Beck Hallestrøm saß auf dem einzigen Stuhl in seinem bescheidenen Apartment,lehnte sich an den Tisch und blickte auf die Straßen von Stockholm. Es war AnfangJanuar 2011, und er hatte einen Neujahrsentschluss gefasst, den er wirklich einhaltenwollte. Er wollte nicht einen weiteren Winter alleine, mittellos und verzweifelt ver-bringen:

„Ich war immer alleine: Ich hatte niemals irgendeine emotionale, moralische oder finanzielle Unter-stützung. Aber nun fangen die Dinge endlich an, sich zu ändern, weil ich realisierte, dass ich meinLeben ändern will. Es liegt an mir, das zu tun.“

Acht Monate zuvor war Beck Hallestrøm aus dem Gefängnis entlassen worden. ImAlter von 39 Jahren hatte er mehr Zeit im Gefängnis verbracht, als dass er ein freierMann gewesen war. Mit 18 Jahren trat er eine Freiheitsstrafe von 20 Jahren wegenTotschlags an. Nach seiner Entlassung hatte Beck einen Kurs über Existenzgründun-gen besucht und er war im Begriff, sich selbständig zu machen. Als erfahrener undausgebildeter Handwerker hatte Beck erkannt, dass die Gründung einer eigenenFirma der einzige Weg war, um dauerhaft Beschäftigung zu haben und um sich ineiner positiven und produktiven Art zu entwickeln. In der Zeit während des Gefäng-nisaufenthaltes und danach hatte er viele physische und emotionale Herausforde-rungen erlebt, auf die ihn seine Vergangenheit nicht vorbereitet hatte.

In zwei Tagen hatte er einen Termin mit einem Bankmanager, da er ein kleinesDarlehen benötigte, um seine Firma gründen zu können. Allerdings war er unsicher,ob er in diesen Gesprächen ehrlich sein und den Bankmanager über seine Vergan-genheit aufklären sollte oder ob er bessere Chancen für einen Start in ein neues Le-ben haben würde, wenn er nichts über seine kriminelle Vergangenheit sagen würde.

20.2 Eine dunkle Vergangenheit

Beck Hallestrømwar in Kiruna geboren, der nördlichsten Stadt Schwedens, 145 Kilo-meter nördlich des Polarkreises. Er wuchs in einer Gegend auf, in der Armut, Lange-weile und Alkohol das Leben vieler jungermännlicher Einwohner prägten. Das lokaleArbeitsamt wurde spaßeshalber Reisebüro (Resebyrån) genannt, weil arbeitslose Ju-

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296 20 Beck Hallestrøm (Schweden)

gendliche immer nur die Empfehlung bekamen, fortzugehen. Seine Mutter, die ihnund seine jüngere Schwester in einer kleinen Wohnung großzog, war alleinerziehendund sie unterstützte die Familie durch nächtliche Arbeit in einem lokalen Restaurant.Sein Vater hatte im regionalen Bergbau gearbeitet, aber er verließ die Stadt unmittel-bar, nachdem der Bergbau geschlossen und kurz nachdem Becks Schwester geborenwurde. Man hörte nie wieder etwas von ihm. Obwohl Beck als intelligenter Schülerbetrachtet wurde, verließ er die Schule als Teenager und verbrachte seine Zeit mitden falschen Leuten undmit Nichtstun. Dennoch hatte er eine Stelle als Auszubilden-der in einer Kfz-Werkstatt bekommen und es gab nie ernsthafte Probleme, abgesehenvon einem kleinen Vorfall von Trunkenheit und einer Begebenheit von Alkohol amSteuer, nachdem er drei Bier getrunken hatte. Als er 18 Jahre wurde, beschloss Beckfortzuziehen, weil er nicht sein ganzes Leben in einer Kleinstadt verbringenwollte.

In Lappland zu leben heißt, viele lange kalte Winterabende zu erleben. Um eswarm zu haben und um die Langeweile zu überwinden, trafen sich Beck und seineFreunde regelmäßig in einer lokalen Bar, um einige Biere zu trinken und um diedunklen Stunden vorstreichen zu lassen. An einem Freitagabend im späten Novem-ber hatten einige von ihnen gesellig in der größten Bar des Ortes zusammengesessen,als Beck einen seiner Freunde auf seinen Alkoholismus ansprach und sagte, er solleaufhören, sich wie ein Idiot zu benehmen. Er dachte, dass die Angelegenheit geklärtsei, aber einer der anderen Zuhörer in der Bar kritisierte Becks Freund ebenfallswegen dessen Trinkverhalten, und die Stimmen wurden lauter. Schnell entwickeltesich ein Streit zwischen einigen von Becks Freunden und anderen Lokalbesuchern.Der Disput verstärkte sich, als sie auf die Straße hinausgingen, um in eine andereBar weiterzuziehen. Es kam zu einer Schlägerei unter den Betrunkenen, die plötzlichaußer Kontrolle geriet. Überall wurden Schläge ausgeteilt. Beck war in der Mitte derMenge und versuchte, sich selbst und seine Freunde zu verteidigen, als etwas pas-sierte, was sein Leben für immer änderte. Beck versuchte, das so zu erklären:

„Es war wirklich ein Unfall, ich konnte mir nicht vorstellen, dass er sterben könnte. Ich versuchtelediglich, mich und meine Freunde zu schützen. Ich teilte nur einen Fausthieb in Richtung der Per-son aus, die daran beteiligt war. Er fiel unglücklich, schlug mit dem Kopf auf den Fenstersims undstarb augenblicklich. Überall war Blut, auf meinen Händen – für immer. Dieser Moment ändertealles – für mich, meine Familie, ihn, seine Familie, meine Freunde, seine Freunde, jeden, der invol-viert war.“

Das Gericht verurteilte Beck wegen Totschlags zu 20 Jahren Gefängnisaufenthalt. Erverlor sein Leben in Freiheit, seine Familie und Freunde und verbrachte die nächstenzwei Jahrzehnte damit, über seine Zukunft nachzudenken und Konflikte im Gefäng-nis zu vermeiden.

Um seine Einsamkeit und das Gefühl von Isolation zu bekämpfen, beendete Beckseine Berufsausbildung und wurde ein qualifizierter Handwerker. Seine Tage warenmit seiner Arbeit in der Instandhaltungsabteilung des Gefängnisses ausgefüllt – Re-parieren von Türen, Heizungs- und Wasserrohren etc. Er lernte auch, dass es derbeste Weg zum Überleben war, den Kopf gesenkt zu halten und nicht in irgendetwashineingezogen zu werden. Er lernte, wie man sich am besten von verschiedenenGangs, die sich im Gefängnis gebildet hatten, fernhielt, und er lernte auch schnell,

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Jennifer Manning & Thomas Cooney 297

dass das Für-sich- Behalten von Gedanken und Meinungen das beste Mittel war, umKonflikten aus dem Weg zu gehen. Während seiner Zeit im Gefängnis starb seineMutter an Krebs und seine Schwester heiratete, sie hatte nun zwei eigene Kinder.Alle diese familiären Ereignisse hatte er verpasst. Stattdessen saß er im Gefängnisund erinnerte sich immer wieder an die Nacht, in der ein völlig Fremder durch seineHände starb und die Welt, die er kannte, auseinandergerissen wurde. Bis zu seinerendgültigen Freilassung verbrachte Beck Zeit im offenen Strafvollzug, der Gefange-nen die Möglichkeit bot, sich mit ihrer Umwelt auseinanderzusetzen und in der dieBehörden Unterstützung gaben. Lange und einsame 20 Jahre hatte Beck schließlichverbüßt und er glaubte, dass er seine Schuld gegenüber der Gesellschaft bezahlthatte. Beck beschrieb seine Gefühle über seinen Tag der Freilassung so:

„Als sich diese Tore öffneten, war ich voller unterschiedlicher Emotionen; ich war voller Angst undSorge, aber auch aufgeregt und glücklich. Was würde ich tatsächlich mit meinem Leben machen,was konnte ich mit meinem Leben machen? Ich hatte meine ersten Jahre im Gefängnis damit ver-bracht, über diesen Moment nachzudenken, aber Träume und Realität sind sehr verschieden. Nie-mand war da, um mich abzuholen, als die Tore sich öffneten. Auf der Stelle entschloss ich mich,meine Vergangenheit hinter mir zu lassen. Alles ließ ich hinter diesen Gefängnismauern zurück. Eswar der beste und zugleich schlechteste Tag in meinem Leben.“

Die Begeisterung, ein neues Leben zu starten, verblasste schnell, als Beck realisierte,dass er keine Wohnung, keine Freunde und wenig Hoffnung auf eine bessere Zu-kunft hatte.

20.3 Heimkehr nach dem Gefängnisaufenthalt

Nach der Freilassung aus dem Gefängnis ging Beck zurück nach Kiruna, in der Hoff-nung, einen Job zu bekommen und um Geld zu sparen, sodass er in eine der größe-ren Städte Schwedens ziehen könne. Allerdings war Beck mit genau so vielen Schwie-rigkeiten konfrontiert, wieder nach Hause zurückzukehren, wie er sie im Gefängniskannte, und oft fühlte er sich noch isolierter als dort. Beck erlebte bei jeder Gelegen-heit Diskriminierung, Hass und Schwierigkeiten. Keine Kfz-Werkstatt oder sonstigetechnische Firma stellte ihn trotz seiner guten Qualifikationen an, und trotz allergroßen Anstrengungen konnte er nicht einmal einen Teilzeitjob als ungelernter Ar-beiter bekommen. Beck verstand schnell, dass die Möglichkeiten eines ehemaligenGefängnisinsassen, ein normales Leben zu beginnen, wegen der kriminellen Vorge-schichte und der Einstellung der Gesellschaft gegenüber ehemaligen Häftlingen sehrgering waren. Er hatte im Gefängnis gelesen, dass die Häftlinge, die am stärksten inGefahr waren, wieder straffällig zu werden, folgendermaßen beschrieben wurden:· Geschlecht: Männer haben ein höheres Risiko;· Alter bei der ersten Verurteilung: je jünger, desto höher das Risiko;· Geburtsland: ethnische Minoritäten haben mehr Rückfälle;· Delikt – höchstes Risiko nach Gewalt- und Eigentumsdelikten;· frühere Verurteilung(en) – je mehr, desto höheres Risiko.

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298 20 Beck Hallestrøm (Schweden)

Forschungen zeigten, dass es viele Gründe gab, warum frühere Häftlinge Schwierig-keiten hatten, nach ihrer Freilassung in die Gesellschaft zurückzufinden, und Ar-beitslosigkeit gehörte zu den größten Hindernissen. Der gegenwärtige Trend, dassniedrig qualifizierte Jobs durch Maschinen ersetzt wurden, und der Mangel an Fach-wissen, Ausbildung und individuellen Qualitäten bei vielen Straftätern bedeuteten,dass deren Aussichten auf eine sichere Langzeitbeschäftigung immer schlechter wur-den. Die Tatsache einer kriminellen Vorgeschichte bewirkte außerdem negative Vor-einstellungen bei potenziellen Arbeitgebern und minimierte die Chancen, bei einemVorstellungsgespräch erfolgreich zu sein.

Schließlich entschied Beck, dass der einzige Weg, um noch einmal neu anzufan-gen, darin bestand, in eine neue Stadt zu ziehen, einem Ort, an dem niemand wusste,wer er war oder was er in der Vergangenheit gemacht hatte. Mit einem kleinen Start-darlehen, das er von seiner Schwester bekommen hatte, zog Beck im Frühsommer indie entgegengesetzte Richtung des Landes nach Stockholm. Bei seiner Ankunft in derschwedischen Hauptstadt schlief Beck zwei Nächte auf einer Bank in einem Bahnhof,bevor er für einige Wochen ein Bett in einer Obdachlosenunterkunft bekam. Ersuchte nach einer Arbeitsstelle im Bereich seiner Qualifikation und Erfahrung, aberes ergab sich nichts. Bedauerlicherweise war das Land in schwierigen wirtschaft-lichen Zeiten und ohne berufliche Referenzen und einer 20-jährigen Lücke an Be-rufserfahrung reichte es noch nicht einmal zu Vorstellungsgesprächen. Wie in vieleneuropäischen Ländern proklamieren auch in Schweden viele Organisationen, dasssie ehemalige Straftäter nicht diskriminierten. Der einzige Grund, jemanden miteiner kriminellen Karriere nicht einzustellen, durfte nur der sein, dass die Straftat indirekter Verbindung mit der angestrebten Position stand. Allerdings verfolgte dasStigma einer kriminellen Vorgeschichte ehemalige Häftlinge viele Jahre, und sostand Beck wieder einmal verloren und einsam da, nur mit einem kleinen Darlehenausgestattet, um die nächste Zeit zu überstehen.

20.4 Becks unternehmerische Ambitionen

Während seiner Gefängniszeit hatte Beck gelesen, dass die Rückfallkriminalität wäh-rend der ersten drei Jahre nach einer Entlassung in Schweden bei 36% liege. DieseQuote lag im Durchschnitt der kontinentalen Länder Europas, obwohl sie bedeu-tend niedriger war als diejenige für England und die USA. Die Forschungsarbeitschlussfolgerte, dass eine bedeutende Herausforderung zur Minimierung der Rück-fallquote in der Schwierigkeit lag, ehemaligen Häftlingen eine Erwerbsbeschäftigungzuzusichern, wenn sie den Gefängnisaufenthalt beendeten, ein Umstand, der erheb-lich zur international hohen Rate an Rückfallkriminalität beitrug. Die Studie besagteauch, dass eine größere Anzahl von Sozialunternehmen die Vorteile der Erwerbstä-tigkeit von ehemaligen Inhaftierten untersucht hatte und zu dem Ergebnis kam,dass Erwerbsarbeit das Risiko eines kriminellen Rückfalls um ein Drittel bis zurHälfte senken könne. Beck erinnerte sich, dass die Studie eine Reihe von sozialenUnternehmen in ganz Schweden genannt hatte, die Kurse, Ausbildung und Bewer-

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Jennifer Manning & Thomas Cooney 299

bungsunterstützung für ehemalige Strafgefangene anboten, die auf der Suche nachbezahlter Beschäftigung waren. Darüber hinaus hatten diese sozialen Unternehmenbegonnen, in die Ausbildung für berufliche Selbständigkeit zu investieren und finan-zielle Zuschüsse für ehemalige Häftlinge zu geben, um die Schwierigkeiten zu über-winden, die für Ex-Häftlinge bestanden, wenn sie eine sichere Einkommensquellesuchten. Ein solches soziales Unternehmen namens Next Step gab es in Stockholm.Beck fand die Argumentation der Organisation sehr interessant, dass ehemaligeStrafgefangene und Unternehmer viele Charakteristika gemeinsam hätten. In ihrerBroschüre schrieben sie:

„Straftäter, denen Hilfe gewährt wird, ihre Möglichkeiten für ein legales Einkommen und wirtschaft-liche Entwicklung zu verbessern, haben geringere finanzielle Notwendigkeiten, wieder straffällig zuwerden. Es gibt eine breite gemeinsame Basis, die Straftäter und Unternehmer haben. Eine davonist das zentrale Charakteristikum, Risiken einzugehen. Außerdem glauben viele Leute, dass die Ähn-lichkeiten bezüglich Ehrgeiz, Unabhängigkeit, Leistungsmotiv, persönliche Motivation und, in eini-gen Fällen, Innovation noch wesentlich bedeutender sind. Der entscheidende Unterschied ist, dassdie einen in der legalen Ökonomie tätig sind, während sich die anderen in der grauen oder illegalenÖkonomie befinden.“

Die Broschüre vermerkte weiterhin, dass ehemalige Gefangene auch aus drei Haupt-gründen von der beruflichen Selbständigkeit angezogen werden:· Sie ist ein Weg, um die Diskriminierung zu umgehen, die ihnen am Arbeitsmarkt

begegnet,· Sie bietet die Aussicht auf Unabhängigkeit, vor allem in Hinsicht auf Freiheit von

Beaufsichtigung,· Sie verspricht höhere Einkommen als normalerweise am Arbeitsmarkt vorhan-

den.

Next Step ging davon aus, dass eine Ausbildung in Wirtschaftsangelegenheiten undUnternehmertum viel mehr bietet als mögliche zukünftige wirtschaftliche Unabhän-gigkeit für Häftlinge und Ex-Häftlinge, da es Verbesserungen in der Einstellung, demSelbstvertrauen und der Motivation von ehemaligen Gefangenen und in ihrer Ent-wicklung von Soft Skills, z. B. die Möglichkeit im Team zu arbeiten, zu kommunizie-ren etc. bewirkt. Weiterhin argumentierten sie, dass die mit beruflicher Selbständig-keit einhergehenden Risiken für ehemalige Häftlinge geringer als für die gesamteBevölkerung waren, weil ihre schwache Position auf dem Arbeitsmarkt bedeutete,dass sie „nichts zu verlieren“ hatten. Ungeachtet der Tatsache, dass sie eine höhereMotivation und geringeres Risiko hatten, benötigten Ex-Häftlinge tendenziell mehrHilfe und Unterstützung als der Durchschnitt der Bevölkerung.

Als Beck mit seiner Ausbildung als Kfz-Mechaniker begann, hatte er niemals inErwägung gezogen, eine eigene Firma zu gründen. Das war etwas, was niemand inseiner Familie oder in seinem Freundeskreis je getan hatte. Auch während seinerZeit im Gefängnis schloss er seine Weiterbildung nur mit dem Ziel ab, nach seinerEntlassung eine (angestellte) Arbeit zu finden. Wenn er auf seine Zeit als Gefangenerzurückblickte, stellte er fest, dass es einige Diskussionen gab, die ihn zum Nachden-ken bewogen haben mochten, eines Tages mit einer eigenen Firma anzufangen:

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300 20 Beck Hallestrøm (Schweden)

„Im Gefängnis reden die Leute ständig davon, sich selbständig zu machen. Menschen im Gefängnishaben die Nase davon voll, dass jemand über sie herrscht und ihnen ständig erzählt, was zu tun ist.“

Nun jedoch, als er in Stockholm lebte, war Beck weit davon entfernt, ein Unterneh-mer zu sein. Mehr als einen Monat nach seiner Ankunft hatte er noch immer keinenJob oder eine Wohnung. Vermieter und Arbeitgeber meideten ihn, weil er aus demGefängnis kam. Gelegentlich log er bei der Job- und Wohnungssuche, aber die ver-gangenen 20 Jahre seines Lebens zu erfinden war keine einfache Aufgabe, vor allemnicht ohne reale Referenzen. Beck hatte noch nicht einmal ein Bankkonto, um einDarlehen zu bekommen, und er wagte es nicht, die Bank darauf anzusprechen, weiler Angst vor einer weiteren Zurückweisung hatte. Dennoch wusste er, dass er einKonto eröffnen müsste, wenn er auf dem Weg zu einer eigenen Firma war. WeilBeck von Computern keine Ahnung hatte und das Internet nur selten benutzt hatte,da Gefangenen der Zugang verwehrt war, wusste er nicht, wie er sich die Ressourcen,die für Ex-Häftlinge seitens der Sozialunternehmen durch die Kommune und dasLand verfügbar waren, erschließen konnte. So dauerte es, bis er wieder einen Flyervon Next Step in seiner Unterkunft sah. Kurz nachdem er sich für deren Resozialisie-rungsprogramm eingeschrieben hatte, fand Beck eine sehr preiswerte und einfacheWohnung und begann mit einer Teilzeitarbeit in der Verwaltungs- und Instandset-zungsabteilung eines Hotels.

Die Unterstützung, die Beck von Next Step erhielt, ermutigte ihn, sich wieder Ge-danken über seine unternehmerischen Ambitionen zu machen. Er war ein ausgebil-deter, erfahrener und qualifizierter Instandsetzungs-Handwerker, aber er hatte keineWirtschafts- oder Managementerfahrung, war computer- und internetunkundig,ohne Marktforschungs- und Analysefähigkeiten und ohne finanzielles Kapital (dasDarlehen, das seine Schwester ihm gegeben hatte, war ausgegeben, um die erstenWochen seiner Ankunft in Stockholm zu finanzieren). ImWissen um die Herausfor-derungen und Hindernisse, die sich ihm zeigten, wandte Beck sich an Next Step, umUnterstützung zu bekommen. In Verbindung mit der lokalen Unternehmervereini-gung organisierte Next Step verschiedene Wirtschafts- und Managementkurse, vondenen einer Beck besonders interessierte: Der Kurs „Starte deine eigene Firma“, derauch eine Ausbildung am Computer mit einschloss. Beck wusste, dass er sich selberbewerben und seine Markt- und Wirtschaftskenntnisse deutlich verbessern musste,wenn er tatsächlich erfolgreich sein und seinen Plan, finanziell unabhängig zu wer-den, verwirklichen wollte.

Nach zwei Monaten beendete Beck den intensiven „Starte deine eigene Firma“-Wirtschaftskurs und die Zeit der Entscheidung für Beck war gekommen. Ging er tat-sächlich daran, seine eigene Firma zu gründen? Beck wusste, dass er zuerst finanzi-elle Mittel benötigte und danach einen Kundenstamm aufbauen musste. Für einenehemaligen Häftling waren beides beängstigende Aufgaben. Im Gefängnis war esschwierig, soziale Fähigkeiten zu entwickeln, und Beck war eine stille und eigenbröt-lerische Person geworden. In seinem Teilzeitjob im Hotel fragte ihn eine Kollegin, ober sich ihren Pkw ansehen könne, mit dem sie Probleme hatte. Sie wollte Becks Mei-nung einholen, bevor sie in eine reguläre Werkstatt gehen wollte. Am nächsten Tagkursierten Gerüchte über seine Vergangenheit, denn sie konnte ihm nicht in die

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Jennifer Manning & Thomas Cooney 301

Augen sehen und meinte, „es ist o.k., ich glaube nicht, dass es so schlimm ist“. Daswar für ihn ein gewaltiger Rückschlag, da es eine ernsthafte Frage aufwarf:

„Wie kann ich Fremde überzeugen, dass ich kein ‚“verrückter Killer“, sondern nun ein professionellerBusinessman bin, wenn nicht einmal ein Kollege, mit dem ich zusammenarbeite und der michkennt, mir noch vertraut?“

Während des „Starte deine eigene Firma“-Kurses war Beck durch einen Abschnittsehr beunruhigt worden, welcher als prinzipielle Faktoren, die als Hindernisse füreine Selbständigkeit von ehemaligen Strafgefangenen gelten, folgende Punkte auf-führte:· Mangel an geeigneten Kontakten;· Mangel an finanzieller Unterstützung/Fehlen einer Kreditgeschichte;· Schwierigkeit, sich selbst gegenüber einer Bank zu präsentieren;· geringes Ausbildungs- und Belesenheitsniveau;· Stigma aufgrund eines Eintrags in der Kriminalakte;· Mangel an Dauerhaftigkeit, Entschlossenheit und dem Willen, Rückschläge weg-

zustecken;· Probleme bezogen auf die ernüchternden Effekte, die Gefängnisentlassene auf

einzelne Menschen haben;· Mangel an Selbstvertrauen (Wunsch während des Gefängnisaufenthaltes, eine

Firma zu gründen, der nach der Entlassung selten umgesetzt wird).

