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EscHA TOLOGIE UND HUSSITI SMUS Internationales Kolloquium Prag 1.- 4. September 1993 1996 Historisches Institut Praha

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EscHA TOLOGIE UND HUSSITISMUS

Internationales Kolloquium Prag 1.- 4. September 1993

1996 Historisches Institut

Praha

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ESCHATOLOGIE UND HUSSITISMUS HISTORICA, Senes Nova, Supplcmentum I .. Praha 1996

,,Antichrist" beiWyclif

Alexander Patschovsky

Ausgangspunkt der folgenden Betrachtungen ist zum einen die Beobachtung, daß Wyclifin seinen polemischen Werken sehr viel vom Antichrist spricht, und zum anderen die Tatsache, daß der eschatologische Vorstellungskreis und mit ihm das Antichrist­ Motiv in ihrer Bedeutung für die mit Hussens Namen verbundene böhmische Reformbewegung hoch ru veranschlagen sind. Es schien daher angebracht, Wyclifs Antichrist-Begriff als solchen zu untersuchen und den Bezug m der in autochthonen Ursprüngen wurzelnden hussitischen Antichrist-Konzeption herzustellen'

In Wyclifs rund 10.000 Druckseiten umfassenden Oeuvre der polemischen Schriften begegnet das Wort ,,Antichrist" und dessen Ableitungen auf etwa 550 Seiten, .. Das ist nicht eben wenig: Xerokopien der einschlägigen Stellen füllen einen Aktenord­ ner. Aber ist das, bezogen auf das Gesamtwerk, wirklich viel? Erlaubt der quantitative Aspekt cine qualitative Aussage? Die Antichrist-Bezüge verteilen sich nicht gleichmäßig auf das Gesamtwerk'. Etwas mehr als die Hälfte des Materials stammt allein aus den

1 Das Anuc.hrist-Thcma ist blSlang in der W)'clif-Literatur nicht eigens behanddt worden. Es wurde im Kontext andm gearteter Fragestellungen natürlich immer wieder berührt, freilich fast stets nur am Rande Noch am esngehenc!Slen beschäftigte sich damit im Rmmen der spaunittclaherlichcn Antimendwintcn-Polenuk Penn R. szrITY A, The Antifratcmal Tradition in Medieval Literature (PrincetorvNJ 1986) 161-172. Siebe auch A. PATSCHOVSKY, EkldCS1ologie bei Johannes Hus, in Lebenslehren und Wdtentwurfe im Übergang YO!!I Mittelalter zur Ncur.at, hg 'YOO ft Boockmann, B. Moeller und K. Stackmann (Abb. d Abd. d. Wi~. i,, Göttingen, philol.-hist Kl. 3. Folge 179, Göttingen 1989) 370-399, hier 396ft: · ·

2 BC1ll~ i'll die 36 Bände wnfassende Ausgabe der Wyclü-SOCJCty, in der ehe meisten Werke Wychls in einer freilich wenig befriedigenden Form ediert worden sind. Bei den in den folgenden Anmcrirungeil gelairzt zinerten Weden handelt es sich um· nachstehende Ausgaben: Tractatus de apo!lBI, cd!• Michaä Henry DZIEWICKJ (London 1889); T!'IICUtus de blasphemia, ed. M. ft DZIEWICKI (London 1893), Dialogus sive Speculum eeclese milltanlJS, ed. Alfred W POLLARD (London 1886 ); De civili dormruo, 4 Bde • ed. Reginald Lane POOLE [Bd. I] und Johann LOSERTI-1

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Sermo nes und dem ,,Opus evangelicum", von dessen vier Teilen die letzteren beiden ,,De Antichristo" betitelt sind', So wichtige und wnfangreiche Werke wie .De potestate pape .. und .,De ecclesia" bieten dagegen nicht allzu viele Vorkommen4• Hinwiederum gibt es kaum ein Werk aus Wyclifs Feder, wo vom Antichrist nicht die Rede ware. Schon diese Beobachtungen zeigen, daß es schwierig ware, geeignete Parameter für eine quantitative Gewichtung im Gebrauch des Wortes ,,Antichrist" bei Wyclif zu ent­ wickeln. Ein solcher Versuch würde aber ohnehin am Kern der Dinge vorbeiführen, denn nicht die numerische Frequenz, sondern die sachbedingte Pertinenz gibt einer gedanklichen Figur den geistigen Rang im Werk eines Autors. So begnüge ich mich in quantitativer Hinsicht mit der schlichten Feststellung einer relativen Häufigkeit der Antichrist-Metapher im Werke Wycli.fs. . .

Die Bezeichnung der Antichrist-Figur als Metapher enthält bereits eine Fest­ legung: Wyclifs Antichrist ist in der Substanz metaphorisch, nicht real. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die andere Halfte liegt in der eigentOmlichen Konvergenz von Metaphorik und Realität im Gebrauch der Redefigur .,Antichrist". Um dies darzutun, bedarf es einiger semantischer Ausführungen.

. Ich beginne mit Beispielen für Wycli.fs sprachliche Lust am Umgang mit dem Worte Antichrist und dessen Ableitungen antichristivur und amichristianus', Die letztere Adjektiv-Endung begegnet erst seit dem Investiturstreit, die erstere -antichris­ tivus - scheint sogar eine sprachschöpferische Leistung Wyclifs zu sein 7, analog etwa zu

[Bd. 2-4) (London 1885-1904); Tractallls de ecclesia, ed. J. WSER.111 (London 1886); De eucharistia tractatus maior, ed. I. LOSERTI-1 (London 1892}; Tractatus de officio regis, ed. A W. POUARD und Charles SAYLE (London 1887); Opus evangdiaun, 4 Teile in 2 Bden., ed. J. LOSERTII (London 1895-1896); Tractallls de potestatc pape, ed. J. WSERTII (London 1907}; Polemical Woib, 2 Bde., ed. Rudolf BUDDENSIEG (London 1883); Sermones, 4 Bde., ed. J. WSERTII (London 1887- 1890}; De veritatc same saipturae, 3 Bde., ed. Rudolf BUDDENSIEG (London 1905-1907). Um Mißverstindnis.,e m vermeiden, sei ausdrücldich angemerkt, daß die im folgenden angeführten Belep;itellen BeispieJ..Charakter habm und ~ Anspruch aufVollstlln digkeit erbeben.

3 Sermones: Antichrist -Belege auf 237 wn 1892 Seiten; Opus evangclicum: Antichrist ~Belcge auf 137 von 807 Seiten, mit deutlichem Überwicgeo des Anteils der .,De Antichristo" betitelten Teile m und IV (94:43 Belegen).

4 De pote:state pape : 18 Antichrist-Belege auf 406 Seiten; De ecdesia: 3 Antichrist-Belege auf S86 Seiten.

s De quatuo r sectis novellis, in Polemical Worb 1, 244: antichrist~ immolaciones-, Opus ev. 1, 79: antichristivus vomiluS', Senn. 2, 349: kges anJichrlstive.

6 Dialogus 16, Serm. 1,234: kx antichristiana, Dialogus 2: prelati antichristia,u. 7 Mitte11atcinisc Wörterbuch l (München 1967) Sp. 706; R. E. LATIIAM, Dictionary of

McdiC\'lll Lalin from British Sources, we. 1 (London 1975) 94 s. V • .,antichristin~ -ianus", dessen fiühes!er Beleg für 'antichristinus ' die unzutreffende Emendation für das Wyclifsche 'antichristiws' ist. Ein eigenes Lemma 'antichristiws' verzeichnet Latham nicht

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dem ganz sicher von ihm erst geprägten Adjektiv pilati~ zur negativen Charakteri­ sierung einer bestimmten Gebarung beim Urteilfällen, .

