Erbe des Kalten Krieges Kalten · 2016. 3. 11. · Erbe des Kalten Bernd Greiner / Tim B. Müller /...

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Bernd Greiner / Tim B. Müller / Klaas Voß (Hg.) Erbe des Kalten Krieges Bernd Greiner ı Robert J. Mc Mahon ı William Walker ı Sean N. Kalic ı Bettina Greiner ı John Philipp Baesler ı Rolf Hobson ı Vojtech Mastny ı Dieter Krüger ı Roy de Ruiter ı Klaus Naumann ı Gerd Hankel ı Giorgio Franceschini ı Christoph Laucht ı Michael Brzoska / Götz Neuneck ı Sarah B. Snyder ı Anja Mihr ı James Burnham Sedgwick ı Philipp Gassert ı Melanie Arndt ı Stefanie van de Kerkhof ı Berthold Vogel ı Heonik Kwon ı Sascha Helbardt / Rüdiger Korff ı Lorenz Lüthi ı Hans-Joachim Spanger ı Hartmut Quehl Edition . Institut für Sozialforschung Hamburger

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»Ende der Geschichte« und die Vision eines dauer­haften Triumphs liberaler Demokratien populär. Von dieser Selbstgewissheit ist wenig geblieben. Sie hat sich in den Jahren des »Krieges gegen den Terror« verschlissen, scheint blamiert angesichts der ständigen Reibereien zwischen den USA, Russ­land und China und ist einem dumpfen Gefühl der Selbsttäuschung gewichen. Bisweilen wird gar die Angst vor einem neuen Kalten Krieg laut.Dass versunkene Welten wiederauferstehen, ist so unwahrscheinlich wie eh und je. Dennoch gibt es Vergangenheiten mit eigenartigem Nachleben – ablesbar an den Spuren, die in den Tiefenstruk­turen des politischen wie gesellschaftlichen Lebens überdauern. Derlei zeichnet eine Epoche aus, da­rin liegt ihre Einmaligkeit: im Unwiederholbaren einerseits und in der hintergründigen Präsenz andererseits. Der Kalte Krieg zählt zu diesen ein­maligen Perioden. Er ist in vielerlei Gestalt noch immer gegenwärtig und zugleich unwiderruflich vorbei. Vom Wechselspiel aus Vergangenem und Gegenwärtigem, vom Gestern im Heute handelt der vorliegende Band: 29 renommierte Autorin­nen und Autoren begeben sich auf eine Spuren­suche im ehemaligen Osten und Westen sowie in der »Dritten Welt«.

Bernd Greiner, Prof. Dr. phil., Historiker, Politik­wissenschaftler und Amerikanist, leitet seit 1994 den Arbeitsbereich »Theorie und Geschichte der Gewalt« am Hamburger Institut für Sozialforschung und lehrt Geschichte an der Universität Hamburg. Zuletzt erschien in der Hamburger Edition: »Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam«.Tim B. Müller, Dr. phil., Historiker, wissenschaft­licher Mitarbeiter im Arbeitsbereich »Theorie und Geschichte der Gewalt« des Hamburger Instituts für Sozialforschung. In der Hamburger Edition erschien 2010: »Krieger und Gelehrte. Herbert Marcuse und die Denksysteme im Kalten Krieg«. Klaas Voß, Dr. phil., Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich »Theorie und Geschichte der Gewalt« des Hamburger Instituts für Sozialforschung, arbeitet über Söldner und verdeckte Operationen im Kalten Krieg sowie zur Reintegration von Rebellengruppen nach 1990.

Vor mehr als zwanzig Jahren fiel der Eiserne Vorhang, und mit ihm verschwand ein Ordnungs­muster, das die Welt in zwei Lager teilte. Doch was bleibt von den Strukturen, Praktiken und Institutionen des Kalten Krieges? Welches politische, soziale, militärische und kulturelle Erbe prägt direkt und indirekt die Welt bis in unsere Gegenwart? Das Wechselspiel von Vergangenem und Gegenwärtigem, die Präsenz des Gestern im Heute thema tisiert der vorliegende Band – eine Spurensuche in Ost und West und in der »Dritten Welt« auf unterschiedlichen Themenfeldern: Nationaler Sicherheitsstaat, Außen­ und Sicherheitspolitik, Gesellschaft, Wirtschaft und Recht, Staatenbildung, Staatsreform und Staatszerfall.

ISBN 978-3-86854-258-5

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Erbe des Kalten Krieges

Bernd Greiner ı Robert J. Mc Mahon ı William Walker ı Sean N. Kalic ı Bettina Greiner ı John Philipp Baesler ı Rolf Hobson ı Vojtech Mastny ı Dieter Krüger ı Roy de Ruiter ı Klaus Naumann ı Gerd Hankel ı Giorgio Franceschini ı Christoph Laucht ı Michael Brzoska /Götz Neuneck ı Sarah B. Snyder ı Anja Mihr ı James Burnham Sedgwick ı Philipp Gassert ı Melanie Arndt ı Stefanie van de Kerkhof ı Berthold Vogel ı Heonik Kwon ı Sascha Helbardt / Rüdiger Korff ı Lorenz Lüthi ı Hans­Joachim Spanger ı Hartmut Quehl

Edition.Institut für Sozialforschung

HamburgerEdition.Institut für Sozialforschung

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Bernd Greiner/Tim B. Müller/Klaas Voß (Hg.)

Erbe des Kalten Krieges

Studien zum Kalten KriegBand 6

Hamburger Edition

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbHVerlag des Hamburger Instituts für SozialforschungMittelweg 3620148 Hamburgwww.Hamburger-Edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2013 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-574-6E-Book Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde

© der Printausgabe 2013 by Hamburger EditionISBN 978-3-86854-258-5

Redaktion: Jörg SpäterUmschlaggestaltung: Wilfried GandrasTypografie und Herstellung: Jan und Elke EnnsSatz aus Sabon von Dörlemann Satz, Lemförde

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Inhalt 5

Inhalt

Bernd GreinerSpurensuche: Zum Erbe des Kalten Krieges 9

Der nationale Sicherheitsstaat 43

Robert J. McMahonDer verwundbare Gigant: Unsicherheitsdebatten in den USA 45

William WalkerDer Nationale Sicherheitsstaat 59

Bernd GreinerDas lange Leben der »Imperialen Präsidentschaft« 74

Sean N. Kalic»Framing the Discourse«: Die Rhetorik des Krieges gegenden Terror 97

Bettina GreinerNach Abu Ghraib 111

John Philipp BaeslerDie Macht des Lügendetektors im amerikanischenSicherheitssystem 128

Rolf Hobson»Defense Intellectuals«: Zur Karriere von Schreibtischstrategen 148

Außen- und Sicherheitspolitik 159

Vojtech MastnyNachhaltige Sicherheitsarchitekturen 161

Dieter KrügerSicherheit durch Integration: NATO, EU und der lange Schattendes Kalten Krieges 176

Roy de RuiterAbschied vom Kalten Krieg: Das Beispiel Niederlande 194

Klaus NaumannEin zäher Wandel: Deutsche Sicherheits- und Militärpolitik 209

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6 Inhalt

Gerd HankelHumanitäre Intervention: Zur Karriere eines Konzepts 227

Giorgio FranceschiniDie nukleare Modernisierung der USA 244

Christoph LauchtZurück in die nukleare Zukunft: Das Beispiel Großbritannien 263

Michael Brzoska, Götz NeuneckVagabundierende Atomwaffen? Das sowjetische Arsenal nach 1991 274

Gesellschaft, Wirtschaft, Recht 293

Sarah B. SnyderTransnationaler Menschenrechtsaktivismus 295

Anja MihrMenschenrechtsorganisationen: Das Beispiel AmnestyInternational 309

James Burnham SedgwickInternationales Strafrecht: Zur Entwicklung einer Disziplin 327

Philipp GassertDie Entstehung eines neuen Umweltbewusstseins 343

Melanie ArndtTschernobyl in Deutschland 364

Stefanie van de Kerkhof»Business is War«? Zur Kontinuität militärstrategischenDenkens in Management und Consulting 383

Berthold VogelDer »sorgende Staat« – ein Kriegsprodukt? 401

Staatsbildung und Staatszerfall 413

Heonik KwonAuf der Spur des Kalten Krieges im Globalen Süden 415

Sascha Helbardt, Rüdiger KorffStaatenbildung in Südostasien 428

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Inhalt 7

Lorenz LüthiChinas Wirtschaftswunder 447

Hans-Joachim SpangerStaatszerfall: Ein Erbe des Kalten Krieges? 463

Hartmut QuehlZum Umbau von Kriegsgesellschaften: Eritrea, Kurdistanund Nicaragua 480

Zu den Autorinnen und Autoren 499

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Spurensuche 9

Bernd GreinerSpurensuche:Zum Erbe des Kalten Krieges

»Mission Accomplished« – »Es liegt hinter uns«: Am 28. Januar 1992 ver-kündete Präsident George H.W. Bush in einer Regierungserklärung den Siegdes Westens im Kalten Krieg. Und unter Historikern ging die Rede vom»Ende der Geschichte« um, vom unhintergehbaren und auf Dauer frieden-stiftenden Triumph liberaler Demokratien. Elf Monate zuvor war der War-schauer Pakt aufgelöst worden, die ehemaligen Vasallen der UdSSR berei-teten ihre Aufnahme in die EU oder NATO vor, Hunderttausende Soldatenwurden aus der Mitte Europas abgezogen, die nuklearen Waffenkammernsollten entrümpelt und bis zum Jahr 2003 auf ein Drittel ihres vormaligenBestandes reduziert werden. Und vor allem hatte die Welt am 31. Dezember1991, 20 Uhr Moskauer Zeit, eine symbolträchtige Kapitulation erlebt. Alsdie Fahne mit Hammer und Sichel über dem Kreml eingeholt und die weiß-blau-rote Trikolore der russischen Föderation aufgezogen wurde, gehörteder 1922 geschlossene Unionsvertrag endgültig der Vergangenheit an. Undmit ihm der Anspruch und die Überzeugung, dass am Ende eines verdientenSieges überall auf der Welt die roten Banner der Befreiung wehen würden.

Von der Selbstgewissheit der 1990er Jahre ist wenig geblieben. Sie hatsich in den Jahren des »Kriegs gegen den Terror« verschlissen, scheint bla-miert angesichts der ständigen Reibereien zwischen den USA, Russland undChina und ist einem dumpfen Gefühl der Selbsttäuschung gewichen – ab-lesbar an der regelmäßig geäußerten Sorge vor einem neuen Kalten Krieg.