20.5 Möglichkeiten der Unternehmensfinanzierung

Beck fasste den Entschluss, dass seine Vergangenheit ihn lange genug nach unten ge-zogen hatte. Sein Entschluss für ein besseres Leben mit einer glücklichen und pro-duktiven Zukunft überwog nun seine Angst vor einem Scheitern und davor, sichselbst zu verletzen. Beck erklärte das folgendermaßen:

„Das ist jetzt meine Chance, um mir tatsächlich ein neues Leben zu schaffen. Wenn ich wirklich eineprinzipielle Zukunft für mich haben will, weiß ich, dass ich die Herausforderungen direkt angehenmuss. Ich bin alleine, habe Angst und bin gegenwärtig nicht sicher, wie ich klarkommen werde, aberich habe beschlossen, dass diese Firmengründung das ist, was ich will. Und ich werde mich auchdurch meinen Mangel an Selbstvertrauen nicht stoppen lassen. Ich will nicht den Rest meines Lebensmit meiner Vergangenheit als einer dunklen Wolke über meinem Kopf verbringen, die verhindert,dass ich mein Ziel erreiche.“

Mit dieser Entscheidung kontaktierte BeckNext Step, um seine Möglichkeiten zu dis-kutieren und die entsprechenden Optionen zu evaluieren. Über die Monate, dieBeck von Next Step Hilfestellung erhalten hatte, hatte er eine feste Beziehung zu denMitarbeitern dieses sozialen Unternehmens entwickelt. Als Resultat dieses Verhält-nisses hatte ihn Next Step kürzlich informiert, dass sie ihn bei der Abfassung einesBusinessplans und beim Versuch, Kapital zu akquirieren, unterstützen würden.

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302 20 Beck Hallestrøm (Schweden)

Bevor er den Businessplan entwickelte, prüfte er zusammen mit Next Step seinefinanziellen Möglichkeiten. Da Beck kein eigenes finanzielles Kapital hatte, hatte ernur drei Wege, die er als Finanzquellen verfolgen konnte. Erstens konnte er ein Dar-lehen von einer Bank anstreben. Seine zweite Option beinhaltete, bei Familie undFreunden Finanzierungsmittel zu suchen, und schließlich war ihm eine dritte Op-tion von Next Step nahegebracht worden. Das gemeinnützige Sozialunternehmen er-hielt Spenden von verschiedenen karitativen Organisationen, und jedes Jahr wurdeein Teil davon darauf verwendet, ausgesuchte Unterstützungsempfänger bei derGründung ihres eigenen Unternehmens zu unterstützen. Um in die engere Auswahlfür diese Förderung zu kommen, musste ein gut durchdachter Businessplan mit Zie-len, Umsetzungsschritten und Marktanalyse vorgelegt werden.

Beck begann jede der Finanzierungsoptionen folgendermaßen zu evaluieren:1. Bankdarlehen: Ein Bankdarlehen ist der eindeutigste und klarste Weg, den viele

neue Unternehmer gehen, um Finanzierung aufzutreiben. Allerdings sah sichBeck mit vielen Hindernissen konfrontiert, einen Bankkredit zu erhalten, da erkeine Kreditwürdigkeit hatte und mit 39 Jahren erst vor sechs Tagen sein erstesKonto eröffnet hatte. Wichtiger aber war, dass Beck ein Ex-Häftling war. Die Fol-gen waren unmittelbare Diskriminierung und ein Mangel an Vertrauen, vor al-lem bei der Frage nach Finanzierungen. Außerdem schnüren in gegenwärtigenharten wirtschaftlichen Zeiten die Banken überall in Europa ihren Gürtel enger,wenn es um die Frage des Eingehens von Risiken und der Finanzierung von Ge-schäften geht. Dennoch war Beck zuversichtlich hinsichtlich seiner Motivationund der Möglichkeit, seine Firma etablieren zu können. Wenn er es im Business-plan ausdrücken könnte, würde er gerne darlegen, dass sowohl die Bank als aucher aus der Investition ihren Nutzen ziehen könnten. Zugunsten von Beck sprachauch die Größenordnung des angesuchten Kredits, der für eine Existenzgrün-dung eine vergleichsweise geringe Summe war, nämlich ungefähr 90.000 SEK(etwa € 10.000).Beck veranschlagte die Kosten für eine Werkstatt (Kaution und die ersten zweiMonatsmieten), den Kauf von Werkzeug und weiterer Ausrüstung, Türschilderund geringfügige Reklame, die formale Unternehmensgründung (und damit zu-sammenhängende Kosten) sowie für einen Computer. Er wusste, dass er nurklein und mit minimalem Budget starten konnte, aber im Kurs „Starte deine ei-gene Firma“ hatte er gelernt, was in den ersten Monaten zur Finanzierung einerUnternehmensgründung alles nötig war. Beck sah auch ein, dass er Geld sparenkonnte, wenn er eine Werkstatt mit einem zusätzlichen Raum mietete, in dem erleben konnte, obwohl das seine Auswahl an Mietgelegenheiten verringerte. Aller-dings hatte er mehrere Gelegenheiten in den Vorstädten von Stockholm gefun-den, die ihm das bieten konnten. Schließlich gingen die Kosten für kommerzielleMieten aufgrund der Wirtschaftskrise nach unten.

2. Darlehen von der Familie oder von Freunden: Beck hatte wenige Freunde inStockholm oder Kiruna, und keinen von ihnen konnte er auf ein Darlehen dieserGrößenordnung ansprechen. Seine Schwester war das einzige ihm verbliebeneFamilienmitglied, und sie hatte ihm bereits einen kleinen Betrag gegeben, als erKiruna verließ. Auch seine Schwester musste darum kämpfen, ihre eigene Familie

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finanziell über die Runden zu bringen. Er ahnte, dass der Versuch, sie um einDarlehen zu bitten, um seine Firma zu finanzieren, ihr ohnehin bereits instabilesVerhältnis völlig hätte gefährden können. Wenn Erika ihm andererseits ein finan-zielles Darlehen geben würde und das Unternehmen langfristig Erfolg hätte, wärees eine Möglichkeit, sie beide durch ihr „Familienunternehmen“ wieder näherzusammenzubringen.

3. Finanzielle Unterstützung von Next Step: Obwohl Beck eine gute Arbeitsbezie-hung mit Next Step hatte, gab es keine Garantie, dass er von dem Sozialunterneh-men auch die Finanzierung für sein Unternehmen erhalten würde. So gab es im-mer viele Anträge auf Finanzierung und nur die besten und praktikabelstenBusinesspläne wurden unterstützt. Und wie bei einem Gesuch für ein Bankdarle-hen würde Beck einen Businessplan unterbreiten und dessen Umsetzung voreinem Komitee von Begutachtern verteidigen müssen, das aus verschiedenenSpendern, Vorstandsmitgliedern und Unternehmern aus der regionalen Wirt-schaft bestand. Allerdings hatten die Berater von Next Step bereits zugesagt, Beckbeim Schreiben seines Businessplans und bei seiner Marktforschung zu helfen.

4. Für das Frühjahr 2011 hatteNext Step bereits entschieden, 143.000 SEK (ungefähr€ 16.000) für die Finanzierung von zwei Unternehmen bereitzustellen, was 71.500SEK (ungefähr € 8.000) pro Antragsteller ausmachte. Die Beantragungsfrist war der31. Januar 2011. Obwohl das weniger war, als das, worum er bei der Bank angesuchthatte, wäre es noch ein genügend großer Betrag, um sein Unternehmen zu gründen.Und der grundsätzliche Vorteil der Gründung war, dass es kein Darlehen, sonderneine Art Stipendium war, das nicht zurückzuzahlen war.

Beck war unsicher, welchen Finanzierungsweg er für seine Unternehmensgrün-dung einschlagen sollte, aber er machte einen Termin mit der Bank, um die Möglich-keit und die Bedingungen zu diskutieren, einen Kredit zu erhalten, bevor er einenformalen Businessplan einreichte. Beck war ungeduldig, die Gründung seines Unter-nehmens einzuleiten, aber er war unentschlossen, ob er die Bank auch über seinen20-jährigen Gefängnisaufenthalt und die Gründe dafür informieren sollte. Beck er-klärte folgendermaßen:

„Es wäre so viel einfacher, wenn ich nur lügen und meine Vergangenheit vergessen könnte, aberwenn ich das mache und die Bank das dann herausfindet, könnten die Konsequenzen für mich undmein Unternehmen fatal sein.“

20.6 Die schwedische Autoindustrie

Nach der Behandlung der Finanzierungsmöglichkeiten musste Beck auch den Marktanalysieren und bewerten, in dem er tätig sein wollte. Um ein besseres Verständnisdes Marktes zu bekommen, kontaktierte Beck das Berufsausbildungszentrum derschwedischen Autoindustrie (MYN). Es besteht aus Mitgliedern des Arbeitnehmer-verbands und der Gewerkschaft und ist dafür verantwortlich, die Automobilindustrie

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304 20 Beck Hallestrøm (Schweden)

in Schweden zu kontrollieren und sicherzustellen, dass die Angestellten in der Auto-industrie richtig unterrichtet und ausgebildet sind. Tatsächlich erhielt Beck seinDiplom als Kfz-Mechaniker von der MYN, während er im Gefängnis war. Nachdemer sich mit der MYN wegen seiner Unternehmensgründung kurzgeschlossen hatte,bekamBeck entscheidendesWissen bezüglich der schwedischen Automobilindustrie,aber auch neues Selbstbewusstsein. Ein Mitglied des MYN schrieb in einer Stellung-nahme für ihn:

„Automechaniker kombinieren Erfahrung und Kenntnis des mechanischen, elektronischen, Kraft-stoff- und Computersystems, um Motoren und darauf bezogene Komponenten zu überprüfen, zuwarten und zu reparieren. Um Probleme zu diagnostizieren, stützen sie sich auf ihren Verstand undComputertestergebnisse. Kenntnisse im Kundenservice sind elementar wichtig, weil viele Kundensehr verärgert und verunsichert sind, wenn ein Pkw oder Lkw nicht richtig funktioniert und eindringendes Bedürfnis nach schneller, flexibler und effektiver Dienstleistung haben. Ich bin zuver-sichtlich, dass Beck nicht nur wegen seines Könnens ein Gewinn für die schwedische Automobil-industrie ist, sondern auch weil er sehr gewissenhaft in seiner Arbeitsauffassung ist. Ich glaube, dassdie Kunden sehr zufrieden mit seiner Arbeit sein werden.“

Beck lernte von MYN auch, dass Schwedens Autoindustrie eine starke Rolle in derVolkswirtschaft spielte und dass Schweden zu den Ländern in der Welt gehört, diein höchstem Maße von der Autoindustrie abhängig sind. In einem Land mit neunMillionen Einwohnern sind 140.000 Menschen in der Automobilindustrie beschäf-tigt, die für 15% des Bruttosozialprodukts verantwortlich ist. Die Abhängigkeit vonder Autoindustrie mit Blick auf die dortige Beschäftigung hat in gegenwärtigen Jahr-zehnten zugenommen, da andere Industrien ihre Aktivitäten reduziert haben. Den-noch fielen während der internationalen Wirtschaftskrise ungefähr 5.000 Jobs inverschiedenen Bereichen der Autoindustrie in Schweden weg. Spin-offs und Ent-wicklungen in anderen Bereichen dieser Industrie nahmen stark zu, vor allem derkleinen und kleinsten selbständigen Kfz-Werkstätten (in denen sich auch Beck ansie-deln wollte), sodass frühere Angestellte der großen Pkw-Unternehmen (vornehm-lich Volvo und Saab) ihr Wissen zu diesem Sektor der Automobilbranche transferier-ten. MYN sagte Beck trotzdem, dass der Bereich der Autoreparatur ein expansivesGewerbe mit vielen sich ergebenden Chancen sei. Qualifikationen und Arbeitsaufga-ben veränderten sich rapide, das Berufsbild wurde zunehmend spezialisierter und esgab zunehmende Nachfragen für hochqualifizierte Kompetenzen. Im schwedischenAutogewerbe gab es ungefähr 4.500 kleine und mittlere Unternehmen mit Betriebenfür KFZ und Lkws, Motoren- und Traktorunternehmen, Reparaturwerkstätten, Au-tolackierereien etc. Ungefähr 40.000 Menschen waren in diesem Bereich der Autoin-dustrie beschäftigt, wobei 50% davon Verkaufspersonal, Manager und Verwaltungs-leute waren, während die restlichen 50% technische Funktionen hatten. DieMehrheit der technisch-handwerklichen Beschäftigten in der Autoindustrie warenEin-Personen-Unternehmen.

Da die Kraftfahrzeugindustrie für die schwedische Wirtschaft eine so starke Rollespielte, war das Resultat, dass Schweden eines der am stärksten motorisierten Länderin Europa war. So gab es durchschnittlich 1 Auto pro 2,4 Einwohner. Die Rate an Kfz-Besitz war gegenwärtig hoch, aber sie schien abzufallen, weil die Neukäufe zurückgin-

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gen und der Besitzermarkt gesättigt schien. Sehr deutliche Veränderungen in denPkw-Verkaufszahlen waren in Schweden normal, weil die Pkw-Neuwagenverkäufein den vergangenen Jahrzehnten deutlich schwankten, was in einem 11–12-Jahres-Zyklus resultierte. So waren 55% der Pkws in Schweden älter als zehn Jahre, was fürBeck sehr vorteilhaft war, da ein Rückgang im Kauf von Neuwagen die Anzahl ältererAutos steigerte, die häufiger gewartet werden mussten. Besonders in Stockholm lagdie Anzahl der Autos in der Stadt bei ca. 800.000 und weiteren 64.000 Motorrädern.Es gab dort circa 400 Autos auf 1.000 Einwohner. Es kommt hinzu, dass die Bevölke-rungszahl der Stadt voraussichtlich in den nächsten beiden Jahrzehnten um etwa einehalbe Million steigen wird, wobei die gegenwärtige Zahl bei etwa 1,25 Millionen Ein-wohnern liegt. Leider hatte weder Beck noch das MYN (oder irgendeine andereQuelle) irgendwelche Detailinformationen bezüglich der Zahl der gegenwärtig inStockholm tätigen Kfz-Mechaniker. Deshalb war Becks Wahl für den Standort seinerWerkstatt nicht nur von der Miethöhe und der Möglichkeit, seine Räumlichkeitenauch für private Bedürfnisse zu nutzen, sondern auch von dem unmittelbaren Wett-bewerb abhängig, der sich in dem angrenzenden Stadtteil bot und den er nur beurtei-len konnte, indem er durch die Gegend fuhr.

Obwohl der Wettbewerb potenziell groß erschien, kam Beck zu dem Schluss, dasses noch einen Bedarf für gut ausgebildete, effiziente und flexible Mechaniker gab, diekleine Werkstätten betrieben. Das Vertrauen von Kunden und eine positive Mund-propaganda waren entscheidend, dass die Unternehmenstätigkeit auf stabile Beinegestellt werden konnte. Nach einem Treffen mit MYN entschied Beck, dass dies derWeg war, wie er seine Firma und sich vermarkten wollte, nämlich als ausgebildeterund effizienter Mechaniker, der sich nach den Zeiten und Bedürfnissen seiner Kun-den richtete. Wenn Kunden freilich je etwas über seinen Hintergrund erfahren soll-ten (oder ein Konkurrent ein Wort darüber verlieren würde), dann konnte eine posi-tive Mundpropaganda auch plötzlich und schnell ins Negative umschlagen.

20.7 Die Entwicklung von Becks Geschäftsidee

Nach dem Kurs „Starte deine eigene Firma“ war Beck klar, dass er sich auch um allepraktischen Elemente der Gründung und des Betriebs einer Firma kümmernmusste:

„Ich muss gegenüber der Bank und gegenüber Next Step oder wen ich sonst um finanzielle Ressour-cen anfrage, deutlich machen, dass ich weiß, was ich mit deren Geld mache. Die Gründung einerFirma umfasst so viel mehr, als nur Geld zu bekommen, um einen Laden aufzumachen. Ich mussnun anfangen, praktisch zu denken, wie ich langfristig ein rentables Unternehmen gründen kann.Erstens muss ich wissen, wie ich konkret mein Geschäft betreibe, und dann muss ich wissen, wie icheinen Kundenstamm aufbaue.“

Mit Blick auf das Tagesgeschäft beschloss Beck, eine generelle Werkzeugausstattungzu kaufen. Aber insgeheim hoffte er, eine Gelegenheit zu finden, wo er bereits eineWerkzeuggrundausstattung mit übernehmen konnte. Dazu sollten eine Hebebühne

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306 20 Beck Hallestrøm (Schweden)

und gewisse Maschinen gehören, wobei die weitere Ausstattung nach und nach ab-hängig von den Kundenbedürfnissen gekauft werden sollte. Buchhaltung, Abrech-nungen, Käufe und Zahlungen sollten durch das Buchhaltungssystem und die Soft-ware, die Beck bereits im Kurs kennengelernt hatte, aufgezeichnet werden. Beckwollte, dass die Firma in der Rechtsform einer einfachen GmbH ohne weitere Be-schäftigte geführt wird und er wollte seiner Schwester als Zeichen von Goodwillund Freundschaft die Position eines zweiten Direktors anbieten (gemäß dem schwe-dischen Gesetz muss es in dieser Unternehmensform einen Geschäftsführer undeinen zweiten Geschäftsführer geben). Beck beabsichtigte, einen informellen, flexib-len Betrieb aufzubauen, der an den Bedürfnissen der Kunden orientiert war und si-cherstellen sollte, dass sie sich gut und sicher bei ihm fühlten. Obwohl Beck eine Ideehatte, wie er sein zukünftiges Unternehmen zu gründen und zu führen beabsichtigte,wusste er noch nicht, wie er sich einen Kundenstamm aufbauen sollte. PositiveMundpropaganda war eine wichtige Form von Werbung in seinem Gewerbe, aberKunden, die auch noch Werbung für ihn machen würden, bei seinem sehr schmalenBudget zu akquirieren erschien ihm als eine sehr schwierige Aufgabe, von der ernicht so recht wusste, wie er sie anpacken sollte.

20.8 Zusammenfassung

Beck fühlte das erste Mal in seinem Leben, dass sich ihm die Möglichkeit für ein bes-seres Leben bot. Als er sich in seinem bescheidenen Ein-Zimmer-Apartment umsah,fühlte er zum ersten Mal ein Gefühl von Zuversicht.

Obwohl sein Leben bisher nicht gut verlaufen war, hatte es sich dramatisch verän-dert, seit er nach Stockholm gezogen war. Beck hatte Angst, aber er war auch erwar-tungsvoll angesichts der Möglichkeiten, die vor ihm lagen. Aber es waren eine Reihevon Entscheidungen zu treffen. Als Erstes musste Beck entscheiden, ob er es riskie-ren wollte, der Bank die Wahrheit über seine dunkle Vergangenheit und seine Zeitim Gefängnis zu erzählen. Er musste sich weiterhin festlegen, welche Finanzierungs-quellen er letztlich nutzen wollte und wie er dann seine Finanzierungsprioritäten set-zen sollte.

Schließlich hatte Beck am nächsten Morgen sein Abschlusstreffen mit Next Step,um seinen Businessplan durchzugehen. Er hoffte, Rat zu bekommen, wie er Kundengewinnen konnte. Dies war die letzte Gelegenheit, Unterstützung für die Gründungseines Unternehmens zu erhalten, bevor er sich mit einer Bank traf oder er seine Be-werbung um Finanzierung bei Next Step einreichte. Also musste Beck sich als zuver-sichtlicher Geschäftsmann mit einem durchdachten Businessplan präsentieren, umdie Finanzierungszusage für seine Existenzgründung zu erhalten. Ja, er war erwar-tungsvoll, und voller Angst zugleich.

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21Kofola Holding (Slowakei)

Martina L. Jakl & Sascha Kraus

21.1 Einleitung

Martin Klofonda, Marketing Manager der slowakischen Firma Kofola Holding, saßAnfang Dezember 2009 entspannt in seinem Büro. Das Jahr war sehr erfolgreich fürden Getränkehersteller verlaufen, und für Martin Klofonda stand fest, dass sie 2010eine beträchtliche Summe in ihre diversen Marken investieren konnten. Als ge-schätzter und sehr erfahrender Manager innerhalb der Unternehmensgruppe war ergebeten worden, sich Gedanken über die künftige Planung zu machen, um sie aufder nächsten Managementbesprechung zu präsentieren. Nach Meinung des CEOwar Kofola im Gastgewerbe nur schwach vertreten, hier sollten verstärkt Aktivitätengesetzt werden. Die Aktivitäten im Einzelhandel sollten ebenfalls weiter verstärktwerden. Der CEO erwartete Vorschläge bezüglich der Entwicklung von einzelnenMarken der Gruppe, denn neben „Kofola“ (ein kohlensäurehaltiger cola-ähnlicherSoftdrink) gab es noch weitere starke Marken. Zudem hatte er Martin ausdrücklichgebeten, sich mit ihrem jüngsten Produkt, „Vinea“, zu beschäftigen.

Seit 2008 besaß die Kofola Holding das nicht-alkoholische Weingetränk Vinea,welches insbesondere in der Slowakei eine sehr beliebte Marke war, wo es vor vierzigJahren erfunden wurde. Martin beobachtete:

„Vinea ist schon seit einigen Jahren eine sehr erfolgreiche Marke. Kofala arbeitet immer mit starkenMarken. Wenn man regionale Manager fragt, gehört Vinea zu den meist gefragten Marken in derTschechischen Republik und der Slowakei.“

Er erinnerte sich an die Aussage von Marian Sefcovic, dem CEO der slowakischenTochter von Kofola, dass Vinea ein signifikantes Marktpotenzial auf dem Softdrink-Markt hat. Es war nicht einfach gewesen, Vinea zu erwerben, da das Unternehmenwarten musste, bis der Eigentümer, ein slowakischer Milliardär, sein Investment-portfolio umorganisierte. Bis 2006 herrschte ein Kampf um die Markenrechte, auswelchem das Vitis Pezinok-Unternehmen als Sieger hervorging. Im Februar 2008übernahm Kofola die Marke Vinea von dem slowakischen Unternehmen Vitis Pezi-nok für mehr als Sk 200 Millionen (ungefähr € 6 Millionen).

Zwar war 2009 ein umsatzstarkes Jahr, doch in diesem Jahr wurde die Kofola Hol-ding mit dem polnischen Unternehmen Hoop zusammen in eine Dachgesellschafteingebracht, und ging an die Warschauer Börse. Nach der Umstrukturierung des ge-samten Unternehmens fühlte das Management der Kofola Holding, dass die Zeit ge-kommen war, aggressiver aufzutreten und auch in internationalen Märkten tätig zu

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308 21 Kofola Holding (Slowakei)

werden. Tatsächlich hatte das Unternehmen bereits mit Erfolg begonnen, ihr Vor-zeigeprodukt Kofola in nahe gelegenen Märkten wie Deutschland oder Österreichzu verkaufen. Kofola Holding wollte auch Vinea erfolgreich internationalisieren.Obwohl viele Slowaken in der Tschechischen Republik lebten, wurde das Getränkimmer noch nicht offiziell dort verkauft. Die Kofola Holding musste eine Strategieentwickeln. Viele Ideen wurden auf den Tisch gebracht, undMartin musste entschei-den, welche Strategie die erfolgreichste sein würde, um Vinea im tschechischenMarkt einzuführen.

21.2 Vinea – Der bekannteste Softdrink in der Slowakei

Vinea ist ein kohlensäurehaltiges, auf Trauben basierendes Softgetränk. Der Ur-sprung dieses Getränkes führt zurück bis ins Jahr 1973 zu einem Forschungsinstitutfür Weinanbau und Weinherstellung. Dort arbeitete der Biochemiker Jan Frakas, alser einen offiziellen Auftrag der kommunistischen Führung erhielt, „ein Softgetränkzu produzieren, welches gut für die Gesundheit und fähig ist mit kapitalistischenProdukten zu konkurrieren“. Jan Farkas wurde durch traditionelle Softgetränke inden Karpaten inspiriert, wo seit Hunderten von Jahren Trauben mit Wasser ver-mischt wurden. Das Endprodukt wurde im Jahre 1974 eingeführt und basierte aufgepressten Trauben mit einem hohen Fruchtzuckeranteil, Mineralien und B-Vitami-nen, und erfüllte so die Anforderungen eines gesunden Softdrinks.

