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Cybel Dickson
Deutsch (Language A)
Kantonsschule Wettingen
Abgabe am 3. November 2017
Betreut durch Uwe Kersten
3957 Wörter
Erzählen durch Schweigen
Inwiefern verändert sich Marcel Beyers Roman
«Flughunde» in Ulli Lusts gleichnamiger
Graphic-Novel-Adaption?
Maturaarbeit
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
1
Das dient nicht der Sühne, nicht der Schuldabwehr,
nicht einer Bewältigung oder einem Selbstwertgefühl.
Ich weiß nicht, wie es mich bedingt – ich möchte
zunächst zur Kenntnis nehmen, dass es mich bedingt.
Marcel Beyer
Danke an Uwe Kersten für das berechtigte «wo ist cybel?» und an
Philippe Wampfler für den Spiegel, durch den ich besser sehe.
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung ..................................................................................................... 3
Grundlagen................................................................................................... 4
2.1 Aufwertung der Graphic Novel führt zur Abwertung des Comics .................................... 4
2.2 Adaptionstheorie ........................................................................................................... 6
Prätext: Marcel Beyers «Flughunde» ............................................................ 8
Adaption: Ulli Lusts «Flughunde» ................................................................ 9
4.1 Erzählweise ................................................................................................................... 9
4.2 Darstellung von Figuren und ihren Gefühlen ................................................................ 15
4.3 Leitmotive .................................................................................................................... 18
4.4 Erzählen durch Schweigen ........................................................................................... 23
Fazit ............................................................................................................ 31
Quellenverzeichnis ..................................................................................... 33
Weiterführende Links ................................................................................. 34
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
3
Einleitung
Graphic Novels erfreuen sich in Europa seit den 1980er-Jahren einer
wachsenden Leserschaft. Immer häufiger wird das Format auch für Literatur-
adaptionen genutzt. Von Verlagen mit der Absicht, ihre Zielgruppe zu
vergrössern1, von Einzelpersonen, um Werke zu ehren, oder aber zu hinterfragen
oder zu kritisieren.2 Zur Intention gehören auch Interpretation und Kreativität
der Adaptierenden, die beeinflussen, inwiefern sich die Vorlage in der Adaption
verändert. Um diesen Prozess konkret zu untersuchen, betrachte ich Marcel
Beyers Roman «Flughunde» im Vergleich mit Ulli Lusts gleichnamiger Graphic
Novel. «Flughunde» ist besonders interessant, weil Töne eines der Hauptthemen
darstellen. Auf diese Ebene hat weder der Roman noch der Comic direkten
Zugriff. Es fragt sich also, wie die beiden Medien damit umgehen und, grösser
noch: Wie verändert sich Marcel Beyers Roman «Flughunde» in Ulli Lusts
gleichnamiger Adaption in der Graphic Novel?
Zur Beantwortung dieser Frage ist als Erstes eine Definition des Begriffs
Graphic Novel nötig. Im Anschluss daran müssen einige Prämissen zum
spezifischen Umgang mit Adaptionen gemacht werden. Die Analyse wird sich auf
Veränderungen in den Bereichen Erzählweise, Darstellung von Figuren und ihren
Gefühlen, Leitmotive und Erzählen durch Schweigen konzentrieren und im Fazit
abschliessend kommentieren, wie sich diese Veränderungen konkret auf die
Aussagen der Geschichten auswirken.
1 Graphic Novels, Vom Türöffner zur Streitaxt, Der Tagesspiegel, Zugriff am 11.08.17, http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/graphic-novels-vom-tueroeffner-zur-streitaxt/10144890.html 2 Juliane Blank, Literaturadaptionen im Comic (Berlin: Christian A. Bachmann Verlag, 2015), 85
http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/graphic-novels-vom-tueroeffner-zur-streitaxt/10144890.html
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Grundlagen
2.1 Aufwertung der Graphic Novel führt zur Abwertung des Comics
Eine Graphic Novel ist dem Begriff nach erst einmal ein Comicroman, ein
Comic im Buchformat. Der Comic ist laut Duden eine:
aus Bildstreifen bestehende Fortsetzungsgeschichte abenteuerlichen,
grotesken oder utopischen Inhalts, deren einzelne Bilder von kurzen
Texten begleitet sind3
Beim Versuch einer genaueren Definition der Graphic Novel (wie in
Abbildung 1) kommen zu Formkriterien bald inhaltliche und wertende Kriterien
hinzu: Erwachsenenliteratur, Autobiografisches, Wirkung nicht auf humo-
ristische Effekte beschränkt. Der Fokus liegt stark auf einem Anspruchs-
unterschied gegenüber dem Comic.
3 Comicstrip, der, Duden, Zugriff am 04.09.17, http://www.duden.de/rechtschreibung/Comicstrip
Abbildung 1: «Was sind Graphic Novels?»
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Folglich kann durch den Begriff der Graphic Novel der Comic als
Erzählform einem breiteren Publikum nähergebracht werden. Gleichzeitig festigt
er aber den Ruf der anderen Comics als anspruchslose Unterhaltungsmedien.4
Diese Schwierigkeit gilt es zu beachten.