Einem bekannten Bonmot zufolge wiederholt sich Geschichte nicht, essei denn als Tragödie oder Farce. Süffig ist dieser Hinweis allemal, aber beiLichte besehen wenig aufschlussreich. Denn es gibt immer wieder histori-sche Epochen, die ein eigenartiges Nachleben führen – indem sie nachhal-tige Spuren hinterlassen und in den Tiefenstrukturen des politischen wiegesellschaftlichen Lebens überdauern. Diese Zählebigkeit definiert sie alsEpoche, gerade darin liegt ihre Einmaligkeit: im Unwiederholbaren einer-seits und im hintergründigen Weiterleben andererseits. Der Kalte Kriegzählt zu diesen einmaligen Perioden. Er ist in vielerlei Gestalt noch immerpräsent und zugleich unwiderruflich vorbei. Von diesem Wechselspiel ausVergangenem und Gegenwärtigem, von der Präsenz des Gestern im Heutehandelt der vorliegende Band.

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Einzigartig ist und bleibt der Kalte Krieg wegen seiner ideologischenKampflinien. Nicht nur östlich des »Eisernen Vorhangs« hing man derIdee einer überlegenen Weltanschauung und der ganzen Welt Vorbild stif-tenden Gesellschaftsordnung an. Auch der Westen definierte seit 1947seine Politik als Auseinandersetzung um das Ganze. Selbst in Zeiten derEntspannung machten beide Seiten nur bedingt Abstriche. »Friedliche Ko-existenz« wurde nicht als Dementi des Antagonismus begriffen, sondernals Fortsetzung der weltweiten Konfrontation mit anderen Mitteln. Ob of-fen oder hintergründig, stets blieb die Vorstellung präsent, dass Sicherheitdie globale Multiplikation des eigenen Gesellschafts- und Ordnungsmo-dells voraussetzte. Und dass letztlich das eigene Überleben nur gewährleis-tet war, wenn die andere Seite bedingungslos kapitulierte. Sprich: sich denim Grundsatz anderen »way of life« des Gegenüber zu eigen machte.

Wer aber um absolut Gesetztes streitet, redet einer »totalen Politik« dasWort. Einer Politik, die keinen Unterschied zwischen äußerer und innererBedrohung macht und ehedem klar gezogene Grenzen zwischen Zivilemund Militärischem verflüssigt, einer Politik, die Loyalität, Gefolgschaftund Homogenität in den Rang politischer Primärziele erhebt und vor al-lem der inneren Mobilmachung verpflichtet ist. Ebendarum ging es – Ostwie West – im Kalten Krieg: den weltanschaulichen Alleinvertretungsan-spruch mittels einer Indienstnahme aller gesellschaftlichen Bereiche durch-zusetzen. Ob Ökonomie, Wissenschaft, Technologie oder Kultur, keineLebenswelt blieb ausgespart.

Politisch, logistisch und machtpsychologisch unverzichtbare Ressourcenmobilisierten Washington und Moskau auch jenseits der eigenen Landes-grenzen – mittels ausladender Bündnissysteme, die historisch ihresgleichensuchen. Ohne NATO und Warschauer Pakt, ohne die CENTO (CentralTreaty Organization) im Nahen Osten sowie die SEATO (South East AsiaTreaty Organization) hätte die Geschichte einen ganz anderen Lauf genom-men. Gewiss kann von einer konfliktfreien Kooperation keine Rede sein.Moskau musste Loyalität mittels militärischer Intervention wiederholt er-zwingen. Und auch Washington konnte sich seiner Gefolgschaft nicht im-mer gewiss sein. Angesichts der mit Großbritannien, Frankreich, Kanadaoder den kleineren NATO-Partnern ausgetragenen Konflikte um den rich-tigen Kurs in der Deutschland-, Nahost-, Indochina- oder Rüstungskon-trollpolitik wundert man sich rückblickend über den langen Zusammenhaltdes westlichen Kernbündnisses. Doch der Kalte Krieg hatte die Bündnissenicht nur auf den Weg gebracht. Er war zugleich Garant ihrer Langlebig-keit, geprägt von der Neigung der Supermächte, Spannungen als Mittelzum Zweck der Blockdisziplinierung zu nutzen, wenn nicht vorsätzlich zuschüren – vorab die allseits grassierende Angst vor einem Atomkrieg. Folg-

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lich geriet das Angebot, unter den beiderseits der Zentralfront aufgestell-ten Atomschirmen Schutz vor der vermeintlichen Unberechenbarkeit desKonkurrenten zu suchen, zur stärksten politischen Währung der Zeit.

Auch und gerade auf diesem Terrain zeigt sich das Besondere, wennnicht Einmalige des Kalten Krieges. Gemeint ist die in West wie Ost prak-tizierte atomare Diplomatie. Einerseits hatten Atom- und Wasserstoff-bomben samt der zugehörigen Trägersysteme den Krieg als Mittel der Poli-tik entwertet – war doch der Sieg über den Feind nur um den Preis dereigenen Auslöschung zu erreichen. Andererseits wurden Nuklearwaffenals Mittel zur Ausweitung und Projektion von Macht begriffen. In anderenWorten: Beide Seiten hatten es auf eine Schärfung der stumpfen Waffen an-gelegt und trachteten danach, aus dem militärisch Wertlosen politischenMehrwert zu schlagen. Folglich erklärten die USA wie die UdSSR ihrenAufstieg in eine höhere Gewichtsklasse und gingen weltweit Verpflichtun-gen ein, die sie sich bei konventioneller Bewaffnung schwerlich hätten leis-ten können. Daher rührt die propagandistische Karriere des Adjektivs »vi-tal«. Selten kam die Rede über angeblich »lebenswichtige Regionen«derart penetrant zum Zuge wie im Kalten Krieg.

Im Grunde hatten sich beide Seiten in eine Zwangslage manövriert. Siesahen sich genötigt, ihren neuen Status kontinuierlich zu beglaubigen. Undzwar auf eine Weise, die mit dem traditionellen Streben aller Großmächtenach Glaubwürdigkeit kaum mehr etwas gemein hatte. Denn die Beden-ken, als schwach und unzuverlässig wahrgenommen zu werden, wuchsensich während des Kalten Krieges zu einer Obsession aus. Und der Kampfum die wichtigste psychologische Ressource der Macht geriet im Schattender Nukleararsenale zu einem Abnutzungskrieg. Weltmacht konnte mandieser Logik zufolge nur sein, wenn die Angst vor der Bombe nicht als Ver-ängstigung in Erscheinung trat, wenn man bereit war, allen Risiken zumTrotz Gleiches mit Gleichem zu vergelten. So wollte der amerikanischeAußenminister John Foster Dulles sein in den 1950er Jahren vielzitiertesDiktum über Staatskunst im Atomzeitalter verstanden wissen: sich imZweifel dem Abgrund zu nähern, ohne zum Äußersten entschlossen zusein, aber die andere Seite im Unklaren zu lassen, wo die Grenze zwischenBluff und va banque lag. Chruschtschow hätte es nicht treffender formu-lieren können. Da jeder Verlust für die eigene Seite als Zugewinn des an-deren wahrgenommen wurde, erschöpfte sich die Antwort auf die neuenWaffen in der Wiederbelebung alten Denkens: nicht sich selbst, sondernandere abzuschrecken.

Unwiederholbar scheint der Kalte Krieg, weil er stets mehr war als dieSumme dieser Einzelteile. Wortkriege, Blockbildung und atomare Diplo-matie bildeten ein katalytisches Dreieck, reagierten mit- und aufeinander.

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Vor allem aber dynamisierten sie sich wechselseitig und zeitigten deshalbunverwechselbare politische Konsequenzen. Erstens stand knapp dieHälfte des über vier Jahrzehnte währenden Kalten Krieges im Zeichenakuter politischer wie militärischer Krisen. Zwar wurden die meisten die-ser Zusammenstöße mit größerer Umsicht und Rücksicht gehandhabt, alsdie Redeschlachten der Zeit vermuten lassen. Gerade in Mitteleuropa, wojede Gewehrsalve zum Anlass eines Atomkrieges hätte werden können,übte man sich in Zurückhaltung. Nimmt man indes auch die Dritte Welt inden Blick, so zeigt sich das ausgeprägte Desinteresse Washingtons wieMoskaus an einer Beilegung von Konflikten. Mittels Krisen die andereSeite zu schwächen, gehörte durchweg zum Repertoire ihrer Strategie derSpannung – »overload the enemy«, bürde dem anderen untragbare Lastenauf, wie es in der Sprache der Eisenhower-Administration hieß. Geradevon den Konfrontationen an der Peripherie, in Korea und Kuba, ging dieGefahr eines globalen Atomkrieges aus. Eine Nahaufnahme dieser Krisenlegt gar das Fazit nahe: Wir hatten Glück im Kalten Krieg.1

Zweitens geht ein Gutteil der 150 zwischen 1945 und 1990 in der Drit-ten Welt ausgetragenen heißen Kriege auf das Konto des Kalten Krieges.Auch wenn vielerorts nicht ideologische Präferenzen, sondern der Willezur Unabhängigkeit von alten Kolonialmächten oder schlicht lokale Strei-tereien den Ausschlag gaben, so ließen die USA und die UdSSR kaum eineGelegenheit zur militärischen Parteinahme aus – sei es um der schierenMachtprojektion willen, sei es im Bestreben, die andere Seite noch nichteinmal im hintersten Winkel der Welt zum Zug kommen zu lassen. Dasszahlreiche Kriege, die sich andernfalls schnell erschöpft hätten, in der Folgeintensiviert oder gar auf Dauer gestellt wurden, ist kaum zu bestreiten.2

Drittens schließlich handelt der Kalte Krieg von einer Aufrüstung ganzbesonderer Art. Bekanntlich wurden in dieser Zeit mehr Waffen denn jesowie Waffen beispielloser Vernichtungskraft produziert. Auch kleinereStaaten hielten ungleich mehr junge Männer unter Waffen als in früherenFriedenszeiten und verpulverten Jahr um Jahr ehedem undenkbare Sum-men. Die Pointe dieser Politik ist nicht in Statistiken zu suchen. Unerhörtist vielmehr der Umstand, dass sich zwei hochgerüstete Blöcke benahmen,als befänden sie sich trotz des Friedens auf der nördlichen Halbkugeldauerhaft im Krieg. Auf eine »permanent preparedness« – eine jederzeitabrufbare Bereitschaft zum Krieg – festgelegt, brachten sie fast ohne Vor-

1 Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Krisen im Kalten Krieg.Studien zum Kalten Krieg, Bd. 2, Hamburg 2008.