Ab 1974 wurde Vinea in zwei Produktionsstätten hergestellt: Malokarpatskývinársky podnik, a.s. Pezinok (auch als MVP bekannt) und Vino Nitra, a.s. Es gabeine kohlensäurehaltige und eine stille Version aus Weiß- und Rotwein. Das Produktwurde ein großer Erfolg und in den 1980er Jahren sogar in die USA und nach Ka-nada exportiert (was zur damaligen Zeit in der Tschechoslowakei eine Seltenheitwar). Allerdings wurde zwischen 1994 und 1997 die Produktion eingestellt, denndie meisten Verbraucher verlangten nunmehr nach Westprodukten. Das Jahr 2006war die Wiedergeburt von Vinea mit einer neuen Marketingkampagne, aber dieswar auch die Zeit des Rechtsstreits zwischen MVP und Vino Nitra. Am 31. Januar2008 übernahm Kofola die Marke Vinea und verlagerte die Produktion ins slowaki-schen Rajecke Lesne, wo es die beste Wasserqualität gab. Kofala hat die Marketing-und Marktpositionierungsstrategie des Getränkes verändert. Vinea wurde als trendi-ges Getränk für junge Frauen positioniert. So wurden beispielsweise Swarovski-Steine in die Werbekampagne integriert. In 2009 wurde Vinea in der Slowakei aufdem Softgetränkemarkt für Getränke mit Trauben und kohlensäurehaltigem Frucht-saft die Marke Nummer 1.

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21.3 Retro-Marken auf demWeg zurück an die Spitze

Nach der „samtenen Revolution“ hatte sich der Einzelhandel in der Tschechoslowa-kei (und in anderen osteuropäischen Ländern) dramatisch verändert. Nach wenigenJahren gab es überall im Land Lebensmittelketten wie Tesco (britisch), Lidl (deutsch)und Spar (niederländisch). Auch Weltmarken wie Mars, Pepsi und Magnum hattensich im Gedächtnis der Kunden verankert. Dieser Trend vernichtete fast alle traditio-nellen Marken aus der kommunistischen Zeit. Am 1. Januar 1993 wurde die Tsche-choslowakei in zwei Länder aufgeteilt: Die Slowakei und die Tschechische Republikgingen von da an getrennteWege. Einige Zeit später wandten sich viele Konsumentenab von der Haltung der 1990er Jahre, dass nur westliche Produkte von guter Qualitätseien. Sie erinnerten sich wieder an traditionelle Marken wie Kofola und Vinea. Mar-ketingexperten prägten den Begriff „Retro Brand“ für die Wiederauferstehung dertraditionellen kommunistischen Marken. Für Kofola begann die Neupositionierung2002 mit einigen geschickten Marketingkampagnen. Kofola wurde das bestverkauftenicht-alkoholische Getränk in der Slowakei und nach Coca Cola das zweitbeliebtestein der Tschechischen Republik. Das Hauptproblem bei dieser Neupositionierung vonRetro-Marken war, wie ein Unternehmen am effektivsten die junge Generation an-sprechen sollte, die diese Marke nicht aus der Kindheit oder dem jungen Erwachse-nenleben kannte. Die Marketingkampagne von Kofola und Vinea richtete sich anjunge Kunden (die Mehrheit der Konsumenten in der Slowakei sind jung), indemsie traditionelle Werte betonte und Bezüge zur kommunistischen Zeit vermied. Daswar ein heikler Balanceakt.

21.4 Der Markt für nicht-alkoholische Getränke in derTschechischen Republik

Martin begannRecherchen zu lesen, welche er schon für denMarkt von nicht-alkoho-lischen Getränken in der Tschechischen Republik erstellt hatte. Er wusste, dass es inden frühen 1990er Jahren aggressive Eintrittsstrategien von internationalen Markenwie Coca Cola und PepsiCo in den Softdrinkmarkt der Tschechischen Republik ge-geben hatte. Diese Gigantenwurden innerhalb kürzester ZeitMarktführer in der Soft-getränkeindustrie und behielten diese Position die letzten zwei Jahrzehnte hindurch,obwohl die Kofola Holding nach ihrem Comeback zum drittstärksten Softgetränke-hersteller in derTschechischenRepublikwurde.DaherwarendieHauptkonkurrentenvon Kofola (abgesehen von Mineralwasserherstellern) Coca Cola Beverages CZ undGeneral Bottlers CZ (Pepsi Cola), welche, abgesehen von Cola-Getränken, viele wei-tere Marken in ihren Produktportfolios hatten. Laut Euromonitor gab es 2009 fünfUnternehmen, welche denmit einemMarktanteil von über 70% (siehe Tabelle weiterunten) Großteil des Marktes abdeckten. Diese waren Coca Cola Beverages, GeneralBottlers, Kofola, Maspex Czech und Fontea. Von diesenwuchs Kofola am schnellsten,auch als Resultat ihrer gutenMarketingstrategien, basierend auf geschickter Kommu-nikation und Innovation (zumBeispiel Kofolamit Kirscharoma).

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Tab. 1: Marktanteil von Karbonaten nach Handelswerten, 2005–2009

2005 2006 2007 2008 2009

Coca Cola Beverages CR sro 33.1 33.3 33.4 33.7 33.6

General Bottlers CR sro 26.4 26.9 27.1 27.6 27.9

Kofola as 9.7 10.6 11.5 13.1 15.0

Maspex Czech spol sro – 4.1 4.1 4.0 3.8

Fontea as 4.1 4.2 3.6 2.5 2.3

Walmark as 4.8 0.6 0.6 0.6 0.7

Zon sro 0.3 0.3 0.3 0.3 0.3

Veseta spol sro 0.1 0.1 0.0 0.0 –

Santa Napoje Krnov as – – – – –

Limova sro – – – – –

Nealko Napoje as – – – – –

Sodovkarna Merito as – – – – –

Private Marken 6.9 6.7 6.7 6.7 6.6

Andere 14.6 13.2 12.5 11.3 9.9

Gesamt 100.0 100.0 100.0 100.0 100.0

Quelle: Wirtschaftsverband, Fachpresse, Handelsinterviews, Euromonitor Internationale Schätzun-gen

Laut dem Generalsekretär der Vereinigung für nicht-alkoholische Softgetränke kon-sumieren die Tschechen die meisten nicht-alkoholischen Softgetränke in Europa.Aktuelle Studien von Euromonitor prognostizieren jedoch einen Rückgang des Um-satzes bei kohlensäurehaltigen Getränken (voraussichtlich 3% innerhalb der nächs-ten drei Jahre) zugunsten des Absatzes von Sirupen und Konzentraten. Ein Grunddafür könnte ein stärkerer Konsumentenfokus auf gesündere Getränke sein. Aberauch die aktuelle ökonomische Krise könnte negative Auswirkungen auf den Absatzhaben.

Ein weiteres wachsendes Segment im Markt für nicht-alkoholische Getränke inder Tschechischen Republik war aromatisiertes Mineralwasser, ein Segment, in wel-chem Kofola stark war und weiteres Wachstumspotenzial sah. Vinea stellte eine per-fekte Ergänzung für diesen Markt dar und daher war das Kofola-Team überzeugt,dass Vinea angesichts der aktuellen Trendveränderungen auf dem tschechischenMarkt erfolgreich sein konnte. Die Studie des Euromonitors unterstützt diese Er-wartungen und sieht einen dauerhaften „Wellness- und Gesundheits-Trend“ in dertschechischen Softgetränkeindustrie, wo Konsumenten Softgetränke mit „zugesetz-ten Vitaminen, Mineralien, Antioxidanten, Kräutern und weniger Zuckergehalt undfrei von künstlichen Farbstoffen und Konservierungsmitteln“ bevorzugen werden.

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Tab. 2: Umsatzprognose von Karbonaten nach Teilsektoren, 2009–2014

Millionen Liter 2009 2010 2011 2012 2013 2014

Cola-Karbonate 223.8 229.8 235.7 241.5 247.0 252.3

– Reguläre Cola-Karbonate 178.4 181.6 184.8 187.8 190.6 193.2

– Kalorienarme Cola-Karbonate 45.4 48.2 50.9 53.6 56.4 59.1

Nicht-Cola-Karbonate 219.2 205.6 194.5 186.4 180.4 175.6

– Limonade/Zitrone 87.7 82.7 78.1 74.8 72.6 70.5

– Orangen-Karbonate 78.2 72.5 68.3 65.5 63.3 61.6

– Mischgetränke 14.3 12.5 11.0 9.8 8.9 8.4

– Andere Nicht-Cola-Karbonate 39.0 38.0 37.1 36.3 35.6 35.0

Karbonate 442.9 435.4 430.2 427.8 427.3 427.8

Quelle: Offizielle Tabellen, Wirtschaftsverband, Fachpresse, Firmenuntersuchung, Handelsinter-views, Euromonitor Internationale Schätzung

21.5 Die Kofola Holding

Obwohl Kofola an der Warschauer Börse notiert war, war es noch immer ein Fami-lienunternehmen, welches zu 57% im Besitz der griechischen Familie Samara stand.Ursprünglich war das Unternehmen unter den Namen „Santa Napoje“ registriert,und im Jahre 2002 kauften sie den Markennamen und das Geheimrezept für denKofo-Sirup – die Basis von Kofola – von Ivax, einem Pharmaunternehmen. NachJannis Samara, dem CEO von Kofola, war dies „die beste Entscheidung, die Kofolajemals getroffen hatte„. Der Kofo-Sirup war ein tschechischer Colaersatz, mit einemgeringeren Zucker- und Koffeingehalt als bei klassischen Colagetränken. Außerdembestand es aus einer breiten Vielfalt an Kräutern. 2002 wurde der Firmenname zuKofola geändert, um eine klare Verbindung zur Marke herzustellen. MehrereSchwesterunternehmen in Polen, Ungarn und der Slowakei wurden gegründet, undes gab Übernahmen wie die von Klimo, einem führenden inländischen Produzentenvon Softgetränken. Als Ergebnis hatte Kofola vier Produktionen in verschiedenenLändern und einen Firmenhauptsitz in Ostböhmen. Ende 2007 schloss sich Kofolamit der polnischen Firma Hoop zusammen, um Synergien zu nutzen und Zugangzur Warschauer Börse zu bekommen. So wurde Kofola einer der bedeutendsten Spie-ler in Zentral- und Osteuropa. Einer der letzten Errungenschaften war der Zukaufvon Vinea im Jahre 2008. Das Unternehmen wird immer noch von der Samara-Fa-milie geführt, jedoch zusammen mit professionellen Managern. Im Jahre 2009 kamein Drittel des gesamten Umsatzes aus Polen, ein Viertel aus der Tschechischen Re-publik und Russland und aus der Slowakei 15%. Im Dezember 2009 hatte Kofola2.714 Mitarbeiter, davon 899 in Polen, 839 in der Tschechischen Republik, 550 inRussland und 426 in der Slowakei.

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21.6 Produktportfolio

Durch die Verbreiterung der Firmenaktivitäten in den letzten Jahren war die Struk-tur des aktuellen Produktportfolios gewachsen:1. Kohlensäurehaltige Cola-Getränke:

a. Kofola Kofola Original und Kofola Zitrus (lanciert in 2004)b. RC Cola (lanciert in 2002, hergestellt unter Lizenz für Cadbury Schweppes

Plc.)2. Kohlensäurehaltige Getränke ohne Cola (Obst-/Gemüsesaft, Konzentrate):

a. Chito Tonicb. Vinea und Top Topic (Traubenlimonade)c. Jupi (Nektar und Saftgetränke)d. Jupik und Capri-Sonne (Saftgetränke)

3. Tafelwassera. Rajec, lanciert 2004

Bei den kohlesäurehaltigen Cola-Getränken war Kofola gut aufgestellt, da sie Pro-dukte für verschiedene Konsumentengruppen anbieten konnten. Kofola war die Pre-miummarke, RC Cola ein eher günstigeres Produkt, das man auch in Kleinauflagenfür Privatkunden herstellen konnte. In der Nicht-Cola-Sparte hatten sie verschiedeneMarken sowie Jupik, welche bei Kindern sehr beliebt war. Ihre eigene Traubenlimo-nade, Top Topic, auch ein klassisches Getränk, war nicht so erfolgreich wie die an-derenMarken. Aber es wurde überlegt, aromatisierte Variationen vonTopTopic unterdemNamen „Ego“ zu produzieren. Im Tafelwassermarkt wurde ihreMarke Rajec mitneuenAromenwie „Bäume“oder „Kräuter-Würze“ erweitert, was sich als sehr erfolg-reich herausstellte. Mit einem jährlichen Umsatz von fast PLN 1.2 Milliarden (unge-fähr € 360 Millionen) war Kofola das drittgrößte Unternehmen auf seinem Sektorauf dem polnischen und tschechischen und das zweitgrößte auf dem slowakischenMarkt. In der Slowakei, wo Kofola das bevorzugte Cola-Getränk war, war das Unter-nehmen sogarMarktführer auf demMarkt für kohlensäurehaltige Softgetränke.

Tab. 3: Kofola Holding, Wettbewerbsposition in CZ (2009)

Produktgruppe Marktanteil Rang

Cola-Karbonate 22.0% 3

Frucht-/Gemüsesaft 8.5% 4

Tafelwasser 4.0% 7

Flüssige Konzentrate 27.2% 1

Quelle: Euromonitor International

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21.7 Die Möglichkeiten

Als er seinen überladenen Schreibtisch überblicke, wurde Martin Klofonda klar, dassdas umfassende strategische Ziel von Kofola völlig eindeutig war:

„Einer der drei größten Softgetränkehersteller in Zentraleuropa zu werden, was auch geographischeExpansion bedeutet.“

Um dieses Ziel zu verwirklichen, musste er Kolfola und andere Marken wie Rajecoder Vinea aggressiv in den Handel bringen. Zwar war Kofola als ein sehr innovati-ves Unternehmen bekannt, dem es gelungen war, Vinea wieder auf die Einkaufslistentschechischer Konsumenten zu bringen. Der Innovations- und Marketingprozessdahinter war jedoch noch nicht sehr professionell. Die letzte Brainstorming-Sitzungder Angestellten hatte eine Reihe von Vorschlägen gebracht, und Martin Klofondaanalysierte nun die Vorteile und Nachteile jedes Vorschlags:1. Behalte die gleiche Marketingstrategie bei wie in der Slowakei

Kofola hatte begonnen, Vinea in der Slowakei als ein hochklassiges, modernesGetränk für junge Frauen zu positionieren. Dies wurde von einer Marketingkam-pagne mit Swarovski-Steinen unterstützt und schien gut zu funktionieren. Diesehochklassige Positionierung ermöglichte es, Neukunden anzuziehen, welche Vi-nea zuvor noch nicht kannten. Zudem war zu erwarten, dass diejenigen, welcheVinea bereits kannten, es aufgrund seiner Geschichte kaufen würden.

2. Behalte die gleiche Marketingstrategie wie in der Slowakei, aber ändere die Po-sitionierung von Top TopicDie Strategierichtung wäre die gleiche, würde aber eine Repositionierung vonTop Topic und der neuen Produktpalette (Ego) nötig machen. Allerdings dachteMartin, dass dies die Konsumenten eventuell verwirren könnte, und dass eineKannibalisierung möglich sei. Daher könnte die Positionierung von Top Topicverändert werden. Aber wie?

3. Verkaufe Vinea nur im Gastgewebe (Restaurants, Hotels usw.), und Top Topicim EinzelhandelEiner der einfachsten Wege zur Vermeidung von Kannibalisierung wäre die Ver-wendung von separaten Vertriebskanälen für beide Produkte. So könnte Vineaseine Premium-Position beibehalten.

4. Steig nicht in den tschechischen Markt ein, um Top Topic nicht zu kannibali-sierenEines der Mitglieder fügte hinzu, dass eine weitere Lösung sein könnte, nicht inden tschechischen Markt einzusteigen. Die aktuellen Daten des Euromonitors er-warteten einen Rückgang bei karbonisierten Getränken. Daher könnten zweiMarken mit vergleichbarem Geschmack auf dem gleichen Markt zu viel sein.

Marin Klofonda begann darüber nachzudenken, wie er jede dieser Optionen ein-schätzen sollte. Er hatte noch nicht darüber nachgedacht, eventuell nicht mit Vineain den tschechischen Markt einzutreten. Das Treffen mit dem CEO war für morgenin seinem Kalender markiert, und so hatte er noch einige Stunden um seine Ein-schätzung zu treffen und die beste Strategie für das Unternehmen vorzuschlagen.

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22Tic Lens (Slowenien)

Iztok Palcic & Christian Serarols

22.1 Einleitung

Matjaz Milfelner sah den zukünftigen Möglichkeiten und Herausforderungen seinesJoint Ventures optimistisch entgegen. Nach einer Promotion im Bereich Maschinen-bau arbeitete er zunächst in einem erfolgreichen Werkzeugbaubetrieb in Celje, Slo-wenien, als sich ihm eine unerwartete Gelegenheit bot. Matjaz erklärt:

„Ich arbeitete gerade an verschiedenen Entwicklungsprojekten und schrieb verschiedene Anträge füreine finanzielle Förderung des Unternehmens, als mir unerwartet die Position des Geschäftsführersdieses kleinen Unternehmens angeboten wurde. Das Unternehmen beschäftigt sich mit der Entwick-lung und Anwendung von zwei Spitzentechnologien. Als Joint Venture wird es jedoch von unter-schiedlichen Investoren beobachtet, die eine Rendite für ihr Investment erwarten. Ich hatte bis dahinweder Erfahrung im Management noch in der Vermarktung von neuen Technologien. Aus diesemGrund stellte das Angebot für mich eine sehr aufregende Herausforderung dar!“

Im Jahr 2008 übernahm Matjaz Milfelner die Geschäftsführung des Hightechunter-nehmens, das als Joint Venture aus einem slowenischen Cluster-Projekt hervorge-gangen war. Der Job war anstrengend und Matjaz hatte zu beweisen, dass die Anwen-dung und der Verkauf von zwei teuren Technologien kein unmögliches Unterfangenwar. Um die Technologien nutzbar zu machen, musste Matjaz sie weiterentwickelnund Unternehmen finden, die ihren potenziellen Nutzen erkennen würden und einInteresse an ihrer Anwendung hatten. Er glaubte jedoch fest daran, dass die welt-weite Nachfrage nach Hightech-Produkten groß war und dass neue Technologienauf großes Interesse stoßen würden, und sah daher der Zukunft optimistisch entge-gen.

22.2 Das Werkzeugbau-Cluster in Slowenien

Der Ursprung des Unternehmens TIC LENS geht auf das Jahr 2001 zurück, als dasslowenische Wirtschaftsministerium begann, industrielle Cluster als Teil eines natio-nalen Wettbewerbsprogramms zu fördern. Nachdem der Vorteil von industriellenClustern erkannt und ein Bedarf an Innovationen und Netzwerken in slowenischenIndustriebetrieben festgestellt worden war, entwickelte das slowenische Wirtschafts-ministerium einen systematischen Ansatz zur Entwicklung von Industrie-Clustern

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und finanzierte die Entwicklung von drei Pilot-Clustern in Slowenien: Werkzeug-bau, Automobile und Transport. Diese Cluster waren in den Jahren von 2001 bis2006 Teil des slowenischen Programms für Entrepreneurship und Wettbewerbs-fähigkeit.

Das Werkzeugbau-Cluster (TCS – Toolmakers Cluster of Slovenia) entwickeltesich zum erfolgreichsten Beispiel dieser staatlich geförderten Cluster-Aktivitäten.Die Vision dieses Clusters war, ein regionales Netzwerk von hoch qualifizierten undspezialisierten Unternehmen und Organisationen zu bilden, das als Forschungs- undEntwicklungspartner mit den Hightech-Branchen in den anderen Ländern der Euro-päischen Union zusammenarbeiten sollte. Das Cluster bestand aus 20 Werkzeugbau-Unternehmen, zwei Universitäten und zahlreichen Forschungsinstituten, verschiede-nen Partnerunternehmen, einer regionalen Entwicklungsagentur und Unternehmenaus dem Dienstleistungssektor, wie z. B. Unternehmensberatungen, IT-Betriebenund Banken. Als Zielmärkte wurden die Automobilbranche, die Luft- und Raum-fahrtindustrie sowie die Haushaltsgeräteindustrie definiert.

Kurz nach der Gründung des Clusters wurde eine internationale Gruppe von Inge-nieuren aus den verschiedenen Unternehmen zusammengestellt. Sie sollten Wissenund Erfahrungen bezüglich bestimmter Technologien austauschen und miteinanderkooperieren. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden verschiedene, sich ergänzendeTechnologien. Das Werkzeugbau-Cluster war darüber hinaus auch das erste sloweni-sche Cluster, das begann eine neue, nochweitestgehend unbekannte Spitzentechnolo-gie im Cluster einzuführen. Hierbei handelte es sich um eine Laser-Technologie mitdemNamen „LENS“, der für „laser engineered net shaping“ stand.

22.3 Die LENS-Technologie

Die LENS-Technologie war eine Laser-Technik, die seit ungefähr 20 Jahren angewen-det und vom Sandia National Laboratory in den USA entwickelte wurde. Grundideewar, die Produktion von Komponenten zu ermöglichen, die nur schwer oder kaumdurch herkömmliche Metallbearbeitungstechniken herzustellen waren. Dabei ent-standen durch das Lasertechnik-Verfahren Schicht für Schicht maximal dichte Me-tallteile aus 3D-Modellen, die unter Verwendung von CAD (Computer-Aided De-sign) entworfen wurden. Der Prozess kann mit traditionellen Verfahren des Rapid-Prototyping verglichen werden, wie z. B. der Laser-Stereolithographie oder der selek-tive Lasersintern (SLS). Diese Verfahren sind generative Schichtbauverfahren, bei de-nen dasWerkstück auf Grundlage von CAD-Daten Schicht für Schicht aus pulverför-migen Ausgangstoffen aufgebaut wird. Durch die koordinierte Zuführung vonMetallpartikeln in einen gebündelten Laserstrahl wird bei diesem Verfahren ein Me-tallteil aufgebaut. Dabei werden auf einer Grundplatte, einem sogenannten Substrat,durch den Laserstrahl Metallpulver zusammengeschweißt. Die gewünschte Quer-schnittsgeometrie entsteht, in dem das Substrat unter der Laserstrahl-Pulver-Inter-aktionszone verschoben wird. Fortlaufend werden weitere Schichten aufgedampft,bis ein dreidimensionales Werkstück entsteht.

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Abb. 1: LENS-Technologie bei der Anwendung

Dieser Prozess revolutionierte die Herstellung von Metallteilen, wie z. B. komplexePrototypen, speziellen Werkzeugen und Kleinserien. Das Ergebnis sind komplexe,dichte und endformnahe Erzeugnisse, die aus unterschiedlichenMaterialen sein kön-nen, wie z. B. rostfreiem Edelstahl, Nickel-basierten Legierungen oder Titan. DieStärke der Technik liegt dabei insbesondere in der Fähigkeit, Metallprodukte mit her-vorragenden metallurgischen Eigenschaften in einer angemessenen Geschwindigkeitherzustellen. Ein Großteil der Forschung wurde zum Zeitpunkt der Erstellung dieserFallstudie nach wie vor in den amerikanischen Laboratorien unternommen. In Eu-ropa gab es nur drei LENS-Anlagen, in Großbritannien, Frankreich und Slowenien.Doch während die Technologie sukzessive an Bedeutung gewann, steckte sie noch ineinem sehr frühen Stadium der Kommerzialisierung.

22.4 Der Prozess der Anschaffung der LENS-Technologie

Die Idee, die LENS-Technologie für das Werkzeugbau-Cluster (TCS) zu erwerben,kam zumerstenMal im Jahr 2002 auf. Zudieser Zeit trat das amerikanischeUnterneh-menWorldTech an denCluster-Manager heran.WorldTech vertrat Optomec ausNewMexico (USA), das die Lasertechnologie entwickelt hatte, und war für die Vermark-tung der LENS-Technologie verantwortlich. Die Idee wurde führenden Managernund anderen Interessenten in Slowenien vorgestellt. Diese erste Präsentation wurdevom slowenischen Wirtschaftsministerium finanziell unterstützt. Obwohl die Mehr-heit der Manager die Technologie faszinierend fand, waren sie auch skeptisch. Ihre

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größte Sorge war das fehlende Wissen über die Technologie. Außerdem konnten siedie Anwendungsmöglichkeiten und den damit verbundenen Nutzen und das Poten-zial der Technologie für denWerkzeugbau und andere Branchen kaum einschätzen.