Andererseits stellt nicht sie den zu untersuchenden Gegenstand dieses
Essays dar. Deshalb soll sich im weiteren Verlauf der Begriff «Graphic Novel» auf
die Duden-Definition beschränken, die lautet:
Comic im Buchformat, der eine abgeschlossene, thematisch komplexe
Geschichte erzählt; Comicroman5
Wichtig ist: Die Graphic Novel unterscheidet sich formal vom Comic, sie erscheint
in Buchform. Deshalb sind Graphic Novels tendenziell anspruchsvolle Medien,
was die Existenz von anspruchsvollen Comics aber nicht ausschliesst. Die Graphic
Novel bildet also nicht das anspruchsvolle Gegenstück zum anspruchslosen
Comic, sondern vielmehr eine Untergruppe dazu.6
4 Der Tagesspiegel, Graphic Novels, Vom Türöffner zur Streitaxt 5 Graphic Novel, die, Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/Graphic_Novel 6 Comics, inklusive Graphic Novels, Graphic Novels, Zugriff am 04.09.17, http://www.graphic-novel.info/?p=24746
https://www.duden.de/rechtschreibung/Graphic_Novel
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2.2 Adaptionstheorie
Ein Problem für jede Adaptionsanalyse stellt die Handhabung des
vergleichenden Moments dar. Einerseits kann man ohne den Prätext7 keine
Aussagen über die Adaption treffen. Andererseits darf sich die Analyse nicht
darauf beschränken, Prätext und Comic nebeneinander zu legen und schlicht
Handlungselemente und Figurendarstellungen abzugleichen. Auf diese Weise
geraten Untersuchungen von Literaturadaptionen nämlich zu Prüfungen der
‘Angemessenheit’, in deren Rahmen in erster Linie gefragt wird: Stimmt das
so? Entspricht das dem literarischen Prätext? Das sind im Kern Werturteile,
wie sie häufig im Kontext einer «Werktreue»-orientierten Adaptions-
forschung gefällt wurden. [...] Dass dies eine naive Perspektive ist, die sich
eine intermedial ausgerichtete Literaturwissenschaft nicht mehr leisten
kann, liegt auf der Hand.8
Um vom Standpunkt der Wertung in den ergiebigeren der Analyse überzugehen,
ist es laut Blank also äusserst wichtig, die Adaption als eigenständiges Werk
anzuerkennen. Ulli Lust, die Autorin der Graphic Novel, sagt in einem Interview
mit profil online:
Werktreue ist unwichtig. Der Comic muss als eigenständiges Werk
funktionieren. Man kann nicht einfach den Text in Bilder übersetzen und
dieselbe Wirkung erzielen.9
7 Ich übernehme die Begrifflichkeit von Blank, Literaturadaptionen, 84, Fusszeile 246: Als Prätext wird die
Vorlage für eine Adaption bezeichnet. 8 Blank, Literaturadaptionen, 83 9 Ulli Lust: Kann alles als Comic erzählen, profil, Zugriff am 03.09.17, https://www.profil.at/home/flughunde-graphic-novel-ulli-lust-kann-comic-358398
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Dennoch hat Lust ganze Textpassagen aus dem Roman übernommen, denn
«Comic besteht aus Text und Bild, der Text des Romans ist mein Arbeitsmaterial,
ich habe ihn neu arrangiert.»10 Die Adaption ist also eigenständig und abhängig
vom Prätext zugleich. Die Frage, die sich stellt, lautet:
Was für ein Prätext wird
mit welchen Darstellungsmitteln
wie adaptiert
und zu welchem Zweck?11
10 profil, Ulli Lust: Kann alles als Comic erzählen 11 Blank, Literaturadaptionen, 83
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Prätext: Marcel Beyers «Flughunde»
Marcel Beyer erhielt 1997 den Uwe Johnson Preis für seinen ein Jahr zuvor
erschienenen Roman «Flughunde». Die beiden Erzählstränge von Helga, Tochter
von Joseph Goebbels, und Hermann Karnau, Akustiker im dritten Reich, führen
durch ihre Leben im Deutschland der Jahre 1940 bis 45. In seiner Preisrede
spricht Beyer davon, wieso er ein Buch schreibt über Karnaus Suche nach dem
Klang des Menschen in einer Zeit des Klangs des Krieges, über Helgas
Kinderstimme mitten im Gebrüll der Erwachsenen, über den
Nationalsozialismus, den er nicht erlebt hat. Nach einer Zeit des Schweigens, auf
die eine des Fragenstellens folgte, welche wiederum in eine des Fragen-
Beantwortens überging, spricht sich Beyer für eine Haltung des Zuhörens aus.
Und für eine des Schweigens:
Da wird nicht verschwiegen, die Toten, die leere Stelle wird geschwiegen,
deutlich, hineingeschwiegen in diesen Text. Hier wird durch Schweigen
etwas zu Gehör gebracht.12
Im Verlauf des Romans verweben sich Helgas und Karnaus Geschichten
immer mehr, wodurch die beiden Hauptfiguren eine besondere Beziehung
zueinander eingehen. Während sie allen misstrauen und sich vor allen verstellen
müssen, ist Karnau für Helga die Ausnahme: «Was er sagt, darf man glauben.»13.
12 Eine Haltung des Hörens, Marcel Beyer, Zeit Online, Zugriff am 29.10.17, http://www.zeit.de/1997/49/Eine_Haltung_des_Hoerens, Seite 7 13 Marcel Beyer, Flughunde, (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1996), 267
http://www.zeit.de/1997/49/Eine_Haltung_des_Hoerens
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Adaption: Ulli Lusts «Flughunde»
2013 erschien Ulli Lusts Graphic Novel-Adaption von «Flughunde», einem
Roman, der, wie sie sagt, bei ihr sehr starke Bilder hervorruft.14 Inhaltlich decken
sich Prätext und Adaption grösstenteils, die Graphic Novel übernimmt grosse
Teile wörtlich aus dem Roman. Es gibt aber auch Kürzungen, Auslassungen und
Umstellungen, einige abgeänderte und sogar neu hinzugefügte Szenen. Hierbei
verschiebt sich der Fokus zugunsten von Helga, wie Lust selbst sagt: «Auch der
kleinen Helga Goebbels gebe ich mehr Raum.»