2 Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Dierk Walter (Hg.), Heiße Kriege im KaltenKrieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 1, Hamburg 2006.

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warnzeit einsetzbare Waffen in Stellung und sorgten für eine hintergrün-dige Dauernervosität in den Reihen politischer und militärischer Entschei-dungsträger.3

Wie unschwer zu erkennen, haben sich wesentliche Triebkräfte des Kal-ten Krieges verbraucht. Dass sich Supermächte in der Zukunft erneut we-gen unvereinbarer Weltanschauungen zu Feinden erklären, scheint so gutwie ausgeschlossen. Huldigen sie doch allesamt – die USA wie auch dieAspiranten Russland, China und Indien – dem marktwirtschaftlichenOrdnungsmodell. Mit welchen Konflikten die Globalisierung auch immereinhergehen mag, eine dem Kalten Krieg entsprechende Häufung von Kri-sen oder gar von Stellvertreterkriegen in den Interessensphären der Kon-kurrenz wird es auch aus einem zweiten Grund nicht geben: Das einst bi-polare internationale System hat sich in einer multipolaren Weltverflüssigt, an die Stelle disziplinierter Bündnisse sind »Koalitionen derWilligen« getreten, brüchige, jederzeit kündbare Partnerschaften, die nurnoch entfernt an Vergangenes erinnern. Und dennoch ist das Erbe des Kal-ten Krieges unübersehbar, bisweilen gar dominant: im ehemaligen »Wes-ten« wie im vormaligen »Osten« und im »globalen Süden« ohnehin.

Der nationale Sicherheitsstaat

Je größer der zeitliche Abstand wird, desto deutlicher schält sich eine derlästigsten Hinterlassenschaften des Kalten Krieges heraus: nämlich imFalle Russlands und Chinas den Autokratismus zementiert und die USAfür einen Autokratismus anfällig gemacht zu haben. Gewiss – autokrati-sche Herrschaft ist in Russland und China kein Kind des Kalten Krieges.Die seit der Aufklärung praktizierte Gewaltenteilung fand weder im Za-renreich noch in den Kaiserdynastien Resonanz. Vielmehr blieben die Po-tentaten beider Reiche einem gemeinsamen Grundsatz verpflichtet: demPrinzip der Machtvollkommenheit und der Maxime unumschränkterHerrschaft. Niemandem zur Rechenschaft verpflichtet, standen sie überdem Recht und nahmen für sich in Anspruch, nach Gutdünken extralegalhandeln zu können, wenn nicht zu müssen. Im Russischen hat diesesStaats- und Politikverständnis gar einen weltanschaulichen Leitbegriff ge-funden: »Rechtsnihilismus«.

Es ließe sich lange darüber streiten, ob diese in der Sowjetunion nach1917 und in China seit 1949 auf die Spitze getriebene Tradition in der

3 Bernd Greiner/Christian Th. Müller/Claudia Weber (Hg.), Ökonomie im KaltenKrieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 4, Hamburg 2010.

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zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch ohne den Kalten Krieg hätte wei-tergeführt werden können und ob in Abwesenheit der Dauerkonfronta-tion das stille Wirken wirtschaftlicher Globalisierung nicht notwendig aufeine nachgeholte politische Modernisierung hinausgelaufen wäre. Unstrit-tig ist indes, dass der Kalte Krieg dem Überkommenen eine gut 40-jährigeSchonfrist gewährte. Denn nichts konserviert autokratische Macht undHerrschaft verlässlicher als Krisen, Konflikte und ein auf Dauer gestellterAusnahmezustand. Und unstrittig ist des Weiteren, dass alle nach demEnde des Kalten Krieges unternommenen Reformbemühungen binnenkurzem ins Leere liefen.

Nach dem 14. Parteitag der Kommunisten im Herbst 1992 schien Chinaoffener denn je. Doch Deng Xiaoping brachte alsbald das Wesen der»Volksregierung« in Erinnerung: Alle politische Macht bleibt in der Handder Parteielite und wird im Zweifel von deren Führer alleine ausgeübt. MitZentralismus und Personalisierung ist auch das »System Putin« angemes-sen umschrieben. Dass Wladimir Putin die 1988 verabschiedete Verfas-sungsreform kassierte und damit das unabhängige Verfassungsgericht zurBedeutungslosigkeit degradierte, bringt Gegenwart und absehbare Zu-kunft des »neuen Russland« auf seinen politischen Begriff: Gewaltenein-heit statt Gewaltenteilung. Der Souverän ist das Staatsoberhaupt, die viel-zitierte »Wiederherstellung russischer Staatlichkeit« gründet in dem Rechtder Exekutive, sich über das Recht zu stellen.

Dass dergleichen auch in den USA zu einem anhaltenden Problem ge-worden ist, geht zweifelsfrei auf das Konto des Kalten Krieges. Mit einemUnterschied: Man spricht gemeinhin nicht von Autokratismus, sondernvon »Imperialer Präsidentschaft«. »Imperial« steht für Monopolisierungder Macht und die Tatsache, dass das Amt des Präsidenten im »langenFrieden« nach 1945 mit Kompetenzen und Vorrechten wie in Kriegszeitenausgestattet wurde. Mit dem Nationalen Sicherheitsrat und dem »WhiteHouse Staff« verfügt ein Präsident über die Möglichkeit, sich gegen die»permanente Bürokratie« der Ministerien und konkurrierende Machtzen-tren innerhalb der Exekutive durchzusetzen. Mittels sogenannter »discre-tionary powers«, einem ausufernden Katalog von mittlerweile 500 Er-mächtigungs- und Notstandsbefugnissen, kann das Weiße Haus auchjederzeit den Kongress umgehen. So gesehen handelt die »Imperiale Präsi-dentschaft« von einer Einladung zum Machtmissbrauch. Man könnteauch von einer Umgründung der ältesten Demokratie der Welt sprechen:Aus dem unbedingten Muss der Gewaltenteilung ist eine Kann-Bestim-mung geworden. Während des Kalten Krieges nahmen alle Präsidentendiese Möglichkeiten zur Selbstermächtigung auf inflationäre Weise in An-spruch, vorab in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Übertretung der

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von der Verfassung gesetzten Rechtsgrenzen bagatellisierte man entwederals nicht begründungsbedürftig oder erklärte die Rechtsüberschreitungschlicht zur rechtskonformen Norm – eine Praxis, für die Richard Nixondie prägnantesten Worte wählte: »Wenn es der Präsident tut, kann es nichtillegal sein.«

Warum diese vielfach als »Präsidialdiktatur« oder »Neo-Cäsarismus«4

kritisierte Entwicklung keine Legitimationskrise heraufbeschwört, gehörtzu den rätselhaften Seiten der amerikanischen Demokratie. RobertMcMahon sieht im Bedürfnis nach starker Führung die Kehrseite eineramerikanischen Sicherheitsobsession, die weit über den Kalten Krieg hin-aus wirkmächtig geblieben ist. Im Grunde handelt es sich um ein seit dem18. Jahrhundert periodisch, gleichsam in Wellenbewegungen auftretendesPhänomen. Selbst in Zeiten, als die USA in jeder Beziehung drückendüberlegen waren und keinen Konkurrenten fürchten mussten, blieben Ver-wundbarkeitsfantasien virulent. Alle Gruppen und Schichten der Bevölke-rung teilten sie, Eliten beuteten sie für ihre Zwecke aus – offensichtlichumso mehr, je stärker sie selbst im Bann infektiöser Ängste standen. Voneiner spezifisch amerikanischen Anfälligkeit zu sprechen, scheint nichtübertrieben. Spätestens seit Richard Hofstadters vielzitiertem Aufsatzüber den »paranoiden Zug« in der amerikanischen Politik kann beinahevon einem Konsens bei der Beschreibung des Problems gesprochen wer-den.5 Den Ursachen auf die Spur zu kommen, erweist sich indes als we-sentlich schwieriger.

In diesem Zusammenhang erinnert man sich wieder an die »revisionis-tische Schule« und ihren Vordenker William Appleman Williams. Dieseridentifiziert in seinem umfänglichen Werk6 immer wieder die Vorstellungeines amerikanischen »Exzeptionalismus« als Quelle von Verunsicherung,Misstrauen und Angst. »Exzeptionalismus« meint in diesem Zusammen-hang zweierlei: Die USA sind eine einzigartige Nation, und ihre Einzig-artigkeit ist nur so lange gesichert, wie man die Weltwirtschaft dominiertund dafür sorgt, dass möglichst viele andere Nationen sich das Modellamerikanischen Wirtschaftens zu eigen machen. Im Grunde geht es um

4 Clinton Rossiter, Constitutional Dictatorship: Crisis Management in the ModernDemocracies, Princeton 1948 (New Brunswick 2002); Bernd Greiner, 9/11: DerTag, die Angst, die Folgen, München 2011, S. 131–173.

5 Richard Hofstadter, The Paranoid Style in American Politics and Other Essays,Cambridge, Mass. 1965.

6 Vgl. William Appleman Williams, Die Tragödie der amerikanischen Diplomatie,Frankfurt am Main 1973.

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eine zivilreligiöse Aufladung des Freiheitsbegriffs und dessen stets präsen-ten Zwilling: die Nervosität, die sich angesichts eines im Wandel begrif-fenen Umfelds einstellt, weil die Unberechenbarkeit dieses Wandels latentoder unmittelbar die Gefahr einer Beschneidung wirtschaftlicher Hand-lungsspielräume birgt und mithin als Bedrohung amerikanischer Freiheitund Einzigartigkeit gedeutet werden kann (William Walker).

So gesehen ist es geradezu zwangsläufig, dass die Geschichte der Glo-balisierung in den USA mit einer Dauerkonjunktur diffuser Ängste undder Unterstellung einhergeht, Konkurrenten hätten im Grunde nur einesim Sinn: die vorbildliche Nation – »die beste und letzte Hoffnung derMenschheit« (Barack Obama) – so weit zu schädigen, dass sie nicht längerVorbild sein kann oder gar zu Fall kommt. Während des Zweiten Welt-krieges bedurfte diese Sicht der Dinge, einschließlich eines ins Maßloseübersteigerten Bedrohungsgefühls, keiner weiteren Begründung mehr. DieWende zum politischen Internationalismus war also zugleich die Geburts-stunde einer politischen Imagination, die konsequent auf einen manichäi-schen Kampf zwischen Gut und Böse, »zwischen den Mächten des Lichtsund der Finsternis« fixiert war und in der Entschlossenheit mündete, »eineArt vollkommener Sicherheit zu erlangen« (Robert McMahon). Seither istSicherheit ein Synonym für massive militärische Überlegenheit. Einen rea-len oder potenziellen Feind in allen Belangen ausstechen zu können undauch gegen Koalitionen von Feinden die Oberhand zu behalten, entwi-ckelte sich zur ehernen Regel, geteilt von allen Parteien und von allen Prä-sidenten verlässlich befolgt.

