Erwiderung auf die Arbeit Henschens: 40jähriger Kampf um das Sehzentrum und seine Bedeutung für...

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Erwiderung auf die Arbeit Henschens: 40j~ihriger Kampf um das Sehzentrum und seine Bedeutung fiir die Hirnforschung. Von Prof. Georg Lenz (Breslau). (Eingegange~ am 13. Februar 1924.) Die in der ~berschrift bezeichnete Arbeit Henschens verfolgt, wie der Autor selbst hervorhebt, auch den Zweck, Priorit~tsanspriiche geltend zu machen bezfiglich ,,der yon einigen bestrittenen Priorit~t und Originalit~t seiner Entdeckung des Sehzentrums" und ferner ,,um den mehrmals in der Literatur erschienenen Mil3verst~ndnissen in bezug auf die Auffassung des Verfassers yon der Lokalisation des Macu- larzentrums entgegenzutreten". Wenn auch Priorit~tsdiskussionen sehr wenig erfreulich sind, nament- lich einem l~orscher vom Range Henschens gegeniiber, dessen Leistungen gerade auch ich in alien meinen Arbeiten immer ganz besonders betont habe, so stimmen doch verschiedene Angaben Henschens mit den Tat- sachen so wenig fiberein, dal3 ich eine Erwiderung nicht unterlassen kann, wenn ich mich nicht aller meiner Rechte begeben will. Die Lehre yon der strengen Projektion der Retina auf die Hirnrinde verdanken wir unbestreitbar den Untersuchungen Wilbrands; auch dab die Macula in der Sehspare des Occipitallappens streng projiziert ist, wurde zuerst von Wilbrand bewiesen. Sein bekannter Fall von kleinstem hemianopischen Zentralskotom bei Verletzung des Hinter- hauptlappens durch eine Schraube wurde 1907, also vor einem ~hnlichen Fall Henschens (Messerstich, beobachtet 1907, verSffentlicht 1908 und 1909, s.u.) publiziert, also nicht ,,ungefi~hr gleichzeitig mit einer ~hnlichen wertvollen Observation yon Wilbrand". Erst die Lehre yon der strengen Projektion pr~zisierte die Forderung nach einem umgrenzten Sehzentrum in der Hirnrinde. Es ist das Ver- dienst Henschens, die Richtigkeit der Anschauung Wilbrands sofort erkannt zu haben; er verwendete eine ungeheure Mfihe darauf, dieses geforderte Sehzentrum exakt zu lokalisieren. Wie bekannt, verlegte er dasselbe in die Fissura calcarina und deren Ober- und Unterlippe. Von dem hintersten Teil der Calcarina bzw. dem Occipitalpol schreibt er dagegen sogar noch 1913 (Handb. der Neur. yon Lewandowsky, 3, 779): ,,Es ist klinisch nicht nachgewiesen, ob

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Erwiderung auf die Arbeit Henschens: 40j~ihriger Kampf um das Sehzentrum und seine Bedeutung fiir die Hirnforschung.

Von Prof. Georg Lenz (Breslau).

(Eingegange~ am 13. Februar 1924.)

Die in der ~berschrift bezeichnete Arbeit Henschens verfolgt, wie der Autor selbst hervorhebt, auch den Zweck, Priorit~tsanspriiche geltend zu machen bezfiglich ,,der yon einigen bestrittenen Priorit~t und Originalit~t seiner Entdeckung des Sehzentrums" und ferner ,,um den mehrmals in der Literatur erschienenen Mil3verst~ndnissen in bezug auf die Auffassung des Verfassers yon der Lokalisation des Macu- larzentrums entgegenzutreten".

Wenn auch Priorit~tsdiskussionen sehr wenig erfreulich sind, nament- lich einem l~orscher vom Range Henschens gegeniiber, dessen Leistungen gerade auch ich in alien meinen Arbeiten immer ganz besonders betont habe, so stimmen doch verschiedene Angaben Henschens mit den Tat- sachen so wenig fiberein, dal3 ich eine Erwiderung nicht unterlassen kann, wenn ich mich nicht aller meiner Rechte begeben will.