Aufgrund des gezeigten Interesses an der Technologie wurde WorldTech nocheinmal nach Slowenien eingeladen, um die Möglichkeiten für eine Einführung vonLENS zu diskutieren. Im Anschluss an diesen Besuch wurde eine slowenische For-schergruppe gegründet, die die LENS-Technologie studieren und die Einführungder Technologie in Slowenien begleiten und unterstützen sollte. Noch im selbenJahr reisten sechs Mitglieder der Forschungsgruppe nach New Mexico und besuch-ten das Unternehmen Optomec, um einen Einblick in das Anwendungspotenzialder Technologie zu erhalten. Während ihres Besuchs konnten sie an Demonstra-tionsversuchen teilnehmen, Produktbeispiele einsehen und die Technologie bewer-ten. Durch diese Erfahrung formierte sich innerhalb der Gruppe der allgemeineKonsens, dass die LENS-Technologie technisch machbar sei und sich eine Fülle vonneuen Möglichkeiten und Wettbewerbsvorteilen für TCS entwickeln könnte.

In den Jahren 2003 und 2004 wurde daher eine Machbarkeitsstudie durchgeführt,die das Potenzial einer Implementierung der Technologie in Slowenien systematischanalysieren sollte. Diese detaillierte Studie betonte die Eignung dieser Hochtechnolo-gie und hob einige potenzielle Anwendungsgebiete der Technologie hervor, insbe-sondere im Bereich der Metallindustrie, demWerkzeugbau und der Automobilbran-che. Die Studie enthielt auch eine detaillierte Marktforschungsanalyse bezüglichpotenzieller Anwender und Käufer der Produkte, die mithilfe der LENS-Technologieproduziert werden würden. Dabei wurde betont, dass die umliegenden Regionenvon Slowenien, einschließlich Italien, Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn,Kroatien, Serbien und Griechenland ebenfalls ein großes Interesse an LENS zeigten.Das war ein positives Zeichen, da der slowenische Markt allein für die Einführungeiner solchen Technologie nicht groß genug wäre.

Der nächste Schritt war die Einrichtung einer Gruppe von Unternehmen und an-deren Organisationen, die die Technologie aus den USA nach Slowenien bringenwürden. Die Organisationen und Personen, die an einem Transfer der Technologieinteressiert waren, mussten festgelegt werden. Hierbei handelte es sich primär umUnternehmen der Mittel- und Hightech-Industrie. Dabei mussten grundsätzlichzwei wesentliche Fragen beantwortet werden:1. Welche Unternehmen hatten Interesse an einer Kooperation im F&E-Bereich ba-

sierend auf dieser neuen Technologie?2. Wer war finanziell in der Lage, die Technologie zu erwerben?

Dieser Prozess nahm die Jahre 2005 bis 2007 in Anspruch. Hindernisse für Koopera-tionen zwischen den Cluster-Mitgliedern im Bereich dieser Technologie gab es nicht,da es bislang kaumWissen über diese Technologien bei den Mitgliedern des Clustersgab und daher auch keine Wettbewerbspositionen bedroht waren. Die Cluster-Ma-nager einigten sich daher:

„Wenn eine Technologie so extrem fortgeschritten ist wie die LENS-Technologie, wird kein Unter-nehmen allein die Entwicklung durchführen und allein nutzen“.

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Die Ergebnisse der Machbarkeitsstudie wurden interessierten Akteuren präsentiert.Dazu gehörten F&E-Institutionen in TCS und andere Partner. Im Jahr 2005 musstedie Entscheidung getroffen werden, welche Kerngruppe an Organisationen die Tech-nologie nach Slowenien bringen würde, da viele Unternehmen an der Anwendungder Technologie und einer gemeinsamen Entwicklung interessiert waren. Da dieTechnologie sehr teuer war, war die größte Hürde die Finanzierung des Projektes.Nach einer längeren Verhandlungszeit wurde eine kleine Gruppe von Unternehmenausgewählt, die bereit war, in die Technologie zu investieren und damit die Leitungüber die F&E-Aktivitäten zu übernehmen. Ein Cluster-Manager erklärte zu der Zeit:

„Der Kern der Unternehmen, die die Technologie übernehmen, sollte nicht zu groß sein. Es ist aberwichtig, Unternehmen zu finden, die in der Akquise der Technologie einen direkten Nutzen für sicherkennen. Es wird eine kritische Masse von Unternehmen innerhalb des Clusters geben, die an derspäteren Anwendung der Technologie für ihre eigenen Projekte interessiert ist, sodass man sich wegenpotenzieller Kunden keine Sorge machen muss. Dadurch, dass diese Technologie so vielseitig einsetz-bar ist, erwarten wir, dass viele Spin-offs innerhalb des Clusters entstehen, bei denen die Technologiefür spezifische Zwecke und mit jeweils eigenen Märkten und Käufern für die Produkte und Dienst-leistungen verwendet wird. Wenn man eine solche Spitzentechnologie mit vielfältigen technologi-schen und marktlichen Möglichkeiten erwerben möchte, muss man sich des Risikos bewusst sein. Esgeht hier nicht um das Vertrauen in einem Cluster; Kooperationen werden sich zweifellos einstellen,es besteht aber die Frage des ersten Investments in die Technologie.“

Die Ausgangsidee war, dass verschiedene Werkzeugproduzenten, eine regionale Ent-wicklungsagentur, zwei Universitäten und ein Institut ein Konsortium bilden undein Joint Venture im Bereich der Lasertechnologie gründen würden. Die F&E-Insti-tutionen würden sich dabei nicht finanziell engagieren. Sie würden lediglich ihre Er-fahrung bei F&E-Projekten neuer Technologien einbringen. Am Ende entschlossensich zwei Werkzeugbau-Unternehmen und die regionale Entwicklungsagentur, dieTechnologie zu erwerben und finanzielle Mittel zu investieren. Diese LENS-Gruppebeantragte beim slowenischenWirtschaftsministeriumMittel zur finanziellen Unter-stützung. Die Regierung und die regionale Entwicklungsagentur beschlossen, beimTransfer der LENS-Technologie aus den USA nach Slowenien zu helfen. Im Jahr2006 erhielt die LENS-Gruppe die Förderung.

Im Jahr 2008 konnte die Technologie in Slowenien schließlich eingerichtet wer-den. Die Maschine wurde LENS 850-R genannt.

Die LENS-Technologie sollte jedoch nicht die einzige Technologie in dem JointVenture sein. Die Partner investierten auch in eine weitere interessante Technologie:Laser Cladding, ein Laserbeschichtungsverfahren. Laser Cladding ist ein Hightech-Metallproduktionsverfahren, bei dem dichte Metallkomponenten direkt von einemComputermodell hergestellt werden können. Diese Technik wird insbesondere dazuverwendet, möglichst kosteneffizient High Performance-Metallkomponenten ausMaterialien wie Titan, Edelstahl und Inconel zu produzieren, zu erweitern und zureparieren.

Diese beiden Anlagen mussten Umsätze generieren, sodass sich die hohen Invest-ments des Konsortiums auszahlen würden.

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Abb. 2: LENS und die Laserbeschichtungs-Maschine

22.5 Entwicklung von Geschäftsideen und Erstellung einesBusinessplans

Der erste Businessplan des Unternehmens wurde gegen Ende des Jahres 2006 als Teileines Förderungsantrags für die Finanzierung der Technologie erstellt. Einer derPartner beschreibt die Hauptgeschäftsidee wie folgt:

„Werkzeugbau-Unternehmen sind i. d. R. kleine und mittlere Unternehmen, die Lieferanten für sehrfortgeschrittene Branchen sind, wie z. B. die Automobilindustrie oder die Haushaltsgeräteindustrie.Ihre Position in den Wertschöpfungsketten dieser Branchen zu halten ist eine sehr anspruchsvolleAufgabe. Die großen Unternehmen in diesen Branchen suchen nach flexiblen Unternehmen, dienicht nur als Zulieferer fungieren, sondern auch F&E-Partner sind. Sie müssen daher auf dem neu-sten Stand der Technologien sein, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Ein Investment in eine Spitzen-technologie erfordert jedoch eine hohe Summe an finanziellen Mitteln und Finanzierung war schonimmer ein Problem für KMU. Darüber hinaus bestanden in diesen kleinen Unternehmen einigeWissenslücken, sodass die Idee war, finanzielle Ressourcen, Wissen und Erfahrung miteinander zukombinieren und das mit der Investition verbundene Risiko zu teilen.“

Der Businessplan musste alle notwendigen Bestandteile enthalten. Es dauerte einigeZeit, alle notwendigen Informationen zusammenzutragen. Dazu gehörten:1. Basisdaten über das Joint Venture2. Überblick über Management und Gründer3. Überblick über die Arbeitsbereiche in der Organisation

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4. Ein kurzes Strategie-Statement des Unternehmens5. Eine Marktanalyse6. Eine Investitionsanalyse, Kosten-Nutzen-Analyse etc.

Der Businessplan wurde kurz vor der offiziellen Gründung des Unternehmens imJahr 2008 fertiggestellt. Als Teil des Businessplans wurde eine Marktanalyse für dieLENS- und Laser Cladding-Technologie durchgeführt. Es zeigte sich, dass sich LENS-Technologie insbesondere für die Anforderungen derWerkzeugbau- und Automobil-industrie in Slowenien eignete. Es könnten einzigartige Produkte (funktionelle Proto-typen) mit komplizierten Formen aus verschiedensten Materialien gefertigt, Metall-elemente repariert, Gradientenwerkstoffe produziert und Produkte erneuert werden.Das Marktpotenzial war erheblich. Die Anwendungsmöglichkeiten umspannten dengesamten Produktlebenszyklus vom Konzept und Design über die Produktion bis zuDienstleistungen. Dabei kamen für die Technologien insbesondere die produzieren-den Unternehmen der folgenden Branchen infrage:

22.5.1 Automobilindustrie

Während der Produktentwicklungsphase in der Automobilindustrie kann die LENS-Technologie dazu verwendet werden, schnellstmöglich vollfunktionale Prototypenzu produzieren. Zusätzlich kann die Technologie in speziellen margenstarken An-wendungen als ein niedrig-volumiges Produktionssystem verwendet werden. Bei derHerstellung vonMassenprodukten kann Laser Cladding genutzt werden, um effizien-ter zu produzieren und Produktionswerkzeuge zu reparieren und zu warten, wie z. B.plastische Spritzgussformen oder Gussmodelle für Autos. Im Markt für Ersatz- undZurüstteile kann Laser Cladding einzigartige Reparatur- und Instandsetzungsmög-lichkeiten bieten, die den Produktlebenszyklus verlängern können und Ausfallzeitenreduzieren.

22.5.2 Werkzeugbau

Traditionelle Methoden für den Formenbau benötigen zwischen sieben und zehnverschiedene Produktionsschritte. Jeder einzelne Produktionsschritt bedeutet Zeitund Kosten. Im Vergleich hilft ein additives Laserbeschichtungsverfahren, Werk-zeuge herzustellen und daher die Zeit zu reduzieren, die für die Produktion notwen-dig ist. Dies beeinflusst wiederum die Gesamtkosten. Ein zusätzlicher Nutzen der La-sertechnologie ist seine einzigartige Möglichkeit, kaputte Werkzeuge zu reparieren,die normalerweise entsorgt werden würden. Dies wäre ein zusätzlich interessantesAnwendungsgebiet in der Verteidigungsindustrie.

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22.5.3 Luft- und Raumfahrt

Die Luft- und Raumfahrtindustrie mfahrt stellt eine der wichtigsten Anwendungsge-biete für die LENS-Technik dar. Hier übernahm man schnell neue Legierungen (wiez. B. Titan-Legierungen) für Metallkomponenten, die ein besonders hohes Stärke-Gewicht-Verhältnis aufweisen müssen und ein hohes Widerstandsverhalten gegen-über Ermüdungserscheinungen, Hitze und Korrosion zeigen. Weil Titan besondershart und daher schwierig maschinell zu bearbeiten ist, kann die Bearbeitung ein teu-res CNC-Maschinenzentrum für mehrere Hundert Stunden beanspruchen und einegroße Anzahl von Schneidewerkzeugen abnutzen. Ein Laserformer würde daher 20bis 30% der Kosten einsparen, die durch den Materialverschleiß und den Bedarf anverbrauchbaren Schneidewerkzeugen entstehen.

22.6 Gründung des Unternehmens Tic LENS

Während des Anschaffungsprozesses einigten sich die Investoren darauf, dass sie einneues Unternehmen gründen würden, das für die weitere Entwicklung der beidenTechnologien verantwortlich wäre. Alle drei Investoren in diese Technologie wärendaher auch die Anteilseigner des Joint Ventures. Die Werkzeugbau-Unternehmenhätten jeweils einen Anteil von 56 bzw. 18% am Unternehmen. Die regionale Ent-wicklungsagentur hätte einen Anteil von 26%. Die Gründungsphase von Tic Lensbegann im Januar 2008 und endete im Juli 2008 (Tic LENS steht für technologischesZentrum für LENS-Technologie). Dr. Matjaz Milfelner wurde als Geschäftsführer er-nannt. Neben seiner Rolle als Geschäftsführer arbeitete er als Wissenschaftler an denAnwendungen der Technologien. Die eigentliche F&E-Arbeit fand noch immer imamerikanischen Unternehmen statt. Hinzu kamen drei weitere Beschäftigte. Derzweite Beschäftigte war ein Betriebswirt, der Aufgaben des Verkaufs und Vertriebsübernahm. Die anderen beiden Mitarbeiter waren für die Programmierung und denBetrieb der Maschinenanlage zuständig und waren ebenfalls teilweise in F&E tätig.

Tic LENS war das erste Unternehmen in Slowenien, das eine große Bandbreitevon Metallproduktionen und Reparaturanwendungen mit der neuesten Lasertech-nologie anbot und entwickelte. Das Kerngeschäft des Unternehmens war die Erfor-schung und Entwicklung von Laser Cladding-Anwendungen sowie das Finden vonLösungen für die Metallproduktion und -reparatur mit der LENS-Technologie fürverschiedene Branchen und Einsatzbereiche. Das Hauptaugenmerk lag darauf, dasSchichtenverfahren zu nutzen, um Prototypen herzustellen und Laserhärtungenvon Metallteilen vorzunehmen. Das Unternehmen war daher auf zwei Bereiche spe-zialisiert: Laserhärtung und Endformung von Material durch Lasertechnik. DiesesWissen wollte es den regionalen Unternehmen anbieten. Mit der LENS-Technologieerhoffte sich Tic LENS einen Wettbewerbsvorteil vor anderen Anbietern bei derOberflächenhärtung durch Laser und die Umhüllung der fertigen Produkte. Dabeiwollten sie sich zunächst auf die Werkzeugbau- und Automobilindustrie konzentrie-ren, später auf die Luft- und Raumfahrt sowie andere Branchen. Sie wollten ein Ka-

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talysator für die Entwicklung neuer Technologiedienstleistungen und neuer Pro-dukte sein und damit neue Jobs und höherwertige Produkte in der Wertschöpfungin Slowenien schaffen.

22.7 Der neue Geschäftsführer Matjaz Milfelner

Matjaz Milfelner studierte Maschinenbau an der Universität Maribor und schrieb ander dortigen technischen Fakultät seine Doktorarbeit. Nach der Fertigstellung derDissertation arbeitete er als Wissenschaftler und wurde von der slowenischen Regie-rung finanziell gefördert. Sein Forschungsgebiet umfasst Produktionstechnologien,wie z. B. Hochleistungsfräsen. Kurz nach der Promotion schrieb er sich in einem an-deren staatlichen Forschungsprogramm ein, bei dem die slowenische RegierungTeile der Gehälter der Experten, die in bestimmten Unternehmen beschäftigt waren,übernahm. Er begann, als Forscher und Projektmanager in einemWerkzeugbau-Un-ternehmen zu arbeiten, das später der Hauptinvestor der LENS-Technologie wurde.Matjaz absolvierte nie eine betriebswirtschaftliche Ausbildung, besuchte aber Semi-nare und Workshops im Bereich Projektmanagement. Nichtsdestotrotz erwies ersich als guter Projektmanager und wurde im Alter von 35 Jahren zum Geschäftsfüh-rer des neu gegründeten Unternehmens Tic LENS ernannt.

22.8 Aktuelle Aktivitäten und Projekte

Matjaz begann schnell, einen Kundenstamm für die Laser Cladding-Technologie auf-zubauen. Die ersten Kunden waren hauptsächlich in Slowenien ansässig. Der einzigegroße und etablierte Kunde außerhalb Sloweniens kam aus Österreich. Tic LENS botDienste für produzierende Unternehmen in unterschiedlichen Branchen an (Werk-zeugbau, Maschinenbauunternehmen etc.). Die Laser Cladding-Technologie eignetesich hervorragend für verschiedene Dienstleistungen, einschließlich der Wartungund Reparatur von verschlissenen Werkzeugen, Antrieben oder Achsen etc. Dadurchkann die Haltbarkeit der Metallteile erhöht und die Lebensdauer verlängert werden.

Da zunächst keine Kunden für die LENS-Technologie gefunden werden konnten,konzentrierten sich die Bemühungen in diesem Bereich zuerst auf die F&E. Tic Lenskaufte verschiedene Materialien (Pulver) und produzierte und testete unterschied-liche Prototypen. Aus diesem Datenmaterial konnte man eine Datenbank aufbauen,in denen Informationen zu Materialien, Verarbeitung und verschiedenen Technolo-gieparametern enthalten waren. In dieser Phase benötigte das Unternehmen zusätz-liche finanzielle Mittel, um die Technologieentwicklung zu finanzieren. Tic LENSstellte daher Projektanträge für verschiedene Förderprogramme in Slowenien undbei der EU. Einige der Projektanträge wurden genehmigt. Für Matjaz waren dieseMittel extrem wichtig, um die Entwicklung und das Marketing der neuen Technolo-gie voranzutreiben.

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Das Unternehmen kooperierte mit zahlreichen F&E-Entwicklungsinstitutionenin Slowenien (Fakultät für Maschinenbau in Ljubljana und in Maribor, medizinischeFakultät in Ljubljana) und konnte ebenfalls F&E-Partner in Österreich und Deutsch-land gewinnen. Einer der wichtigsten Partner kam dabei aus Dresden – das berühmteFraunhofer Institut. Das Unternehmen wurde auch Partner innerhalb eines Techno-logiezentrums der Luft- und Raumfahrtindustrie, das kurz zuvor in Slowenien ge-gründet worden war. Matjaz hoffte, dass dieses Zentrum eine gute Gelegenheit bietenwürde, anspruchsvolle Branchen, wie z. B. die Luft- und Raumfahrt anzusprechen.

Leider erzielte Tic LENS bislang noch keine Gewinne, sodass es immer schwieri-ger wurde, die Finanzierung des Unternehmens in dieser Entwicklungsphase sicher-zustellen. Zwar erhielt das Unternehmen einige Finanzmittel von den beteiligtenUnternehmen des Werkzeugbaus und von heimischen und internationalen F&E-Projekten sowie vom slowenischen Unternehmensfonds, der z. T. die Gehälter derWissenschaftler zahlte, dennoch war es eine konstante Anstrengung, die Liquiditätzu halten.

22.9 Probleme mit der Technologie

Matjaz hatte sich vorgestellt, dass sich Technologien mit großemMarktpotenzial ein-fach vermarkten ließen. Dennoch blühte das Geschäft in den ersten zwei Jahrenkaum auf. Obwohl die Machbarkeitsstudie eine große Anzahl anMöglichkeiten iden-tifiziert hatte, in denen die beiden Technologien verwendet werden könnten, sah dieRealität anders aus. Potenzielle Käufer zeigten nicht den erhofften Enthusiasmus ge-genüber den neuen Technologien. Die überwiegende Mehrheit der Umsätze entstanddurch die Anwendung der Laser Cladding-Technologie, obwohl diese Technologieim Vergleich zur LENS-Technologie keinen technologischen Durchbruch darstellte.

Während einige Kunden die LENS-Technologie bereits kannten, konnten vieledas Potenzial der Technologie nicht erkennen. Das Problem bestand darin, dass sichInformationen über neue Technologien i. d. R. nicht so schnell verbreiten. Aus die-sem Grund war die Vermarktung für Matjaz sehr schwierig. Er bemerkte auch, dasspersonelle, zeitliche und finanzielle Ressourcen fehlten, ebenso wie das notwendigeMarketingwissen, um eine Massenkampagne durchzuführen und die Technologiedadurch am Markt bekannt zu machen. Er versuchte zwar, verschiedene potenzielleKunden telefonisch zu kontaktieren und die neue Technologie zu erklären, trotzdemkonnte der Großteil von ihnen das Anwendungspotenzial nicht erkennen. Er bot zu-dem kostenlose Demonstrationen in seinem Unternehmen an, aber seine Bemühun-gen fanden kaumWiderhall.

Der Nachteil der Laser Cladding-Technologie war der leicht höhere Preis, der fürdie Nutzung der Technik im Vergleich zu den herkömmlichen Technologien erho-ben wurde. Einige Kunden verstanden nicht, dass die Reparatur ihrer Werkzeugegünstiger war, als neue zu kaufen. Zusätzlich vertrauten sie der neuen Technologienicht. Die LENS-Technologie stellte jedoch ein noch größeres Problem dar, da dieseTechnologie in Slowenien völlig neu war, sogar relativ neu für den europäischen

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Markt. Die Technologie ist nicht nur sehr teuer, die Produktion von Produkten waraußerdem sehr komplex. Das größte Problem bestand jedoch darin, dass die Techno-logie selbst noch in der Entwicklungsphase war und noch eine Vielzahl von Tests vonverschiedenen Materialien und Verarbeitungsparametern notwendig war. Der Groß-teil der Arbeit an der LENS-Apparatur war daher nach wie vor auf die Forschungund Entwicklung der Technologie fokussiert.

Doch während sich diese Technologie bereits für spezifische Anwendungen eig-nete, fehlten die Kunden, die die Technologie auch wirklich nutzen wollten. Zusätz-lich verschwanden potenzielle Kunden, die im Rahmen der Machbarkeitsanalyseidentifiziert wurden, vom Markt. Eine ähnliche Situation wie bei der Laser Clad-ding-Technologie entstand: Matjaz fehlten auch hier die notwendigen Ressourcen,um die Technologie am Markt bekannt zu machen. Darüber hinaus ließ die ökono-mische Krise, die über Europa hereinbrach, viele Unternehmen zögerlicher bei derInvestition in F&E-Projekte werden. Matjaz gab zu:

„Du musst deine potenziellen Kunden im Detail kennen. Du musst ihre Probleme wissen oder siedazu bringen, ihre Probleme zu präsentieren. Nach der Analyse der Probleme kannst du ihnen einigespezifische Lösungen vorstellen, die mit der LENS- und Laser Cladding-Technologie realisierbarwären. Dennoch wollen die Unternehmen i. d. R. eher kurzfristige Lösungen, die nicht viel kosten.“

Hinzu kam, dass sich die Automobil-, Luft- und Raumfahrt- und Verteidigungsbran-che gegenüber Außenstehenden stark abschottet. Eine Zusammenarbeit als kleinesUnternehmen stellt sich daher als enorm schwierig dar. Ein Unternehmen benötigtZertifikate, ausreichende Ressourcen, gute Referenzen und eine starke Unterstüt-zung durch die Regierung sowie eine gezielte Marketingstrategie, um einen Auftragin diesen Branchen zu erhalten. Das ist für ein kleines Unternehmen kein leichtesUnterfangen.