Der Kalte Krieg konservierte diese Tradition nicht bloß, er reicherte sieauf ganz besondere Art und Weise an. Konfrontiert mit einem weltan-schaulichen Gegenentwurf zum amerikanischen Freiheitsmodell, forcier-ten die USA ihre Rüstungsprogramme auch und gerade in der Zeit, als dieUdSSR militärisch ausgesprochen schwach war, von einer Bedrohung na-tionaler Sicherheit im engeren Sinne mithin keine Rede sein konnte. Weilaber die Sicherheit der Nation stets im erweiterten, um nicht zu sagen ent-grenzten Sinn uneingeschränkter Wirtschaftsfreiheit gedeutet wurde, gal-ten feindlich beeinflusste Unruheherde in Übersee oder die bloße Vorstel-lung derselben als im Prinzip nicht hinnehmbar. Diesen Zusammenhanghat Robert McMahon im Blick, wenn er von inflationierter Angst als dem»beständigsten Vermächtnis des Kalten Krieges« spricht. So sehr sich dieheutige Zeit von der verblichenen Welt der Systemkonfrontation unter-scheiden mag, »die Ängste und Unsicherheiten [sind] so stark und allesdurchdringend geblieben wie zuvor«. Angesichts von »9/11« und weltum-spannender Terrornetzwerke scheinen die Aussichten auf einen Wandel inabsehbarer Zeit erst recht eingetrübt (Sean N. Kalic).

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Soweit zur psychologisch-mentalen Grundierung des »nationalen Si-cherheitsstaates« amerikanischen Zuschnitts. Mit dessen institutionellerSeite, genauer gesagt dem »säkularen Trend« zur Stärkung der Exekutiveim Allgemeinen und der Machtprivilegierung des Präsidentenamtes im Be-sonderen, beschäftigt sich der Beitrag von Bernd Greiner. Dass machtbe-wusste Präsidenten für sich in Anspruch nehmen, nach eigenem Gutdünkendie Gewaltenteilung außer Kraft setzen zu dürfen, sollte nicht weiter ver-wundern; dergleichen hatten bereits die Autoren der »Federalist Papers«und mit ihnen die Verfassungsväter vor Augen, als sie ihr ausgeklügeltesSystem von »checks and balances« entwarfen. Warum sich hingegen dieLegislative diesem Anspruch beugt, also aus freien Stücken auf ihr Rechtund ihre Pflicht zur Kontrolle verzichtet, steht auf einem anderen Blatt.

Auch diesbezüglich brachte der Kalte Krieg eine Entwicklung von wi-derborstiger Nachhaltigkeit auf den Weg. Zur Erinnerung: Vor 1945 wiesder Kongress übergriffige Präsidenten regelmäßig in die Schranken. Bei-spielsweise wurden im Laufe eines Krieges erteilte Sondervollmachten amEnde der Kampfhandlungen wieder zurückgenommen. Bisweilen engteman den Handlungsspielraum des Weißen Hauses gar zusätzlich ein, alsbedürfte das Prinzip der Gewaltenteilung stets einer symbolischen Bestä-tigung. So geschehen am Ende des Ersten Weltkrieges, als der Senat denhinter seinem Rücken ausgehandelten Beitritt zum Völkerbund annul-lierte, so geschehen in den 1930er Jahren, als der Kongress mit Blick aufeinschlägige Erfahrungen im Vorfeld des Ersten Weltkrieges eine Reihevon Neutralitätsgesetzen verabschiedete, die Franklin D. Roosevelt in derAußen- und Sicherheitspolitik enge Grenzen setzten. Mit dem Beginn desKalten Krieges gehörte diese Tradition der Vergangenheit an, unwiderruf-lich, wie es scheint.

Im Grunde geriet die Berufung auf »nationale Sicherheit« zu einer ArtZauberformel, mittels derer die Spielregeln der Politik, vorweg der Außen-und Militärpolitik, verändert wurden. Überproportionaler Machtzuwachsauf der einen Seite und Selbstentmachtung auf der anderen Seite – »Impe-rial Presidency« und »Invisible Congress« – lauten die allseits bekanntenSchlagworte bei der Beschreibung dieses Prozesses. Mittlerweile wird diekumulative Überdehnung präsidialer Befugnisse, zumal unter dem Vorzei-chen eines Notstandsregimes wie nach »9/11«, schon gar nicht mehr alsRegelverletzung, sondern als Gewohnheitsrecht wahrgenommen. Nichtzuletzt wegen der jahrelangen Exzesse unter der Regierung George W.Bush liegt die Versuchung nahe, von einem in erster Linie amerikanischenProblem zu sprechen. Die Erfahrungen, die Europa in der Zwischenkriegs-zeit des 20. Jahrhunderts machte, sollten indes zu größerer Nachdenklich-keit Anlass geben; und die im Zuge der Finanz- und Währungskrise seit

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2008 beklagte Abwertung der Parlamente nicht minder. Das intellektuelleRüstzeug zu einer Debatte, die amerikanischen wie europäischen Reaktio-nen auf extreme Herausforderungen gleichermaßen gerecht wird, hatClinton Rossiter mit seinem Buch über »Constitutional Dictatorship« be-reits im Jahr 1948 zur Verfügung gestellt.

Sobald und solange Sicherheit im Vergleich zum Recht das höhere Gutist, stehen auch mühsam erkämpfte und vermeintlich unhintergehbare Er-rungenschaften wie das Verbot der Folter zur Disposition. Mit RichardCheney gesprochen: »Wir müssen unsere dunkle Seite starkmachen.«Warum der Kalte Krieg eine wichtige Station auf dem Weg nach AbuGhraib war, erörtert Bettina Greiner. Seit den frühen 1950er Jahren er-probten CIA und Militärgeheimdienste ein Repertoire von Foltermetho-den, das im »Krieg gegen den Terror« erneut ausgeschöpft wurde. Aller-dings kommt man bei der Lektüre damaliger und heutiger Handbüchernicht auf die Idee, »dass Folter etwas mit Blut, Schweiß und Tränen zu tunhat. Sie wird stattdessen als saubere Wissenschaft betrieben. […] Die An-drohung von Gewalt, heißt es, sei wirksamer als die Anwendung von Ge-walt.« Genau darum ging es im Kalten Krieg: möglichst wenig Spurenzu hinterlassen und im Zweifel die Anwendung von Foltermethoden mitanscheinend plausiblen Argumenten bestreiten zu können. Wer sich er-wischen ließ, riskierte Rückschläge auf dem wichtigsten Kampffeld derZeit, im moralischen Abnutzungskrieg um die »Herzen und Seelen« derWeltöffentlichkeit. Die seither perfektionierte stille Folter, auch »weiße«oder »psychologische Folter« genannt, bleibt auch deshalb unverändertattraktiv, weil ihre Mittel und Methoden zur moralischen Entlastung oderSelbstimmunisierung geeignet sind: Folterer können für sich in Anspruchnehmen, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen vorzugehen, alsoden Respekt vor ethischen Grundsätzen zu wahren.

Gleichwohl bietet diese Historisierung von Folterpraktiken nur grobeAnnäherungswerte. Denn es bleibt die sperrige Frage nach dem »institu-tionellen Gedächtnis« der Apparate, also danach, wer unter welchen Be-dingungen und in welcher Weise »abgespeichertes Folterwissen« aktiviert.Und wer erfolgreich oder umsonst Widerspruch anmeldet. Wie es scheint,war die Skepsis bei Geheimdienstlern und Militärs viel stärker ausgeprägtals bei den zivilen Entscheidungsträgern der Administration Bush jr. Wo-mit eine Traditionslinie ganz anderer Art in den Blick kommt: Zivilistengerierten sich gerne als besonders markante »kalte Krieger«, skrupelloser,mutiger und weitblickender als die Zauderer in Uniform, weil sie mit »har-ten Tönen« bei Wählern am besten punkten konnten. Oder zumindest derMeinung waren, besser punkten zu können. Auf dieser Beobachtung grün-det beispielsweise die These, dass George W. Bush nicht trotz, sondern we-

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gen der Bilder aus Abu Ghraib wiedergewählt wurde. In anderen Worten:Wer eine Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges und seiner Hinterlas-senschaften anstrebt, hat noch einen langen Weg vor sich.

Populäre Imaginationen können selbst berechtigte Zweifel am Wertund an der Zuverlässigkeit von Sicherheitstechnologien zum Verstummenbringen. Darauf verweist John Philipp Baesler am Beispiel des Lügende-tektors. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden, setzte er sichwährend des Kalten Krieges flächendeckend durch und wird seither nichtnur im Militär und bei Strafverfolgungsbehörden eingesetzt, sondern auchin der Wirtschaft – ungeachtet aller Erfahrung, dass man auf diesem Wegselten konkrete Resultate und erst recht keine greifbaren Wahrheiten zu-tage fördert. Weil aber das »Aufdecken von Lügnern und Schwindlern unddas Streben nach Authentizität« oder der Kampf von »Ehrlichkeit gegenVerstellung« zum Inventar amerikanischer Sicherheitsobsessionen gehört,hat der Lügendetektor nichts von seiner suggestiven Attraktivität einge-büßt. Wie ehedem bedient er die Fantasie, mit wissenschaftlich normiertenVerfahren Sicherheitslücken aufdecken zu können – von der Identifizie-rung illoyalen Denkens bis hin zum Aussortieren ganzer Bevölkerungs-gruppen.