4.1 Erzählweise
14 profil, Ulli Lust: Kann alles als Comic erzählen
Abbildung 3: Helgas Erzählperspektive Abbildung 2: Karnaus Erzählperspektive
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Lust behält in der Graphic Novel die beiden Erzählstränge der Vorlage bei,
bei denen jeweils Helga und Karnau als Erzählinstanzen fungieren. Während im
Roman die unterschiedlichen Ich-Personen die Perspektive markieren, ver-
deutlicht Lust die Differenz sogar durch die Gestaltung der Panels. Karnaus Teile
bestehen aus rechteckigen, direkt aneinandergesetzten Panels (Abbildung 2).
Deren Aufteilung auf einer Seite variiert aber stark. Seine Erzählstimme
(Caption) platziert sich normalerweise in einem Kasten oben oder unten im, oder
zwischen den Panels. Helgas Geschichte dagegen verläuft in sehr regelmässigen
quadratischen Panels, meist drei mal zwei pro Seite (Abbildung 3). Dazwischen
befinden sich schmale Abstände. Auch bei ihr befinden sich die Captions oben
oder unten im Panel und stehen im Stil eines Tagebuchs auf Schreiblinien. Dies
erweckt insgesamt den Eindruck, als sei die Geschichte die von Karnau, der
Helgas Sicht aus ihren Aufzeichnungen rekonstruiert. Auch Karnaus Panels sind
vereinzelt durch Leerräume getrennt, diese haben aber dort eine andere Funktion
als bei Helga: Sie markieren Abschnitte, wie sie ein Fliesstext vornimmt, grenzen
also inhaltlich ab, markieren Zeitsprünge oder Themenwechsel.
Die dritte Perspektive, die sowohl im Roman als auch in der Graphic Novel
eingenommen wird, ist die des auktorialen Erzählers im Abschnitt zum Jahr 1992.
Auch dies zeigt Lust anhand der Panelgestaltung (Abbildung 4): Auf den Seiten
233ff. finden sich seitenbreite, rechteckige Panels, meist drei pro Seite,
gleichmässig aufgeteilt und mit grossen Abständen dazwischen. Dies unterstützt
den im Roman durch die Erzählstimme angestrebten Eindruck eines neutralen
Berichterstatters (BF15 219ff.).
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Abbildung 4: Perspektive des auktorialen Erzählers
Abbildung 5: Karnaus Eindrücke an der Front
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Die Regelmässigkeiten der Panels nutzt Lust dazu, durch deren Aufbrechen
Zeichen zu setzen. Wie das wirkt, lässt sich auf den Seiten 82f. beobachten
(Abbildung 5). Die Panelführungen auf Seite 82 sind schräg, die Erzähltexte
stehen in den Leerräumen zwischen den Panels. Hier zeigt sich der Ausnahme-
zustand, die Intensität, mit der Karnau die Front erlebt (entsprechend dem
Roman BF15 109ff.). Es wirkt, als wäre er so überwältigt, dass er nicht klar denken
kann und die Erzählkommentare im Nachhinein hinzufügen musste. Die aus den
Panels herauslaufenden Farben wirken wie Matsch, der überall klebt. Das letzte
Panel ist nach rechts und unten hin geöffnet, was den Fall des herunter-
geschossenen Vogels betont.
Bereits beim Durchblättern der Graphic Novel fällt der besondere Gebrauch
von Farbe auf. Das ganze Werk ist in Erdtönen gehalten, viel Grau, Braun, Gelb,
die in intensiven Szenen ins Orangerot kippen. Die Farben sind abgetönt, es
herrschen wenige Kontraste. Sie wirken wässrig, wie Aquarellfarben. Diesen
Eindruck vermitteln sie auch, indem sie sehr oft über Figuren und über Panels
hinauslaufen, was darstellt, dass die Thematik, das Geschehen nicht säuberlich
in Panels versorgt werden kann. Die Kolorierung dient keinem realistischen
Abbild der Wirklichkeit, sondern der Atmosphäre. Eine Hauptfarbe beherrscht
jeweils die Seite oder meist auch die gesamte Passage, mit Schattierungen
werden Strukturen und Figuren unterschieden. Die Farben tragen so auch zur
inhaltlichen Struktur bei, indem sie Zusammengehöriges verbinden. Auffällig ist
die stete Verdunkelung und Ermattung der Farben in Helgas Teilen im Verlauf
15 BF steht für den Verweis auf «Beyer, Flughunde» und LF auf «Lust, Flughunde»
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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der Graphic Novel. Vor allem der Bruch von Aussen- und Bunkerwelt, den der
Roman relativ kurz beschreibt (BF 249), zeigt sich stark. In der Reichskanzlei auf
Seite 275 herrscht ein blasses Rosa vor (Abbildung 6), welches beim Abgang in
den Bunker von Grau-Blau überdeckt wird. Das schafft eine düstere Stimmung.
Das Rosa der Goebbels-Figuren verblasst über die Seiten 276f. (Abbildung 7,
Abbildung 8) immer mehr, bis auch sie auf Seite 279 ganz vom Grau des Bunkers
verschluckt werden und schliesslich alles schwarz wird (Abbildung 9). Das Grau
markiert ausserdem Helgas endgültigen Eintritt in die triste Welt der
Erwachsenen und des Schweigens.16 Dieser kann sie durch Karnau ansatzweise
entfliehen, was daran erkennbar ist, dass auf Seite 289 die Panels einen
auffälligen Rotstich erhalten, sobald Helga mit Karnau zu sprechen beginnt
(Abbildung 10).