22.10 Strategie und Zukunft des Unternehmens

Matjaz war fest entschlossen, das Geschäft weiterzuführen und wollte das Unterneh-men mit seinen Technologien zur Profitabilität führen. Die Strategie des Unterneh-mens war nach wie vor, Kunden aus der europäischen Automobil-, Luft- und Raum-fahrttechnik und Verteidigungsindustrie zu finden. Hierfür beabsichtigte er, in naherZukunft einige Unternehmen persönlich zu besuchen. Einen weiteren wichtigen undinteressanten Anwendungsbereich sah er in der Medizintechnologie. Hierfür hattenbereits erste Aktivitäten undTests begonnen. Die LENS-Technologie konnte beispiels-weise dazu verwendet werden, besonders moderne medizinische Implantate herzu-stellen. Im Allgemeinen hatten medizinische Implantationsprodukte jedoch sehrstrengen Anforderungen bezüglich der Materialeigenschaften, der Herstellung undder Funktionalität zu genügen. Diese Anforderungenwaren i. d. R. reguliert und klas-sifiziert, um die Sicherheit und Effizienz in der Patientenversorgung zu gewährleisten.Ein besonders gutes Material für biomedizinische Anwendungen ist die Titanlegie-

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rung Ti6Al4V. Sie zeichnet sich durch hervorragende Eigenschaften im Bereich derSicherheit gegenüber Korrosion, seiner Biokompatibilität und seiner Festigkeit,Dichte und seiner Implantationsfähigkeit in die Knochen aus. Implantate haben spe-zifische Formen undGrößen und sind komplex zu produzieren.Weil die LENS-Tech-nologie eine exzellente Möglichkeit darstellt, solche Produkte auf Basis von Titan-legierungen herzustellen, befand sich Tic Lens auf der Suche nach Partnern in Israelund war dabei, die notwendigen Zertifikate vorzubereiten, um in den medizinischenProduktmarkt vorzudringen. Eine andere bislang ungenutzte Marktnische stellte dieFlugzeugbranche dar. Hier bestanden Erstkontakte zu einem türkischen Unterneh-men.

Matjaz wusste, dass noch viel Arbeit vor ihm lag, aber er war entschlossen, einelangfristige und effektive Strategie mit einer breiten Kundenbasis für sein Unterneh-men zu entwickeln. Er musste lediglich seine Märkte priorisieren und sich auf dieAktivitäten fokussieren, die er unternehmen wollte, um diese Ziele zu erreichen.

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23NAO International (Spanien)

Pablo Migliorini & Christian Serarols

23.1 Der entscheidende Moment

Es war ein Montagmorgen wie jeder andere. Der Sommer 2010 nahte und Carles,Gründer und Vorstandsvorsitzender von NAO, saß in seinem Büro und suchte nachAlternativen, den 30%-igen Verlust seines Unternehmens abzuwenden. Im August2009 hatte Presscut, NAOs größter Kunde, angekündigt, dass sie die Leistungen undDienste von NAO zurückfahren würden und diese mittelfristig vollständig ersetzenwollten. NAO konnte es sich nicht leisten, den Umsatz und den größten Distributorin Spanien zu verlieren. Carles hatte aber bisher keine Lösung gefunden, als AntoineLegrand aus der neu gegründeten Exportabteilung an seine Bürotür klopfte. Antoinebetrat das Büro mit den Worten:

„Entschuldige die Störung, Carles, aber ich habe gute Nachrichten! Allopress, eine französische Pres-seagentur, möchte unsere Datenbank kaufen!“„Das ist in der Tat eine gute Nachricht, Antoine! Möchten sie eine komplett neue Datenbank kaufenoder eher kategorisierte Informationen aus der Datenbank? Vielleicht interessieren sie sich auch fürunsere Webplattform-Lösung, um Onlinemedien abzudecken.“„Nein Carles, sie möchten nur unbegrenzten Zugang zu unserer Online-Nachrichten-Datenbank!“„Haben sie auch nach Gebietsschutz gefragt?“„Oh ja! Sie möchten vollen Gebietsschutz für Frankreich, Luxemburg, Andorra, Belgien und denfranzösischen Teil der Schweiz.“

Ein Moment der Stille folgte. Der Verkauf eines unbegrenzten Zugangs zu NAOs Da-tenbank bedeutete, dass Allopress nicht mehr nach zusätzlichen Diensten wie z. B.nach der Kategorisierung oder der Plattform fragen würde. Vielmehr bedeutet dervon Allopress gewünschte Gebietsschutz, dass NAO zukünftig in den restlichenMärkten in Frankreich und anderen französischsprachigen Ländern und Regionenin Europa im Absatz limitiert war. Carles wusste, dass das nicht gut für die Zukunftseines Unternehmens war. Kurzfristig könnte NAO durch den Verkauf des unbe-grenzten Datenbankzugangs zwar den entstandenen Verlust durch den Rückzugvon Presscut kompensieren, aber langfristig war NAO dann nicht in der Lage, wei-tere Dienstleistungen in den angesprochenen Regionen zu verkaufen. Nach kurzerÜberlegung sagte Carles: „In dem Fall bin ich mir nicht so sicher, ob das so guteNachrichten sind, Antoine“. Carles war jetzt noch unsicherer hinsichtlich der zu-künftigen Strategie und die möglichen Optionen von NAO.

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328 23 NAO International (Spanien)

23.2 Der Hintergrund

News Aggregator Online, S.L. wurde in Girona (Spanien) im Juni 2000 von einerGruppe junger Universitätsabsolventen der Informationstechnik gegründet. Überdie letzten zehn Jahre entwickelte das Unternehmen ein modernes System für dieSammlung, Klassifizierung, Organisation und den Vertrieb von digitalen Informa-tionen. Hierzu kombinierte es die modernste Technologie mit journalistischer Erfah-rung. NAO war praktisch ein Zwischenhändler von Informationen, ein sogenannter„Web Content Aggregator“, der in der gesamten Online-News-Industrie tätig war.NAO lieferte aggregierte Inhalte an Distributoren und Zugangsrechte an Abonnen-ten. Alle ihre Dienstleistungen und Services basierten auf Abonnements und zieltenbesonders auf den B2B-Sektor ab. In Ausnahmefällen lizensierte NAO zudem die ei-gene Technik für bestimmte Anwendungen. Aktuell beobachtete NAO mehr als50.000 Online-Quellen, die rund 500.000 Nachrichten pro Tag generierten.

Die Funktionsweise von NAOs Technologie konnte in vier Schritten zusammen-gefasst werden:1. Suchen/Verfolgen und Festhalten;2. Kategorisieren und Indexieren;3. Anpassen und Managen;4. Integrieren (siehe Anhang zur graphischen Beschreibung von NAOs Techno-

logie).

Zunächst verfolgten NAOs Suchroboter die relevanten Echtzeit-Informationen voneiner langen Liste möglicher Online-Quellen und hielten diese fest. Daraufhin analy-sierte und bewertete die Redaktion sorgfältig jede Quelle von Inhalten hinsichtlichQualität und Tiefe. Neue Quellen wurden konstant hinzugefügt und verfeinert, jenachdem, welche Wünsche der Kunde stellte oder wie sich die Online-Informations-landschaft veränderte. Im Anschluss ermöglichten die sehr guten Filtersysteme, dieInformationen an die Kundenwünsche anzupassen, wobei nicht nur die Quelle, son-dern auch Art und Inhalt der Information betrachtet wurden. Nachdem die Infor-mationen erstmalig kategorisiert waren, bot NAO eine spezielle Auswertungsschnitt-stelle an, mit deren Hilfe die Informationen ganz nach den Wünschen der Kundenausgewertet wurden bzw. weitere Optionen zur Kategorisierung zur Verfügung stan-den: Editieren, löschen oder einfügen von Schlagwörtern, Sprache, Informations-quelle, Art des Inhalts usw. Abschließend bot NAO eine vollständige Integration derInformationen an, inklusive JavaScript-, XML- und RSS-Schnittstellen.

In der ersten Phase der Entwicklung konzentrierte sich NAO auf das Angebotvon aggregierten Inhalten für unterschiedliche Kundenbedürfnisse, wie z. B. Websei-ten, Intranets, Mobiltelefone und Unternehmensportale. Die Kunden bezahlten einemonatliche Gebühr, abhängig von der Anzahl der abgedeckten Quellen und von derAnzahl der Nutzung. Alle diese Dienstleistungen waren darauf abgestimmt, den An-forderungen von Webseiten zu entsprechen und das „Empty Portal Syndrome“ (feh-lende neue Inhalte auf der Webseite) zu vermeiden. Das war der erste Service, denNAO seit Februar 2002 anbot (siehe Anhang 2 für die detaillierte Darstellung der ein-zelnen Produktlinien).

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NAOsWertkette konnte ebenfalls in vier Bereiche differenziert werden: 1. Creators(schreiben neue Nachrichten); 2. Online News Aggregators (wie z. B. NAO); 3. Distri-butoren (vertreiben die Nachrichten an den Endkunden); 4. Endkunde (siehe An-hang 3 für die graphische Darstellung der Wertkette). Der relevante Markt für NAOkonnte in drei Zielgruppen aufgeteilt werden: 1. Presseagenturen (große Distributo-ren); 2. Kommunikationsagenturen (mittelgroße oder kleine Distributoren); 3. Un-ternehmen (grundsätzlich jede Organisation, meistens jedoch solche mit eigenerKommunikationsabteilung). Anhang 4 veranschaulicht die Pyramide der Kundenseg-mente von NAO.

23.3 Die Entwicklung von NAO

Im Jahr 1999 arbeitete Marc als Juniorprofessor am der Universität von Girona undforschte besonders im Bereich des Electronic Commerce und E-Business. Zu dieserZeit schloss Carles sein Masterstudium ab und arbeitete Teilzeit als freier Mitarbeiterzur Entwicklung von Webseiten. Carles stellte Marc ein wirklich interessantes Pro-jekt vor, welches er zuvor betreut und implementiert hatte. Es war die Webseite einesMusikmagazins, welche nach sechs Monaten die Geschäfte einstellen musste, dakeine finanziellen Mittel mehr vorhanden waren und die Betreiber auch keine neuenArtikel liefern konnten. Diese Betreiber (David und Josep), beide bekannte Journa-listen, baten Carles, einen Roboter (ein programmiertes Suchsystem) zu entwickelnum die neuesten Nachrichten anderer Musikportale zu suchen, festzuhalten, zu klas-sifizieren und die klassifizierten Informationen auf der eigenen Webseite einzubin-den. Dieser Roboter sollte die gängigsten Musikportale im Internet durchsuchenund Nachrichten und Artikel zu relevanten Musikthemen finden. Danach solltendie Informationen kategorisiert und die neuen Artikel auf der Startseite des eigenenMusikmagazins veröffentlicht werden.

Marc und Carles realisierten, dass sie weitere Partner einbinden mussten, um dasProjekt erfolgreich umzusetzen. Ihre Kompetenzen lagen im Bereich der Technolo-gie, weniger bei der Geschäftsführung. Sie brauchten neue Partner mit Marketing-,Finanz- und Journalismus-Hintergrund und Berufserfahrung. Während die Unter-nehmer begannen, ihren Businessplan zu verfassen, suchten sie nach möglichenPartnern, die das Team vervollständigen konnten. Nach zahlreichen Präsentationen,Diskussionen und Verhandlungen konnten sie eine Marketing-Agentur einbinden,die neben der Marketingexpertise auch ca. € 36.000 an Startkapital beisteuerte sowiedie beiden Journalisten David und Josep, denen als Erste die Idee des suchenden Ro-boters gekommen war. Am 29. Juni 2000 wurde das Unternehmen offiziell durchden örtlichen Notar aus der Taufe gehoben. Noch während sie die rechtliche Grün-dung des Unternehmens vollzogen, fanden sie außerdem ein 60m2 großes und preis-wertes Büro im Zentrum von Girona zur Miete.

Bereits unmittelbar nach der Gründung von NAO mussten Marc und Carles dieerste Neuausrichtung ihres Unternehmens vollziehen. Sie änderten ihren ursprüng-lichen Plan, ein kostenloses Nachrichtenportal für die Endkunden zur Verfügung zu

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stellen, da besonders die Werbeeinnahmen enorm abfielen und als Resultat keineausreichenden Umsätze aus diesem Geschäftsmodell generiert werden konnten. Des-halb konzentrierten sie sich auf das Anbieten von Inhalten für Webseiten, Intranetsund Extranets. Abhängig vom Abonnement brachten die Webseiten eine monatlicheGebühr für eine konstante Versorgung mit relevanten und aggregierten Nachrichtenund Inhalten ein. Interessanterweise hatte NAO bereits vor dem Launch einen erstenAuftrag. Dieser Auftrag ergab sich aus einem der zahlreichen Besuche von Marc, dieer während der Gründungsphase absolvierte, und wurde zu einer Art Beta-Test fürdie Angebote von NAO.

Ein Auftrag von Presscut im November 2002 und die häufigen Treffen, die zur In-tegration der aggregierten Inhalte auf die Webseiten von Presscut notwendig waren,lenkten die Aufmerksamkeit auf einen neuen Service, den viele Presscut-Kundennachfragen würden: Online-Presseagenturen. Dieser Umstand führte zur zweitenund wichtigsten Phase der Umorientierung von NAOs Geschäftsmodell.

Die Gründer verstanden, dass ihre Technologie auch andersweitig genutzt wer-den konnte, um ihren Service anzubieten: als Presseagentur für weitere (Film-)Be-richterstattung. Dieser Sektor erzielte einen Umsatz von mehr als € 60 Milliarden inSpanien. Außerdem besaß Presscut mehr als 20% dieses Marktes, TNS weitere 20%,und der Rest war weitestgehend fragmentiert. Innerhalb von fünf Monaten kamen25% des Umsatzes aus der Online-Presseagentur. Im März 2003 hatte NAO bereitsden Break-even-Point erreicht und erhielt ein erstes Angebot von Presscut, einenAnteil ihres Unternehmens zu übernehmen. NAO war mittlerweile für Presscut einstrategisches Thema. Von Mitte 2005 bis zum Start der Exportphase begann NAO,den Erfolg aus den begonnenen Marketingaktionen abzugreifen. Dies führte zu einerVerdopplung des Umsatzes von 2005 bis 2008 (siehe Anhang 5).

2008 unternahm NAO die ersten Schritte der Internationalisierung und erkun-dete den französischen und den italienischen Markt. 2009 unterzeichnete der ersteinternationale Kunde in Italien, und im Februar 2010 stellte Carles Antoine Legrandals Vertreter für den internationalen Markt ein. Antoine analysierte sogleich unter-schiedliche europäische Märkte hinsichtlich der Chance, dort auch NAOs Techno-logie anzubieten. Anhang 6 veranschaulicht den Zeitstrahl dieser Entwicklung undfokussiert die wesentlichen Meilensteine in NAOs Entwicklung zu einem internatio-nalen Unternehmen.

23.4 Der Beginn des Exports

Ende 2006 war der spanische Markt für Online-Presseagenturen gesättigt. NAO be-diente mittlerweile 100% von Presscuts Online-Kunden. Presscut wiederum ver-kaufte Presseartikel an Kommunikationsagenturen. Der zweitgrößte Marktteilneh-mer der Branche, TNS, war aufgrund des Abkommens mit Presscut als potenziellerKunde nicht nutzbar. Zudemwaren die Kommunikationsagenturen besonders daraninteressiert, ein aggregiertes Nachrichtenpaket aus allen Medien zu kaufen: TV, Ra-dio, Internet und klassische Zeitungen. Die Basis der Pyramide (Endkunde) war nur

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schwierig zu erreichen, zum einen wegen fehlender Vertriebskapazitäten und zumanderen, weil die Anbahnungskosten für einen einzelnen Kunden normalerweiseseine Umsätze eines gesamten Jahres übersteigen. Daher betrachtete NAO auch aus-ländische Märkte als Alternative zum gesättigten spanischenMarkt. Die nahen Nach-barn, wie Frankreich, Italien und Portugal, waren die ersten Länder, die analysiertwurden. Carles war außerdem der Überzeugung, dass NAOs Dienstleistungen ein-fach zu exportieren seien. NAOs Such-, Klassifizierungs- und Liefertechnologiekonnte in unterschiedlichen Sprachen genutzt werden. Zudem dachte Carles, dassNAOs Technologie mindestens gleichwertig oder besser sei als die angebotenen deranderen Content Aggregators in Europa. Im Dezember 2006 fragte ein mittelgroßerKunde aus Girona an, ob die Plattform auch in Katalan zu übersetzen wäre. Das waretwas vollkommen Neues für Carles, da die Anwendung vollständig in Spanisch ent-wickelt wurde. Aber auch dieses Projekt wurde ein voller Erfolg.

2007 war Presscut immer noch an einer Übernahme von NAO interessiert, aller-dings verliefen die Verhandlungen langatmig, und die Aussicht auf eine Einigungschien eher gering zu sein. Presscuts Angebot wurde von den Besitzern von NAO alseher wundersam gering erachtet und spiegelte nicht ausreichend das Potenzial unddie Umsatzentwicklung des Unternehmens wider. Obwohl die Umsätze bei NAO imJahr 2007 bei € 540.000 lagen, überstieg Presscuts Angebot für eine 10%-ige Über-nahme nie die € 600.000-Grenze. Presscut war mit dieser Situation unzufrieden undwollte einen Ausgleich für den seit 2003 anvisierten, aber niemals vollzogenen Ein-stieg als Anteilseigner. Schnell forderten sie Sonderrabatte und zusätzliche Dienst-leistungen, ohne NAO dafür zu entlohnen. Darüber hinaus verzögerte Presscut dieZahlungen für NAOs Dienstleistungen.

In Anbetracht der Probleme auf dem gesättigten spanischen Markt dachte Carles,dass eine mögliche Lösung für NAOs risikoreiche Situation die Internationalisierungdes Unternehmens sei. Carles wusste auch, dass das Angebot einfach zu exportierenwar und in ausländischen Märkten adaptiert werden konnte. In der Tat waren diebenötigten Strukturen und Ressourcen des Geschäftsbetriebs für eine Internationali-sierung oder eine weiterhin nationale Ausrichtung von NAO identisch. Zudemwaren NAOs Grenzkosten nahe null, sodass lediglich die Verkaufs- und Marketing-kosten für den Export zu decken waren.

23.5 Die Hindernisse

Eines der größten Probleme, mit denen sich NAO beschäftigen musste, waren diemangelnden Vertriebskapazitäten und die fehlende Erfahrung im Auslandsgeschäft.Weder Carles noch das restliche Team hatten die erforderlichen Fähigkeiten, um dieAnforderungen eines internationalen Vertriebsmitarbeiters adäquat abzudecken. Fürdas Inlandsgeschäft hatte NAO einen hervorragenden Vertriebsleiter, der allerdingskeine Fremdsprachen beherrschte und ebenfalls keine Auslandserfahrung besaß. AlsCarles zum Ende 2006 zum ersten Mal COPCA4 nutzen wollte, wurde dementspre-chend eine Absage mit der Begründung erteilt, dass zunächst eine Verbesserung der

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Vertriebskapazitäten zu vollziehen sei, bevor durch COPCA5 Hilfe in Aussicht gestelltwerden könne. Letztendlich vollzog NAO die notwendigen Bemühungen und Ände-rungen, um in den Genuss von COPCAs Unterstützung zu gelangen.

Tatsächlich musste NAO für den internationalen Export allerdings einen grundle-genden Wandel bei seiner Mitarbeiterausstattung vollziehen. Die meisten von NAOsMitarbeiter waren in Girona geboren und waren nur selten aus Katalonien heraus ge-kommen. Nur wenige sprachen Englisch and keiner von ihnen hatte Erfahrung mitinternationalen Unternehmen. NAO war vom Profil eines typischen internationalenDienstleistungsunternehmens weit entfernt. Ein weiteres Hindernis war die Techno-logieleidenschaft. Carles wollte immer ein Unternehmen entwickeln, dass technolo-gische Lösungen an Technologieanbieter vertreibt. Als ein Resultat hatte er bis zu die-ser Zeit den Kundenservice relativ unberücksichtigt gelassen. In diesem Sinne warNAO noch nicht bereit mit internationalen Kunden zu interagieren und den gestiege-nen Kundenanforderungen mit mehr zusätzlichem Service zu begegnen als lediglichmit einer Online-Nachrichten-Datenbank ohne zusätzlichen Mehrwert. Also mussteCarles entscheiden, NAOs Fokus auf Technologie oder auf Kundenservice zu legen.

Selbst wenn die Übersetzung der Software keine große Angelegenheit im Interna-tionalisierungsprozess von NAO darstellt, erfordert die Abdeckung weiterer Online-Nachrichten in unterschiedlichen Sprachen das Wissen von mehrsprachigen Doku-menten und internationalen Journalisten. Zu diesem Zeitpunkt deckte NAO zwarmehr als 2.000 spanische Online-Medienquellen ab, aber weniger als 50 in Italienischund nur einzelne in Französisch oder Portugiesisch. Carles wusste, falls er in nicht-spanischsprechenden Ländern etwas verkaufen wollte, musste er viel mehr neueQuellen in anderen Sprachen nutzen. In Anlehnung an Carles sollte NAOmindestenseine Basisabdeckung der wichtigsten Online-Publikationen in Italien und Frankreichbieten. Zudem implizierte die Abdeckung weiterer Quellen, dass NAO auch mehr In-halte suchen, festhalten und liefernmüsse. NAO bot eineOnline-Nachrichten-Daten-bank extrahiert aus dem Internet, auf die die Kunden Zugriff zu allenNachrichten seit2001 hatten. Diese große Anzahl an Informationen zwang NAO dazu, in das Daten-bank-Management, die Datenspeicherung und die Datenbereitstellung in unter-schiedlichen Ländern zu investieren.

Ein weiteres Aufgabenfeld, welches den Internationalisierungsprozess direkt be-traf, war die unterschiedlicheGesetzgebung hinsichtlich desUrheberrechts vonNach-richten (intellectual property rights – IP). In manchen Ländern, wie Spanien, zahlendie Online Content Aggregators keine Lizenzgebühren. In anderen Ländern, wie z. B.Deutschland, besteht ein viel restriktiveres Urheberrecht, welches die Zahlung von Li-zenzgebühren von Nachrichtenagenturen vorsieht. Als Resultat musste NAO die na-tionalen IP-Gesetze berücksichtigen, bevor ihre Dienstleistungen in diesen Ländernangeboten werden können. Zudem fehlten NAO auch die erforderlichen finanziellenMittel, um potenzielle Märkte näher zu untersuchen oder qualifiziertes Personal ein-zustellen. Carles hatte nicht ausreichendZeit um ausgiebigeMarktstudien zu erstellenund NAO konnte sich keinMarktforschungsunternehmen leisten.

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23.6 Die Märkte

Der nächste Schritt im Internationalisierungsprozess war die Wahl der richtigenMärkte. Das war eine heikle Angelegenheit und wenn Carles die falsche Entschei-dung traf, verlor NAO den Schwung für die Bearbeitung der zahlreichen anderenMärkte. Es waren viele Merkmale, die im Selektionsprozess des besten ausländischenMarkteintritts berücksichtigt werden mussten: Größe, Lage, Wettbewerber, IP-Recht,potenzielle Kunden, ökonomische Gegebenheiten und zusätzliche Faktoren. Um beiden Vorgaben zu helfen, analysierten NAOs Mitarbeiter weltweit unterschiedlicheMärkte sehr genau. Portugal war beispielsweise ein wenig entwickelter Markt hin-sichtlich der Wettbewerber und bestehender Technologie, mit kleinem Volumenund deutlich niedrigeren Preisen als in Deutschland, Italien oder Frankreich. Daherschloss Carles diesen Markt für NAOs Expansion aus. Lateinamerika (LATAM) warein weiterer Markt, der von Carles ausgeschlossen wurde. In diesem Fall war derMarkt zwar groß genug, insbesondere Brasilien, aber die wirtschaftliche Unsicherheitund das in manchen Fällen turbulente politische und soziale Klima führten zum Aus-schluss. Genau wie in Portugal war NAOs Technologie im Vergleich zu der in Latein-amerika auf dem neuesten Stand. Währenddessen behielten in Deutschland und denskandinavischen Ländern die Nachrichtenautoren die vollen Rechte, weshalb NAObeim Handel mit Online-Nachrichten auch stets die Autoren mitbezahlen müsste.Auch die Idee, UKund die USA als Zielmarkt zu nutzen wurde von Carles verworfen,da in diesen Ländern bereits zahlreiche Wettbewerber am Markt waren. Schlussend-lich kam Carles zu der Erkenntnis, dass Frankreich und Italien die vielversprechends-ten Länder für einen Markteintritt waren. Beide waren grundsätzlich große Märktemit höheren Preisen als in Spanien. Zudem standen sie der katalanischen Kultur undauch geographisch nahe. Auch Französisch und Italienisch waren sprachlich nichtweit vom Spanischen oder Katalan entfernt.