Bei Imaginationen handelt es sich bekanntlich immer auch um sozialeKonstruktionen des Uneindeutigen und Ungefähren. Dass dabei nicht al-lein die Vielschichtigkeit der Materie, sondern auch schlicht der Mangelan empirischen Basisdaten eine Rolle spielt, demonstriert Rolf Hobson inseiner Polemik wider die thematische Selbstvergessenheit von Zeithistori-kern diesseits wie jenseits des Atlantiks. Warum wissen wir ausgerechnetüber jene Gruppe amerikanischer Intellektueller so wenig, die von Berufswegen sich als Produzenten von Sicherheit verstehen? Woher rührt das ge-ringe wissenschaftliche Interesse am Wirken und Einfluss von defenseintellectuals? Welche stillschweigenden Annahmen fließen in ihre Vorstel-lungen »über Demokratie, internationale Verhältnisse und die Anwen-dung von Gewalt« ein? Hobsons Grundverdacht erscheint plausibel: DieWelt der defense intellectuals stellt sich wie ein hermetisch geschlosse-nes System zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern dar, das nachdenkbar einfachen Regeln funktioniert. Demnach fließen die finanziellenZuwendungen aus Militär, Politik und Stiftungen nur so lange, wie dieEmpfänger auf eine Selbstverständlichkeit akademischen Arbeitens ver-zichten – nämlich auf Kontrolle und Selbstkontrolle bei Methoden wie Er-gebnissen. Auch das Fehlen eines kritischen Blicks von außen passt in die-ses Bild. »Es ist durchaus möglich, dass die ›nationale Sicherheit‹ derartaffektiv besetzt ist, dass einige Institutionen von dieser unnachgiebigenKontrolle ausgenommen werden. In diesem Fall ließe sich sagen: So wie

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die Politik in der Öffentlichkeit keine schmutzige Wäsche wäscht, er-streckt sich kritische Forschung auch nur bis an die Schwelle der Denk-fabriken.« In diesem Sinne könnte man die Produktion von Ideen undKonzepten zur »nationalen Sicherheit« als selbst verordnete Stagnationdeuten, die kulturell tief verwurzelt ist und folglich gegen Anfechtungenjedweder Art immun bleibt. Die Folgen sind auf dem Gebiet der Außen-und Sicherheitspolitik zu besichtigen.

Außen- und Sicherheitspolitik

Wie immer künftig über die gesellschaftliche Rolle und historische Bedeu-tung von defense intellectuals diskutiert werden mag, fest steht, dass ihrIdeenreservoir aus der Zeit des Kalten Krieges noch heute wirkmächtig ist.Die notorisch präsente Debatte über die Vor- und Nachtteile eines Präven-tiv- oder Präemptivkrieges illustriert diese Beobachtung auf ebenso dras-tische wie bedenkliche Weise.

Ist es ratsam, einen Krieg vorzeitig vom Zaun zu brechen? Bevor derFeind sein Waffenarsenal gefüllt hat und solange man selbst die Chancehat, mit vergleichsweise geringem Schaden davonzukommen? Seit der An-tike haben Anhänger der Präventivkriegsdoktrin diese Fragen bejaht, erstrecht, wenn man es mit einem Gegner zu tun hatte, der angeblich durchnichts und niemanden zu korrigierende Eroberungsabsichten hegte. Nachdem Test der ersten sowjetischen Atombombe im August 1949 war dasThema erneut auf der Tagesordnung, mal offen, mal versteckt, aber stetsmit ein und denselben Argumenten. Wenn ein Krieg auf lange Sicht gese-hen ohnehin unvermeidbar ist, dann sollte man ihn lieber früher als späterund in jedem Fall aus einer Position der Stärke führen – eine Sichtweise,die in den frühen 1950er Jahren nicht allein von Militärstrategen, sondernauch von führenden Politikern wie Harry S. Truman, Winston Churchilloder Charles de Gaulle vertreten wurde.7 Andererseits hatten Nuklearwaf-fen das Vernichtungsrisiko dermaßen gesteigert, dass eine nüchterne Ein-sicht die Oberhand behielt: Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter. Ge-dankliche Rückfälle bestätigten auch hier die Regel, wie John F. Kennedyim Juli 1963 zu erkennen gab. Alarmiert über Maos Nuklearprogramm

7 Marc Trachtenberg, The Cold War and After. History, Theory, and the Logic ofInternational Politics, Princeton, Oxford 2012, S. 247–281. Zur Entwicklungund Relevanz von Präventivkriegsstrategien im Kalten Krieg vgl. auch BerndGreiner, Politik am Rande des Abgrunds? Die Außen- und Militärpolitik der USAim Kalten Krieg, Heilbronn 1986, S. 53–90.

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und die »unannehmbare« Möglichkeit einer chinesischen Atombombe,streckte der Präsident in Moskau diplomatische Fühler aus. Und schlugden Sowjets allen Ernstes vor, die VR China mit einem gemeinsamen Prä-ventivschlag atomar zu entwaffnen.8 Gut sechs Jahre später kam LeonidBreschnew nach den Grenzzwischenfällen am Ussuri auf die Idee zurück.

Der Kalte Krieg war kaum zu Ende, als die Rolle des unberechenbarenDritten auf sogenannte »Schurkenstaaten« wie Nordkorea, Irak oder Iranüberging. 1994 stand die Administration Clinton kurz vor einem Angriffauf die Atomanlagen Nordkoreas. Wie bereits ein flüchtiger Blick auf in-terne Debatten zeigt, waren die Begründungen für einen Militärschlagpraktisch deckungsgleich mit jenen Erklärungen, die George W. Bush Jahrespäter im »Krieg gegen den Terror« und insbesondere im Vorfeld des An-griffs auf den Irak geltend machte. »Wenn wir abwarten, bis sich Bedro-hungen voll entfaltet haben, werden wir zu lange gewartet haben«, erklärteBush Anfang Juni 2002 vor Kadetten der Militärakademie Westpoint.»Wir müssen den Kampf zum Feind bringen, seine Pläne vereiteln und denschlimmsten Gefahren begegnen, bevor sie an den Tag treten. In dem Zeit-alter, in das wir gerade eingetreten sind, ist Handeln der einzige Weg zur Si-cherheit.«9 Wohlgemerkt: Ob Saddam Hussein bereits über Massenver-nichtungswaffen verfügte, war nicht das Problem. Uninteressant war auchdie Frage, ob und wie wahrscheinlich es war, dass er sich derartige Waffenzulegen könnte. Was einzig zählte, war die Möglichkeit, nicht die Wahr-scheinlichkeit. Eben weil es nicht unmöglich war, dass Saddam sich erstensatomar bewaffnen und zweitens Terrororganisationen nuklear ausstaffie-ren würde, galt er als elementare Gefährdung der nationalen Sicherheit.

Dieser Merksatz – wonach die Risiken des Nichthandelns wesentlichgrößer sind als die Risiken des Handelns – war in den 1950er Jahren vondefense intellectuals der RAND Corporation als »One Percent Doctrine«popularisiert worden: Man muss einem Feind zuvorkommen, auch wenndie Verdachtsmomente nur eine von 100 möglichen Varianten abdecken.In den Worten von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld: »Der abso-

8 Trachtenberg, Cold War and After, S. 255f. Der Philosoph Karl Jaspers machtesich noch Jahre später für den Vorschlag eines Präventivkrieges gegen die VRChina stark. Vgl. Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Ge-fahren, Chancen, München 196, S. 230.

9 George W. Bush, zit. n. Ron Suskind, The One Percent Doctrine. Deep InsideAmerica’s Pursuit of Its Enemies since 9/11, New York 2006, S. 149f. Vgl. Trach-tenberg, Cold War and After, S. 249, 263ff.

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lute Beweis kann keine Vorbedingung für Handeln sein.«10 Am 20. Septem-ber 2002 wurde die alte Doktrin in der neuen »National Security Strategyof the United States of America« offiziell verkündet. Wieder einmal ent-warf man eine Politik für die Zukunft auf den Gewissheiten der Vergan-genheit. Die Sieger der Geschichte stellten die Fragen von Siegern. Warumsollte im »Krieg gegen den Terror« scheitern, was im Kampf gegen dieSowjetunion funktioniert hatte? Was sprach gegen die Erwartung, eineHorde von »Schurkenstaaten« derart einzuschüchtern, dass sie erst garnicht auf den Gedanken kämen, die Autorität der Vereinigten Staaten her-auszufordern, geschweige denn Amerika schweren Schaden zuzufügen?

So sehr sie um Distanz zur Vorgängerregierung bemüht war, am ver-meintlichen Recht der USA auf Präventivkriege hielt die AdministrationBarack Obama unvermindert fest. Beispielsweise folgt die drastische Aus-weitung des Einsatzes von Drohnen gegen Terrorverdächtige den planier-ten Denkpfaden: vorbeugende Abwehr durch gezielte Tötungen und gegeneinen Personenkreis, der bisher noch nicht aktiv geworden ist, aber irgend-wann in der Zukunft gefährlich werden könnte. Auch auf dem »Schlacht-feld der Zukunft«, dem Cyberspace, ist laut Verteidigungsminister LeonPanetta eine gute Verteidigung längst nicht mehr gut genug. Die USA wür-den, so Panetta in einer Grundsatzrede am 11. Oktober 2012 in New York,ihr gesamtes Repertoire für einen Cyberangriff einsetzen, »wenn wir dieunmittelbare Gefahr eines Angriffs [mit Computerviren] erkennen, dergroßen materiellen Schaden anrichten oder gar amerikanische Bürger tö-ten würde«.11 Dass der Präventivschlag ausschließlich mit IT-Waffen ge-führt und sich nur gegen Computerzentren des Feindes richten würde, istdamit nicht gesagt. So gesehen wäre dem Friedensforscher Dieter Seng-haas zuzustimmen, dass der Kalte Krieg auf dem Gebiet von Abschre-ckungs- und Kriegführungsstrategien mehr Kontinuitäten als Brüche hin-terlassen hat.12

Es gehört zu den ironischen Pointen in der Geschichte des Kalten Krie-ges, dass Hochrüstung und Fantasien über nukleare Präventivkriege auchzur Stärkung neuer »Sicherheitsarchitekturen« beigetragen haben. Sosehrman die Instrumentalisierung der Vereinten Nationen durch die Super-mächte kritisieren kann, so wenig lässt sich deren Erfolgsgeschichte leug-

10 Donald Rumsfeld während eines Treffens mit NATO-Verteidigungsministern inBrüssel am 6. Juni 2002, zit. n. Suskind, One Percent Doctrine, S. 123.

11 Leon Panetta, zit. n. Matthias Rüb, »Plan X für den nächsten Präventivkrieg«,in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 10. 2012, S. 6.