Die Junkturen mit dem Worte Antichrist weisen eine große Vielfalt auf: Die Rede ist natürlich, wie traditionell üblich, von tribulationes9 oder persecuuones" des Antichrist, auch kann nicht Oberraschen, daß er ober militesI1 und ministri12, servi", filii14 und discipuliI5 verfügt, daß discoli" zu seiner Schar zahlen und ihn satrape11

begleiten, ebensowenig daß sein Anhang als secta", pars", membrd0 oder scoki" und gelegentlich auch einmal als conf ederacio22 bezeichnet wird oder auch als exercuus", den er in die Schlacht führt Daß er versucie" vollführt, declinaciones", cecaciones" und monstruose deturpaciones", auch einmal eine nequissima blasphemitf8 bewirkt und selbst gemäß Daniel 9, 17 ein monstrum abnominabüe" ist. daß er eine eigene /e;c30

1 Dialogus 9: iudicium pi/aJivum. 9 Senn. 2, 326. 10 Senn. 2, 30. 11 Dialogus 57. 12 Senn. 2, 138: [nlati eoclesie vel vertu: ministri ,U 13 Senn. I, 37S. 140pusev. 3, 61. IS Sehr haufig. leb veraicb tc aufEinz.dbdcge. 16 Senn. 2, 28, hier in effektvoller Gegenilberslelluns der "discipuli Chris1r und der ,.dy,coli

Antichrisll .... 17 Serm 3, 373. 11 Dia1ogus 34; Serm I, 266. 19 De eccl. 4Sl; Senn. 3,374. 20 Opus ev. I, 7S. 21 De blas. 108; Senn. 2, 42; 326. 22 Senn. 2, 39. 23 Civ. dom. 4, 504; Senn. 2, 38. 24 Serm 3, 114. 25 Senn. 3. 374. 26 Senn. I, 384. 27 Senn. 2, 307. 21 De apost. 47, 149. 29 De ecd, 377. 30 Dialogus 16.

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kreiert und entsprechend als legife?1 bzw.·legislator'?-.au'fuitt;' daß von religio~\und: tradiciones", von dogma" und doctrina" sowie sentenciaP Antichristi gesprochen wird, ihm potencia3.8 zu eigen ist, er eine vita39 hat und· seine 10pfer auf eine. bestimmte via40 führt; daß signa41 auf ihn weisen - das wird man ohneSchwierigkeiten alles noch mit der traditionellen Antichrist-Metaphorik in Einklang bringen können.

· überraschender wirken; Fügungen wie Antichrisli'censure42 und excommunica­ ciones43, die er verhängen, peccatd", die erwie.eiri.normaler Mensch begehen kann/ daß ihm die Gier rtachfastum et qileJ;tum45 sowie ropacuas" zu eigen sind, als sei das - so unchristlich es sein mag - etwas eigentümlich Anticht'istliches. Verwundert könnte man auch sein, besondere hereses Anuchrtsti" erwähnt zu finden, als sei sein ganzes Wesen nicht häretisch. Betrachtet man die Epitheta omantia, die den Antichrist begleiten, so wird man sicher nicht an einem Adjektiv wie sacrilegus48 Anstoß nehmen, aber man stutzt, liest man die Fügung secularis Antichristus49, und spätestens bei einer Wendung wie cesareus Antichristus50 oder einer Sequenz wie Antichristus, prescitus sive diabolus51 ist dem Leser klar, daß Wyclifs Antichrist-Konzeption spezifisch

31 Senn. I, 175; 2, 102. 32 Senn. 2, 6Q. 33 Dialogus 67; Senn. 3, 113. 34 Serm 3, 375; Analogon sind die 'traditiones pharisaeo rum'. 35 Senn. 2, 41. 36 Senn. 3, 208f.: perversi sunt sub doctrina et dictu scolastico A.i. ; 37 Senn. 2, 421. 38 Opus ev 3, 32. w ··.

Senn. 2, 41: Sed vita A.i ostendit quod sacerdotes cesarii plus diligunt mundialia quam o.fficium evange/izandi.

40 Senn. I, 113; 2, 326. 41 ·

Opus ev 3, 135ft; Civ. dom. 4,496. 42 Dialogus 56; Senn. 2, 300. 43 Senn. 3, 16 I. 44 Opusev. I, 12. 45 Senn 3, 114. 46 Senn. 2, 228. 47 Senn. 3, 76. 48 Senn. 3, 75 .. 49 Senn. 3, 453. so Senn. 2, 300. 51 Senn. 3, 322.

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polemische Züge tragt . Denn mit dem Attribut ,,kaiserlich" brandmarkt Wyclif sonst stets die in der Nachfolge Papst Silvesters und Kaiser Konstantins stehende christusfeme Besitz- und Machtkirche, und der 'praescitus' ist nach Wyclifs ekklesiologischer Konzeption der von Gott vor aller Zeit unrettbar verdammte Pseudo-Christg)aubige, dessen Typus Judas Ischarioth tragt Den Antichrist als Glied der nachkonstantinischen Kirche oder als verlorenen Sohn der wahren Kirche zu bezeichnen, zeigt daher eine metaphorische Verwendung an, deren Bedeutungsebene nicht im eschatologischen Raum des Antichristmythos, sondern im realpolitischen Raum der zeitgenössischen Kirchenkritik zu suchen ist. Im Sinn der mittelalterlichen Allegorese ließe sich diese Opposition ausdrücken im Unterschied zwischen der anagogischen Ebene beim Antichrist als eschatologischer Figur und dem tropologischen Deutungshoriz.ont in der Bezeichnung Antichrist für Erscheinungsformen der Z.Citgeschichte52•

Ein solcher Sprachgebrauch laßt sich vielfach belegen. Zum Beispiel werden die discipuli Antichristi in der Regel sehr präzise bezeichnet als die Prälaten" oder der Klerus", bisweilen findet auch die Paarformel Prälaten und Klerus Verwendung", und einmal werden als Schülerschar des Antichrist sogar sämtliche oberen Range der Kirchenhierarchie bezeichnet - ,,Papst, Kardinale, Bischöfe und rangniedere Prälaten" - und in Hinsicht auf den Schacher im Umkreis des Bußsakraments mit den discoli perdoniste, den ,,ruchlosen Ablaßkramem", auf eine Stufe gestellt", Selbstverstandlich fehlt die Antichrist-Metaphorik nicht bei Wyclifs Anti-Ordens-Attacken und besonders scharf ist sie in seiner Anti-Mendikanten-Polemiks7• Nun ließe sich ein derart negativ gezeichneter Klerus durchaus mit einem im eschatologischen Sinne real-adventistisch gemeinten Antichrist-Szenarium vereinbaren. Aber daß Wyclif primär metaphorisch, genauemin: tropologisch dachte, dh. nicht den Mythos als Realität auffaßte, sondern die Realität allegorisierte, wird etwa an folgender Phrase deutlich: ,,Kein Prälat ist in stärkerem Maße Antichrist als der, der in Wort und Tat dieser" - d.h. einer bestimmten

52 Ich danke meinem Kollegen Ulrich Giier (Konstanz) fur lmninologische Beratung. Auf ihn geht auch der Ra!,chlag :ruriick, die Kategorien des vierfachen Schriftsinns der mittelalterlichen Bibd­ ADegorae als heuristisches Mittd einzusetzen.