Die Lehre yon der strengen Projektion der Retina auf die Hirnrinde verdanken wir unbestreitbar den Untersuchungen Wilbrands; auch dab die Macula in der Sehspare des Occipitallappens streng projiziert ist, wurde zuerst von Wilbrand bewiesen. Sein bekannter Fall von kleinstem hemianopischen Zentralskotom bei Verletzung des Hinter- hauptlappens durch eine Schraube wurde 1907, also vor einem ~hnlichen Fall Henschens (Messerstich, beobachtet 1907, verSffentlicht 1908 und 1909, s.u.) publiziert, also nicht ,,ungefi~hr gleichzeitig mit einer ~hnlichen wertvollen Observation yon Wilbrand".

Erst die Lehre yon der strengen Projektion pr~zisierte die Forderung nach einem umgrenzten Sehzentrum in der Hirnrinde. Es ist das Ver- dienst Henschens, die Richtigkeit der Anschauung Wilbrands sofort erkannt zu haben; er verwendete eine ungeheure Mfihe darauf, dieses geforderte Sehzentrum exakt zu lokalisieren.

Wie bekannt, verlegte er dasselbe in die Fissura calcarina und deren Ober- und Unterlippe. Von dem hintersten Teil der Calcarina bzw. dem Occipitalpol schreibt er dagegen sogar noch 1913 (Handb. der Neur. yon Lewandowsky, 3, 779): ,,Es ist klinisch nicht nachgewiesen, ob

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der Pol des Oeeipitallappens, obschon der Area striata histologisch angehSrend, auch der Sehrinde zugerechnet werden daft oder nicht". (Siehe darfiber unten N~heres beim Maeularproblem.)

Tatsache ist, dal3 vor Henschen yon den meisten Autoren ein sehr viel grS~eres Gebiet als Sehzentrum angesprochen wurde; Tat- sache ist aber aueh, dal3 bereits vorher einige Autoren das Sehzentrum allein in das Calcarinagebiet lokalisierten (z. B. Huguenin, Haab, Hun). Ihre Falle waren zwar nicht endgfiltig beweiskr~ftig, aber es ist ja aueh die Beweiskraft der F~lle Henschens angefoehten worden (s. u.).

Schon aus diesen kurzen Darlegungen dfirfte hervorgehen, dal~ der Ansprueh Henschens darauf, ,,die Entdeckung der anatomischen Loka- lisation des Sehzentrums in der Fiss. calc. ausschlie~lich selbst ge- macht zu haben" zum mindesten viel zu weit geht.

Dazu kommt, da~ seine lokalisatorischen Beweise durchaus nicht all- gemein anerkannt sind. Beweisend kSnnen naturgem~B nut F~lle mit reiner Rindenl~sion sein, da eine Mitbeteiligung des zentralen Mark- lagers unkontrollierbare Rindenpartien funktionell ausschliel~t. Hen- schen glaubt fiber einige derartige F~lle zu verffigen, die in seinen Dis- kussionen immer wiederkehren.

Die Beweiskraft dieser Befunde als reine Rindenl~sion ist jedoch yon einem so kompetenten Hirnforscher wie v. Monakow immer be- stritten worden, der anscheinend aueh die Originalpr~parate gesehen hat. Zweifellos waren Atrophien im zentralen Mark vorhanden; es ist jedoch nieht zu einer Einigung gekommen, ob sie primer oder sekund~r waren. Vielleicht tr~gt auch die Technik daran Schuld. Einem grSl~eren Kreise wurden sparer die strittigen Befunde Henschens zug~nglich dureh Ver6ffentlichung von Originalphotographien in seiner Arbeit: l~ber circumscripte Nutritionsgebiete im Occipitallappen usw., v. Graefes Arch. f. Opth. 78. Ich glaube kaum, dab sie auf jemand einwandfrei fiberzeugend im Sinne Henschens wirken kSnnen.

Dabei stehe ieh bezfiglich der Ern~hrung des Calcarinagebietes durch- aus auf dem Standpunkt Henschens. Ieh lehne nicht, wie v. Monakow, die MSglichkeit reiner Rindenherde in diesem Gebiet prinzipiell ab, ich habe vielmehr in meiner Arbeit: Zwei Sektionsf~lle doppelseitiger zen- taler Farbenhemianopsie (Zeitsehr. f. d. ges. Neurol. u. Psyehiatrie 71) mikroskopisch kleine Herde in der Calearinarinde abgebildet (Nissl- I~rbung, Mikrophotographien), die unbestreitbar reine Rindenherde sind.