12 Dieter Senghaas, Weltordnung in einer zerklüfteten Welt. Hat Frieden Zu-kunft?, Berlin 2012, S. 126.

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nen. Nicht umsonst werden internationale Organisationen in der neuerenForschung als unverzichtbare Säulen zur Einhegung von Konflikten undzur Bändigung von Gewaltpotenzialen angesehen.13 Gleiches gilt für dieunter dem Eindruck der Kubakrise getroffene Entscheidung, Lateiname-rika zur atomwaffenfreien Zone zu erklären. Und während man in denUSA der Vorstellung verhaftet blieb, Sicherheit primär mit militärischenMitteln zu schaffen, entwickelte sich Europa zusehends zu einem »Labo-ratorium für innovative Konzepte und Verfahrensweisen« vertrauensbil-dender Diplomatie (Vojtech Mastny).

Deshalb hat sich die Rede von der Geburt Europas aus dem Geistdes Kalten Krieges eingebürgert.14 Zwar hatten bereits der Schock desZweiten Weltkrieges und die Erkenntnis, mit einer fehlgeleiteten Politiknationaler Abschottung in den 1920er und 1930er Jahren diesem KriegVorschub geleistet zu haben, das Bedürfnis nach einem engeren Zusam-menschluss geweckt. Und doch bedurfte es eines zusätzlichen Impulses,damit den Einsichten auch Taten folgten. Erst die Frontstellung gegeneinen gemeinsamen Feind im Osten dynamisierte die französischen Visio-nen einer transnational verzahnten Schwerindustrie und brachte mit der»Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl« jenes »kleineuropäi-sche Wirtschaftsbündnis« hervor, das zum Vorbild weiterer Einigungs-schritte wurde (Dieter Krüger). Zugleich wies die von Robert Schumanund Jean Monet angestoßene Entwicklung weit über den engstirnigenRahmen des Kalten Krieges hinaus. Statt eine »Kultur des Misstrauensund des Verdachts« zu konservieren, förderte sie das Nachdenken übereine »Infrastruktur des Vertrauens« sowie die Bereitschaft, »sich auf einenlangfristigen, offenen Prozess mit ungewissem Ausgang« einzulassen(Vojtech Mastny). Demnach kann Sicherheit weder zulasten anderer ge-stärkt werden, noch die Angst vor Vergeltung und gegenseitiger Vernich-tung zur Voraussetzung haben. Als 1975 die »Konferenz für Sicherheit undZusammenarbeit in Europa« (KSZE) mit dem Abkommen von Helsinkiden Rahmen für eine institutionalisierte Kooperation zwischen Ost undWest setzte, wurde nicht allein die Idee einer »Zivilmacht Europa« gebo-ren. Auch die gedankliche Trennung des Kontinents erschien antiquiert,zumal das Konzept einer gemeinsamen Sicherheitspolitik in Osteuropa zu-sehends Anhänger fand.

13 Steven Pinker, Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit, Frankfurt amMain 2011, S. 434ff.

14 Sebastian Rosato, Europe United. Power Politics and the Making of the Euro-pean Community, Ithaca, London 2011.

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Gleichwohl unterlief der Kalte Krieg immer wieder den Prozess der eu-ropäischen Integration und gab insgesamt eine »widersprüchliche Fahrt-richtung« vor. Insbesondere die Gründung der NATO stärkte den Natio-nalisten jeder Couleur den Rücken. Fusionierte Souveränität? Integriertemilitärische Kommandostrukturen? Gemeinsame Nutzung militärischerRessourcen? Als im April 1949 der Nordatlantikpakt aus der Taufe ge-hoben wurde und die USA eine Sicherheitsverpflichtung gegenüber ihreneuropäischen Partnern hinterlegten, waren diese lästigen Fragen obsolet,sehr zur Freude britischer Europagegner und französischer Traditionalis-ten, die vom Großmachtanspruch nicht lassen und ihre Nationen als he-gemoniale Taktgeber in Europa sehen wollten. Kurz: Die NATO kam demnoch immer tief verwurzelten Bedürfnis entgegen, »nationale Souveränitätbei minimalen Einbußen an Handlungsfreiheit maximal zu stärken« (Die-ter Krüger). Insofern war es nur konsequent, dass 1954 das Projekt einerEuropäischen Politischen Gemeinschaft nebst der Europäischen Verteidi-gungsgemeinschaft ad acta gelegt wurde. Ein Webfehler mit gravierendenFolgen: Weil eine politische Union ohne militärische Integration nicht wet-terfest ist, verheddert sich Europa bis heute im Gestrüpp nationaler Vor-behalte. Mal stehen die Defizite bei der gemeinsamen Währungs-, Wirt-schafts- und Fiskalpolitik im Mittelpunkt, mal der Zank über defizitäreBürgerbeteilung einerseits und dominante Exekutiven andererseits undimmer wieder die Außen- und Sicherheitspolitik. Letztere wird so langenicht vom Fleck kommen, wie man am Prinzip der Einstimmigkeit und derinstitutionalisierten Huldigung staatlicher Souveränitätsvorbehalte fest-hält. Dass bis heute kein Paradigmenwechsel erkennbar ist, unterstreichtdas Gewicht dieser Hypothek.

Folglich wurden alle nach der Auflösung des Warschauer Pakts fälligenMilitärreformen auf nationalstaatlicher Ebene in Angriff genommen, vomUmbau der Streitkräfte über Beschaffungsprogramme bis hin zur Anpas-sung von Einsatzdoktrinen an veränderte weltpolitische Umstände. MitBlick auf die Niederlande konstatiert Roy de Ruiter eine erfolgreiche Kurs-korrektur. Man schaffte die Wehrpflicht ab, halbierte die Streitkräfte undverpflichtete Luftwaffe, Marine und Heer auf den Primat von »Krisenre-aktionseinsätzen«. Und ein kostenorientiertes Etatmanagement hielt denersten Belastungsproben der weltweiten Finanzkrise stand. Deutschlandmusste im Grunde mit den gleichen Problemen fertigwerden. Aber die Bi-lanz bleibt nach 20 Jahren weit hinter den Anforderungen und Notwen-digkeiten zurück. Zwar wurden strategische Rahmendokumente und fall-bezogene Konzepte zuhauf entwickelt. Aber »dazwischen gibt es nichts,weder nationale Strategiedokumente mit konkretem Zeithorizont (die re-gelmäßig vorgelegt werden müssten) noch strategische Planungszentren,

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die diesen Prozess begleiten, noch Evaluierungsinstrumente, die eine Bilan-zierung der konkreten Sicherheits- und Militärpolitik vornehmen« (KlausNaumann).

Im deutschen Fall ist die eigentümliche Verschränkung einer doppeltenVergangenheit zu beobachten. Die Lektionen des Zweiten Weltkrieges wieauch die Bedingungen des Kalten Krieges liefen – unabhängig voneinanderund zumal im beiderseitigen Wechselspiel erst recht – auf eine politischeSelbstbindung hinaus. Auf das Rollenmodell einer zurückhaltenden Zivil-macht nämlich, die einzig auf die Landesverteidigung ausgerichtet ist, demPrimat von Politik und Recht folgt und obendrein auf die volle strategischeSouveränität bewusst verzichtet. Die Delegation strategischer Planungs-hoheit an die NATO erschien vor diesem Hintergrund nicht als Manko,sondern als erhaltenswerte Tugend. In anderen Worten: Es gab stets einennormativen Überschuss bei der Bewahrung einschlägiger Strukturen, Ver-fahren und institutioneller Mechanismen, eine besondere Prämie zum Er-halt des Eingeübten. Darauf zielt die Rede von der strukturellen Pfadab-hängigkeit. Wie immer man Auslandseinsätze der Bundeswehr beurteiltund die Frage beantwortet, ob deutsche Truppen zu anderen Zwecken alsder Landes- und Bündnisverteidigung eingesetzt werden sollten – dass der-artige Debatten eine vernetzte Kommunikation zwischen professionellenEliten, Bürokratie, Parlament und Öffentlichkeit voraussetzen, sollteeigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Ihr auf Dauer nicht nachzu-kommen heißt, das Risiko von Legitimationsdefiziten und eines gestörtenVerhältnisses zwischen Streitkräften und Gesellschaft einzugehen. Just umdiese Pointe geht es Klaus Naumann: dass ausgerechnet der deutsche Um-gang mit der Vergangenheit einer demokratieverträglichen Zukunftspoli-tik im Wege stehen könnte.

Dennoch wäre es verkürzt, die deutschen Orientierungsprobleme alsnationale Besonderheit zu sehen. Vielmehr hat sich seit dem Ende des Kal-ten Krieges eine »internationale Sicherheitskultur« mit einem kaum nochzu erfüllenden Katalog von Aufgaben entwickelt. Längst geht es nichtmehr nur um militärische Sicherheit im klassischen Sinne, sondern zu-gleich um wirtschaftliche, ökologische und humanitäre Sicherheit, um dieWahrnehmung vielfältiger Fürsorgepflichten, um den Schutz von Indivi-duen und die Gewährleistung von Menschenrechten. In einem Wort: umeine »proaktive Sicherheitspolitik«. »Der Staat [wird] gleichsam zum Op-fer seines eigenen Erfolgs«, wie der Politikwissenschaftler ChristopherDaase jüngst betonte. »Denn in dem Maße, in dem der Staat für elemen-tare Sicherheit sorgt, entwickelt die Gesellschaft weitergehende Sicher-heitsbedürfnisse.« Offensichtlich umso mehr, wie hinzuzufügen wäre, jediffuser Bedrohungen sind oder wahrgenommen werden. »Obwohl der

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Staat immer weniger in der Lage ist, diese Bedürfnisse zu befriedigen, kanner sie nicht zurückweisen.«15

Die Versuchung scheint groß, dieser Überforderung mit einem Rückfallin traditionelle Denkmuster und Praktiken zu begegnen. Das in Hochpha-sen des Nationalismus eingeübte und während des Kalten Krieges ideo-logisch aufgeladene Prinzip staatlicher Souveränität wiegt erkennbarschwerer als das humanitäre Völkerrecht; der Schutz vor Menschenrechts-verletzungen und Massenmord wird im Zweifel wie eine weltfremde Ver-pflichtung ignoriert. Dass zwischen 2001 und 2005 mehr als 150 Staateneine »Responsibility to Protect« abgegeben hatten, mutet wie eine vor-übergehende Verirrung an. Oder wie ein fortgesetztes Präludium, weil demersten Schritt keine weiteren folgten. So sind wesentliche Kriterien füreinen Militäreinsatz zum Schutz bedrohten Lebens bis heute umstritten:Ist ein Mandat des UNO-Sicherheitsrates zwingend erforderlich? In wel-chen Fällen kann davon abgesehen werden? Wie hält man es mit dem Ver-hältnismäßigkeitsprinzip, dem zufolge eine Intervention aus Rücksicht aufunbeteiligte Dritte zu begrenzen ist oder gar unterbleiben muss? Entspre-chend fällt die bisherige Bilanz aus. In der Regel werden »humanitäreAspekte instrumentell gehandhabt, und aus einem Nothilfeeinsatz wirdein veritabler Krieg, der die Voraussetzungen des Einsatzes bis zur Un-kenntlichkeit verwischt« (Gerd Hankel). Ob es Auswege aus dem Di-lemma gibt, ist gleichwohl fraglich. Realitätstüchtiger klingt das Einge-ständnis, es mit unlösbaren Problemen zu tun zu haben, die gerade ausdiesem Grund eine verstetigte Moral- und Rechtsdebatte verlangen. Sietatsächlich zu führen, wäre auch ein Beitrag zur Tilgung einer lästigen Erb-schaft.