23.7 Das Gewinnen von Ressourcen

Zu Beginn des Jahres 2007, nach wochenlangem Ausfüllen von Vorlagen, Präsenta-tion des Businessplan und endlosen Treffen mit Offiziellen und Beratern derCOPCA, dem Konsortium zur Handelsförderung von Katalonien, bekam Carles end-lich COPCAs Unterstützung. COPCA bot NAO ein Business-Coaching-Programman (genannt das Alpha-Programm), wodurch NAO die Internationalisierung ermög-licht werden sollte. Das Programm bestand aus einem Coaching zur Definition desInternationalisierungsplans. In den folgenden Monaten erhielt NAO viele Besucheeines COPCA-Beraters. Carles hatte die COPCA um die Unterstützung eines erfahre-nen Beraters gebeten; trotzdem empfand NAO den Coaching-Prozess als langsamund schwierig. COPCAs Berater realisierte, dass NAO zum jetzigen Zeitpunkt nochnicht für die Internationalisierung bereit war. Der Berater war der Meinung, dassNAO die Strategie ändern müsse und zusätzlich zwingend qualifiziertes Personal ein-zustellen sei, damit man sich dem Abenteuer der Internationalisierung stellen könne.

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Diesem Ratschlag folgend entschied sich Carles, einen Vertriebsmitarbeiter mitinternationaler Erfahrung einzustellen, der Französisch, Italienisch, Portugiesischund Spanisch sprechen konnte. Diese Einstellung war nur durch die Unterstützungeiner von der COPCA gewährten Internationalisierungsbeihilfe möglich, die auseinem Jahresgehalt des Vertriebsmitarbeiters, inklusive Reisekosten, Werbematerialund Verkaufsaktionen bestand. In Carles Worten:

„COPCA war der Anstoß für das Spiel Internationalisierung, welches NAO spielen muss . . . wirhaben nun die Ressourcen und die Strategie, um internationale Märkte in Angriff zu nehmen.“

Es war Zeit zum Handeln und Carles konnte es nicht erwarten!

23.8 Der Internationalisierungsprozess

Der neue Mitarbeiter hatte in einer Import-Export-Gesellschaft gearbeitet undsprach mehrere Sprachen. Nach der Schulung in NAOs Technologie und Dienstleis-tungen reisten er und Carles nach Paris, um einen potenziellen Kunden zu treffen.Diese Reise nach Frankreich war ein wichtiger Schritt zur Internationalisierung desUnternehmens. Carles wusste, dass dies der Ausgangspunkt eines zukünftigen inter-nationalen Handelsvertrages war, aber er wusste nicht, welche Strategien folgen soll-ten. Eigentlich verließ sich Carles vollständig auf die Erfahrung und die Vertriebsfä-higkeiten des neu eingestellten Verkäufers. Beim ersten Treffen war Carles erstaunt.Der Verkäufer sprach überhaupt kein Französisch und verstand die Sprache kaum.Carles war entsetzt ob dieser Lüge und feuerte den Vertriebsmitarbeiter sofort. InCarles Worten:

„In Frankreich muss man Französisch sprechen, um Geschäfte zu machen. Ich konnte nicht glauben,dass der Vertriebsmitarbeiter nicht verstand, was der Kunde uns erzählte. Dieser Geschäftsterminwar mir höchst peinlich.“

An diesem Punkt musste Carles improvisieren. Er rief das NAO-Büro in Girona anund fragte nach einer kompletten Liste von Presse- und Kommunikationsagenturenin Paris und den angrenzenden Gebieten. Innerhalb von zwei Tagen erreichte er tele-fonisch alle Presseagenturen und einige Kommunikationsagenturen in Paris. Mit gro-ßem Einsatz organisierte er mehrere Treffen mit unterschiedlichen potenziellen Kun-den in Paris und der Umgebung. Allerdings konnte Carles während der Treffen denpotenziellen Käufern weder NAOs Produkte vollständig erklären, noch die Kundenvon diesen überzeugen. Außerdem erkannte Carles, dass NAOs Technologie dochnicht so neu und innovativ im Vergleich zu anderen auf dem französischen Markt er-hältlichen Produkten war. Nach diesen Treffen mit möglichen Kunden kannte er ei-nige französische Firmen mit vergleichbaren Produkten und sogar besserer Techno-logie. Das war ein beachtlicher Rückschlag für Carles, aber er war zuversichtlich, dassNAOs Technologie auch in Frankreich wettbewerbsfähig sei. Aus diesem ersten Ver-

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such, den französischen Markt zu bearbeiten, entstand kein einziger Auftrag, aber eswar eine grundlegende Erfahrung, wie Carles erzählt:

„Wir haben zwar nicht viel von unserem Parisbesuch mitgebracht, aber wir wissen nun, wie dieFranzosen arbeiten und welche Technologie sie nutzen. Außerdem kommen wir zurück nach Katalo-nien mit einer befriedigenden Anzahl von Geschäftskontakten“.

Es war eine schwierige, aber gute Erfahrung für Carles und für das gesamte Unter-nehmen.

Carles entschied sich, die Verantwortung für die Bearbeitung des italienischenMarktes zu übernehmen, da es sehr schwer war, qualifiziertes Personal mit interna-tionaler Erfahrung, technischem Wissen und Umzugsbereitschaft nach Girona zufinden. Das war in der Tat eines der größten Hindernisse, denen sich NAO stellenmusste, damit ein erster ausländischer Auftrag realisiert wurde. In Carles Worten:

„Ich wollte nicht wieder Zeit für die Suche nach einer Person verschwenden, die diese Verantwortungübernimmt. Ich denke, es ist besser, es selber zu versuchen und mich der jeweiligen Situation anzu-passen.“

In diesem Fall war die Strategie, den möglichen Markteintritt in Italien nach dem„Trial and Error“-Prinzip zu vollziehen, gefolgt von „Learning byDoing“. Carles reistemehrereMale nach Italien. Von Ende 2009 bis zum ersten Quartal 2010 besuchte Car-les zahlreiche potenzielle Kunden, vermittelt durch die International Press ClippingAssociation. Das Unternehmenmusste für diese Liste zwar bezahlen, aber es war loh-nenswert, sie zu nutzen. Carles hatte einen Terminplan der geplanten Besuche, aberdie meisten ohne die Zustimmung der betroffenenManager. Wie Carles erklärte:

„Es war Zeit, in den Pool zu springen und zu hoffen, dass das Wasser tief genug ist.“

Bis Ende April 2010 besuchte Carles nahezu jede Nachrichtenagentur in Italien. Zu-dem erkannte er während seiner Reisen durch Italien, dass das Urheberrecht keinProblem war und die hiesige Technologie weit hinter NAOs Fähigkeiten lag. Bezug-nehmend auf Carles:

„Nach dem Auftritt in Frankreich war es wohltuend, die Reaktionen der italienischen Kunden aufunsere Technologie zu sehen. Ich muss sagen, dass die italienischen Presseagenturen wirklich von un-serer Web-Inhalt-Aggregationstechnologie beeindruckt waren. Das wurde unser größtes Verkaufsar-gument beim Einstieg in den italienischen Markt.“

Während einer ereignisreichen Geschäftsreise wollte die größte und wichtigste Pres-seagentur in Italien, Italiaclip, vollen, unbegrenzten Zugang zu NAOs Online-Nach-richten-Datenbank erwerben. Italiaclip wollte die Online-Nachrichten für ihre End-kunden (öffentliche und private Organisationen) klassifizieren und organisieren.Zudem fragte Italiaclip Carles nach einem Exklusivvertrag für Italien und der Daten-bank selber, was allerdings bedeutete, das NAO keine Datenbanken an andere Agen-turen in Italien mehr verkaufen könnte. Aber Carles wusste auch, dass Italiaclipnicht nach weiteren Zusatzgeschäften fragen würde. Sie unterzeichneten einen Ver-

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trag über € 72.000 pro Jahr für den unbegrenzten Zugang zur Datenbank. Das Ver-trauen und die Erfahrung, die aus diesem Geschäft mit Italiaclip entstand, ermutigteCarles, mit seiner Internationalisierungsstrategie für NAO fortzufahren.

23.9 Wiedereintritt auf dem französischen Markt

Nach dem erfolgreichen Italien-Experiment war es Zeit für NAO, zurück nach Frank-reich zu gehen. Diesmal wollte Carles eine verlässliche und international erfahreneVertriebskraft, die die Sprache beherrschte und zudem Erfahrungen im lokalen Ge-schäftsleben hatte. Nach einer langen und anstrengenden Personalsuche entschiedsich Carles zu Beginn des Jahres 2010 für Antoine Legrand, der Carles Meinungnach die notwendigen Fähigkeiten für die Verantwortung von NAOs Auslandsaktivi-täten besaß. Antoine Legrand war Franzose, sprach mehrere Sprachen und hatteeinen Abschluss in Unternehmensführung und Informatik und zusätzlich einigeJahre an internationaler Vertriebserfahrung in einem weltweit tätigen Produktions-unternehmen. Antoine schien der ideale Verkäufer für NAO zu sein. Carles und An-toine entschieden sich, zurück nach Frankreich zu gehen und die wichtigsten Presse-agenturen zu besuchen. Zunächst sollte Antoine die potenziellen Kunden anrufenund nach dem Interesse an solchen Dienstleistungen fragen. Danach würde Antoineeine Datei mit einer detaillierten Präsentation von NAO übermitteln. Nach einerWoche würde Antoine anrufen, mögliche Unklarheiten abklären und einen persön-lichen Gesprächstermin erbitten. Anschließend würden er und ein Techniker nachFrankreich reisen und eine Live-Vorführung von NAOs Technologie abhalten.

Im Juni 2010 rief Allopress, eine der größten französischen Presseagenturen, An-toine an, um über die Konditionen eines Vertrages mit unbegrenztem Zugang zuNAOs Datenbank und Exklusivität für Frankreich, Andorra, Luxemburg und diefranzösischsprachigen Teile der Schweiz und Belgiens zu verhandeln. Antoine war-tete auf Carles Rat und Meinung. Auf der einen Seite war NAO in einer schwierigenSituation, nachdem Presscut angekündigt hatte, nicht mehr länger auf die Dienstevon NAO zurückzugreifen (was einem Umsatzrückgang von 30% für NAO ent-sprach). Auf der anderen Seite musste NAO darüber nachdenken, ob unbegrenzterDatenbankzugang und Exklusivität der richtige Weg für die weitere Internationali-sierung von NAO sei. Carles fragte sich, ob NAOs Internationalisierungsstrategie ad-äquat sei:

„Was kann gemacht werden, um den Umsatzverlust abzudecken, ohne einen unbegrenzten Zugangzur Datenbank mit gleichzeitiger Exklusivität für alle französischsprechenden Gebiete zu verkaufen?“

Er musste schnell andere Wachstumsoptionen finden, ansonsten hätte er keine an-dere Chance, als das Angebot von Allopress anzunehmen.

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Anhang 1: NAOs Technologie

Anhang 2: NAOs Produktlinien

Anhang 3: NAOs Wertkette

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338 23 NAO International (Spanien)

Anhang 4: NAOs Marktsegmente

Anhang 5: NAOs Umsatz-, Kosten- und Gewinnentwicklung

2003 2005 2007 2008 2009

Umsatz 212.149 € 386.574 € 537.417 € 647.850 € 718.525 €

Kosten 251.446 € 371.452 € 524.652 € 523.689 € 618.000 €

Gewinn -39.297 € 15.122 € 12.765 € 124.161 € 100.525 €

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24Zátiší Catering (Tschechische Republik)

Martina L. Jakl & Sascha Kraus

24.1 Einleitung

Petr Štefan schleuderte seine Jacke über einen leeren Bürostuhl, öffnete seine E-Mailsund beschloss, sich schnell einen Kaffee zu machen, bevor er seinen Arbeitstag be-gann. Er wusste, dass er heute viel aufholen musste, weil er gestern auf einem Eventmit einem der größten Kunden von Zátiší Catering gewesen war. Als Geschäftsführerder Zátiší Catering-Gruppe, die ihren Hauptsitz in der Tschechischen Republik hatte,war Petr für die Geschäftsbeziehungen und die Beaufsichtigung aller Catering-Eventsverantwortlich. Die wöchentliche Sitzung des Senior Management Teams begannheute Nachmittag um 14:00 Uhr, und Petrs Präsentation brauchte noch den letztenSchliff. Bei der letzen Teamsitzung wurden die Finanzergebnisse der einzelnen Abtei-lungen der Geschäftsführung vorgestellt und Petrs Abteilung wies einen Rückgang inder Anzahl der durchgeführten Events sowie eine Verringerung des Gesamtumsatzesauf. Das heutige Treffen war entscheidend, da es die zukünftige Strategie von ZátišíCatering festlegenwürde. Dies könnte zu einemWendepunkt in Petr Štefans Karrierewerden. Er war deswegen leicht nervös, setzte aber trotzdem auf Erfolg.

Petr lehnte sich, mit dem frisch gebrühten Kaffee in der Hand, in seinem Stuhlzurück und reflektierte die jüngsten Ereignisse in der Branche. Die Catering-Bran-che hatte im letzen Jahr deutlich einstecken müssen, vermutlich aufgrund der Aus-wirkungen der Finanzkrise. Mitten in diesem Rückgang hatten sich allerdings neueGeschäftsmöglichkeiten aufgetan, insbesondere außerhalb Tschechiens. Viele deretablierten Kunden von Zátiší hatten das Unternehmen mit Aufträgen für Cateringim Ausland betraut.

Bei der letzten Sitzung des Management-Teams hatte sich Petr bereit erklärt, eineStrategie, einschließlich Marktanalysen und einen Einschätzung der Fähigkeiten vonZátiší Catering in Bezug auf die Bearbeitung von Auslandsmärkten, zu skizzieren.Direkt nach dieser Sitzung wies Petr zwei Mitarbeiter in seiner Abteilung an, nachverschiedenen Geschäftsmöglichkeiten in der Catering-Branche im Ausland zu su-chen. Vor zwei Tagen erhielt er ihre Ergebnisse. Jeder Vorschlag skizzierte verschie-dene Chancen und Markteintrittsszenarien in den ausländischen Markt. Petr würdeseine Analyse dieser Ergebnisse bei der heutigen Sitzung präsentieren. Er nippte anseinem Kaffee und las die Einzelheiten jedes Vorschlages. Er hatte weniger als fünfStunden Zeit bis zum Meeting, und er wollte dem Senior Management Team einüberzeugendes Argument für die von ihm gewählte Strategie liefern.

Er musste imstande sein, diese Präsentation auf den Punkt genau zu halten, denndie Auswirkung dieser Entscheidung würde weitreichende Konsequenzen für die

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342 24 Zátiší Catering (Tschechische Republik)

Gruppe, die Marke, das langfristige Wachstum des Unternehmens, und letztlich aufseine Karriere haben.

24.2 Branchenhintergrund

Die Catering-Branche ist eine relativ neue Branche in den zentral- und osteuropäi-schen Ländern wie Ungarn, Bulgarien, Rumänien, der Tschechischen Republik, Slo-wakei, Polen, Albanien und den ehemaligen Ländern Jugoslawiens (Slowenien, Kroa-tien, Montenegro, Serbien, Kosovo, Bosnien/Herzegowina und Mazedonien). DieseBranche war vor der Öffnung der Märkte in Zentral- und Osteuropa quasi unbe-kannt, und der Mangel an internationalen Qualitätsstandards in der Branche eine di-rekte Folge der begrenzten Erfahrung darin.

Beispielsweise bieten einige Unternehmen nur vorgefertigte (nicht frische) Le-bensmittel und keine zusätzlichen Dienstleistungen wie die Bereitstellung von Be-steck, Gläsern usw. an. Zudem bieten die lokalen Caterer tendenziell nur die traditio-nelle Küche ihrer Länder an. Die Qualität der Lebensmittelqualität war gering, undneue Dienstleistungen wurden nicht entwickelt. So gewöhnten sich die Kunden anschlechte Qualität und schlechten Service. Die Situation wurde dadurch verschlim-mert, dass auch die Qualität der Produkte im Einzelhandel außergewöhnlich schlechtwar. Da es wenig Konkurrenz gab, gab es auch keine Anreize für Innovationen undQualitätsverbesserungen. Ausländische Besucher dieser Länder erkannten, dass esfür die Catering-Branchen ein hohesWachstumspotenzial und viel Raum für Verbes-serungen gab. Einige Unternehmen nutzten tatsächlich die Chance, die sich in derCatering-Branche ergab und etablierten mehrere Catering-Unternehmen in Ost-europa. Die Zátiší-Gruppe in der Tschechischen Republik war ein solcher Fall. DerBesitzer, Herr Suri, besuchte Prag und bewertete die Chancen, die sich auftaten, umeinen Catering-Service in einem nahezu nicht existenten Markt zu etablieren. Nachreiflicher Überlegung eröffnete er das V Zátiší-Restaurant im Jahre 1991. Dieses Res-taurant sollte innovative und internationale Küche auf dem tschechischenMarkt ein-führen.

Im Laufe der Zeit hatte sich die Branche jedoch stark verändert, insbesondere imHinblick auf die höheren Qualitätsstandards. Petr war besorgt, dass die Brache, be-dingt durch die Finanzkrise und die Konjunkturabschwächung, auf den Stand frühe-rer Jahre zurückfallen könnte.

Die Finanzkrise hatte viele Firmenkunden gezwungen, ihr Budget für Geschäfts-veranstaltungen zurückzufahren, und die durchschnittlichen Ausgaben pro Personwaren zurückgegangen. Wenn die Ausgaben gekürzt werden, senken Catering-Un-ternehmen meist ihre Preise, um wettbewerbsfähig zu sein. Dies hat oft einen negati-ven Einfluss auf die Qualität und den Servicestandard. Die Kunden verschärfen dieseSituation zusätzlich, in dem sie bei Kaufentscheidungen den Preis wichtiger als dieQualität einschätzen.

Die Bewertungskriterien für Catering-Unternehmen bestehen üblicherweise ausfolgenden Punkten:

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· die Fähigkeit, Großveranstaltungen auszurichten;· eine Qualifizierung im Bereich der Speisenzubereitung und Lieferung;· die Einhaltung europäischer Hygienestandards;· nachweislich gute Arbeitsbeziehungen mit Geschäftskunden;· die Fähigkeit, mit Kunden nach Vorgabe knapper Budgets zu arbeiten.

Petr wusste, dass für die meisten Kunden das letzte Kriterium ausschlaggebend war.Wenn er bei den Preisen nicht mithalten konnte, wurden die anderen Kriterien garnicht erst beachtet.

24.3 Unternehmenshintergrund

Im Jahre 1997, als Zátiší Catering gegründet wurde, war die Catering-Branche sehrattraktiv, und jeder Neuling konnte eine Nische in einem wachsenden Markt er-schließen. In den vergangenen 14 Jahren entstanden in der Catering-Industrie inder Region um Prag und in anderen großen Städten in der Tschechischen Republikeinige Hauptwettbewerber, die in puncto Qualität, Kreativität, Innovation und inter-nationaler Küche konkurrierten. Diese Entwicklung war auch in anderen osteuro-päischen Ländern vorzufinden. Mit der Zátiší Catering-Gruppe vergleichbare Unter-nehmen waren jetzt in jeder größeren Stadt Osteuropas zu finden.

Petr war stolz darauf, dass die Catering-Services der Zátiší-Gruppe seit den frühenAnfängen schon immer die höchstenAnsprüche anQualität, Professionalität und Ser-vice hatten. Das zeigte sich sowohl bei der Organisation von großen Events, bei denenmehrere TausendeMenschen teilnahmen, als auch bei kleineren Firmenveranstaltun-gen. Um Tausende Portionen zu verarbeiten, konnte die Zátiší-Gruppe auf ein Fließ-band-Systemzurückgreifen, oder, falls erforderlich,maßgeschneidertes frisch gekoch-tes Essen für kleinere Events zubereiten. Alle Produkte der Zátiší-Gruppe konnten soangebotenwerden, da sie relativ unkompliziert herzustellen, leicht zu handhaben undeinfach zu transportieren (dieQualität wirdwährend des Transports nicht beeinträch-tigt) waren. Die Gerichte von Zátiší wurden mit ausgewählten lokalen und interna-tionalen Zutaten zubereitet. Daher war die Zátiší-Gruppe einer der Pioniere bei derFestlegung von Standards in der Luxus-Restaurant- und Catering-Branche in derTschechischen Republik. Das Unternehmen bewegte sich im High-End-Bereich undbot erstklassigen Service mit einer vielfältigen Palette von Lebensmitteln und Dienst-leistungen an.

Zu den Kunden des Unternehmens gehörten große Unternehmen, Behörden undPrivatpersonen. Diese Strategie war weitgehend erfolgreich. Allerdings hatte Zátišíderzeit mit einigen Problemen zu kämpfen.

In vielerlei Hinsicht war das Unternehmen Opfer seines eigenen Erfolgs. Siewaren nicht in der Lage, ihre High-End-Dienstleistungen an kleinere Kunden zukommunizieren. Obwohl die Nachricht nicht immer ankam, blieb das Unterneh-men kundenorientiert. Beispielsweise war das gesamte Produktionsteam sehr starkkundenorientiert und versuchte mit jedem Auftrag die Kundenwünsche weitestge-

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344 24 Zátiší Catering (Tschechische Republik)

hend zu erfüllen. Bei Zátiší wurden Kunden nicht als Klienten gesehen, sondern alsPartner.

24.4 Organisationsstruktur

Die Zátiší-Gruppe besteht aus drei verschiedenen Abteilungen: dem Restaurant, derCatering-Abteilung und der Abteilung für Fertiggerichte.

Die Zátiší Restaurant-Abteilung umfasst drei Restaurants: „V Zátiší“, „Bellevue“und „Mlýnec“. Alle Restaurants befinden sich in Prag in der Nähe der Karlsbrücke.Sie sind als High-End-Restaurants eingestuft und auf die tschechische und touristi-sche Oberschicht ausgerichtet. Die zweite Abteilung ist die Catering-Abteilung.Diese relative autonome Abteilung besteht aus zwei Catering-Dienstleistern, „ZátišíCatering“ und „Žofín Catering“ (Letzteres bietet Catering-Dienstleitungen nur aufder Insel Žofín in Prag an). Die dritte Abteilung ist die jüngste Akquisition undwird nicht unter der Zátiší-Marke geführt, da dies das Image der Luxus-Marke be-einträchtigen könnte. Diese Abteilung, „Fresh & Tasty‘“ stellt u. a. Fertiggerichte her.Die Zátiší-Cateringsparte ist die größte Sparte und hat immer zu dem profitabelstenTeil der Gruppe gehört. Zátiší Catering ist in der gesamten Tschechischen Republiktätig. Einige ihrer bekanntesten Niederlassungen sind im Prager Kongresszentrum,der Strahov-Bibliothek, der Staatsoper, im Kampa-Museum und in vielen anderentschechischen Städten, Schlössern und Burgen. Die Firma hat ihren Hauptsitz inPrag. Zátiší Catering hat auch eine eigene Tochterfirma in Budapest und bietet Cate-ring-Services auf dem Europa-Boot, im Gellert Bad, auf dem Zsófia-Boot, im VamDesign Center und in vielen Museen an. In Wien bietet die Zátiší Catering-GruppeCatering im Schloss Neuwaldegg, dem Palais Niederösterreich und dem Palais Liech-tenstein an. Zátiší Catering bietet eine breite Palette von Dienstleistungen und ver-fügt über umfangreiche Erfahrung in der Organisation von Gala-Dinners und Fir-menfeiern sowie Catering für kleinere Veranstaltungen wie Cocktail Partys, Buffetsund Hochzeiten.