So wahrseheinlich mir selbst als fiberzeugtem Anh~nger der Pro- jektionslehre die Lokalisation Henschens war, so konnte ich sie aus dem erSrterten Grunde 1909 doch noch nicht als anatomiseh einwandfrei bewiesen ansehen. Auf jeden Fall war noeh vSllig ungekl~rt die Zu- geh5rigkeit des hintersten Abschnittes' der Calearina bzw. des Occi-

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pitalpoles zur Sehsphare. Anfanglich hatte Henschen diese Zugeh6rig- keit bestritten, spater hat er dann diese Frage offengelassen (s. o.)

Ich habe deshalb 1909 in meiner Arbeit: Zur Pathologie der cere- bralen Sehbahn usw. (v. Graefes Arch. f. Ophth. 72), wie aueh schon friiher Henschen einmal, si~mtliche sog. negativen Sektionsfalle analy- siert, d. h. die Fi~lle yon Occipitallappenli~sion ohne hemianopisehe Seh- stSrung, um auf dem Wege der Exklusion zu einer Begrenzung der Seh- sphi~re zu kommen. Das Resultat war die Begrenzung auf die Calcarina- furche entspreehend der Anschauung Henschens. Au[3erdem konnte ieh aber dureh eine eingehende Analyse des gesamten Sektions- und klini- sehen Materials der Literatur und eines eigenen Sektionsfalles nach- weisen, dab auch der strittige hinterste Abschnitt der Calcarina bzw. der Occipitalpol zur Sehsphare gehSren, ja daft gerade bier tier wichtigste Teil der Sehephdre, ndmlich die Macula gelegen ist. (Naheres s. u.).

Die klinisch-anatomische Lokalisation kann naturgemaB keine vSUig exakten Grenzen liefern. Doch stimmte ihr Ergebnis so auBerordentlieh mit der durch ihre anatomische, eytoarchitektonische Sonderstellung charakterisierten Area striata Brodmanns fiberein, dab eine Identitat dieses seharf begrenzten Gebietes mit der Sehsphare als hSehst wahr- scheinlich angenommen werden muBte.

Der Gedanke einer solehen Identifikation lag naturgemaB schon friiher nahe, da ja die histologische Sonderstellung des Calcarinage- bietes schon durch Gennari, Vicq d'Azyr, Meynert, Betz u.a. bekannt war, und zwar lange vor Henschen.

Neu ist nur die Behauptung Hensehens, dab ,,der sog. Gennarisehe Streifen optisehe Fasern enthalt (bestatigt dureh Cajal) und dab der Seheindruek (der Reiz) zunaehst von eigentiimlichen, erst vom Ver- fasser (Henschen) besehriebenen, sog. Sternzellen in der vierten Rinden- schicht, der sog. Granularsehicht empfangen wird". Diese Behauptung ist jedoch eine durchaus unbewiesene Hypothese, gegen die maneherlei andere Untersuchungsergebnisse sprechen. Z.B. fanden im Gegensatz zu Henschen weder Gallemaerts noch ich eine Atrophie des Gennari bei peripherer Erblindung.

Jedenfalls lag es nahe, im Gebiet des Gennari naeh sekundi~ren De- generationen bei Li~sion der Sehbahn zu fahnden. Dieser Weg ist sehon vor Henschen, dann auch von ihm selbst besehritten worden. Das gleiche gilt auch von Untersuchungen fiber den Oecipitallappen bei EntwicklungsstSrungen des Auges.

Henschens Argumentationen ruben besonders auf einem Fall von Bulbusatrophie dureh Lepra. Der Patient war im 18. Lebensjahr er- blindet und starb im 64. Lebensjahr. Aul3er der Bulbusatrophie land sich eine leprSse ZerstSrung des Chiasmas, die Traktus waren fast laser- los. Der Sektionsbefund war kurz folgender: Das ganze Gehirn war

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kleiner als normal, besonders zeigte sich eine schon makroskopisch sehr auffallende Verschm~lerung aller Windungen des Occipitallappens. Mikroskopisch land sich hier eine Zellatrophie, die zwar in der Calca- rinagegend am st~rksten, aber auch sonst im Occipitallappen sehr aus- gesprochen war. Eine scharfe Grenze bezfiglich des Grades der Atrophie konnte nicht festgestellt werden. Auch im Parietallappen zeigten sich Ver~nderungen, wie auch in der Medulla oblongata. Auf der einen Seite bestand am Boden der Calcarina ein Erweichungsherd. ,,Im Mark bestanden atrophische Flecken in reichlicher Menge." H~rtung in Mfillerscher Fliissigkeit. Mehr oder weniger starke Schrumpfr~ume um die einzelnen Zellen, worauf Henschen einen gewissen Wert legt.