In den frühen 1990er Jahren symbolisierte ein Begriff die Hoffnung aufeine konfliktärmere Zukunft: »Friedensdividende«. Wenn weltweit alleLänder ihre Rüstungsausgaben um mindestens 3 Prozent reduzierten,würde binnen eines Jahrzehnts eine »Dividende« von 1,5 Billionen Dollarzur Verfügung stehen – vier Fünftel in den industrialisierten Ländern, derRest in der Dritten Welt. Die Ernüchterung trat schneller als befürchtetein. Zwischen 2001 und 2006 stiegen die einschlägigen Investitionen welt-weit um inflationsbereinigte 30 Prozent, China ist hinter Großbritannienbereits auf den dritten Platz vorgerückt, Russland macht zunehmend wie-der Boden gut, im Pazifik spielt sich augenblicklich ein gigantisches Wett-rüsten zur See ab, und auch der internationale Waffenhandel stellt alle Da-

15 Christopher Daase, »Wandel der Sicherheitskultur«, in: Aus Politik und Zeitge-schichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 50, 2010, S. 9–16, hier S. 11.

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ten der Vergangenheit in den Schatten.16 Schätzungsweise die Hälfte derglobalen Militärausgaben entfällt auf die USA – unabhängig vom »Krieggegen den Terror« oder den Irak- und Afghanistaneinsätzen folgt man denim Kalten Krieg planierten Pfaden: Innovation um der Überlegenheit wil-len, Überlegenheit zum Zwecke einer vermeintlichen Unverwundbarkeit.Dass kleine und mittlere Staaten in einem derartigen Umfeld ebenfalls aufHochrüstung setzen, ist hinreichend bekannt;17 aber ausgerechnet derKalte Krieg scheint diese Erfahrung auf besonders drastische Weise ent-wertet zu haben. Jedenfalls hat es den Anschein, als lebten die Nuklear-mächte in der Illusion unantastbarer Konkurrenzvorteile.18

Gerade von Nuklearwaffen geht eine ungebrochene Faszination aus.Zwar reduzierten die USA und Russland die Zahl ihrer nuklearen Spreng-köpfe drastisch: von 70000, dem Höchststand im Jahr 1986, auf heuteungefähr 22000. Halten sich beide Seiten an ihre derzeit gültigen Ab-machungen, werden ihnen 2017 zusammen noch gut 5000 strategischeSprengköpfe zur Verfügung stehen. Dennoch bliebe am Ende weiterhin ein»Overkill«-Potenzial von weit über 120000 Hiroshima-Bomben gebun-kert,19 ungeachtet der unüberschaubaren Bestände an taktischen Atom-waffen auf russischer Seite, die bis dato von allen Rüstungskontroll- undAbrüstungsverträgen ausgenommen wurden. Vor allem aber geht diequantitative Beschränkung auf beiden Seiten mit qualitativen Verbesse-rungen der Bestände einher, genauer gesagt mit einer Modernisierung vor-handener Abschussvorrichtungen, Trägersysteme und Sprengköpfe unddem Streben nach erhöhter Treffsicherheit. Über die Kostenentwicklung inRussland gibt es keine verlässlichen Angaben. Wohl aber für die USA:Dort wurden allein 2008 mindestens 52 Milliarden Dollar für das Atom-waffenprogramm aufgewendet.20 Somit bewegt sich das Nuklearbudgetdes Verteidigungs- und Energieministeriums noch immer in der durch-schnittlichen Größenordnung des Kalten Krieges (Giorgio Franceschini).

16 Andrew Feinstein, Waffenhandel. Das globale Geschäft mit dem Tod, Hamburg2012.

17 Senghaas, Weltordnung, S. 123.18 Diese Illusion wird offenkundig von den Rückschlägen genährt, die ambitio-

nierte Staaten der Dritten Welt bei ihren Atomprogrammen hinnehmen muss-ten: vgl. Jacques E. C. Hymans, Achieving Nuclear Ambitions. Scientists, Poli-ticians, and Proliferation, Cambridge 2012.

19 Senghaas, Weltordnung, S. 115.20 Ruth Ciesinger, »Was ist die Bombe wert?«, in: Der Tagesspiegel, 1. 4. 2012,

S. 4. Vgl. Jerry Miller, Stockpile. The Story Behind 10000 Nuclear Weapons,Annapolis 2010.

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Aufs Ganze besehen schreiben die USA und Russland drei Imperativeder Vergangenheit fort: Man hält an einer lückenlosen nuklearen Abschre-ckung fest und will, sollte die Abschreckung versagen, mit einem vermeint-lich überlegenen Potenzial auch zur Führung eines Atomkrieges imstandesein; die Militärdoktrin beider Seiten sieht weiterhin die Option eines nu-klearen Erstschlags respektive eines Ersteinsatzes von Atomwaffen gegeneinen konventionellen Angriff vor, teils um andere abzuschrecken, teilsum die Selbstabschreckung und Selbstlähmung der eigenen Politik zuunterlaufen,21 und schließlich gilt der bloße Besitz von Nuklearwaffen alsaußenpolitisches Vademekum, unverzichtbar zur Statussicherung undzum Aufstieg in eine politische Gewichtsklasse, der mit anderen Mittelnkaum oder nur mit ungleich größeren Anstrengungen zu bewerkstelligenwäre. Letzteres erklärt auch die Renaissance der zivilen und militärischenNutzung von Kernenergie in Großbritannien. Allein zum Zweck einersymbolischen Wahrung der britischen Großmachtrolle ging und geht es»nicht darum, ob, sondern wie diese Tradition fortgeführt werden sollte«(Christoph Laucht).

Wie es scheint, tragen Veränderungen in der wirtschaftlichen Tiefen-struktur ihren Teil zu dieser Entwicklung bei. Selbst Staaten, die ihreStreitkräfte abbauen und weniger Gerätschaft ordern, können nicht auto-matisch mit niedrigeren Kosten rechnen. Insbesondere im Hightech-Bereich sind hohe Stückzahlen mit einer Kostendegression verbunden;umgekehrt treibt ein niedrigeres Beschaffungsvolumen die Preise für kom-plexe Waffensysteme in die Höhe. Wer beispielsweise, so eine gängigeÜberschlagsrechnung, den Etat für Kampfflugzeuge um die Hälfte redu-ziert, erhält als Gegenwert nur ein Viertel der ursprünglichen Stückzahl.Von dieser stofflichen Seite abgesehen, schlagen soziale Interessen an Rüs-tung zusätzlich zu Buche. Gemeint ist, dass nicht mehr nur der Staat dieFederführung über einschlägige Investitionen hat. Vielmehr entstanden inden USA wie in der UdSSR während des Kalten Krieges soziale Milieus miteinem ausgeprägten Eigeninteresse an Rüstung. Auf beiden Seiten voneiner Selbstmobilisierung der Privaten zu sprechen, scheint ausweislichvorliegender Daten nicht übertrieben. Seit den 1970er Jahren bestimmenin den USA die von Privatunternehmen und Universitäten akquiriertenMittel die Entwicklung militärischer Hochtechnologie. Und in der UdSSRfasste seit der »Breschnew-Generation« eine Elite von Wissenschaftlern,Technikern und Bürokraten Fuß, die ihren rüstungsgeleiteten Interessenim neuen Russland mit Erfolg nachgeht. Hüben wie drüben ist eine ro-

21 Senghaas, Weltordnung, S. 120.

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buste Eigendynamik zu beobachten, getrieben von professionellen Eliten,die sich – sei es wegen höherer Löhne, krisenfester Arbeitsplätze oder at-traktiver Herausforderungen für Spezialisten – eigenständig für den Erhaltrüstungsgeleiteter Investitionen engagieren.22

Zur Kontrolle privater Rüstungsmilieus in Russland investierten vor-nehmlich die USA nach 1991 erhebliche Summen. In kein anderes Projekt»ist ohne direkte Gegenleistung so viel Geld aus dem Westen nach Russ-land geflossen« (Michael Brzoska, Götz Neuneck). Zwischen 2002 und2010 verhalf man gut 90000 ehemals beim Militär angestellten Atomwis-senschaftlern und Technikern zu einer Beschäftigung in zivilen For-schungsprojekten. Ferner wird hochangereichertes Uran aus abgewracktenSprengköpfen für die Nutzung in amerikanischen Atomkraftwerken inniedrigangereichertes Uran umgewandelt – sehr zum Gefallen westlicherAtomkraftwerksbetreiber, die das Projekt »Megatons for Megawatts« alswillkommene Hilfestellung im Kampf gegen Verfechter alternativer Ener-gien sehen. Da die UdSSR seit 1949 Uran und Plutonium für circa 80000Atomsprengköpfe erzeugt hatte, dürfte dieser Kooperation eine ertragrei-che Zukunft sicher sein.23 Dessen ungeachtet halten sich Vermutungenund Gerüchte über einen unkontrollierten Verkauf spaltbaren Materialsaus militärischen Beständen, gar von »vagabundierenden Sprengköpfen«ist mitunter die Rede. Diese Spekulationen entbehren offensichtlich jederGrundlage. Allerdings bleibt der Diebstahl aus Forschungslabors und Re-aktoren, mithin die Sorge um einen grauen Markt für Nuklearterroristen,ein ernst zu nehmendes Problem.