16 Die Fratzen der Goebbelstöchter, taz.de, Zugriff am 01.10.17, http://www.taz.de/!5067637/
Abbildung 6: Eintritt der Familie Goebbels in den Führerbunker 1
Abbildung 7: Eintritt der Familie Goebbels in den Führerbunker 2
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Abbildung 8: Eintritt der Familie Goebbels in den Führerbunker 3
Abbildung 9: Eintritt der Familie Goebbels in den Führerbunker 4
Abbildung 10: Farbwechsel beim Treffen auf Karnau
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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4.2 Darstellung von Figuren und ihren Gefühlen
Lust hat einen ganz eigenen
Zeichenstil, der von simpel bis detail-
getreu und von realistisch bis karika-
turistisch reicht, je nach Wirkung, die
sie erzeugen will. Auf der Seite 48
zum Beispiel sind die Proportionen
der Figuren recht realistisch, die Ge-
sichter werden mit wenigen Strichen
charakterisiert (Abbildung 11). Die
Szene strahlt Ruhe aus, sie ist recht
alltäglich. Abbildung 11: Erstes Treffen von Karnau und den Goebbels Kindern
Abbildung 12: Die Kinder spielen «spontane Aktion»
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Als die Kinder hingegen auf Seite 121 «spontane Aktion» spielen, sind deren
schreiende Münder weit aufgerissen und die Zungen vibrieren in Zickzacklinien
(Abbildung 12).17 Auch dort wird auf Details verzichtet, um den Fokus auf das
Geschehen zu richten. Dasselbe bei der Raumdarstellung: Auf den Seiten 120f.
(Abbildung 12) zum Beispiel sieht man jeweils nur die Kinder und das gerade
wichtigste Requisit, auf der Seite 121 in den mittleren Panels nur den Teppich und
auf Seite 120 im mittleren rechten Panel nur die Zahnbürste. Auf Seite 121 im
mittleren rechten Panel geht es so weit, dass die Jüngeren selbst nur noch aus
Bewegungslinien18 bestehende Kopfumrisse sind. Diese reduzierte Darstellungs-
weise erhöht immens die Konzentration auf und Intensität der Handlung,
übertrifft sogar die des Romans (BF 144). Detailreich wird Lusts Darstellung im
Teil über das Jahr 1992, ganz besonders auf Seite 235 (Abbildung 4). Dies trägt
zur angesprochenen dokumentarischen Wirkung des Abschnitts bei.
Neben dem gerade besprochenen Realismusgrad spielen Sprechblasen eine
wichtige Rolle in der Darstellung von Figuren. Sie haben nicht nur die Funktion
der Vermittlung von Text, ihre Darstellung sagt auch etwas über die Art der
Aussage und die Stimmung der sprechenden Figur aus. Auf Seite 199 zum Beispiel
ist das Flüstern und Singen der Kinder von fein gewellten Linien umrahmt
(Abbildung 14), ein wütendes Ausrufen wird dagegen mit gezacktem Rahmen
gekennzeichnet, wie auf Seite 6, wo Karnaus Mutter seinen Namen ruft
(Abbildung 15). Davon abgegrenzt wird ein freudiges Rufen, wie man es auf Seite
109 findet, weil sich Helga und Hilde freuen, dass sie mit ihrem Vater mitdürfen
17 taz.de, Die Fratzen der Goebbelstöchter 18 Bewegungslinien zeigen, wie der Name schon sagt, Bewegungen, deren Richtung und Intensität an. Zum Beispiel das Herumlaufen der Schwestern auf Seite 121, im mittleren rechten Panel, Abbildung 12.
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(Abbildung 13). Als Vergleich: In der entsprechenden Szene im Roman (BF 125)
deutet allein das «dürfen»19 in Helgas Schilderung auf Freude hin. Gedanken
werden klassischerweise von einer Wolkenform umgeben, wie auf Seite 6, als
Karnau sich im linken unteren Panel in einer Kindheitserinnerung auf den
Apfelkuchen freut (Abbildung 15).
Auch Gerüche (LF 6, Abbildung 15, linkes Panel) und Stimmungen werden
in der Graphic Novel bildlich dargestellt. Auf Seite 31 befinden sich hinter
Karnaus Kopf zittrige Linien und Striche, welche seine Unruhe zum Ausdruck
bringen (Abbildung 16). Im Roman scheint Karnau eher empört als verunsichert
(BF 17f.), doch die Graphic Novel unterstützt die Verunsicherung auch durch den
19 «Die Kleinen fahren vom Bahnhof mit unserer Kinderfrau nach Schwanenwerder, aber Hilde und mich nimmt Papa allein mit nach Lanke, wir dürfen ein paar Tage bei ihm sein.», Beyer, Flughunde, 125
Abbildung 15: Karnaus Kindheitserinnerung an den Apfelkuchen
Abbildung 13: Helga und Hilde freuen sich
Abbildung 14: «Das böse Flüstern»
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Schweiss im übernächsten Panel. Das könnte bereits als visuelle Metapher20
bezeichnet werden, noch klarer wird deren Verwendung auf Seite 59, wo aus
Holde und Heddas Köpfen scheinbar Rauch oder Dampf aufsteigt, weil diese «vor
Wut kochen» (Abbildung 17).
4.3 Leitmotive
Für eine Geschichte über Töne erhält das Schweigen in «Flughunde» eine
unerwartete Bedeutung – oder aber die Töne in einer Geschichte über das
Schweigen. Faszinierend am Motiv der Töne ist, dass geschriebene Sprache so
schlecht Zugriff darauf hat. Beyer liefert in seinem Roman aber höchst
eindrückliche Beispiele zum Umgang mit Tönen, so auf den Seiten 113ff. an der
Front:
Ein Pfeifen, kommt, jetzt Dröhnen, kommt näher, jetzt in Sekundenbruch-
teilen anschwellendes Splittergeräusch, auf höchster Lautstärke, jetzt Ab-
bruch der Übertragung, geplatzt, das Mikrophon verschüttet oder zerstört.