In der Tschechischen Republik wird die Zubereitung aller Speisen im Prager Kon-gresszentrum abgewickelt. Hier werden die Speisen vorbereitet, gelagert, und zu denEvents ausgeliefert. Im Jahr 2009, während die Tschechische Republik den Vorsitzder EU-Ratspräsidentschaft innehatte, war Zátiší Catering der offizielle Caterer derEuropäischen Union. Zátiší sorgt für das Catering für den Kongress der Tschechi-schen Republik, einschließlich dessen Konferenzen und Seminare. Das Catering um-fasste auch Frühstück, Kaffeepausen, Mittag- und Abendessen.

Open-Air-Catering, z. B. im königlichen Garten, sind eine andere Art von Cate-ring, und Zátiší erkundet zurzeit diesen Markt. Zátiší bietet auch Büro- und Hauslie-ferungen an.

Obwohl Zátiší-Catering ein breit gefächertes Sortiment hat, reduzieren viele Kun-den derzeit ihre Budgets für Business-Events. Dementsprechend fallen Catering-Auf-träge tendenziell geringer aus oder, schlimmer noch, werden ganz abgesagt. ZátišíCatering als hochwertiger Catering-Dienstleister muss nun aufgrund der Finanz-

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krise deutliche Verluste hinnehmen. Kunden stellen nun Preis vor Qualität und er-setzen somit eine höhere Qualität und erstklassigen Service durch geringere Qualitätund billigeren Catering-Service.

24.5 Ein wachsender Trend in ausländische Investitionen

Die meisten Firmenkunden von Zátiší Catering sind multinationale Unternehmen,die ihren regionalen Hauptsitz in der Tschechischen Republik haben. Viele dieserFirmen nehmen die Expansionsmöglichkeiten für ihre Geschäfte innerhalb des euro-päischen Marktes wahr. Diese Länder befinden sich vor allem im zentral- und osteu-ropäischen Raum, vorwiegend in der Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien.Während diese Unternehmen die neuen Märkte begutachten, führen sie Geschäfts-treffen und Konferenzen in den neuen Ländern durch. Viele dieser Firmenkundenvon Zátiší Catering in der Tschechischen Republik finden es schwierig, einen zuver-lässigen Lieferanten für hochwertiges Catering für ihre Bedürfnisse in diesen neuenLändern zu finden.

Die Zátiší Catering-Gruppe wurde für solche ausländischen Veranstaltungenhäufig gebucht, da sie als hochwertiger, zuverlässiger und vertrauenswürdigerDienstleister bekannt ist. Dies könnte zu einer signifikanten Marktchance für ZátišíCatering werden. Es ist allerdings eine Entscheidung, die nicht auf die leichte Schul-ter genommen werden kann.

Petr hat Jahre damit verbracht, die Beziehungen zu diesen Firmenkunden zu pfle-gen und hat Angst, dass es einen negativen Einfluss auf den Ruf des Unternehmensund das Markenimage haben könnte, wenn er diese Kundenwünsche verliert – vorallem, weil das Unternehmen als kundenorientiert bekannt ist. Aber auf der anderenSeite ergäben sich zusätzliche, unbekannte organisatorische Herausforderungen.Derzeit gibt es eine große Anzahl von derartigen Anfragen von Firmenkunden. Esist klar, dass dies eine einmalige Gelegenheit ist, in neue Märkte zu expandieren unddie Marke des Unternehmens in vielen osteuropäischen Ländern zu stärken. BevorZátiší Catering die neuen Dienstleistungen jedoch ihren Kunden anbieten kann,müssen die Vor- und Nachteile ausgewertet werden.

Petr beauftragte zwei Mitarbeiter damit, neben ihrer täglichen Arbeit das Markt-potenzial im Ausland zu prüfen. Sie identifizierten die folgenden Punkte als Stärkenfür den Markteintritt in die neuen Märkte:· Markenname und Produktqualität: Die Zátiší-Gruppe steht weiterhin für eine

Kombination aus einer großartigen Atmosphäre, einem perfekten Service undeinem hervorragenden Produkt.

· Kunden-Loyalität: Kunden kehren zur Zátiší-Gruppe zurück, da sie die moderneEinstellung in Bezug auf Gerichte zu schätzen wissen. Diese Kunden sind bereit,einen angemessen Preis für einen hochwertigen Service zu bezahlen.

· Innovation: Die Zátiší-Gruppe wendet innovative Zubereitungsmethoden an undbefriedigt die Nachfrage nach ungewöhnlichen Rezepten mit exotischen Zutaten.

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· Soziales Engagement: Die Zátiší-Gruppe spendet 20% des Jahresgewinns an ver-schiedene Non-Profit-Organisationen, wie das UNICEF Life Projekt „Sance“, andie Tereza Maxová-Stiftung und das Projekt „Straßenkinder“.

· Kundenorientierung: Das gesamte Produktionsteam orientiert sich stark an denBedürfnissen des Kunden und ist stets bestrebt, die Anforderungen der Kundenzu übertreffen.

Petr war weitestgehend mit ihrer Analyse zufrieden, aber er war über die Auswirkun-gen der Wirtschaftskrise besorgt: Die Kunden der Zátiší-Gruppe in der Tschechi-schen Republik gehören zur Oberschicht, sind Geschäftsleute und ausländische Be-sucher, und in genau diesen Segmenten gab es aufgrund der Finanzkrise deutlicheAusgabenkürzungen. Er dachte, dass das Unternehmen eine unklare Vision hat,weil es so schnell gewachsen war und mit einer Strategie der breiten Differenzierungarbeitet. So sind einige Kernmärkte vernachlässigt worden. Zudem gab es kaum eineMarketing- und Kommunikationsstrategie zur Werbung von Neukunden. Petrs Auf-gabe war es, ein strategisches Modell für die Expansion in den ausländischen Marktzu entwickeln, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der Schwächen, die er identifizierthatte. Er notierte sich grundlegende Strategien auf seinem Notizblock, damit er wäh-rend der Sitzung darauf zurückgreifen konnte. Er schrieb:

Wettbewerbsvorteil: Die Ausweitung des Catering-Service in Westeuropa (z. B.Deutschland und Österreich) ermöglicht es, das Kundenportfolio zu diversifizierenund neue Märkte zu erschließen. In diesen Märkten kann Zátiší eine hochwertigeDienstleistung anbieten. Der Wettbewerbsvorteil liegt im „Value for Money“.

Expansion in die neuen osteuropäischen Märkte: Eine Chance für das Unterneh-men besteht im Markteintritt und der Expansion in die neuen, schnell wachsendenMärkte in Osteuropa, insbesondere Polen, Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulga-rien.

Ins Geschäft mit neuen EU-Mitgliedern kommen: Derzeit ist die Zátiší Catering-Gruppe aufgrund von Außenhandelsrichtlinien nicht in der Lage, ihre Dienstleistun-gen außerhalb der EU anzubieten. Allerdings erweitert sich die EU ständig undschafft damit neue Märkte für die Zátiší Catering-Gruppe.

Petr wusste, dass einige Mitglieder des Senior Management Team Fragen nachden Risiken dieser Strategien haben würden. Niemand wusste besser als Petr, dassdas Kundenverhalten entscheidend war – es gäbe ein echtes Problem, wenn sich dieKunden des Preises wegen von Zátiší abwenden würden. Zudem gab es viele unge-löste Fragen in Bezug auf das Personalmanagement und die Erhaltung des Marken-Images und der Reputation im Ausland. Petr war sicherlich unter Druck: Seine Ver-kaufszahlen waren unten, aber es boten sich ihm neue Marktchancen über zuverläs-sige Kundenkontakte. Allerdings kannte sich das Unternehmen nicht sehr gut in die-sen neuen Märkten aus, insbesondere, was die Konkurrenz anging. Petr musste dasTeam davon überzeugen, entweder in den ausländischen Markt einzusteigen oderdas Kerngeschäft neu zu orientieren, um so die Stagnation des Unternehmens zu ver-hindern.

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24.6 Zu prüfende Fragen

Im Kerngeschäft von Zátiší, der Ausrichtung von Gala-Diners, ist die Bedrohungdurch Ersatzprodukte relativ gering, da die Käufer die Qualität der Zátiší-Produktesehr zu schätzen wissen. Obwohl die Kosten für die Umstellung auf einen anderenAnbieter gleich null sind, gibt es bei den Kunden nur wenig Neigung, diesen zu wech-seln, da es kaum Anbieter mit einem derartig hohen Cateringstandard in der Tsche-chischen Republik gibt. Dies gilt besonders in der Luxus-Catering-Branche, in derKäufer weniger preissensibel sind und die Reputation für den Erfolg entscheidendist. Petr hat während der Finanzkrise immer den Kontakt mit seinen Kunden gepflegtund so erfahren, dass sich trotzdem einige Kunden einen Wechsel auf preisgünstigeMittelklasseanbieter vorstellen könnten. Die Zátiší-Restaurant-Abteilung hat bereitseinen ähnlichen Trend beobachten können, da es mehrWettbewerb in der Gastrono-mie gibt. Die Bedrohung durch neueMarktteilnehmer ist relativ hoch, sowohl im Ca-tering als auch im Restaurantsegment, weil in beiden Segmenten relativ wenig Kapi-taleinsatz für einen Markteintritt nötig ist.

Derzeit hat Zátiší Catering einen starken Marktanteil von rund 22% des gesam-ten Catering-Markts (75% des Gala-Dinner-Marktes und 20% des Buffet-Marktes).Der Restaurant-Markt ist stark fragmentiert und schon weitgehend gesättigt. Im Jahr2009 ist der tschechische Markt für Lebensmittel und Catering-Services um 9% ge-genüber dem Vorjahr gesunken. Die Rentabilität in dieser Branche hängt sehr vonKostenkontrolle und der Wirksamkeit der Marketingstrategien ab.

Als Petr die Folien seiner Präsentation den letzen Schliff gibt, nimmt er sich einenMomentZeit, umdie vierOptionen zuüberprüfen, die er für interessant hält. JedeOp-tion geht mit unterschiedlichen Investitionsanforderungen einher. Das Team wirddann entscheiden, welche Option die beste Grundlage für die Internationalisierungs-strategie darstellt. Petr bevorzugte eine bestimmte Option, aber er wusste auch, dasseine Konsensentscheidung getroffen werden musste. Anderenfalls würde nichts wei-tergehen. Ein Gefühl der Nervosität machte sich in seiner Magengrube breit, und erkonnte sich den Event zurMarkteinführung bereits genau vorstellen.

Der erste Vorschlag sah die weitere Nutzung der vorhandenen Einrichtungen inPrag vor, wo die Gerichte wie gewohnt vorbereitet und dann direkt an den Ausrich-tungsort transportiert werden würden. Die Gerichte konnten dann dort fertiggestelltwerden, aber die wichtigsten Produktionsschritte würden weiterhin in der Zentraledurchgeführt werden. Somit wäre nur der letzte Feinschliff vor Ort zu erledigen. DasVorbereitungsteam wäre für den Transport der zubereiteten Speisen, des Geschirrsund anderer Gerätschaften verantwortlich.

Petr würde dann noch die Bedeutung eines strategischen Stützpunktes in Ungarnbetonen, das derzeit nur als Vertriebsbüro genutzt wurde. Er würde dem Vorstandnahelegen, dass diese Niederlassung in der Zukunft zum Zubereitungsstandort wer-den könnte. Mit dieser Option wären keine erheblichen Investitionen verbunden.Der Erfolg dieser Option hing an der effektiven Ausnutzung des aktuellen Standorts.Wenn der gleiche Standort weiter verwendet werden konnte, wäre für einen hohenQualitätsstandard gesorgt, denn man könnte mit den gleichen, erfahrenen Mitarbei-tern weiterarbeiten. Der Nachteil dieses Vorschlags war, dass der Transport der Ge-

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richte eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen würde. Dies erhöhte durch die Trans-portkosten den Endpreis und machte die Einführung weiterer Qualitätsüberprüfun-gen nötig. Das aktuelle Maximum für die Lieferzeit von Lebensmitteln lag bei ca.7 Stunden vom Ort der Herstellung bis zum Ziel der Lieferung. Das grenzte den po-tenziellen Markt ein. Zurzeit garantierte Zátiší für die Qualität der Lebensmittel fürbis zu 24 Stunden nach der Zubereitung.

Der zweite Vorschlag beinhaltete die Gründung von Vertriebsniederlassungen inBukarest oderWarschau. Diese Idee basierte darauf, dass sich die bulgarischen, rumä-nischen und polnischen Märkte schnell entwickelten. Diese Märkte konnten abernicht von Prag aus bearbeitet werden, weil sie zu weit entfernt waren. Zusammenmitder Gründung der Tochtergesellschaft in einem dieser Orte sollte ein Zubereitungs-zentrum in Budapest eröffnet werden, umvon dort aus die Niederlassungen in Rumä-nien und Bulgarien zu beliefern. Diese Option erforderte einige Investitionen in neueTechnologien und Materialien sowie die Schulung eines neuen Managementteamsund von neuen Angestellten. Diese Option würde auch Änderungen der Organisa-tionsstruktur und der Management-Praktiken erfordern und interkulturelle Barrie-ren könnten hier ein Problem werden. Trotz dieser Hindernisse würde diese Optiondie hohen Qualitätsstandards des Unternehmens sichern und es dem Unternehmenermöglichen, näher an den neuen potenziellen Kunden in diesen wachsenden Märk-ten zu sein. Diese beiden Tochtergesellschaften wären ein künftiger Ausgangspunktfür eine eventuelle weitere Expansion und Wachstum in Ländern wie den neuen EU-Staatenwie Kroatien oder Serbien. Die Arbeitskosten in diesen Ländernwaren immernoch sehr gering. Die Zátiší Catering-Gruppe könnte ihren Catering-Service für Kun-den aus der Tschechischen Republik absichern und gleichzeitig damit beginnen, neueKunden zu werben und sich ein eigenes Netzwerk zu schaffen. Die neuen Kundenkönnten von der großen und wachsenden Unternehmensstruktur profitieren, dieihreDienstleistungen über den gesamtenmittel- und osteuropäischen Raumanbietenwürde. Petr wusste aber, dass das Unternehmen einen langfristigen Bankkredit brau-chenwürde, umdiesenVorschlag umzusetzen.

Der dritte Vorschlag basierte auf Partnerschaften mit lokalen Cateringanbietern.In jedem Land würde Zátiší Catering einen lokalen Anbieter auswählen, der denQualitätsstandards und der Kundenphilosophie des Unternehmens entspricht. Mitdiesen Unternehmen würde eine strategische Partnerschaft eingegangen werden.Das lokale Unternehmen müsste das Catering in seiner jeweiligen Region gewähr-leisten. Wenn der lokale Partner einen Auftrag für Catering-Dienstleistungen in derTschechischen Republik oder in Ungarn bekommt, muss er diesen an Zátiší Cateringweiterleiten. In beiden Fällen würde der Partner einen vereinbarten Prozentsatz derEinnahmen erhalten. Diese Option verursachte keine erheblichen Investitionen undkonnte in einem relativ kurzen Zeitraum umgesetzt werden. Die größte Herausfor-derung wäre der Prozess der Partnerwahl und die Pflege des Markenimages im Aus-land. Wesentlich für Zátiší Catering wäre, ob die lokalen Partner in der Lage wären,den von Zátiší Catering bekannten Kundenservice und die bekannte Qualität anzu-bieten.

Die letzte Option, die Petr an diesem Nachmittag auf den Tisch legen würde, war,dass Zátiší Catering den Service mit dem eigenen Know-how und einem eigenen

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Projektteam anbieten würde. Das Essen würde vor Ort in Zusammenarbeit miteinem lokalen Caterer fertiggestellt werden. Dadurch wäre der hohe Qualitätsstan-dard gesichert. Das einzige Hindernis könnte die Qualität des Essens sein. Um diesesRisiko zu verringern, kamen nur Partner infrage, die die hohen Qualitätsstandardsder Zátiší Catering-Gruppe erfüllen würden. Bei dieser Art der Kooperation würdenZátiší-Dienstleistungen von ausländischen Partnern für niedrige Preise einkaufenund Ko-Produzent bei der Zubereitung der Speisen sein. Diese Option könnte eben-falls in relativ kurzer Zeit umgesetzt werden.

24.7 Fazit

Petr Štefans Aufgabe als Geschäftsführer war es, dem Senior Management Team Op-tionen für das Wachstum der Zátiší Catering-Gruppe in diesen finanziell harten Zei-ten zu präsentieren. Das Unternehmen hatte eine kleine Reserve, aber die Margenwurden mit der Zeit geringer. Im Nachhinein hatte Petr erkannt, dass er zu viel Zeitdamit verbracht hatte, bestehende Geschäftskunden zu bearbeiten und sich zu wenigum potenzielle neue Kunden bemüht hatte. Das Unternehmen hatte sich zu sehr aufMundpropaganda und Empfehlungen verlassen, anstatt auf professionelle Marke-ting-Kampagnen zu setzen. Das war seine Chance, auf diese Weise die Geschäftstätig-keit zu ändern. Er hatte sehr schwer daran gearbeitet, die bestehenden Kunden zu-friedenzustellen und die Marke aufzubauen. Die großen Konzernkunden warenüber die Jahre treu geblieben und dies schien eine gute Basis, um die gleiche Art vonKunden auch in neuen Märkten zu bedienen.

Als er sein Butterbrotpapier wegräumte, zeigte sein Computer eine neue E-Mailan. Es war der Kunde der gestrigen Veranstaltung, der der Zátiší Catering für die he-rausragende Qualität und den professionellen Service dankte. Wie durch einen selt-samen Zufall fragte der Kunde, ob es möglich sei, Zátiší Catering für die Eröffnungs-feier einer neuen Niederlassung in Bukarest zu buchen. „Das Spiel hat begonnen“,dachte Petr. Er rückt seine Krawatte zurecht und machte sich auf den Weg zum Ma-nagement Meeting, dass sicherlich die Zukunft der Zátiší Catering-Gruppe bestim-men würde.

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Attila Petheo & Luca Iandoli

25.1 Einleitung

An einem bewölkten Frühlingsmorgen im Jahr 2010 saßen Balázs Szabo und DaniVarga, die zwei Gründer von MEEX, der ungarischen Studentenvereinigung für Ext-remsport, in ihrem modernen Mietbüro im Zentrum Budapests und sprachen mitPeter Czuczor über ihre Pläne für die Zukunft ihres Unternehmens. Ihr Unterneh-men war sehr populär, und bereits sehr bekannt für die Organisation von Extrem-sportevents. Aber trotz dieses Erfolgs hatten die Gründer immer noch keinen einzi-gen Cent in ihren Taschen. Bisher hatten Tausende von Universitätsstudenten anEvents mit einer einmaligen Verbindung von Extremsport und Musikfestivals teilge-nommen, und den Veranstaltern mangelte es auch nicht an weiteren Ideen. Aber wassie nicht hatten, war eine klare Strategie für die Umwandlung vonMEEX in ein finan-ziell erfolgreiches Unternehmen. Sie mussten bald eine Lösung finden. Sie waren ineiner wachsenden Industrie tätig, und die Bedrohung durch die Konkurrenz wurdeimmer stärker. Sie verstanden sehr gut, dass es eine Sache war, gute Ideen zu haben,aber eine ganz andere Herausforderung, diese Idee in ein nachhaltig profitables Un-ternehmen umzusetzen. Für Dani und Balázs ist das, was anfangs nur Spaß an derFreude war, zu einem sehr anspruchsvollen Job mit 14 Arbeitsstunden am Tag fürsehr wenig Gehalt geworden. Obwohl die meisten Events nicht rentabel waren, wardie Firma im Bereich Technik und Verkauf bahnbrechend, und bald wurde ihnenklar, dass ihnen der Unternehmergeist fehlte, umMEEX in ein profitables Unterneh-men zu verwandeln. Aus diesem Grund kontaktierten sie Peter, damit er sie unter-stützte. Peter war ein junger Berater in einem kleinen Business-Entwicklungscenterin Budapest und die Gründer hofften, dass er ihnen die Expertise geben könnte, dieihrem Unternehmen fehlte. Innerhalb kürzester Zeit wurde Peter eingeladen, sichdem Vorstand des Unternehmens anzuschließen und den Gründern zu helfen,MEEX zu einem professionellen, lukrativen Unternehmen zu entwickeln. Die Fragean ihn war simpel: „Was sollen wir tun?“

25.2 Firmenhintergrund

Die Geschichte von MEEX begann im Jahr 2005, als Dani und Balázs sich im Schlaf-saal ihres Studentenwohnheims kennenlernten. Sie hatten die Idee, Extremsport-events zu organisieren, um ihre Freunde zu unterhalten. Sie organisierten unkonven-

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352 25 MEEX (Ungarn)

tionelle oder extreme Sportaktivitäten wie Paintball, Rafting, Klettern, Drachenbootfahren, Wakeboard, Ski laufen und Snowboarden, mit Rundum-Service, den die Un-ternehmer so beschreiben:

„Wir machen alles! . . . MEEX ist bereit, mit dir zu springen, mit dir zu klettern, was immer dumöchtest!“

Balázs war ein außergewöhnlich kreativer Mensch, während Dani eher konservativwar und alles sorgfältig plante, um zu verhindern, dass die Kunden am Ende einesEvents enttäuscht waren. Die letzten fünf Jahre waren sehr hektisch für die angehen-den Unternehmer, weil sie ihre Universitätsabschlüsse erworben hatten und paralleldazu mit MEEX ihr erstes „richtiges“ Unternehmen gründeten. Ende des Jahres2009 hatte MEEX 30.000 Mitglieder, fast 80 aktive Organisatoren und zusätzlich zuden zwei Gründern beschäftigten sie sieben Vollzeit-Mitarbeiter. 2009 war ein großesJahr für die Firma, weil sie ihr erstes Snowattack Ski- und Snowboard-Festival orga-nisierten – mit mehr als 7.000 Bewerbern für 2.700 Plätze. Sie wurden aufgrund derhohen Anzahl an Besuchern an diesen Events Marktführer, und ihr Erfolg übertrafden aller führenden Reiseagenturen in Ungarn. In der Wintersaison 2008/2009 orga-nisierte MEEX sechs Winterlager und ein Festival mit über 6.000 Kunden. Nach demanfänglichen Erfolg erwarteten die zwei Unternehmer etwas Gewinn, aber dieserstellte sich 2009 nicht ein.

Als Peter sich Anfang 2010 zu dem Unternehmen gesellte, konnte er nicht verste-hen, wieso MEEX nach vier Jahren noch keinen Mitarbeiter hatte, der hauptamtlichfür die Unternehmensfinanzen verantwortlich war. Dani und Balázs wussten nicht,wie viel sie verdienten, sie wussten nicht, wie viel sie den Subunternehmern schulde-ten und wie viel Geld ihre Angestellten erhielten. Sie mieteten ein großes Designer-büro, das zu groß und zu teuer für die eigentlichen Bedürfnisse der Firma war. Siehatten zudem ein kleines Lagerhaus gemietet, das komplett mit Ausstattungen fürEvents wie Paintball-Waffen, Innenkletterwänden, Strandflaggen, X-Box-Konsolen,Hockeyschlägern, Kostümen, Werbematerial, LCD-Bildschirmen usw. gefüllt war.Bisher führte und unterhielt die Firma keine Bestandslisten. Der Umsatz im Jahr2005 betrug geschätzte € 1 Million und im Jahr 2008 ungefähr € 2 Millionen. MEEXhatte außerdem kein Programm für die Planung von zukünftigen Events. Kurz ge-sagt hatten sie keine strategische Vision für ihre Firma und keine Planung für dieEvents des folgenden Jahres.