Gesellschaft, Wirtschaft und Recht

Beispiele wie diese verdeutlichen, dass die Geschichte des Kalten Kriegesund seiner Hinterlassenschaften weit über Militär- und Sicherheitspolitikhinausreicht. Mit gutem Grund sprachen bereits die Zeitgenossen von »to-taler Politik«, von einer »Verflüssigung« der Grenzen zwischen außen undinnen, Zivil und Militär, national und international – kurz: von einer In-dienstnahme aller gesellschaftlichen Ressourcen. Darauf gründet die For-

22 Bernd Greiner, »Wirtschaft im Kalten Krieg. Bilanz und Ausblick«, in: ders./Christian Th. Müller/Claudia Weber (Hg.), Ökonomie im Kalten Krieg. Studienzum Kalten Krieg, Bd. 4, Hamburg 2010, S. 13–15.

23 Auch in deutschen Kernkraftwerken wird Uran aus russischen Atomwaffen ein-gesetzt. Vgl. Markus Balser/Uwe Ritzer, »Das Bombengeschäft«, in: Süddeut-sche Zeitung, 15./16. 9. 2012, S. 23.

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derung, das vielschichtige Terrain mit den Mitteln und Methoden der »Ge-sellschaftsgeschichte« zu beackern, also den wechselseitigen Bezügen vonWirtschaft, Wissenschaft, Militär, Kunst und Kultur nachzuspüren. Voll-ständig wird diese Annäherung an den Gegenstand indes erst, wenn sieeine Neuvermessung des Politischen einschließt und nach den Modalitätender Partizipation fragt: Wer hat teil, wer wird ausgeschlossen, wie ist dieDynamik von Inklusion und Exklusion zu beschreiben?

Wie bereits erwähnt, verstärkte die »totale Mobilisierung« im Diensteder Systemkonkurrenz einen »säkularen Trend« zur Stärkung der Exeku-tive. Wer Geheimnisse wahren, Kapazitäten effektiv bündeln und geradein Krisen ohne Zeitverzug reagieren muss, so die ritualisierte Begründung,kann sich den Luxus zeitraubender Prozeduren zur Meinungsbildung undEntscheidungsfindung nicht erlauben. Dass Legislative und Judikativewestlicher Demokratien diesem Ansinnen allzu oft nachkamen, also ihrer-seits das Prinzip der Gewaltenteilung zur Disposition stellten, ist bekannt.Ebenso war eine diskursive Umakzentuierung staatsbürgerlicher Tugen-den zu beobachten, versinnbildlicht in den diversen »Loyalitätskampa-gnen« amerikanischer Präsidenten, aber keineswegs auf die USA be-schränkt: Loyalität und Gefolgschaft wurden im Vergleich zu Mitspracheund Partizipation aufgewertet, Vertrauen stand höher im Kurs als Kon-trolle, Geheimhaltung wog schwerer als Transparenz.

Andererseits trug ausgerechnet der Kalte Krieg zu einer Öffnung despolitischen Diskurses bei. Weil staatliche Eliten zwar den Anspruch auf einexklusives Management von Sicherheit und Frieden erhoben, aber denNachweis hinreichender Kompetenz nicht überzeugend führen konnten,meldeten sich zusehends alternative Experten zu Wort – zivilgesellschaft-liche Akteure, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, »Wege aus der Ge-fahr« zu weisen und Weltpolitik »von unten« her zu korrigieren. Militärund Rüstung, Entkolonialisierung, neue Weltwirtschaftsordnung, Rassen-diskriminierung oder Nord-Süd-Beziehungen: Je länger der Kalte Kriegwährte, desto größer wurde das politische Betätigungsfeld. In den Kam-pagnen zur nuklearen Abrüstung der 1950er Jahre wurden die ersten Ka-pitel eines bis in die heutige Zeit reichenden Engagements geschrieben.Diese Nachhaltigkeit scheint nicht zuletzt einer transnationalen Verflech-tung von Aktivisten und Bewegungen geschuldet. Zu beobachten war dieHerausbildung grenzüberschreitender Kommunikationsnetzwerke, die ininternationalen Organisationen, vorweg der UNO, nicht hoch genug zubewertende Foren zur Absicherung ihrer Arbeit vorfanden und nutzten –von der Möglichkeit kontinuierlichen Austauschs bis hin zu finanziellerUnterstützung. In diesem Sinne beschreibt der Kalte Krieg nicht allein einewichtige Etappe auf dem Weg zu einer »globalen Zivilgesellschaft«; er leis-

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tete auch einen Beitrag zur ebenso langwierigen wie schwerfälligen Über-windung von Nationalstaatlichkeit (Sarah B. Snyder, Anja Mihr).24

Das Thema »Menschenrechte« stand zwangsläufig im Zentrum derAufmerksamkeit. Befangen in einem moralischen Überbietungswettbe-werb, wollten sich beide Blöcke gegenüber Dritten als nachahmenswerteBeispiele andienen. Deshalb propagierte man Missstände auf der jeweilsanderen Seite mit geradezu missionarischem Aufwand. Wurde das west-liche Lager nicht müde, auf die Unterdrückung politischer Opponenten undreligiöser Minderheiten in der UdSSR, der VR China und ihrer Verbünde-ten hinzuweisen, so zahlte der Ostblock unter Verweis auf die Folterkellerin Südafrika, Chile, Rhodesien oder Argentinien mit gleicher Münze heimund bezichtigte den Westen obendrein der Missachtung sozialer Men-schenrechte. Gemessen an Arbeitslosigkeit, sozialer Ungleichheit und an-deren Begleitumständen kapitalistischen Wirtschaftens erschienen einge-schränkte Meinungs- oder Reisefreiheit wie lässliche Versäumnisse. Vordiesem Hintergrund lieferte ein vielgelobter Erfolg der Entspannungspoli-tik den Anlass zu einer Verschärfung des Propagandakrieges: Kaum hattensich beide Seiten 1975 in der Schlussakte von Helsinki zur Achtung derMenschenrechte verpflichtet, läutete die Administration Jimmy Carter mitihrer »human rights offensive« eine neue Runde im psychologischen Ab-nutzungskrieg ein. Die Antwort folgte umgehend: Auf Weisung von obenschickten sowjetische Schulklassen und Bürger der DDR Tausende vonBriefen in die USA und forderten die Freilassung aller dort inhaftiertenKommunisten. Angesichts zahlreicher anderer Beispiele konstatiert AnjaMihr mit Recht: »Ohne den Kalten Krieg wären die Menschenrechte nichtTeil des politischen Schlagabtauschs geworden und somit auch nicht aufdie politische Agenda der Regierungen gelangt.«

Der langfristig entscheidende Impuls indes geht auf zivilgesellschaft-liche Akteure und Nichtregierungsorganisationen wie Amnesty Interna-tional und Helsinki Watch (seit 1988 unter dem Namen Human RightsWatch aktiv) im Westen sowie auf Dissidentengruppen im Ostblock zu-rück, die ihrerseits eine Umsetzung aller in Helsinki getroffenen Vereinba-rungen anmahnten. Der Erfolg ihrer Arbeit, gemeinhin als erste Phase derGlobalisierung von Menschenrechten gewürdigt, verdankt sich nicht al-lein der Unabhängigkeit vom Staat. Indem sie auf die Unteilbarkeit vonMenschenrechten pochten und die ideologisch verblendete Frage hintersich ließen, »ob politische und bürgerliche oder wirtschaftliche und sozialeRechte höher zu bewerten seien« (Sarah B. Snyder), unterliefen sie zu-

24 Vgl. Jadwiga E. Pieper Mooney/Fabio Lanza (Hg.), De-Centering Cold WarHistory. Local and Global Change, London, New York 2013.

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gleich das auf eine strikte Unterscheidung von Freund und Feind ausge-legte Denkmuster des Kalten Krieges. Die Sprengkraft dieser Haltung warnicht zu übersehen, ihre Eigendynamik freilich wurde seitens der Regie-rungen wie auch vieler Aktivisten unterschätzt. Aus heutiger Perspektivesteht ein doppelter Erfolg zu Buche. Menschenrechtsorganisationen aufbeiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« leisteten einen wichtigen Beitrag zuden friedlichen Revolutionen der Jahre 1989 bis 1991; und sie verankertenden Schutz von Menschenrechten dauerhaft in der Agenda internationalerPolitik. Angesichts dieser globalen Diffusion könnte man von der Heraus-bildung einer neuen Geisteshaltung und politischen Kultur sprechen, diehintergründig, aber verlässlich ihren Beitrag zur Einhegung von Gewalt-potenzialen leisten.25

Letzteres gilt auch für die »wissensbasierten Expertennetzwerke« und»epistemischen Gemeinschaften« internationaler Juristen (James Burn-ham Sedgwick). Den intellektuellen und politischen Anstoß gaben in ih-rem Fall die zahlreichen heißen Kriege an der Peripherie, vor allem aber dievon Nuklearwaffen ausgehende Drohung der Selbstvernichtung. Das pro-fessionelle Rüstzeug hatte man sich im Laufe der Nürnberger und TokioerProzesse erarbeitet, nämlich die Vision eines internationalen Strafrechts,das nicht allein die verbrecherische Praxis totalitärer Regime in den Blicknimmt, sondern überdies die kritische Auseinandersetzung mit der Politikdemokratischer Staaten sucht. Mochte das Ideal eines überparteilichenWeltrechts jahrzehntelang wie ein Hirngespinst erscheinen, wie ein hilf-loses Aufbegehren gegen die allseits geläufige Doppelmoral, so bestellte esdoch den Boden für institutionelle, prozedurale und inhaltliche Reformennach dem Ende des Kalten Krieges.

Seither zeugt das Echo im öffentlichen und politischen Raum von derWirksamkeit einschlägiger juristischer Interventionen. Zwar hindert dieEntscheidung des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 1996, derzufolge eine Drohung mit und der Einsatz von Atomwaffen gravie-rende Rechtsverletzungen darstellen, die Atommächte bis heute nicht dar-an, ihre Arsenale zu modernisieren und öffentlich über die Vorteile von nu-klearen Präventivschlägen zu räsonieren. Aber die basisdemokratischenInitiativen gegen Atomwaffen erlebten einen neuen Aufschwung. Und wiedas von prominenten US-Politikern und Militärs lancierte Manifest füreine atomwaffenfreie Welt zeigt, geht es nicht mehr nur darum, die An-wendung von Atomwaffen zu tabuisieren; auch der Besitz von Atomwaf-fen unterliegt mittlerweile einem politischen Tabu.26 Im Grunde bedurfte

25 Pinker, Gewalt, S. 392ff., 397–400, 459ff, 467, 506.26 Ebenda, S. 405ff, 414ff.