20 «Als visuelle Metaphern werden typische symbolische Chiffren mit festgelegter Bedeutung bezeichnet, wie z.B. Sterne über dem Kopf einer Figur, die andeuten, dass diese nach einem Schlag oder Sturz «Sterne sieht».» – Blank, Literaturadaptionen, 89, Fussnote 258
Abbildung 16: Karnaus Unruhe Abbildung 17: Die Kleinen sind wütend
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Ein Nachtgesang, der langsam schwächer wird: Doch auf dem Tonband
flimmern unbeirrt die magnetisierten Teilchen und richten sich je nach
Klanglage aus. Die Geräusche zerreissen mir die Ohren, obwohl sie doch ganz
leise sind.
Beyer beschreibt viel von der Atmosphäre, von den Gefühlen, die die Geräusche
auslösen, anstatt die Geräusche selbst zu beschreiben. Das wirkt. Beyer arbeitet
nicht um Unaussprechliches herum, sondern daran.
Dem Comic steht zur Darstellung von Tönen eine weitere Ebene zur
Verfügung, die der Bilder. Doch auch sie hat keinen direkten Zugang zur Lautwelt.
Sie bedient sich deshalb der Versprachlichung von Geräuschen und der
Onomatopoetika. Diese haben bei Lust eine weitaus grössere Funktion als bloss
die eines Geräusches: Auf Seite 33 zum Beispiel zeigt das «flap» der Fledermaus
gleichzeitig deren Flugbahn an (Abbildung 18). Die «TOK»s auf Seite 16 takten
das Aufstellen der Wegweiser (Abbildung 19). Interessant sind auch die Seiten
82f., wo die Onomatopoetika Teil des Bildes werden (Abbildung 5). Sie sind dann
beinahe nicht mehr von Bewegungslinien zu unterscheiden und tragen bei zur
Atmosphäre des Chaos.
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Bereits im Roman sind Tiere ein wiederkehrendes Motiv, immerhin trägt
er den Namen «Flughunde». Flughunde symbolisieren Karnaus Schicksal: So wie
sie die nächsten Verwandten der Fledermäuse sind, und doch nicht an der «Welt
teilhaben, die uns Menschen verschlossen bleibt» (BF 178), der des Ultraschalls,
so verfehlt auch Karnau immer knapp sein Ziel. Er verspottet in einer grossen
Rede die Rassenlehre (BF 138f.), doch spricht sich im letzten Moment dafür aus,
chirurgische «Modifikationen des artikulatorischen Apparats»21 auszuführen. Er
erhält die Möglichkeit, professionell an seinem Lebensprojekt zu arbeiten, doch
kommt zu keinen verwertbaren Resultaten. Karnau erscheint als ein Opportunist
und ein vom Leben Herumgeschubster zugleich.
21 Beyer, Flughunde, 139
Abbildung 18: Karnaus Kindheitserinnerung an den Sportunterricht
Abbildung 19: Vorbereitungen für eine NS-Rede
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Die Graphic Novel lässt den Flughunden in der eindrücklichen Parallel-
montage Sportpalastrede – Forschungsexperimente besondere symbolische
Bedeutung zukommen. Mitten in der Montage gilt ihnen eine ganze Seite (LF 149,
Abbildung 20). Lust fügt hier eine Szene ein, die im Roman erst später vorkommt,
als die Kinder Flughunde anschauen gehen (BF 171). Ein Flughund leckt sich den
Bauch, bei Lust scheinbar sogar eine Wunde, und wird dann, als er merkt, dass
er beobachtet wird, böse, und ein Schwarm vom Flughunden fliegt dem Leser
entgegen. Tatsächlich lässt sich diese Szene auf beide Stränge der Parallel-
montage anwenden. Goebbels leckt sich die Wunde der drohenden Kriegs-
niederlage und antwortet darauf mit Aggression. Vermutlich ist Karnaus Wunde
seine Kindheit, die Eltern, die nicht liebevoll waren (LF 6f.), die Erlebnisse in der
Schule (LF 32ff.). Das hat ihn in seine Welt der Töne getrieben, welche er um
jeden Preis, in seinem Fall Menschenleben, ergründen möchte.
Abbildung 20: Flughunde
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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Ein nationalsozialistisches Motiv, das sich in «Flughunde» mit Tieren
verbindet, ist der Totenkopf. Den Totenkopf als Erkennungszeichen der SS deutet
der Roman im zerbombten Zoo von Berlin an. Als Karnau dort nach den
Flughunden sehen will, liegt am Boden ein Schild mit der Aufschrift «DIE
TOTENKOPFÄFFCHEN DÜRFEN INS FREIE»22. Das kann symbolisch dafür
verstanden werden, dass die SS die sind, die noch im Freien sind. Die Graphic
Novel verzichtet auf diese Szene, versteckt den Totenkopf dafür auf dem
Hinterleib eines Falters auf Seite 72 (Abbildung 27, linkes unteres Panel). Es ist
der Falter, den Holde in Helgas Traum so bewundernd betrachtet, der aber auch
macht, dass aus Holdes Augen Käfer kommen. Der Totenkopf befindet sich auf
etwas Bewundernswertem, für einige vielleicht Schönem, aber man kann sich
davon nicht mehr lösen, es parasitiert einen sogar. Auch das lässt sich problemlos
auf die SS im Nationalsozialismus übertragen.