Er identifizierte 1890 auf Grund dieses Falles ,,mit Wahrscheinlich- keit" das Sehzentrum mit dem Ausdehnungsgebiet des Gennari, wi~h- rend er nunmehr yon einem ,,Nachweis" spricht.

Abgesehen yon der Technik, die wohl unbestritten keine einwand- freie Zellbeurteilung ermSglicht, ist folgendes hervorzuheben: 1. Es fanden sich Ver~nderungen im ganzen Occipitallappen ohne schar/e Grenze, ja weit dariiber hinaus. Die reichlichen atrophischen Flecken im Mark beweisen einwandfrei eine primdre Erkrankung des Occipital- lappens offenbar auf arteriosklerotischer Basis; im selben Sinne spricht auch der Erweichungsherd am Boden einer Calcarina und ferner der sonstige ttirnbefund. Daft sich hierzu noch eine sekund~re Degenera- tion gesellte, soll selbstversti~ndlich nicht bestritten werden.

Aus den aufgefiihrten Grfinden ist es aber unmSglich, diesem Fall eine lokalisatorische Beweiskraft zuzuerkennen. Im fibrigen wider- spricht Henschen sich selbst, wenn er behauptet, 1886 bewiesen zu haben, ,,daft die Sehrinde genau mit der Area striata oder der Ausdehnung des Gennarischen Streifens zusammenfiel und sich also zur medialen Occi- pitalrinde begrenzte, zu der spgter (1907) der O-Pol gelegt wurde". Letzteres brauchte ja dann 1907 gar nicht mehr zu geschehen, da ja dieses Gebiet doch auch den Gennari aufweist.

Die yon Henschen viel zitierten Untersuchungen Gallemaerts bei 5 FD, llen einseitiger Bulbusatrophie ergaben Vergnderungen im Cuneus und Gyrus lingualis (am stgrksten nahe der Fiss. calc.), nicht aber im Gyrus fusiformis. Gallemaerts schlieftt daraus eine ,,Einengung" der Sehsphare auf das Calcarinagebiet. l~ber scharfe Begrenzung der Ver- hnderungen, die fibrigens recht wenig mit meinen eigenen Befunden bei peripherer Erblindung fibereinstimmen, fiber eine Beschrgnkung auf das Gebiet des Gennari (speziell auch beziiglich der Polgegend) liegen Angaben nicht vor.

Ich selbst habe ebenfalls eingehende Untersuchungen fiber die se- kund~re Degeneration angestellt (Die histologische Lokalisation des Sehzentrums; v. Graefes Arch. f. Ophth. 91) und habe an Nisslbildern

Z. f. d. g. Neur. u. Psych. XC. 41

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(erl~utert durch zahlreiche Mikrophotographien) beweisen kSnnen, dal~ bei peripherer Erblindung nach einer gewissen Zeit Zellrarifika- tionen nachweisbar sind, und zwar mit schar/er Begre~zung nur im Ge- biet der Area striata, die einige Zeit vorher yon Bolton und Brodmann pri~zisiert worden war. Es gilt dies besonders auch ffir die umstrittene. Polgegend. Bezfiglich der Einzelheiten und der Literatur mul~ ich auf das Original verweisen.

Es besteht keinerlei Zweifel dartiber, da ] erst diese Arbeit den Beweis erbracht hat, da~ das Sehzentrum mit der Area striata in deren ganzer Ausdehnung zusammenfMlt; und zwar den physiologischen Be- weis, denn Brodmann hatte den Begriff der Area striata vom rein ana- tomischen Standpunkt aus gepri~gt. Damit wurden endgfiltig die exak- ten Grenzen der Sehsph~re festgelegt. Mein 1909 klinisch-anatomisch erbrachter Nachweis der ZugehSrigkeit der Polgegend zum Sehzen- t rum wurde dadurch auf einem anderen Wege best~tigt.