Sl Opus CV. 1, 119. 54 De eod. 356 .. SS Senn. I, 97; 3S4; 396; 2, 21; 33; 38; 40 u.0. 56 Opus ev. I, 39: F,J ~m est considera;io de mercard,a vtnie omnium discipwonan Antichristi

qlli ilbldunt populo lnfideli/6 in hac fJ(ITk , auusmodi sunl pope, cordmales; episcopi et inferiores pnlali usque od discolo1 pudonistas. Howard Kaminsky übcnnittel te mir mit Blick auf I. Petr. 2, 18 ,owie auf Chauccn 'Pardoner' die tremiche englische Übersetzung 'froward pardoner' für • dyscolus perdonisla'. . '. . .

57 VJ#. etwa Senn. 1·, 24; 173; 1851[; 197; De blas. 108, wr allem De diabolo et membris eius, in: Polemical Worb I, 368( Hierzu besonders SZJTIY A (wie Anm I).

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von Wyclif postulierten - ,,Botschaft Christi 'entgegengesetzt ist"58. Allein schon die . Verwendung des Komparativs, daß jemand mehr oder weniger Antichrist sein könne,·. macht die im tropologischen Sinn verwendete metaphorische Redeweise an dieser Stelle· deutlich.

Bei weitem die meisten Vorkommen der Antichrist-Figur begegnen in der Umgebung von Papst und römischer Kurie. ·;,Gleichwie der Antichrist" besudeln die römische Kurie und die ,,kaiserlichen" Prälaten das Kirchenvolk'"; Petrus als Typus des Papstes wird in eine Linie mit dem Antichrist und dem Teufel gestellt'"; angesichts der gegenseitigen Verdammungsflilche, die· die beiden Schisma-Päpste gegeneinander ausstießen, folgert Wyclif, keiner von beiden sei Stellvertreter Christi, sondern des Antichrisf 1; der Papst befinde sich oftmals im Gegensatz zu Gott und sei deshalb ,,der größte Antichrist=", oder auch der ,,offenbare Antichrisf"'3•

Wird hier noch deutlich unterschieden zwischen dem Gegenstand selbst und seinem Vergleichsobjekt, so gibt es zahllose Beispiele eines rein metaphorischen Sprachgebrauchs, wo also .,Antichrist" gesagt wird und ,,Papst" gemeint ist, oder wo von den ,,Schillern des Antichrist" gesprochen wird und darunter konkret Prälaten und Klerus zu verstehen sind. Ich gebe eine kurze Blütenlese: ,,Der Vater der Loge" - also · Satan - ,,hat den Antichrist und alle seine Kleriker bis zum heutigen Tage mit Blindheit geschlagen", weil sie aufgrund der konstantinischen Schenkung Weltherrschaftsideen predigten und die Transsubstantiationslehre verkündeten", Dieser Antichrist ist niemand anders als der Papst. Oder. Wyclif stellt pathetisch anklagend die Frage, was denn dem Antichrist, der - analog zu den zwei blutsaugenden Töchtern in Prov. 30, 15 - lügenhaft zwei Gewalten in der Kirche für sich beanspruche, einfalle,· daß er mittels verführter Weltlicher und durch seine eigenen ,,Satrapen" diejenigen bis auf den Tod verfolge, die

SS Dialogus 12: ... mdlus prelatus est antichristus pocior quam il/e qui huic fidel est corurarius opere et sermone. Vgl auch ebd. 14.

59 Senn. 3, 68f.: Romana curia et pre/ali ce.iruii •.• et sic tamquam Antichmtus fedant plebem continue ...

60 Senn. 3, 32lf.: •.. quod homo in casu martr« debeat Anlichristwn atque diabolunt, quia in casu nutrire debet et fovere in vile necessariis propter finalem necessitaJem ilium Petrum qui tune, post et ante est Antichristus atque diabolus ...

61 Opus ev. I, 18: ... 1m11s papa severissime altert malediat; in tanmm quod signum est quod ilk papa qui a/teri mafedicit levius est de /anto minus a Domino maledictus; Uterque tarnen in hoc et aliis infinitis se indic.at llol1 esse vicarium 1-esu Christi sed vicarium precipuum Antichristi. Siehe aucli" Serm. 3, 511.

62 Opus ev. 3, I 0: Romanus ponlifa est J)(!pe Deo rontrarius et maämus AnJichristus. 63 Opus ev. 3, I 07: ... videtur Jideli/,u.s_ •. ,. quod papa sit patulus A11üchristus. 64 Dialogus 70.

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seine Falschheiten anprangerten65• In dieser Charakterisienmg der Zwei-Gewalten-Lehre fallen päpstliche Doktrin und antichristliche Wertung in eins zusammen. Oder: Wyclif spendet den von der Amtskirche verfolgten wahren Christen Trost mit dem Psalmvers (108, 28): ,,Jene verdammen und Du segnest", und er führt fort: .Dies ist die Hoffnung der Gläubigen, die keine Furcht empfinden vor den Verdammungen solcher 'Satrapen', und dies insbesondere dann, wenn sie sich nicht in ihrem Vertrauen auf die ID. Schrift vom Antichrist verblenden ließen; denn an dieser Verblendung arbeitet er una~esetzt, daß kein Schriftwort Anerkennung finde, das nicht zuvor von ihm definiert sei . " Das ist eine klare Anspielung auf den päpstlichen Anspruch auf das Letumonopol. Ein letztes Beispiel schließlich: In Senno 19 des 4. Predigtteils rechnet Wyclif mit den beiden Schisma-Päpsten seiner Zeit ab und wirft ihnen u. a. vor, ihnen fehle es gleichermaßen an caritas. Sie seien vielmehr beide dem Gegenprinzip verhaftet: der invidia. Das eine Mal spricht Wyclif von den beiden Päpsten, das andere Mal von den beiden Antichristen67• Hier liegt nicht etwa das eschatologische Konzept vom doppelten Antichrist vor, sondern Papst und Antichrist sind für Wyclif ganz einfach austauschbare Begriffe.

Solch metaphorischer Sprachgebrauch erklärt Fügungen wie epistole Anti­ christ168, ,.Papstbriefe", und scriptura apocrifa Amichristt", womit päpstliche Dekrets­ len gemeint sind, oder laßt legati a latere Anncnnsti" schlicht als päpstliche Nuntien begreifen. So auch wird ein filr das Antichrist-Szenarium ganz unpassender Begriff wie Demütigung, humiliacio11, verständlich, die dem Antichrist beizubringen die Glieder der wahren Kirche aufgefordert seien. Angesichts dieser Sachlage ist es oft schwierig auszumachen, ob Junkturen wie dogma, doctrina, sentencia oder trodicio Antichristi als bloße Negativ-Charakterisierung päpstlicher Positionen und Verlautbarungen aufzu­ fassen sind oder nicht doch den wirklichen Einbruch einer außerweltlichen Macht des Bösen bezeichnen, die sieb des Papstes und seines Klerus als Werkzeuge bedienten.

65 Senn. 2, 158: Sed sicut .,smguisuge dw Slllltftlie" (Prov. 30, 151 sic Anlichristlls menciens quod habet duas po/estates ecclesie, quid per seculores seductos et quid per satrapas proprlos usque od mortem pusequitur quosc,mque qui deta.erint SIIOSfa/lacias?