Etwas verwunderlich scheint Lusts Aufnahme der Passage mit dem
Apfelkuchen, mit der die Graphic Novel beginnt (LF 6ff.). Immerhin bezieht sich
der Roman auf den Apfelkuchen als Karnau die Kinder beherbergt und überlegt,
was er ihnen zum Frühstück bereiten soll (BF 41). Obwohl Lust diesen ganzen
Teil weglässt, nimmt sie die Apfelkuchen-Szene auf, die aus zwei Gründen wichtig
ist: Sie thematisiert die Ursprünge von Karnaus Faszination für Flughunde und
Lautwelt und, damit zusammenhängend, die Diskrepanz zwischen Kindheit und
Erwachsenenwelt. Diese stellt sich in der Graphic Novel als eines der
Hauptmotive heraus, was mit Helgas grösserer Präsenz zusammenhängt.
22 Beyer, Flughunde, 190
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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4.4 Erzählen durch Schweigen
Helgas Teile unterscheiden sich im Roman (und in der Graphic Novel) von
Karnaus auch durch ihre Naivität bezüglich des Nazilebens, etwa wenn sie fragt,
was denn «Entwelschung»23 sei. Viviana Cilese sieht darin weiter die Funktion
des Wiedererkennungseffekts beim Leser: «…zielt der Text darauf ab, das Wissen
über vergangene Ereignisse zu reaktivieren, ohne jedoch den Kontext näher zu
erläutern.»24 Diese Methode des Impliziten zieht sich durch den gesamten Roman.
Weder Goebbels noch Hitler, ja nicht einmal der Nationalsozialismus werden je
beim Namen genannt. Goebbels ist «der Vater der sechs Kinder»25 und Hitler «der
Führer»26 und dann später im Bunker «der Patient»27 . Dort wird erst ganz klar,
dass von Hitler die Rede ist, als die «Schäferhündin des Patienten»28 erwähnt
wird. Ganz im Sinne Beyers schweigt also der Roman das Unaussprechliche, er
verschweigt es aber nicht.
Aus dieser Perspektive ist die Figurendarstellung eine der grössten
Herausforderungen für die Graphic Novel. Wie zeichnet man über jemanden,
ohne denjenigen zu zeichnen? Ansätze zu Beantwortung dieser Frage finden sich
in der Hitlerdarstellung Lusts. Auf Seite 207 zum Beispiel sieht man bloss seinen
Rücken, abgedreht im Stuhl (Abbildung 21), auf Seite 213 in den beiden letzten
Panels nur seine Oberlippe mit dem Hitler-Schnauz (Abbildung 22).
23 Beyer, Flughunde, 125 24 Viviana Cilese, Marcel, Beyer: Flughunde. Roman, in: Heribert Tommek et al., Wendejahr 1995: Transformationen der deutschsprachigen Literatur, (Berlin/Boston: Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2015), 337 25 Beyer, Flughunde, 130 26 Beyer, Flughunde, 239 27 Beyer, Flughunde, 195 28 Beyer, Flughunde, 210
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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So hätte man durchgehend verfahren können, Lust entscheidet sich aber anders
und zeichnet bereits auf Seite 213 erkennbar Hitler (Abbildung 22). Auch
Goebbels zeigt sie klar (z.B. Abbildung 8, oberes rechtes Panel). Dies ist ein
Schlüsselmoment der Adaption. Dazu passt ein Zitat der Figur Helga:
Ja, es gibt gewisse Dinge, die man zwar sehen, aber nicht hören darf, nicht
aussprechen, sich nicht darüber unterhalten.29
Dazu lassen sich zwei Dinge sagen: Erstens unterscheidet sich der Comic insofern
vom Roman, als dass er immer als Adaption der Wirklichkeit erkennbar, von einer
Fotografie unterscheidbar ist. Deshalb kann er Hitler und Goebbels zeigen. Mit
diesem Fiktionsmarker ist der Roman nicht versehen. In schriftlicher Sprache
29 Ulli Lust, Flughunde, (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2013), 123
Abbildung 21: Hitlerdarstellung 1 Abbildung 22: Hitlerdarstellung 2
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«Flughunde»: Romanadaption in der Graphic Novel Nov. 2017
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sind Fiktion und Wirklichkeit nicht zu unterscheiden, weshalb der Roman
verschleiert und impliziert.
Zweitens lässt sich das Zitat auf den Umgang mit der Thematik des
Nationalsozialismus übertragen, denn auch Lust setzt das implizite Erzählen ein:
Ich stelle die Gräueltaten [des Krieges] selten direkt, sondern über das
Kriegsspiel der Kinder dar, oder ich erwähne sie in den Textelementen.30
Die Projektion der Gräueltaten übernimmt sie aus dem Roman. Die Kinder spielen
«Sterben» (LF 52, Abbildung 23, BF 68f.), «spontane Aktion» (LF 118ff.,
Abbildung 12, BF 144f.) und, was in der Graphic Novel weggelassen wird, «Taub-
stummen-Aufmarsch» (BF 69). Lust nutzt Symbolik auch in eigens hinzugefügten
Szenen, zum Beispiel wenn auf Seite 268 das Bild im Bunker (anfangs wie in
30 profil, Ulli Lust: Kann alles als Comic erzählen
Abbildung 24: Bild im Bunker
Abbildung 25: Bild zeigt Bombardierung Abbildung 23: Die Kinder spielen «Sterben»
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Abbildung 24, BF 263) zum Leben erwacht und zeigt, wie draussen Bomben
einschlagen (Abbildung 25) oder wenn während Goebbels’ Sportpalastrede Leute
auf Helgas Gesicht wuchern, weil sie von der Situation erdrückt wird (LF 151,
Abbildung 26).