Einen ferneren unwiderlegbaren Nachweis fiir die Identit~t yon Sehsphi~re und Area striata erbrachte ich 1922 durch die Feststellung, da[~ bei Anophthalmus cong. eine hochgradige Reduktion des Gebietes der Area striata zur Beobachtung kommt. Diese Arbeit (Die Sehsphi~re bei Mi~bildungen des Auges, v. Graefes Arch. f. Ophth. 108) wird von Henschen vSllig ignoriert. Sein Fall von ,,kongenitaler Augenatrophie" gestattet keine lokalisatorischen Schlu~folgerungen; solche werden auch von Henschen nicht gezogen.

Beziiglich der Aufteilung der Sehsph~re nach den einzelnen Retinal- partien nimmt Henschen fiir sich in Anspruch, die ZugehSrigkeit der Calcarinaoberlippe zu den oberen Retinalquadranten, der Unterlippe zu den unteren Quadranten entdeckt zu haben. Das entspricht nicht den Tatsachen. Der erste zur Sektion gekommene und im Sinne einer Projektion gedeutete Fall von Quadrantenhemianopsie s tammt yon Hun aus dem Jahre 1887.

Die Macula hat Henschen anf~tnglich in den vorderen Teil der Cal- carina verlegt. Sp~ter (1903) ist er wieder zweifelhaft geworden: ,,Es liegt also die MSglichkeit vor, das Macularfeld irgendwo nach der Calcari- narinde, besonders nach ihrem proximalen Abschnitt zu lokalisieren. Es miissen indes jedenfalls neue, mehr entscheidende Tatsachen erforscht werden, um die mil~liche Frage nach der Lokalisation der macul~ren Rinde zu 15sen."

Zum erstenmal haben auf Grund eines eigenen Sektionsfalles La- queur und Schmidt 1899 die Ansicht ausgesprochen, daI~ die Macula im hinteren Abschnitt der Calcarina zu lokalisieren sei. Die Bcweiskraft dieses Falles, bei dem eine Faserf~rbung nicht angewendet wurde, ist sowohl yon Henschen wie yon Wehrli, also yon 2 Vertretern ent- gegengesetzter Schulen, energisch bestritten worden.

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In der Folgezeit erschienen dann: 1907 die bekannte Beobaehtung Wilbrands von zentralem Skotom dureh Eindringen einer Schraube in das Hinterhaupt und 1909 die Beobachtungen Inouyes yon zentralen Skotomen bei Occipitalschiissen aus dem Russisch-Japanischen Kriege. Wilbrand sieht in seinem Fall nur den Beweis fiir die Projektion der Macula auf die Hirnrinde, zieht aber keinerlei lokalisatorische SehluB- folgerungen; Inouye stellte nur eine vSllig unklare Vermittelungs- theorie zwischen Henschen und v. Mona]cow auf, die al]gemein abge- lehnt wurde.

Im Jahre 1909 kam dann ich selbst in meiner Arbeit : Zur Pathologie der eerebralen Sehbahn usw. (s. o.) auf Grund einer eingehenden Ana- lyse des gesamten, damals vorliegenden Sektions- und klinischen Ma- terials (einschlieI~lich eines eigenen Sektionsfalles) zu folgendem SchluB:

,,Ich glaube, dal3 durch die vorangehenden Ausfiihrungen der Be- weis erbracht ist:

Die corticale Macula ist in das Gebiet am hinteren Ende der Fissura calcarina zu lokalisieren.

Es ist damit zugleich die Frage beantwortet, ob diese Gegend fiber- haupt zum Sehzentrum gehSrt, und zwar im Gegensatz zu Henschen in positivem Sinne."

Ich stelle ausdri~cklich /est, daft bis zu "diesem Zeitpunkt yon Hen- schen niemals eine Angabe in gleichem oder auch nut (~hnlichem Sinne vorliegt.

Als Beweis daffir fiihre ich folgendes an : Autoren, deren Kompetenz und Unparteilichkeit auBer allem Zweifel steht, wissen selbst viele Jahre nach 1909 niehts davon, dal3 Henschen die Macula entgegen seiner friiheren Ansicht nunmehr in die Polgegend lokalisiert.