66 Senn. 2, 202: ·- .,Makdioenl i/Ji et tu benediou. " D hec ut spes .fide,;,;,,, qui non timtnt ma/ediccianes huiu.smodi .satraparvm et specialiter dum cecati non fuerint per Anlichrlstwn in Jide scripfllTe, ad quam cecocionem laborat precipue quad nulla OC<:e[M lllr satpturt aenkncia nisi ab ipso fueriJ diffinita. ' -

67 Senn. 4, 164. 68 Opus ev. 3, 272. 69 Senn. 4, 88. 70 Senn. 2, 30. 71 Dialogus 49.

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Eine solche Unterscheidung füllt um so schwerer, als neben dem synonym mit Antichrist gebrauchten Worte .Pseudo-Chrisr'" vielfach· auch die Bezeichnungen .Häretiker" und ,,Satan" für Antichrist oder Papstkirche stehen können. Ich begnüge mich mit jeweils einem Beispiel, wo die Gleichsetzung von Wyclif ausdrücklich vorgenommen wird: ·

(I) In .De civili dominio" setzt sich Wyclif ua mit dem aus dem reich und mächtig gewordenen Klerus kommenden Argument auseinander, Christus als -rex Iudeorum könne ja doch wohl nicht als derart bettclann bezeichnet werden,· daß man in seiner Nachfolge nicht ein wenig weltliche Macht, potestas civilis, anstreben könne. Wyclif verwirft diese Einstellung, die das Paradox gleichzeitiger Fülle von Reichtum und Armut in Christus hinwegzudisputieren suche, mit den Worten73: ;,In' derartige Verblendung fallen die Ketzer, von denen L Joh. 4, 3 gesagt wird, daß sie Christus 'auflösen' (so/vunt), das heißt, daß sie das Vorhandensein von Menschheit und Gottheit in ein und derselben Person leugnen. Sie alle sind Antichrist selbst," ' ·

(2) In der Schrift .De quatuor sectis novellis" spricht sich Wycliffilr die Abschaf­ fung des Papsttums aus. Das begründet er unter anderem mit folgender Oberlegung74: ,,Desgleichen ist so ein Papst - und zumal nach der aus dem Abfall von Christi Nach­ folge resultierenden konstantinischen Schenkung - allemal ein .,praescitus". Wer aber wagte es einzuräumen, daß die Erlösung eines Prädestinierten vom Regiment so eines Teufels abhinge oder vom Einfluß des Antichrist? Daher meinen einige, daß nach Einführung dieser Häresie" - gemeint ist die Annahme der konstantinischen Schenkung - ,,die Päpste die Leute scharenweise auf Abwegen zur Hölle führten, weshalb es von Nutzen für die Kirche Christi sei, solche FUhrer zu entbehren." ·

Papst - Teufel - Antichrist - Ketzer: das ist Wyclif im Grunde alles eins. Es können daher mühelos die vorgenannten Junkturen scola und dogma statt mit Antichrist auch mit dem Begriff Teufel verbunden werden 75, und für beide kann durchaus auch einmal der Stifter des Islam, Mohammed, stehen76, oder auch Judas Ischarioth" - alles Namensmetaphern eines und desselben Grundprinzips des Bösen.

72 De off. reg. 226f. 73 Civ. dom. 4, 419: (n talibus ceatatibus oadunt heretici, de quibus dicitur L Joh. W 3 quod

solvunJ Iesum; hoc esi, negant humonltalem et deitatem simul in eadem persona, qui omnes sunt ipsemet Antichristus. · • 74 De quatuor sectis novdlis c. 5, in Polemical Works, ed. RudolfBUDDENSIEG (London 1883) 257: Simihler talis papa, et specialiter post dotacionem e;x;/esie ex defecbl sequendi Cris/um, communi ter est pre!X:itus. Sed quis auderet concedere, quod salvacio predesti nati dependet ex gubernacio11e talis dyaboli vel influencia Andcristi? Idea dicitur a quibusdam, quod post induccionem istius here.sis pope duxerunt catervas multas per devium ad infernum, et sic profaisset ecclesi« Oisti talibus ductoeibus caruisse. [Zeichensetzung und Orthographie sind gegenüber der Edition leicht verändert.]

75 Senn. 2, I sor. 76 Civ. dom. I, 410: Si ergo persona vtalrix potess sic in .fide deficere, quis dubitaJ quin passet

errorem si111m in scrip/is redigere el subiectis st1is autenlicare prelenc;e? Sic enim contingit de

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Worin drückt sich dieses Gnmdprinzip des Bösen in der geschichtlichen Wirklichkeit aus? Wyclif sagt das mit unnachahmlicher Klarheit an zentraler Stelle des dem Antichrist gewidmeten 3. Buches seines ,.Opus evangelicum"78: ,.Vergleicht man die aus dem wahren Glauben gespeiste Lebensform Christi · mit der Lebensform des Papstes, so scheint es den Gläubigen ...• daß der Papst der offenbare Antichrist sei, und zwar nicht bloß die individuelle (Papst-)Person, die hauptsächlich damit beschäftigt ist, möglichst viele Gesetze auf den Weg zu bringen, die Christi Gesetz widersprechen. sondern die Gesamtheit der Papste seit der konstantinischen Schenkung, der Kardinäle, der Bischöfe sowie ihrer anderen Helfer. Das, und nur das ist der Antichrist - eine monströse Kompositgestalt!" Mit anderen Worten: Nicht ein einzelner Papst, nicht die e~n ~te als P~~en, so~m ~ ~~sttum und die von ihm repräsentierte Römische Kirche als Institutionen sind Antichrist . - 1 · •

Von dieser Definition her erschließen sich sämtliche zuvor angeführten Formen der Antichrist-Metaphorik: es sind Etikettierungen einer widerchristlichen Verhaltens­ nonn im absoluten Sinne. unabhängig von Zeit und Rawn, aber es sind keine zeichenhaften Umschreibungen eines actualiter im · Hier - und Jetzt stattfindenden oder unmittelbar bevorstehenden endzeitlichen Geschehens. Wyclif spricht das selbst

Machame to et conlinget de Anlichristo. Siehe auch ebd. 3, 74: Talem enim staJum - die Rede ist vom seculare dominium - indecenter tenuit Machome tus et indecentissime conlinuabit Antichristus, et ad eius preparacionem sunt hodie nimis pseudosatellites. quia omnes qui nituntur supprlmere evange /icom paupertatem. Die Beispiele 1ieBcn sich vcnnehren. n De pot pape 119: Secundo notandum, quad de clero necess« est Antichristum frohere suam

originem; cum enim non omnes sacerdoles cc,rfinnati sunt, necesse est, quod aliqui propter status e=llenciam codan t projundius. Sic magnu3 Antichristus fail Lucifer cum suis comp/icibus, sic magnus Antichristus fail Scorioth cum avaris 5llis sequentibus, et ita de generacione nequam, que processit Ca).,, usque ad novi.ssimum nprobum ..• Siehe auch Serm, 1, 365.

78 Opus f:V. 3, 107: ... quelibet persona simplex vel aggngata que est notah i/iter conJra Christum secundum jidem scripture dicitur Antichristus. Fx lstlJ suppo.ri to cum fide conversac ionis Christi et conversacione pope videtur fidelihus cognosc-mti hus anteoedens, quad papa sil patulus Antichristus, et non so/um ilia simplex persona que pills stabilit plures /eges conlrarias legi Christi, sed multitudo paparum a tempere dotacionis ecclesle, cardinalium, episcoponnn et suonun complicium alionan. Illa enim est Anlichrlsti penona compo.sita ""1tNTIIOStl.