Als letztes gilt es Helgas Traum zu erwähnen. Auch den hat Lust hinzu-
gefügt (LF 71ff., Abbildung 27, Abbildung 28). Er spiegelt verschiedene Elemente
aus Helgas Leben wider: Als älteste Schwester trägt sie Verantwortung für ihre
Geschwister. Dass Helga Holde vom Falter mit dem Totenkopf wegholt impliziert
Helgas Versuch, ihre Schwester vom Nazi-Leben fernzuhalten. Gleichzeitig
verspürt sie ein Freundschaftsbedürfnis, weshalb sie, wie Alice im Wunderland,
dem Kaninchen in den Bau folgt. Dass sie dort wiederum eingeklemmt und an ihr
gerüttelt wird, steht für die starke Kontrolle ihrer Umwelt über sie.
Abbildung 26: Sportpalastrede
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Abbildung 27: Helgas Traum 1
Abbildung 28: Helgas Traum 2
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Der Roman verzichtet konsequent auf Markierung der direkten Rede. Die
Grenze zwischen Denken und Sprache, die im dritten Reich lebenswichtig war,
verschwimmt. Zur Illustration eignet sich eine Passage auf Seite 170:
Die Versuchspersonen werden wachgeschlagen. Leuchten Sie in den Raum.
Nur noch die Silhouetten der Figuren.
Direkte Rede steht ungekennzeichnet neben Gedachtem. Dieses Vorgehen
verschweigt, was denn nun tatsächlich gesagt wird und erweckt stattdessen den
Eindruck, in Karnaus Kopf zu sein, zu hören, was er hört, ihm zuzuhören. Und
bringt so das Geschehen sehr nah an den Leser.
Diese stilistische Eigenheit lässt sich nicht auf eine Graphic Novel
übertragen. Dass die Graphic Novel grosse Teile der Erzählstimme übernimmt,
wenn auch ausgewählt und gekürzt, kann als ein gewisses Zugeständnis an den
Roman gedeutet werden.31 Lust arbeitet im Umgang mit dem Textmaterial aber
auch klar mit comicspezifischen Mitteln. Viele davon wurden bereits besprochen,
nun soll die Umsetzung einer konkreten Passage aus dem Roman betrachtet
werden. Dort beginnt auf Seite 171 die Szene, in der die Goebbels-Kinder
zusammen mit Karnau Flughunde anschauen gehen:
Da pisst schon wieder einer, da spritzt ein feiner Strahl gleich vor mir auf
den dunklen Boden. Hinter den Gitterstäben leuchtet eine Lache. Am Anfang
hat man gar nichts sehen können, langsam aber gewöhnen sich meine Augen
an die Dunkelheit: Oben hängen die Flughunde, im Schlaf haben sie die
Flughaut fest um den Körper geschlungen. Jetzt ist einer aufgewacht: Fängt
31 Blank, Comicadaption, 114f.
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an, sich das Fell zu lecken, man kann sogar die kleine Zunge erkennen, die
über den pechschwarzen Bauch fährt. Da flattert plötzlich ein anderer
Flughund im Käfig herum, dabei hat keiner gesehen, wie er vom Schlafplatz
weggeflogen ist. Ganz schwaches Licht, damit die Flughunde glauben, es sei
schon Nacht.
Der ganze Abschnitt scheint ein innerer Monolog zu sein. Wem die Erzählstimme
gehört, ist schwer zu ermitteln. Die starke Ich-Bezogenheit liesse Helga
vermuten, die protokollartige Erzählweise («Jetzt ist einer aufgewacht: Fängt
an,…») spräche aber eher für Karnau.
In der Graphic Novel sieht die Passage auf Seite 161 folgendermassen aus:
Wegen der Panelgestaltung ist klar, dass das Helgas Perspektive ist. «Da pisst
einer!», steht als direkte Rede. Wer das sagt, scheint nicht so wichtig zu sein, es
ist eher eine allgemeine Bemerkung. Das eröffnet die Möglichkeit, dass Helga die
Abbildung 29: Übergang von Karnaus Experiment zum Kinderausflug zu den Flughunden
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Bemerkung gehört haben könnte. Die Graphic Novel kürzt den Erzähltext aus dem
Roman radikal, das Meiste leisten die Bilder: Sie schaffen durch Farben,
Dunkelheit und Unschärfe die unheimliche Stimmung, die Flughunde werden
schleichend erkennbar. Man achte auch auf den beinahe perversen Übergang von
Karnaus Experimenten zum Kinderausflug, der einen «Da pisst einer!» im ersten
Moment einer Versuchsperson zuordnen lässt. Die Graphic Novel schweigt also
auf ihre eigene Weise, indem sie zeigt.