Uhtho// sehreibt im Graefe-Saemisch 1911 (11, 981) beziiglieh der Lokalisation der Sehsph~re: ,,Nur in bezug auf die Vertretung der Ma- cula weicht Lenz von Henschen insofern ab, als er die Lokalisation der Macula lutea in der Hirnrinde dem hinteren Ende der Fiss. calc. zu- schreibt."

Wilbrand 1917 in der Neurologie des Auges (7, 523): ,,Das Macula- problem ist nach Henschen noeh nicht gel6st. Die Macularinde habe wahrseheinlich eine verh~ltnism~[~ig groBe Ausdehnung; sie sei aber inselmi~13ig vertreten. Es gi~be auch ftir die Macula eine Projektion auf die Rinde.

Wir stimmen mit Henschen darin fiberein, dal~ jeder Punkt der Ma- cula in der Regel bilateral vertreten ist.

Lenz hat die Vermutung ausgesprochen, dal~ das corticale Macula- /eld in die Rinde des Occipitalpols zu verlegen sei, diese Annahme scheint eine wesentliche Sti~tze dutch die /olgende Zusammenstellung von Schufl- verletzungen in der Gegend der Protuberantia occipitalis zu linden."

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Bei Wilbrand ebenfalls gesperrt gedruckt. Ob meine obigen SchluiL folgerungen nur eine ,,Vermutung" darstellen, fiberlasse ich unpar- teiischer Beurteilung.

R6nne 1917 in seiner Arbeit: Die Organisation des corticalen Seh- zentrums usw. (Zeitschr. f. d. ges. Neurol u. Psychiatrie, Referate, 14, 500): ,,Eine weitere Hauptfrage bei der Projektion der Retina auf der Occipitalrinde betrifft natiirlich die Lage der Macula. Henschen war hier geneigt, das Maculazentrum nach dem vordersten Teil der Fiss. calc. zu verlegen, in diesem Punkt abet hat die Zeit ihm nicht recht gegeben, indem es sich nun im Gegenteil als festgestellt betrachten lii[~t, dal~ das Maculazentrum in dem hintersten Teil der Fissura zu suchen ist und viel- leicht sogar eher gerade in der ~ul~ersten Spitze des Occipitallappens. Diese Anschauung ist erst yon Laqueur und Schmidt ausgesprochen auf Grund eines einzelnen Falles, ist aber sp~ter eingehend yon Lenz behandelt durch eine kritische Durchsicht der ganzen vorliegenden Literatur."

In gleichem Sinne urteilen auch zahlreiche andere Autoren. Ich verweise an dieser Stelle auch auf meine Untersuchungen fiber die Sehsph~re bei Mikrophthalmus (s. oben), die die Lage der Macula direkt dargetan haben.

Um so fiberraschter war ich, als nunmehr Henschen die Lokalisation der Macula in der Polgegend ftir sich in Anspruch nimmt, zuerst auf dem Neurologenkongrel3 in Bonn, dann 1919 in seiner Arbeit: ~ber Sinnes- und Vorstellungszentren in der Rinde des Grol~hirns (Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 47, 1919).

Bis dahin babe ich geschwiegen, da die Sachlage so klar war, daI~ ich eine ungerechte Beurteilung nicht glaubte befiirchten zu miissen.

Da aber Henschen jetzt zum dritten Mate, und zwar jetzt in viel pr~ziserer Form einen Priorit~ttsanspruch bezfiglich der Lokalisation der Macula erhebt, sehe ich mich gen6tigt, mein Recht zu wahren.

Das Urteil anderer Autoren ffihrte ich oben an. Worauf baut aber nun Henschen selbst seinen Priorit~ttsanspruch ?

Henschen schreibt in seiner hier in Rede stehenden Arbeit S. 527: ,,Ebenso hatte Wilbrand in bezug auf die Lokalisation der Macula und ihre Organisation (Projektion) mehrere sehr wertvolle klinische Beob- achtungen gemacht, welche die Projektion wahrscheinlich machten, aber der erste entscheidende positive Beweis in bezug auf die Lokali- sation der Macula im Occipitalpo]e wurde vom Veff. 1908 (beobachtet 1907), ungefi~hr gleichzeitig mit einer ~hn]ichen wertvollen Observation yon Wilbrand, erbraeht. Die vorhergehenden Beobachtungen yon Foerster, Laqueur und sparer yon Lenz ffir die Lokalisation der Macula zum 0-Pole k6nnen dagegen als negativ, nicht als beweisend betrachtet werden. Durch die zahlreichen Kriegserfahrungen ist nunmehr die Projektionslehre ffir alle Zukunft festgeschlagen."