79 Alllhony KENNY, Wyclif (Oxford 1985) 73(, meint, Wyclifs Anti-Papst-Kritik auf individuelle Papste einschrankcn zu kOODen. Das ist YOII Grund auf fflicehrt. Wyclifs KirdJcokritik ist stets prinzipiell und nie bloß punktuell; das eimle1Dc ist bei ibm immer nur EACbeinungsfonn eines Allgemeinen. Er ware ein meritwllrdi ger .,Realist", fflhiclte es sich anders. Nalllrlich gibt es fllr ihn virtuell - wul bisweilcll vielleicht auch einmal de lilcto - ein PapsUwn. das, in der Linie YOO Petrus stehend, nicht antichristlich m Ml1ffl Mee. Aber insofern als es sich vom Vuus der Konstaotini5dwl Schcolcung anstecken ließ, ist es eben als Institution anticbristlidl. lo diesem Sinoc bereits Herbert B. WORKMAN, John Wyclif 2 (Oxford 1926) 8 l mit Anm. 4. Ebenso P. SZITIYA (wie Anm. I). ZUm philosophischen Hintergrund YOO Wyclifs Komposit­ VOlSldlung Desmood Paul HENRY, Wyclifs Deviant Mercology, in: Die Philosop hie im 14. 1111d IS. Jahrhundert. Jn memoriam Konstanty Michalski (1879-1947), hg. von 0. Pluta {Bochumer Studien mr Philosophie 10, Amsterdam 1988) H7.

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wiederholt aus, Die eindrücklichste Stelle in ,,De potestate pape" lautet": ,,Niemand" - so führt er aus - ,,wird in der Tat mit Namen und Werle des Antichrist mit solchem Recht in Verbindung gebracht wie der Papst oder irgendeiner, der, in Abweichung vom Sinn der HI. Schrift, vorgibt, Stellvertreter Christi auf Erden zu sein. Zur Begründung dieser Aussage ist zum einen gemäß dem Sprachgebrauch der Bibel festzustellen, daß, wer immer sich gegenüber Christus und seinem Gesetz als Widersacher erweist, Antichrist zu nennen ist; und damit harmoniert die etymologische Bedeutung, da ja Antichrist von ,,anti", was ,,gegen" heißt, und .,Christus" kommt, also soviel wie ,,Gegenchristus" bedeutet. In diesem Sinn spricht der Evangelist Johannes in seinem I. Brief, Kapitel 2, wenn er sagt: ,,Ihr habt gehört, daß der Antichrist kommt, jetzt aber gibt es viele Antichriste". Und sie nennt Christus Matth. 24 ,,Pseudo-Christe", was von ,,pseudo" kommt und soviel wie ,,falsch" und ,,irreführend" bedeutet, weshalb jeder Teufel oder dessen Glied ontologisch (realiter) Antichrist ist Daher glaube ich, jenen Vorwürfe machen zu müssen, die an der Hl. Schrift vorbei davon träumen, daß der Antichrist aus dem Stamme Dan an bestimmtem Ort herrschen wird, ausgestattet mit feurigem Pferd und Wagen und anderen Phantastereien. Die Kirchenlehrer aber, die solches sagen, verwenden diese Redeweise entweder nach Art der Propheten im geistigen Sinn (mistice) oder als rhetorische Figur. Daher steht es sicher fest, daß die Kollektivperson der ,,Praesciti" ein einziger Antichrist ist, genauso wie jedes einzelne Glied, und eines davon ist ein Haupt-Antichrist, weil er von besonderer Bosheit ist." Das ist eine deutliche Absage an den Antichrist-Mythos und ein ebenso eindeutiges Plädoyer für eine rein. moraltypologische Interpretation der aus den neutestamentlichen Schriften in der theologischen Tradition namentlich des frühen und hohen Mittelalters entwickelten Antichrist-Figur81•

80 De pot. pape ll8: Romano pomifice vel quocumque alio fingenle se gerere primatum vicane poiestatis Christi in terns; ab eius semita dedinanle secundum sensum scripture nut/us plenius vel periculosius gerit de facto nomen et opera Antichristi. Pro declaracione istius setuencie notandum est primo secundum modum loquendi scripture: Quod quicumque est Christo wl /egi sue conJrarius, dicitur Antichristus, et roncorda/ literalis composicio, cum Antichristus dicitur ab .,anJi ", · quod est .,contra", et ,.Christus", quasi contra Christum. F,J isto modo loquitur Evangelista in prima epistola .111a canonica II cap. /8: .,Et sicut audistis", inqui~ .,quia Antichristus venu, nunc antichristi multi facti sum". Et i/los vocat Christus Matth. XXIV cap. ,.pseudochristos" a .. pseudo", quod Latine dicitur .falsus" vel .,decipiens", et sic quilibet dyabolus vel membrum eius est realiter Antichristus. Unde Videtur michi illos esse culpandos qui preter auctoritatem scripture sompniant quod de tribu Dan in illo loco cum equis et curru igneis et ceteris ficticiis dominabitur Antichristus. Doctores autem qui sic loquuntur, vet ad modum loquendi propheticum wq,nmtur mislice, vel videntur ad modum concionatoris fingere. Cerium est itaque quod persona prescitorum aggregata est unus Antichristus, sicut quodlibet [Edition: quotlibet] membrum eius, et il/ius erit unus capita/is in malicia p/11s accensus .•. [Zeichensetzun g und Orthographie sind gegenüber der Edition teilweise verändert.] - Vgl. im übrigen auch De pot. pape 188 und 322. ·

81 Allgemein zu dieser Tradition Richard Kenneth EMMERS ON, Antichrist in the Middle Ages. A Study of Medieval Apocalypticism, Art, and Literature (Seattle 1981); ebd. 71 zu Wyclif(freilich bei Anm. 104 mit einem Bdeg. der schwerlich den authentischcn·Wyclif zum Inhah hat). Der Begriff .,moraltypologisch" ist eine Neuprägung, die - innerhalb des Kategoriengerüsts der mittelalterlichen

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Man könnte meinen, daß man es bezüglich der Verwendung der Antichrist-Figur bei so eindeutiger Aussage und einem insgesamt zu dieser Aussage sich fügenden Sprachgebrauch bei der Feststellung von Wyclifs rein moralisch-metaphorischer im Gegensatz zu einer real-eschatologischen Redeweise bewenden lassen könnte. Dazu würde sich im übrigen fügen, daß Wyclif trotz ausdrücklicher Anteilnahme am mißlichen Geschick Joachims von Fiore, von lnnocenz ITI. auf dem 4. Laterankonzil zum Erfinder ketzerischer Lehren gestempelt worden zu sein82, die eschatologischen Spekulationen Joachims und seiner Nachfolger klar und unmißverständlich verwarf". Dennoch gibt es bei ihm Formulierungen, die nicht frei sind von einer adventistischen Erwartungshaltung. Etwa wenn er in ,,De fundatione sectarum" bei seiner Auseinander­ setzung mit den Orden in Aufuahme von Wendungen des l. Johannesbriefs'" ausruft: ,,Jeder Geist, der Jesus 'auflöst', ist nicht aus Gott, und das ist der Antichrist, von dem Ihr hörtet, daß er kommt und jetzt schon in der Welt ist". Was heißt ,jetzt"? Eine vom Keim der konstantinischen Schenkung verderbte Kirche hätte nach Wyclifs Konzept zu seiner Zeit schon 1000 Jahre unter der Herrschaft des Antichrist gestanden haben müssen. Da will das gegenwartsbezogene ,jetzt'' nicht so recht passen.