Peter startete sofort mit seiner Arbeit und überredete Balázs und Dani, eine Lang-zeitstrategie sowie einen Budgetplan für die nächsten drei Jahre zu entwerfen. Erdachte, es gäbe große Möglichkeiten für MEEX. Balázs fiel eine lange Liste mit po-tenziellen Projekten ein, aber sie hatten so gut wie kein Geld und nicht genug Leute,um diese Ideen umzusetzen. „Leider habe ich nur davon geträumt“, gab Balázs zu.Peter begann, alle von den vergangenen Events verfügbaren Daten zusammenzusu-chen und gemeinsam mit den zwei Unternehmern rekonstruierte er die bisherigeUnternehmensgeschichte mit dem Ziel, nutzbare Informationen zu sammeln undmit dem Schreiben eines detaillierten Businessplanes zu beginnen.

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Attila Petheo & Luca Iandoli 353

25.3 Die unternehmerische Idee

Dani und Balázs erzählten Peter, wie sie ihr Unternehmen mit einer simplen Idee be-gonnen hatten, welche auf die Organisation von Musikfestivals in Verbindung mitSkifahren und Winterurlaub fokussiert war. Mit der einzigen Ausnahme von Snow-bombing, kreiert von der britischen Firma Outgoing Ltd., organisierte niemand grö-ßere Ski-Musik-Events in Europa. Outgoing Ltd. hatte ungefähr 3.000 Teilnehmerund hielt sein Event in einem der besten österreichischen Skiresorts, in Mayrhofen,ab. Die Tickets waren lange im Voraus an der Universität Manchester verkauft wor-den. Balázs kontaktierte sie direkt und fragte sie, ob sie sich als Konkurrent auf demeuropäischen Markt sehen würden. Outgoing Ltd. ließ ihn wissen, dass es derzeitnicht ihre Intention war, Tickets außerhalb von England und Japan zu verkaufen.

Im Februar 2009 organisierte MEEX sein erstes Event in großem Maßstab, daserste Snowattack Ski- und Snowboard-Festival in Saint Vincent, Frankreich. Mit2.700 Teilnehmern, die alle aus Ungarn anreisten, war das Ereignis ein großer Erfolg.Die Gründer schrieben dies den Kunden, ihrer Zielgruppe, zu. Die Teilnehmer warenüberwiegend Universitätsstudenten, die daran interessiert waren, das Event zu besu-chen, um „das Reisen mit Party-Atmosphäre zu verbinden, während sie Wintersportausübten„. Diese Art von Kunden hatte zudem das verfügbare Einkommen, um denService zu erwerben. Balázs erklärt:

„Wir wollen nicht auf Basis des Preises konkurrieren, sondern wir wollen die besten Erlebnisse anbie-ten, die sie nie vergessen werden!“

Nachdem er der Geschichte der zwei Unternehmer zugehört hatte, merkte Peterbald, dass MEEX kein explizites Unternehmensleitbild hatte. Weder Dani noch Ba-lázs hatten eine Idee, wo sie in den nächsten fünf Jahren sein wollten und was siewährend der Zeit erreichen wollten. Als Ausgangspunkt schlug Peter vor, dass siedie zukünftig erwarteten Geschäftsergebnisse darlegen und diese in wirtschaftlicheKennzahlen darstellen sollten. Aber erst mussten sie die Unternehmensziele miteiner klaren Unternehmensmission verbinden.

25.4 Der Markt

Dani und Balázs erzählten Peter, dass sie während der Gründung und der Anfangs-phase ihres Betriebes Konkurrenten beobachtet und von ihnen gelernt hatten. An-dere Spieler in der Industrie wie CMToder Outgoing Ltd. waren sehr rentabel (über25% Rentabilität im Jahr 2009). Balázs besuchte das Snowbombing Event persönlichund fand heraus, dass Outgoing Ltd. im Hinblick auf Verwaltung, Kommunikation,Informationspakete und Logistik sehr gut organisiert war. Balázs sagte:

„Selbst, wenn wir ein bisschen schlechter als Outgoing arbeiten, kann ich mir sehr bald meinen ers-ten Ferrari kaufen . . .“

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354 25 MEEX (Ungarn)

Bei seiner Beobachtung des britischen Marktes entdeckte Balázs ein Event, das fürden ungarischen Markt reproduziert und angepasst werden könnte: London Freeze.Balázs und Dani besuchten das Event in London und kamen mit der Hoffnung,dass sie diesen auch in Ungarn umsetzten könnten, nach Budapest zurück. Sie stell-ten einen Plan für Budapest Freeze auf, der beachtliche Aufmerksamkeit erregte so-wie finanzielle Unterstützung auf sich zog. Nach enttäuschenden wirtschaftlichen Er-gebnissen von 2009 realisierten die beiden Unternehmer, dass MEEX sich nicht nurin der Organisation von Winterveranstaltungen verbessern musste, sondern auchdass sie das Know-how des Unternehmens ebenso für die Ausrichtung von Sommer-veranstaltungen einsetzten konnten. Aber die beiden Unternehmer waren unsicherdarüber, wie sie eine Präsenz im Sommermarkt von Extremsportveranstaltungenetablieren konnten.

25.5 Werbestrategie

MEEX konnte bereits eine lange Erfolgsgeschichte für Produkte und Dienstleistun-gen rund um Winter-Extremsport aufweisen. Nun hatten Balázs und Dani die Auf-gabe, neue effektive Möglichkeiten zu finden, mit denen sie ihre Kundenzielgruppeüber neue Produkte und Leistungen informieren konnten. Die Kunden mussten da-von überzeugt werden, dass MEEX etwas Attraktives und Einzigartiges lieferte. Ba-lázs und Dani wussten nicht, wie sie ihre Kunden am besten erreichen konnten,aber sie wussten grundsätzlich, was zu tun war. Sie mussten auf Kundengruppen zu-gehen. Aber sie waren sich nicht sicher, welche Kommunikationskanäle sie benutzensollten. Peter fragte Dani und Balázs, welche Kommunikationskanäle sie zuvor be-nutzt hatten, welche Methoden erfolgreich gewesen sind und was die Gründer ausden Marktreaktionen gelernt hatten. Beide Gründer horteten eine Fülle an Informa-tionen. Dani erklärte:

„Wir nehmen alle unsere Aktivitäten als Guerilla-Videos auf. Die Leute wollen sie mehrere Malesehen, wenn sie cool und auffällig sind! Ein Teilnehmer bringt weitere zwei! Würdest du in einCamp gehen, in das alle deine Freunde gehen oder würdest du nach etwas anderem suchen?“

Nachdem Dani und Balázs ihre Kenntnisse über ihr Geschäft und ihre Kunden be-schrieben hatten, war Peter in der Lage, ihre Kerngedanken in einer Marketingaus-sage zusammenzufassen: MEEX organisiert unkonventionelle Events. Die Firmazielte klar auf ein junges Publikum und eine bestimmte Kategorie von Kunden ab,denen nicht nur die Besonderheiten des Produktes wichtig waren, sondern auch dieArt undWeise, wie die Firma ihre Produkte und Dienstleistungen bekannt macht. Eszeigte sich, dass der Markt stark auf das Angebot reagierte, wenn· die Kampagne zwanglos und humorvoll war;· die Botschaft auf unkonventionellen Kommunikationskanälen wie Online-

Videos und das Peer-to-Peer-Netzwerk von Mitgliedern junger urbaner „tribes“gesendet wurde;

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· die Botschaft modische oder sehr bekannte Symbole, Bilder und Sprüche hatte,welche den „coolen“ Individuen halfen, ihre „tribes“ zu finden;

· die Aussage auf gemeinsamen Spaß und gemeinsame Aktivitäten hindeutete.

Peter war sehr beeindruckt davon, wie MEEX in der Lage war, kreative Werbekam-pagnen zu entwickeln, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein. Die besondereZielgruppe und das geringe Marketingbudget machten dies nicht unbedingt leichter.Zum Beispiel gingen im September 2008, als an allen Universitäten der Unterrichtstartete, MEEX-Mitarbeiter komplett mit Skijacken, Stiefeln, Helmen, Brillen undSnowboards ausgestattet in die Hörsäle und rutschten dort die Treppen hinunter(siehe unter www.snowattack.hu, „Guerrilla Video“). Keiner hatte eine Ahnung,was passierte. Die Studenten begannen, im Unterricht darüber zu schwatzen und alssie den Hörsaal verließen, erhielten die Studenten an der Tür einen Aufkleber (sieheAbbildung 1).

Die Leute wussten immer noch nicht, was Snowattack war, aber sie begannen, da-rüber zu reden und klebten die Aufkleber überall hin, z. B. in Fahrstühle, Toiletten,Korridoren und sich gegenseitig selbst auf den Rücken. Unmittelbar danach wurdeder meist gesehene nationale TV-Sender, TV2, ein Hauptsponsor des Events undbot 200 TV Spots als Sponsoring an. Dafür drehte MEEX ein unkonventionelles Vi-deo, in dem ein Junge überall in der Stadt mit dem Snowboard auftauchte, in derStraßenbahn, auf Treppen usw. Am Ende der Werbung wurde Snowattack als daserste Ski- und Snowboard-Festival in Frankreich im Februar 2009 präsentiert. Diesführte zu großem Interesse an dem Event, und viele andere Sponsoren wie Fun-dango Sportkleidung, Nokia und die Allianz Versicherung schlossen sich an. MEEXwarb bald in Printmedien, auf Straßenreklametafeln und durch die Innenwerbungan jeder Universität im Land. Die Marketingkampagne war so effektiv, dass dasEvent schon Ende November 2008 komplett ausgebucht war, und danach immernoch Bewerbungen ins Büro von MEEX strömten.

Da MEEX keine Erlaubnis hatte, als Reiseagentur aufzutreten, verpflichteten sieeine solche (Campus), um die Reisearrangements für die Teilnehmer zu regeln. Lei-der ging die Reiseagentur in Konkurs, sodass MEEX seine eigene Reiseagentur grün-den musste. Dani sagte:

„Ich möchte die Reiseagentur selbst leiten, um alle Ausgaben zu kontrollieren!“

Abb. 1: Die SnowAttack Aufkleber-Kampagne

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356 25 MEEX (Ungarn)

Eine offizielle Lizenz zu bekommen, ist in Ungarn weder einfach noch billig. Der An-bieter muss sich an sehr strenge Regeln halten, um eine Reiseagentur zu betreiben.So muss die Agentur ein öffentlich zugängliches Büro besitzen, und mit einem tou-ristisch qualifizierten Mitarbeiter besetzt sein. Die Agentur muss zudem eine finanzi-elle Garantie von € 400.000 abgeben, um Reisende im Falle von Konkurs oder ande-ren Eventualitäten entschädigen zu können. Da MEEX selbst nicht genug Kapitalhatte, um diese Anforderung zu erfüllen, musste dafür eine Versicherung abgeschlos-sen, die jährlich € 16.000 kostete.

Als MEEX das Budapester Freeze Event organisierte, fanden Dani und Balázs he-raus, dass es eine andere und vielleicht interessantere Einnahmequelle gab als nur dieEintrittsgelder. Sponsoren könnten sich für MEEX als ein potenzieller Einnahme-strom erweisen. Ein profilstarkes Event, das Tausende junger Leute anlockte, ist sehrattraktiv für Unternehmen, die dieses Marktsegment bearbeiten wollen. Zum Bei-spiel stellte Coca Cola ihrenMonster Energy Drink in Zentraleuropa vor, um die Vor-herrschaft von Red Bull herauszufordern. Eine von den Gründen, warum Coca ColaMEEX sponsorte, war, dass das Wort MEEX als Akronym für Monster Energy Expe-rience verstanden werden konnte. So wurde der Monster Energy Drink der Sponsorfür Budapest Freeze. Dies eröffnete eine neue Möglichkeit für MEEX; sie hatten nuneinen effektivenWerbekanal, um junge aktive Studenten anzulocken.

Bald traten auch andere internationale Konzerne an MEEX heran, die ihre neuenProdukte auf dem ungarischen Markt einführen wollten, wie beispielsweise Nescafé,Nike, Microsoft und Vodafone. Für Nike schaffte MEEX ein Sportbotschafter-Netz-werk, in demeinVertreter vonNike an jederUniversität ganzjährig Sportveranstaltun-gen organisierte. Für Microsoft entwickelte MEEX Exploreman (wie Superman, je-doch mit einem „E“ auf dem Kostüm anstatt einem „S“). In diesem Projekt warbenExploremen in den Korridoren der Universitäten für Microsoft-Browser. Die Arbeitmit Großkonzernen hatte seine Vorteile, aber die Gründer waren besorgt, dass MEEXzu sehr von den großenNamen abhängig werden könne. Die Gründer fragten sich, obdie Konzerne irgendwann beginnen würden zu bestimmen, welche Produkte undDiensteMEEX seinen Kunden anbietenwürde.

25.6 Die Organisationsstruktur

DieOrganisationsstruktur vonMEEXwar einmalig. Sie baute auf lokalenNetzwerkenauf und förderte den Wettbewerb zwischen seinen Mitgliedern (siehe Abbildung 2).Jede Universität hatte einen exklusiven „lokalen MEEX-Helden“, welcher die Organi-sation repräsentierte. Über 300 Studenten jährlich bewarben sich, um bei MEEX zuarbeiten. Diejenigen, die angenommen wurden, starteten als MEEX-Junior. Durchdas „Lokaler MEEX-Held“-Netzwerk warb die Firma und verkaufte Eintrittskartenfür Festivals in jeder Universität in Budapest.

Es gab zwei Wege, um zum lokalen Helden befördert zu werden:· besser zu arbeiten als der derzeitige lokale Held,

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· wenn ein lokaler Held sein Studium abschloss, verließ er die Organisation undtrat die Position an den besten MEEX-Junior ab.

Dani war es wichtig, auf Folgendes hinzuweisen:

„. . . wir konzentrieren uns sehr auf unsere aktiven Mitglieder, weil zwei Drittel des Verkaufs über sieläuft!“

MEEX entwickelte Rollen für seine Angestellten und eine Beschreibung der Ver-pflichtungen. Die Verantwortlichkeiten eines MEEX-Juniors waren:· sich an die „10 Gesetze des Organisierens“ zu halten,· eine Verbindung mit dem Mentor herzustellen,· die Adressenliste der Firma regelmäßig instand zu halten und zu nutzen,· alle zwei Wochen den organisatorischen Bericht an den Mentor abzugeben,· an Online- und Offline-Werbekampagnen teilzunehmen,· an Firmentrainings und Informationstreffen teilzunehmen.

Dafür erhielt ein MEEX-Junior:· Verkaufsprovisionen und· vergünstigte Teilnahme an allen MEEX-Events.

Abb. 2: Organisatorisches Netzwerk und Struktur von MEEX

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358 25 MEEX (Ungarn)

Die Position wurde von einer Person mindestens sechs Monate lang besetzt, undnach dieser Testperiode bot MEEX, abhängig von der Leistung des Kandidaten,Möglichkeiten zurWeiterentwicklung an. Wenn der MEEX-Junior allerdings gewisseGrundvoraussetzungen nicht erfüllte, wurde der Vertrag von MEEX gekündigt.

Der lokale Held war der Kern desMEEX-Teams. UmvomMEEX-Junior zumHel-den befördert zu werden, musste das Mitglied 100 Punkte sammeln oder eine spe-zielle Empfehlung vom Aufsichtsrat haben. Der lokale Held hatte folgende Verant-wortungen:· Aktivitäten innerhalb der Universität zu organisieren,· ein Vorbild für MEEX-Juniors zu sein,· sich an die „10 Gesetze des Organisierens“ zu halten,· die Adressenliste der Firma regelmäßig instand zu halten und zu nutzen,· an Online- und Offline-Werbekampagnen teilzunehmen,· alle Aspekte der MEEX-Events zu kontrollieren und zu leiten, und operative

Dinge umzusetzen.

Dafür erhielt er folgende Vorteile:· eigene Visitenkarten,· eine persönliche MEEX-Webseite,· erhöhte Provisionszahlungen,· Rabatt auf Sponsorenprodukte, einschließlich Fundango, Smith und Red Bull,· Einbeziehung in das MEEX-Design.

Mit Genehmigung vom Super-Helden-Vorstand hatte der lokale Held das Recht, eineigenes Juniorenteam zu gründen.

Jedes Event hatte ein Projektmanagement-Team, das aus ausgewählten Mitglie-dern der lokalen Helden bestand. Lokale Helden, die herausragend gearbeitet hattenund mehrere Jahre organisatorische Erfahrung hatten, konnten zum „Super-Hel-den“ befördert werden. Der HR-Manager hatte das Recht, Super-Helden zu ernen-nen. Super-Helden hatten die Verantwortung für folgende Aufgaben:· Kontrolle und Beaufsichtigung des MEEX-Organisationsteams,· Leitung des Event-Teams,· Zusammenstellung eines Projektmanagement-Teams für jedes Projekt,· Interaktion mit den anderen Super-Helden unter der Aufsicht des HR-Managers,· Unterstützung der Teamleiter.

Super-Helden konnten zu Projektmanagern ernannt werden, welche die Hauptkoor-dinatoren der größten Firmenevents waren. Die Projektmanager kannten alle As-pekte des Unternehmens, und sie berichteten direkt an die Teamführer und/oderdie MEEX-Gründer. Sowohl die Manager als auch die Projektmanager konnten voneinem Berater unterstützt werden, der von MEEX als ein Experte mit bedeutenderErfahrung in einem bestimmten Feld angesehen wurde. Das Senior-Managementwurde von den Teamleitern gebildet. Momentan waren dies Dani und Balázs. Die or-ganisatorische Struktur von MEEX war flach. Die beiden Gründer hatten bei denwichtigsten strategischen Fragen stets das letzte Wort.

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25.7 Schlussfolgerung

Am Ende ihres ersten Treffens dachte Peter, dass MEEX ein sehr interessantes Unter-nehmenwar. Er dachte, dass es vielversprechende Geschäftsmöglichkeiten bot, die eswert waren, sich näher mit ihnen zu befassen. Er machte während der Gespräche mitden zwei Gründern viele Notizen und bemerkte, dass es viele Stärken im gegenwärti-gen Geschäftsmodell gab, aber auch einige Verbesserungsmöglichkeiten. Zweifellosmussten seine ersten Eindrücke mit gründlichen Analysen untermauert werden, aberer war zu der Überzeugung gelangt, dass er für den Anfang bereits eineMenge interes-santes Material hatte zusammenstellen können. Peter hatte sich entschieden undwürde vorschlagen, dass Balázs und Dani mit dem Erstellen eines Businessplans fürdie nächsten drei Jahre begannen. Dies würde es ihnen ermöglichen, in ihremDenkenund ihren Entscheidungen rationaler zu werden. Nach Peters anfänglichen Schätzun-gen hatte die Firma das Potenzial für einen Umsatz von € 4 Millionen und einem we-sentlichen Gewinn für die Unternehmer. Dani und Balázs waren von Peters Schätzun-gen sehr überrascht, und fragten, wie dasmöglich sein könne. Petermeinte:

„Es gibt keine Wissenschaft, die den Erfolg eines Unternehmens voraussagen kann, und keine Garan-tie, dass das Schreiben eines Businessplans dich dahin bringt, wohin du willst. Aber weißt du, wasdas Gute am Schreiben eines Planes ist? Wie einmal jemand sagte: ‚Kein Wind ist gut für die, dienicht wissen, auf welchen Hafen sie zusteuern.“25

Einnahmen Ausgaben

Label Wert Status Label Wert Status

Reise 3862 Passagiere185,152,580 Ft 3

Unterkunft, Skipässeund 40 Busse

130,734,040 Ft 3

Versicherung 8,962,100 Ft 3 Versicherung 8,962,100 Ft 3

Skiunterricht 1,284,560 Ft 3 Skiunterricht 642,160 Ft 3

Miete der Skiaus-rüstung

1,860,000 Ft 3Miete der Skiaus-rüstung

1,528,000 Ft 3

Sachspenden 3,882,200 Ft 3Elektrizität undmobile Toiletten

2,717,400 Ft 3

Extra Skipass-Ver-käufe

484,820 Ft 3 Personalkosten 20,101,995 Ft 3

Profit aus Getränke-verkauf

5,266,240 Ft 3 Verkaufsauftrag 2,586,700 Ft 3

25 Aus dem „Brief an Lucilius“ des römischen Philosophen Seneca.

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360 25 MEEX (Ungarn)

Einnahmen Ausgaben

Label Wert Status Label Wert Status

Sponsoren (OTP,Fundango, Red Bull,Nokia . . .)

26,939,275 Ft 3

Künstler (DJs undBands, die meistenspielten für Reise-kostenersatz)

2,501,200 Ft 3

Nachtbus-Tickets 44,800 Ft 3 Redner/Animateur 552,830 Ft 3

Skitest/Vermietung 36,400 Ft 3 Künstleragentur 601,000 Ft 3

Poker Überschuss 10,878 Ft 3 Zeltmiete 8,201,788 Ft 3

Insel Festival –Wer-bung während desEvents

1,000,000 Ft 3 Transportkosten 3,679,200 Ft 3

Anmeldegebühr fürSkiwettbewerb

110,880 Ft 3 Werbekosten 18,221,054 Ft 3

Verkauf von T-Shirts,Skibrille

171,690 Ft 3 Sicherheit (36 Leute) 3,862,250 Ft 3

Hot Dog 315,000 Ft 3Krankenwagen undPersonal

1,046,200 Ft 3

Ausstattung für Pro-gramme

1,419,328 Ft 3

Telefonrechnungen 597,791 Ft 3

Prämien für besteAngestellte

748,000 Ft 3

Essenspaket für VIPund Angestellte

4,354,560 Ft 3

Benzinkosten fürFirmenwagen

689,880 Ft 3

Flugtickets für Künst-ler

1,214,077 Ft 3

Miete von Musik-technik

3,750,000 Ft 3

Miete von Bildtech-nik

1,442,188 Ft 3

Aufbau, Wartung undReparatur der Zelte

1,305,000 Ft 3

Reinigungsteam (täg-liche Reinigung derLokalitäten)

704,100 Ft 3

Andere unvorher-gesehene Kosten(Zoll, Einladungen,freie Getränke . . .)

2,305,721 Ft 3

Transfer und Geld-wechselkosten

314,700 Ft 3

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Einnahmen Ausgaben

Label Wert Status Label Wert Status

Absicherungskostendes €/HUF Wechsel-kurses

100,000 Ft

Reise (Vorausbesuchdes Ortes)

494,430 Ft 3

Miete Busparkplatzfür den Reisestart

85,225 Ft 3

VIP Geschenke undHostessen

510,160 Ft 3

Preise & Auszeich-nungen für Sport-wettbewerbe

904,475 Ft 3

Großes Luftgebäude 380,800 Ft 3

Website und Reser-vierung der Software-entwicklung

756,875 Ft 3

Werbung der OTP-Bank

625,000 Ft 3

Nokia-Tänzer 611,615 Ft 3

Werbung der Uni-versität

712,385 Ft 3

Hot Dog 60,365 Ft 3

Verlorenes Gelddurch Angestellten-versäumnis

308,000 Ft 3

Allgemeiner Schadenin Wohnungen (30Feuerlöscher wurdenzum Spaß benutzt)

2,632,280 Ft 3

Freie Plätze für Spon-soren (182 Personen)17,208,920 Ft

Einbezogen inReisekosten

3

Gesamteinnahmen 235,521,423 Ft Gesamtausgaben 232,964,872 Ft

Saldo Gewinn 2,556,551 Ft