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um das Sehzentrum und seine Bedeutung filr die Hirnforschung. 635

Dalt der Fall Wilbrands 1 Jahr vor dem Henschens pub]iziert wurde, erw~hnte ich bereits oben. Inwiefern meine Darlegungen ,,negativ" sein sollen, ist mir unverst~ndlich, meine Schlu•folgerungen basieren ja nicht auf einem Einzelfalle, sondern auf einer Analyse des geeamten verffigbaren Materials. Doch darfiber mSgen andere entscheiden.

Wie steht es aber nun mit dem ,,positiven" Fall Henschens, auf den er jetzt seinen Priorit~tsanspruch basiert ?

Der Fall wurde beobachtet 1907, schwedisch in S~rtryck ur Hygiea Festband 1908 publiziert; mir wurde er zug~nglich durch Publikation in der Medizinischen Klinik 1909, Heft 35 vom 29. VIII. Meine Arbeit wurde Anfang 1909 eingereicht und ist am 2. August erschienen; des- halb ist der Fall Henschens nicht darin beriicksichtigt.

Der Fall ist folgender: Am 5. III . 1900 Messerstieh in das Hinter- haupt, am 16. III . Operation: ,,Eine Messerklinge 3,5cm lang und kaum 1 cm breit wurde durch die TrepanSffnung aus dem Gehirn aus- gezogen. Das Messerblatt war schri~g nach oben, mit der Sch~rfe nach unten innen gerichtet. Eiter und nekrotische Gehirnmasse flo] heraus."

Anfangs komplette ttemianopsie. Nach einigen Jahren epileptische Kri~mpfe. Am 12. VII. 1907: ,,1 cm nach links yon der Mittellinie, 2,5 cm hSher als die Prof. occip, ext. eine Einsenkung im Occipital- knochen." Hemianopisches Skotom, das macul~re und paramacul~re Gebiet einnehmend.

,,Epikritisches (Mediz. Klinik 1909): Aus der Epikrise wird nun folgendes angeffihrt. Um die Lage des Schnittes im Gehirn zu bestimmen, wurde ein Dissektionsmesser v o n d e r erw~hnten GrSl3e nach genauer Einzeichnung der TrepanationsSffnung auf ein Cranium in ein einge- legtes Gehirn eingestol3en. Der Stich folgte recht genau dem Boden der Fiss. calc. yon der lateralen Rindenfli~che ab etwa 3 cm nach vorn. Infolge der Lage des Schnittes wurden in der Sehstrahlung nut wenige Fasern durchsehnitten.

Aus der Lage des Schnittes l~i]t sich vermuten, da ] die Macula im Boden der Fiss. calc. liegt, ob mehr nach vorn oder nach hinten ist ungewfl3. Das Messer hat te die linke laterale Rinde nahe am Pole ge- troffen. Ob das Skotom corticaler oder medullarer Natur ist, l~[tt sich nicht entscheiden."

Betont sei, dai3 es sich nicht etwa um einen Sektionsfall handelt. Aus den eigenen Worten Henschens geht unzweifelhaft hervor, dal3

er damals auf Grund dieses Falles nicht die Maeula in die Polgegend lokalisiert hat, ganz abgesehen davon, dal3 der Fall iokalisatorisch durchaus unbrauchbar ist wegen der offenbaren Markverletzung yon aul3en her, Abscel~bildung usw., was Henschen damals jedenfalls selbst eingesehen hat.

AuCh 1910 hat er offenbar in diesem Fall noch keinen ,,Beweis" fiir

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die Lokalisation der Macula nach hinten gesehen. Er schreibt im Handb. der Neurol. l, 905: ,,Das Macularproblem ist noch nicht mit Sicherheit gelSst. J~ltere Beobaehtungeh machten es wahrscheinlich, dal3 die Macularrinde vorne im Boden der Fissur liegt, mehrere neuere dagegen sprechen entschieden dafiir, da~ sie weiter nach hinten liegt."