Einer adventistischen Haltung am nächsten kommt Wyclif in seiner bitterbösen antimendikantischen Polemik in der Schrift ,,De solutione satanae"8s. Dort interpretiert er, wie der Titel des Werkes schon zu erkennen gibt, in Auseinandersetzung mit den Mendikanten die Prophetie der Johannes-Apokalypse c. 20, 2-3, daß Satan nach 1000 Jahren von seinen Fesseln gelöst werde. Einern echten Chiliasmus reden weder Wyclif

Allegorese - die tropologische Bedeutungsebene mit der ereignisgeschichtlich bestimmten typologisch en Betrach tungsweise iu verbind en sucht, denn gerade diese Verknüpfung scheint mir für Wyclif kennzei chnend. Wollte man diese Fügung in ein Bild fassen, so gäbe es im Falle von Wyclifs .,Antichrist" nichts Geeigneteres als die Figur des Papstes als Antichrist am Schluß der Bilderfolge der "Tabulae veteris et novi coloris" im Codex Ienensis(s. u. S. 106 mit Arnn. 98), wo Typ (Antichrist ) und Antityp {Papst) aufs Sinnfllligme vereint sind. Ich sliltze mich bei der Begriffswahl vornehmlich auf drei Aufsätz.e von Friedrich OHL Y: Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter (1958); Einleitung iu des Hieronym~ Lauretus "Silva Allegoriarum totius Saaae Scripturae" (1971); Synagoge und Ecclesia Typologisches in mittelalterlicher Dichtung (1966), alle drei Beiträge vereint in: Ders., Schriften 7UT mittelalterlichen Bedeutungsforschung (Dannstad t 1977) lff., 156ff., 312ff. ,

'. ···t- .. '.0 ;, : ... ll' . 82 De eucharistia c. 9, S. 278: ••• contra abbaJem loachim et alios irreligiose processit. Subjekt des Satzes ist Innocenz Ill, auf den als ,.Erfinde!" des Transsubstantiationsdogmas Wyclif an dieser Stelle eine· Generalattacke führt. · ' · ';' ·· · :

·' '83 Senn. 1, 85: ... exjide sumuscertissimi ~ti~~est dies iudicii; sed quardo et quam i.i$ianter ab hoc ins/anti, oportet nos secundum docfrinam 'ei,a,igelii ignorare... Unde stulü et curios/ qui circa hoc se mne "SO/ücitant sunt raciunahiliter increpandi. In cuius signum Deus cecavit eorum noticiam, 11t [XZlet de abbate loachim et aliis; qu/ir;iica tssam maieriam inaniter <se> intromittunt. Salubris enim est·hec nesciencia.commixta cum hat:.fidei noticia, utjideles instancius vigilarent ... Dazu Opus ev. 3, 216: F,t hoc ignorarunt caJcu/aJores presumptuosi, ut abbas loachim et ceteri qui prophe tando de die iudicii lurpiter defecenmt Vgl. LOSERTII, Einleitung zu Opus rN. 3, S. V.

84 1. Joh. 2, 18 und 4, 3. 85 Polemical Worb 2, 392-397.

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noch seine Gegner das Wort, aber ihre Deutung der 1000-Jahr-Metapher ist doch sehr unterschiedlich, zumin dest Wyclifs Argumentation zufolge. Er unterstellt den Bettelorden, sie behaupteten, die kirchliche Welt. der Gegenwart sei grundsätzlich in Ordnung, weil der Satan eher im ersten als im zweiten Jahrtausend von seinen Banden gelöst worden sei, erkennbar am Ausmaß der Verfolgungen, die die Urkirche habe erleiden müssen, im Vergleich zum zweiten Jahrtausend, wo die Kirche, abgesehen von den Angriffen einiger Ketzer, von Drangsalen weitgehend unbehelligt geblieben sei. Wyclif hingegen folgert aus seinem tropologischen Verständnisansatz der Antichrist­ Metapher, daß die 1000 Jahre dann vergangen seien, wenn Satans Gesinnungsfreunde auf Erden dominierten. Das nun sei erst geschehen, als ,,die vier falschen Sekten" - worunter er die ,,kaiserliche" Weltgeistlichkeit mit dem Papst an der Spitze, die Mönchsorden, die Kanoniker und die Bettelorden versteht" - historisch in Erscheinung getreten seien, d.h. in nachkonstantinischer Zeit In diesem Zusammenhang verwendet Wyclif den Begriff der .notabüitas", der Auffälligkeit, als Kriterium für die Wirksamkeit der satanischen Macht und deutet damit das Millennium als eine relative Größe: Im ersten Jahrtausend sei der Satan so: dann und wann gelöst worden, aber im zweiten Jahrtausend, als die ,.vier Sekten" die Herrschaft angetreten hätten, da sei das in viel stärkerem Maße der Fall gewesen. Teilweise Bindung Satans noch im ersten, wörtlich zu verstehenden Jahrtausend christlicher Zeitrechnung, gänzliche Entfesselung Satans im ,,schändlichen" zweiten Jahrtausend - das ist Wyclifs Chiliasmus-Konzept Jn der Vermischung metaphorisch-tropologischer und buchstäblich zu verstehender eschatolo­ gischer Elemente ist das nicht gerade sehr stimmig.

Die Schwierigkeiten kommen freilich nicht von ungefähr, Sie liegen in dem Umstand begründet, daß Wyclif mit seiner Interpretation zwar auf die Abwehr einer Auslegung zielte, die der chiliastischen Prophetie jegliche Bedeutung für die eigene Gegenwart absprach, aber daß er den Chiliasmus dennoch nicht als Signum einer selbständigen Zeitepoche gewertet wissen wollte. Daher der seltsame Kompromiß, die IO00-Jahr-Prophetie zwar im Einklang mit der Tradition als bloß metaphorisch zu deuten, sie andererseits aber doch im tealen Geschichtsprozeß als eine zunehmend aktuell werdende Größe im Hier und Jetzt zu veiankem. Sie durfte wiederum nicht so konkret sein, daß aus seinem zeitlof ~tigen moraltypologischen Ansatz ein nach dem Antichrist-Mythos modelliertes Konzept geworden wäre, das einen Antichrist-Aufuitt von zeitlich nur begrenzter . Wirksatnkefr: vorsah.·. Welchen Grad an Aktualität maß Wyclifdann dem Auftreten Satans und Antichrists bei? Das zweite Jahrtausend hatte zu seiner Zeit schließlich auch. schon beinahe 400 Jahre gedauert. Anders formuliert; Wie nah filhlte sich Wydif'deID J(lngsfen ®{chfund dem Ende der Welt, das der Lösung

. Satans nach einem .,niodicurn tempus" (Psalm. 37, 20). folgen sollte? Das ist so ganz klar nicht Einerseits spricht er sich dafür aus, die ,,mäßig lange" Zeitspanne des antichristlichen Wirkens in Relation von der Erschaffung der Welt bis zur Lösung Satans

86 Die Definition am eindeutigsten ebd. 395f.

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sowie vom Jüngsten Gericht bis zur Ewigkeit der Zeiten zu bemessen"; ein Zeitraum von 400 Jahren ware da nicht eben viel, nicht einmal ein drittes Jahrtausend Andererseits nennt er aktuelle Vorkommnisse wie die F1andemeinflUle der Englander im Hundertjährigen Krieg eine der Erscheinungen antichristlicher Wirksamkeit und setzt sie mit jenen Kriegen in Verbindung, die Christus für das Ende der Welt geweissagt habe". Also doch Naherwartungshoriz.ont?