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Fazit
Ulli Lust sagt im Interview mit profil online:
Die Akustik des Krieges mag das eigentliche Thema des Romans sein, aber
nicht das des Comics.32
Ersterer Annahme mag man widersprechen, oder sie zumindest um die Begriffe
Stille und Schweigen ergänzen. Der Roman behandelt die Akustik des Krieges, die
die Abwesenheit von Tönen miteinschliesst. Das Thema der Graphic Novel
hingegen sind die Kontraste und Interaktionen verschiedener Welten, vor allem
jener von Helga und Karnau. Dafür steht die eindrückliche Parallel-Montage
Sportpalastrede – Experimente auf den Seiten 133 bis 160, dafür gibt Lust sowohl
Helga, als auch der Zeit im Führerbunker mehr Platz. Vor der Bunkerzeit
kontrastiert Karnaus Leben in der Naziwelt mit Helgas Alltag als wohlbehütetes
Kind. Beide passen sie aber in die ihnen zugeteilten Welten nicht hinein. Helga
weiss viel mehr, als die Erwachsenen meinen. Sie weiss, dass ihr Vater beinahe
umgebracht wurde, wann ihre Eltern lügen und dass sie im Bunker sterben
werden. Karnau hingegen hat kaum Kontrolle über sein Leben, hat Mühe im
Umgang mit Menschen und zieht sich in seine Lautwelt zurück. An den
Berührungspunkten ihrer beiden Welten sind Helga und Karnau füreinander
sichere Häfen. Helga sagt von Karnau, dass er der einzige sei, dem man
Geheimnisse verraten könnte33 und Karnaus Wertschätzung von Helga kommt im
Schlussteil stark zur Geltung. Gerade auf den Seiten 354ff., während den
Berichten über Helgas Obduktion, zeigen ihn Lusts Zeichnungen viel emotionaler
32 https://www.profil.at/home/flughunde-graphic-novel-ulli-lust-kann-comic-358398 33 Lust, Flughunde, 291
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als dies der Roman je tut. Während der Sound des Nationalsozialismus der
Gegenstand des Romans ist, ist das Ausbrechen aus dem persönlichen Schweigen
der der Graphic Novel. Denn Karnau und Helga sind füreinander der Ausbruch
aus ihrer Isolation, aus dem Schweigen. Dass ihr Schweigen durch den
Nationalsozialismus bedingt ist, spielt für die Graphic Novel keine Rolle.
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Quellenverzeichnis
Primärliteratur
Marcel Beyer, Flughunde, (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1996)
Ulli Lust, Flughunde, (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2013)
Sekundärliteratur
Juliane Blank, Literaturadaptionen im Comic, (Berlin: Christian A.
Bachmann Verlag, 2015)
Viviana Cilese, Wendejahr 1995, in: Heribert Tommek et al., Wendejahr
1995: Transformationen der deutschsprachigen Literatur, (Berlin/Boston:
Walter de Gruyter GmbH & Co KG, 2015)
Scott McCloud, Understanding Comics: The Invisible Art (New York:
HarperCollins Publishers Inc., 1993)
Webseiten
Graphic Novels, Vom Türöffner zur Streitaxt, Der Tagesspiegel, Zugriff am
11.08.17, http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/graphic-novels-vom-
tueroeffner-zur-streitaxt/10144890.html
Comicstrip, der, Duden, Zugriff am 04.09.17,
http://www.duden.de/rechtschreibung/Comicstrip
Graphic Novel, die, Duden,
https://www.duden.de/rechtschreibung/Graphic_Novel
Comics, inklusive Graphic Novels, Graphic Novels, Zugriff am 04.09.17,
http://www.graphic-novel.info/?p=24746
Ulli Lust: Kann alles als Comic erzählen, profil, Zugriff am 03.09.17,
https://www.profil.at/home/flughunde-graphic-novel-ulli-lust-kann-
comic-358398
Eine Haltung des Hörens, Marcel Beyer, Zeit Online, Zugriff am 29.10.17,
http://www.zeit.de/1997/49/Eine_Haltung_des_Hoerens
Die Fratzen der Goebbelstöchter, taz.de, Zugriff am 01.10.17,
http://www.taz.de/!5067637/
http://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/graphic-novels-vom-tueroeffner-zur-streitaxt/10144890.htmlhttp://www.tagesspiegel.de/kultur/comics/graphic-novels-vom-tueroeffner-zur-streitaxt/10144890.htmlhttp://www.duden.de/rechtschreibung/Comicstriphttps://www.duden.de/rechtschreibung/Graphic_Novelhttp://www.graphic-novel.info/?p=24746https://www.profil.at/home/flughunde-graphic-novel-ulli-lust-kann-comic-358398https://www.profil.at/home/flughunde-graphic-novel-ulli-lust-kann-comic-358398http://www.zeit.de/1997/49/Eine_Haltung_des_Hoerens
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Abbildungen
Abbildung 1: Was sind Graphic Novels, www.graphic-novels.info,
Zugriff am 13.07.17
http://www.graphic-novel.info/?page_id=3032
Abbildung 2: Ulli Lust, Flughunde, (Berlin: Suhrkamp Verlag, 2013),
206
Abbildung 3: Lust, Flughunde, 55
Abbildung 4: Lust, Flughunde, 234f.
Abbildung 5: Lust, Flughunde, 82f.
Abbildung 6: Lust, Flughunde, 275
Abbildung 7: Lust, Flughunde, 276
Abbildung 8: Lust, Flughunde, 277
Abbildung 9: Lust, Flughunde, 279
Abbildung 10: Lust, Flughunde, 289
Abbildung 11: Lust, Flughunde, 49
Abbildung 12: Lust, Flughunde, 120f.
Abbildung 13: Lust, Flughunde, 109
Abbildung 14: Lust, Flughunde, 199
Abbildung 15: Lust, Flughunde, 6
Abbildung 16: Lust, Flughunde, 31
Abbildung 17: Lust, Flughunde, 59
Abbildung 18: Lust, Flughunde, 33
Abbildung 19: Lust, Flughunde, 16
Abbildung 20: Lust, Flughunde, 149
Abbildung 21: Lust, Flughunde, 207
Abbildung 22: Lust, Flughunde, 213
Abbildung 23: Lust, Flughunde, 52
Abbildung 24: Lust, Flughunde, 263
Abbildung 25: Lust, Flughunde, 268
Abbildung 26: Lust, Flughunde, 150f.
Abbildung 27: Lust, Flughunde, 72f.
Abbildung 28: Lust, Flughunde, 74f.
Abbildung 29: Lust, Flughunde, 160f.
Weiterführende Links
Pädagogisch-didaktische Aufbereitung der Graphic Novel «Flughunde»:
http://www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Schott_Flughunde.pdf
http://www.graphic-novels.info/http://www.graphic-novel.info/?page_id=3032http://www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Schott_Flughunde.pdf