Ein Jahr vorher war meine Arbeit erschienen, die zwar von Hen- schen mit keinem Wort erw~hnt wird, die aber anscheinend doch seine Stellungnahme beeinflul3t hat.

Sogar noch 1911 hebt er beziiglich des in Rede stehenden Falles in der Pathologie des Gehirns Bd. 4 hervor, da~ die ausgedehnte Absceft- bildung, die Markverletzung usw. eine genauere Lokalisation unmSglieh machen. ,,Ob das Skotom in meinem Fall corticaler oder medull~rer Natur ist, l~f3t sich vorl~ufig nicht entscheiden." ,,Aus der Lage der L~sion kSnnen also sichere Schliisse betreffs der Lage der Macul~ im Occipitallappen nieht gezogen werden, aber jedenfalls spricht die Lage der L~tsion mehr fiir eine occipitale als frontale Lage."

Erst 1917, 1919 und 1923 tritt Henschen immer deutlicher mit der Behauptung hervor, dal~ er auf Grund des eben besprochenen Falles die Maeula in die Polgegend lokalisiert habe (s. das Zitat oben).

Meine obigen, vSllig objektiven Darlegungen beweisen einwandfrei die Unrichtigkeit dieser Behauptung. Ich kann reich des Eindruckes nicht erwehren, dal3 es sich um eine nachtri~gliche Konstruktion handelt, nachdem Henschen gesehen hut, wie die Kriegserfahrungen meine An- sicht vSllig besti~tigt haben.

Es ist zweifellos das Verdienst Henschens, sofort die Richtigkeit der Projektionslehre Wilbrands erkannt und auf allen Wegen versucht zu haben, die daraus resultierende, umgrenzte Sehsph~re exakt zu lokali- sieren; er stand dabei in steter Kontroverse gegen die angesehene Schule v. Monakows. Meine kurzen Darlegungen zeigen aber auch, dalt yon einer ,,ganz selbst~ndigen Entdeckung des Sehzentrums" durch Henschen nicht gesprochen werden kann. Bereits vor ihm lagen analoge Ansehauungen vor und viele der ,,Beweise" Henschens sind sehr an- fechtbar.

An der heutigen Gestaltung der Lehre vom Sehzentrum hat vielmehr eine ganze Anzahl von Autoren ihren Anteil, darunter Henschen un- bestritten einen sehr groSen. Seine letzten Darstellungen der geschicht- lichen Entwicklung kSnnen jedoch vielfach nicht als objektiv aner- kannt werden.

In ausdrficklichem Gegensatz zu der Darstellung Hensehens nehme ich auf Grund meiner obigen Darlegungen ffir reich persSnheh nach wie vor in Anspruch:

1. Den klinisch-anatomisch und entwicklungsgeschichtlich geffihr- ten Nachweis, daf~ die Maeula im hintersten Abschnitt der Fiss. calc.

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lokalisiert ist, nachdem diese Ansicht zuerst Laqueur und Schmidt auf Grund eines -- in seiner Beweiskraft bestrittenen -- Einzelfalles aus- gesprochen hatten.

2. Den dadurch erbrachten Nachweis, daf3 diese Gegend zur Seh- sphi~re gehSrt.

3. Den Nachweis, daf~ bei peripherer Erblindung in der Hirnrinde Degenerationen auftreten, die wenigstens zu einem bestimmten Zeit- punkt mit scharfer Grenze auf das Gebiet der Area striata Brodmanns beschri~nkt sind.

4. Damit wurde der physiologische Nachweis geliefert, da$ das rein anatomisch charakterisierte Gebiet der Area striata tatsi~chlich mit der Sehsphi~re zu identifizieren ist.

5. In gleichem Sinne sprechen meine Befunde yon hochgradiger ri~umlicher Reduktion der Area striata bei Anophthalmus congenitus.

6. Diese Identifikation erm6glicht allein die exakte Umgrenzung der Sehsphi~re, die die klinisch-~natomische Forschung nicht zu liefern vermag.

Meine eingehenden experimentellen und klinisch-anatomischen Un- ter~uchungen fiber die zentrale Vertretung des Farbensinnes stehen hier nicht zur Diskussion, da Henschen sie in keiner seiner Darstellungen des Sehsph~renproblems erwiihnt.