Ja und Nein! Wyclif ist in einem eigentümlichen Dilemma. Theoretisch ist alles klar, wird jeder Form chiliastischer Spekulation auf ein baldiges Weltende eine urunißverstandlichc Absage erteilt Aber wer wie Wyclif seine Kirchenkritik derart auf die Spitze treibt, daß die Gegenwart die Qualität nie dagewesener Drangsale antichristlichen Wirkens erhält, der gerat in den Sog seiner eigenen Rhetorik und evoziert zumindest in Form verbaler Aquivokation den Horizont einer endz.eitlichcn Naherwartung, den er an anderer Stelle explizit leugnet So fordert Wyclif die Christgetrcuen auf, gerade jetzt dem Armutsgebot Christi gehorsam zu sein, weil man das ganz besonders am Ende der Zeiten tun messe, denn dann sei des Teufels Versuchung zur Habgier am großtcn119; oder er konfrontiert das Wirken des Antichrist mit dem Wirken der Pharisäer und transponiert den Vergleich auf die Zeitebene Christi Geburt dort, Christi Wiederkunft hier'°; oder er erklärt pathetisch, daß, wie zur Zeit Christi die Apostel in den Synagogen gegeißelt worden waren, so worden jetzt, wo die Zeit des Antichrist unmittelbar bevorstünde, die im Geiste der Apostel wirkenden Männer durch Exkommunikation. Verleumdung und vielfältige Bedrohung in der .,Synagoge Satans" - Synonym für die Herrschaftskirche seiner Zeit - drangsaliert91• Diese Beispiele mögen genügen, Sic zeigen hinreichend, daß Wyclif ungeachtet seiner Absage an chiliastische oder überhaupt an eschatologische Spekulationen ein endzeitliches Bewußtsein im adventistischen Sinne keineswegs fem lag92•

87 Ebd. 397: Nam in comparaclone ad tempus a mundi excrdio usque illuc et in comparacione ad tempus a die iudicii usqw ad perpetuitatem seculi part hunc diem illud tempus; in quo Anticrist"s regnabit, mt modicum.

11 Ebd. 396: Sic enim per Gog et Magog Anglici invadentts F1andriam pugnavef11111, et sic est de bei/is a/iis, que Clristus prophttat esse falllra in fine seadi. Gog war ruvor als der Papst identifiz.iert worden, Haupt des "dcrus cae.weus", qui est nobis occiduis pncipuus antiaistus, Magog mit den drei anderen "Sekten", Antichrists ,,$chülcrn".

19 Dialogus 16: ldeo, Cllllf lanJa sll racio perpetllacionis hMius legis Christi "t palet de slalll tnnoomcie et slal1I glcrle, patet quad ista lex Christi dtbel precipue in novi.ssimis temporibus observari : blnc enim diabolus phis lemplal homines ad tll'Clriciam. ·

90 Senn. 2, 1S7. 91 Senn. 2,229£: F.I sicut intemp<Jre CJrtsti insynagogisapo.stolifaeran1jlogellati, sic iam modo

inrlanle tempore Antichristi viri aposto/ict exrommunicocione, exprobracione et mlnacione multiplici in synagogis satane allCianlw-. Der gesamte KonteKt der Stelle ist ~g. , ..

92 In diesem Sinn auch P. SZIITYA (wie Anm. I) 167ff. Zur Problematik angehend« Beryl SMAllEY, The Bible and Eternity: John Wyclif's Dilemma (1964; zitiert nach: Dies, Studies in Medieval Thought and Leaming From Abdard to Wyclif [London 1981] 399-4 I 5).

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Resümieren wir die bisherigen Ergebnisse! . Wyclifs Antichrist-Konz.eption läßt sich in der Substanz als moraltypologisch klassifizieren. insofern als unabhängig von Zeit und Raum eine Welt dann und in dem Maß als antichristlich zu gelten habe, wenn und soweit sie sich gegen Grundgebote Christi versündigte. Das ist ein in sich schlüssiges Konzept, das die Welt aller Zeiten in Schwarz-Weiß-Manier aufteilt in Gut und Böse, in .,Praedestinati" und ,,Praesciti", in die Welt Christi hier und die Welt Sa­ tans, Antichrists und seiner ,,Membra" dort. Ein an sich zeitunabhängiges, dualistisches Konzept! Die Zeitkomponente bereitet Wyclif Schwierigkeiten, denn das Antichrist­ Konzept der neutestamentlichen Schriften enthält nun einmal eine futurische Aussage für das Ende aller Zeiten, so daß, wer die .,Signa" des Antichrist in seiner Gegenwart zu erkennen vermeinte, sich nicht gut der Folgerung entziehen konnte, auch buchstäblich in der Letztzeit angekommen zu sein. Das ,,Heute" und das .Jetzt" aber sind Kategorien, die sich im Zeitbewußtsein des einzelnen Menschen nur schwer mit Zeiträumen, die mehr als eine Lebensspanne umfassen, in Einklang bringen lassen. So fließen Wyclif immer wieder Wendungen in die Feder, die sein moraltypologisches, zeitunabhängiges Antichrist-Konzept konterkarieren. Sie entsprechen indessen der inneren Logik des auf die neutestamentlichen Schriften sich stutzenden Antichrist-Mythos. Daraus folgt: Wer mit der Antichrist-Metaphorik spielt, wird leicht ihr Gefangener. Den laßt die Spannung zwischen der zeitbegrenzten, auf Verwirklichung im Hier und Jetzt drängenden existentiellen Erfahrung einer individuellen Persönlichkeit und der intellektuellen Einsicht in das quasi kosmische Prinzip vom Kampf des Guten mit dem Bösen zu Artikulationen finden, die den moralischen Imperativ einer allzeit gültigen Anweisung rum Widerstehen des Bosen verbindet mit dem dynamischen Schwung einer Kampfes­ haltung, die einen temporär zu denkenden Endsieg unmittelbar vor Augen hat.

Es ist nicht leicht zu ergründen, was eine eschatologisch bestimmte religiöse Strömung wie die der Taboriten veranlaßt haben mochte, die für das Mittelalter typische attentistische, und dh. passive eschatologische Erwartungshaltung in eine aktivistische umschlagen zu lassen93• Wyclifs Antichrist-Konzeption mit ihrer eigentOmlichen Spannung moraltypologisch-zeitloser und apokalyptisch-endzeitlicher Elemente könnte eine Erklärung dafür bieten. Sie deckt sich nur bedingt mit den prahussitischen Antichrist-Vorstellungen eines Militsch von Kremsier und Matthias von Janov"; diese erklären jedenfalls nicht in vollem Umfang die auf Aktion hindrangende eschatologische

93 Zu der im Bereich der Kulturphilosophie und· neu.zeitli chen Geschichte geführten Diskussi on um

eine Wesensbestimmun g von Eschatologie und Utopie vgl. A PATSCHOVSKY, Chiliasmus und Refonnation im ausgehenden Mittelalter, in Ideologie und Herrschaft im Mittelalter, hg. von Max Kerner (Yrege der Forschung 530, Darmstadt 1982) 475-496, hier 485.

114 ~etüas.,end dazu Jana NECHlJI'OV A, Eschatologie in Böhmen vor Hus, unten S. 61- 72.

Siehe auch Amedeo MOLNAR, Eschatologickä nadije ~e reformace, in 0d reformace k zitflcu, hg. von Jösef L;' Hromadka (Praha 1956) 13-101, zu Tabor 32f. [deutsche Fassung: Die eschatologische Hoffilung der böhmischen Refonnation, in V on der Refonnarion zwn Morgen (Leipzig 1959) 59-188, m Tabor 88f.].

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Gedankenwelt des Hussitismus und insbesondere des Taboritentums95• Naher steht, wie so oft, möglicherweise auch hier Wyclit96. Nicht nur, daß seine Antichrist-Metaphorik und ihre Applikation auf die vom Papst dominierte Herrschaftskirche seiner Zeit bereitwillig von Hus und seinen Jüngern im Zuge ihrer Rezeption der polemischen Werke Wyclifs mit übernommen wurde97• Sondern darüber hinaus gibt es frappante Übereinstimmungen mit dem wohl bedeutendsten Zeugnis agitatorischer Wirksamkeit hussitischen Gedankenguts in breiteren Volksschichten. Gemeint sind die .,Tabulae veteris et novi colons", jene den Spruchbändern moderner Demonstrationszüge verwandten Tafeln. deren Agitationszweck augenfällig ist Als ihr Autor konnte Nikolaus von Dresden namhaft gemacht werden; datiert wird das Werk auf ca. 141291. Seinen künstlerisch vollkommensten Ausdruck fand es bekanntlich in der Bilderfolge des fi.ilhercn Codex Jenensis",

In den ,.Tabulae.. wurden in einer Sequenz von neun Bildern (.,tabulae") schlagende Divergenzen zwischen der Urkirche und der nachkonstantinischen Papst­ kirche augenfällig ZlDD Ausdruck gebracht. So wird etwa im ersten Bild der sein Kreuz

95 Dazu grundlegend Howard KAMINSKY, Nicholas of Pelhfimov's Tabor: an Advenrure into the Esdiaton, witen 139-167; ebd. 143, Anm. 12 der Hinweis, daß der in Wyclifs Tradition stehende Apokalypsen-Kommentar "Opus arduum wide", datiert auf 1390, von Nikolaus von Pdhfimov dirdtt benutzt wurde; ebd. 146 mit Anm. 22 Ober die Bedeu tung von W'jdif und Hus als Vorläufer des Taboritco tums in N'ikolaus' Sicht.

96 Man darf sich dabei nicht von dem Umstand irre machen lassen, daß Wyclifs Name im späteren Hussitismu!, d.h. etwa seit Jan Pfibrams A11acken 1420, nicht mehr überall hoch im Kurse stand. Sein Einfluß - nicht zuletzt durcll Peter Payne- auch auf Tabor i.11 unbestreitbar Vgl. Fran~ SMAHEL. ,.Doctor ewngelirus super omnes ewngclista:t: Wyclif s Fortune in Hussite Bohemia, Bulletin of the Institute of Historical Research 43 (1970) l&-34, bes. 31ft'.; daru Maurice KEEN, The Influence of Wyclif; in Wyclif in lfia Times (Oxford 1986) 127-145, bes. S. 129, 136f£

'f7 Vgl etwa Hus, De ecclesia c. 13, ed. S. Harrison rnoMSON (Praha 1958) 103: D tune de Antichristo pam; quia omnis papa VMns oonlrarie Christo, sicvt et quilibet homo pervasvs, dicitur comuniler Anr/c/ristu.s... lnhaltlich gleichlauten d d« Apokalypsenk oounen tar des Nikolaus von Pdhi'imov, zitiert YOO H. KAMINSKY, witen 152, Anm. 47.-Allgc:mcin SMAHEL (wie vorige Anm.).

91 Master Nicholas of Dresden : The Old Color and the New. Selected Works Contrasting the Primitive Church and the Roman Church, Edited, Annocated, and Transla!cd by Howard KAMINSKY, Dean Loy BilDEBRACK, hnre BOBA, and Patricia N. ROSENBERG (Tran.w::lions of the American Philosophical Society N.S. 5S, 1, Philadelphia 1965). Zu Autor und Datierung cbd. 9f. sowie 36£ Zuletzt zur Sache Frantikk SMAIIEL. Die Tabulc vctcris c:t novi coloris als audiovisuell es Medium hussiti.di« Agitation, Studieo rukopisech 29 (1992) 9S-105.

99 Prag, Nationalmuseum. Cod. IV B 24. Die gründlichste Bcschretbung lieferte Miloslav VLK, Paleograficky rozbor JenskBio kodcxu, Sbomik historicky 14 (1966) 49-74; Ders ., Scnsky kodee - kodikologiclcy rozbor, Sbomilt Nirodniho muz.ea A/21 (1967) 73-106. Vgl. dazu noch den Nachtrag Dess , Traktat .,l.rcad)o dole• v JtllSkem kodexu a jcho pllwd, in Traditio et Cullus. Miscdlan ea hislo­ rica Bohemica, Miloslao Vlk archiepisoopo Pragmsi ab c:iu., coDegis amicisque ad aruwm sexagesimum dedicala (Praha 1993) 79-90.

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tragende Christus dem auf einem Zeller reitenden Papst gegenübergestellt'?', der Demutsgestus von Gottes Sohn wird also effektvoll in Kontrast zu dem Herrschafts­ gestus seines vorgeblichen Stellvertreters gesetzt In Wyclifs Traktat ,,De Christo et suo , adversario Anticbristo" sowie im 3. Teil des ,,Opus evangelicum" - das ist das l. Buch über den Antichrist - finden sich zwölf bzw. acht gleichartige Gegenüberstellungen'?'. · Die Übereinstimmungen reichen bis in den Wortlaut, wie Howard Kaminsky herausgefunden hat102• Die ,,Tabulae" sind daher nicht nur Geist vom Geiste, sie sind sogar Fleisch vom Fleische Wyclifs (wenn das etwas gewagte Bild gestattet sei). Hus könnte im übrigen auch hier der Vermittler gewesen sein103

• . ..

Die Kompatibilität der Antichrist-Konz.eption Wyclifs mit jener der hussitischen Reformer dürfte in ihrer auf Veränderung der bestehenden Verhältnisse zielenden Radi­ kalität deutlich geworden sein. Das kann niemanden t1berraschen, der die Bedeutung dieser Kooz.eption für die Artikulation von Wyclifs ekklesiologischen Vorstellungen würdigen gelernt hat und dem bewußt ist, in welch exzessivem Maße die böhmischen Reformer ihre Gedanken und Parolen bei Wyc;lif vorgeformt fanden und \IOD ihm übernahmen. Eher könnte überraschen, daß Wyclif auch für jene Strömung das gedankliche und sogar propagandistische Rüstzeug bereitgehalten hat, die als das genuin böhmische Element an der bussitischen Bewegung gilt Das ist das Bewußtsein, den Kampf um die Reform der Kirche im Augenblick ihrer höchsten Bedrangnis zu fllhren - dh. in hora novissima; in dem Augenblick, wo der Antichrist als eine endz.eitliche mythische Größe in F.rscheinung treten sollte.

100 Vgl. die Ausgabe von KAMINSKY u. a. 38. lOI De Chri,to et suo advmario Antichristo c. 11-1S, in: Polanical Worb 2, 633-692, hier 679-

691; Opus f!Y. 3, 1))£ 102 KAMINSKY u.a., Muter NICOias of Dresden 10 mit Anm. 37. Unter den dort gegebenen

Belegen fehh freilich gerade das Opus evangeliwm. 103 Vf!). Hus, De eocl. t 16,217; siehe A PATSCHOVSKY (wie Anm. I) 398 mit Anm. 83.

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