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1 Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Thomas Frühwald Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel Forum Palliative Geriatrie Albert Schweitzer Klinik Graz, 13.April 2011 Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Inhalte Was ist Ethik? Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen? Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende Was kann, was soll die Geriatrie? Seite 2 Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

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Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende

Thomas Frühwald Abteilung für Akutgeriatrie des Krankenhauses Hietzing

mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel

Forum Palliative Geriatrie Albert Schweitzer Klinik

Graz, 13.April 2011

Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Inhalte

•  Was ist Ethik? •  Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen? •  Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende •  Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende •  Was kann, was soll die Geriatrie?

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Was ist Ethik? nach E.H.Loewy

•  Ethik ist eine Disziplin der Philosophie, welche versucht, die Frage „Wie soll ich handeln, wenn es einen anderen betreffen könnte?“ in den Raum zu stellen.

•  Ethik fragt (theoretisch) nach dem „Guten“ und nach dem „Schlechten“, für gewöhnlich aber nach dem „Schlechten“ und dem noch „Schlechteren“...

•  Ethik befasst sich sowohl mit allgemeinen Richtlinien und Regeln, als auch mit Problemen in Einzelfällen. Dabei bedient sie sich der Werkzeuge der Philosophie.

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Was ist Ethik?

•  Nicht persönliche Moral - diese ist von Religion,Gewissen Weltanschauung, Tradition, Kultur, bestimmt und abgeleitet.

•  Ethik trachtet gemeinsame Nenner zwischen verschiedenen Weltanschauungen, Religionen und Kulturen zu finden und dort wo möglich gemeinsame Richtlinien vorzuschlagen.

•  Ethiker sollen nicht „Antworten“ liefern... Sie sollen Vorurteile hinterfragen, Begriffe darlegen, auf Evidenz basierende Fakten einfordern, auf genaue Definitionen bestehen, beim logischen Durchdenken des Problems helfen. Sie sollen systematisch, strukturiert Fragen stellen.

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Was ist Ethik?

•  In der säkularen und pluralistischen Gesellschaft ist die Ethik von allen religiösen und weltanschaulichen Prämissen freizuhalten. H.Pauer-Studer, 2003

•  Wo die Moral sagt „Du sollst das lassen!“, fragt die Ethik „Warum? Warum soll ich moralisch sein?“ P.Kampits, 2009

•  Ethik im weitesten Sinn ist nicht wie Moral eine Ansammlung von Geboten und Verboten, sondern eröffnet als eine reflexive Wissenschaft bezüglich der Ziele unseres Handelns ein weites Feld: Fragen nach dem Sinn unseres Handelns, Fragen wie mit anderen umzugehen ist... Wie wir mit Gut und Böse umgehen sollen. P.Kampits, 2010

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Spezifität der Geriatrie Warum Beschäftigung mit Fragen der Ethik in der Geriatrie?

•  Umgang mit sehr vulnerablen Menschen. •  Umgang mit Menschen, die zunehmend in ihrer Selbständigkeit

und Autonomie behindert und deshalb hilfsbedürftig sind. •  Umgang mit Menschen am Ende ihres Lebens - der Tod sollte

nicht der absolute Gegner, nicht Symbol des Versagens sein, wenn er eintritt.

•  Betreuung von Menschen in einem Umfeld, welches von ihnen oft nicht freiwillig gewählt wurde - nicht nur einen kurzen Ausschnitt ihrer Biographie lang, sondern meist während ihres gesamten letzten Lebensabschnitts.

  Beschäftigung mit Fragen der Ethik – als Suche nach Prinzipien und Grundlagen für ein gerechtes, sinnvolles, vernünftiges, einsichtiges, gutes, gütiges Handeln...

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Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Inhalte

•  Was ist Ethik? •  Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen? •  Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende •  Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende •  Was kann, was soll die Geriatrie?

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Ethische Prinzipien Grundlagen der ethischen Entscheidungsfindung Beauchamp & Childress, Principles of Biomedical Ethics,1994

•  Benefizprinzip: Wohltätigkeitsprinzip. Verpflichtung Gutes zu tun, zum Wohl der Kranken zu handeln.

•  Non-Malefizprinzip: Nichtschadensgebot, Verpflichtung Schlechtes abzuwehren, nicht zu schaden.

•  Autonomie: Verpflichtung, die individuelle Persönlichkeit und deren Recht auf unabhängige Selbstbestimmung zu respektieren, wenn es um deren eigene Lebensprojekte, sowie physische und psychische Integrität geht.

•  Gerechtigkeit: Verpflichtung, Diskriminierung zu vermeiden, nicht auf Grundlage irrelevanter Merkmale zu unterscheiden. Verpflichtung, Ressourcen gleich, nicht willkürlich zu teilen (Verteilungsgerechtigkeit).

  Spannungen zwischen diesen Prinzipien sind nicht immer auszuräumen, man muss sie manchmal auch „produktiv aushalten“ können. Gian Domenico Borasio,2006

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen nach E.H.Loewy

•  Fragen, die zunächst gefragt werden sollten: -  Wer ist berechtigt, eine Entscheidung zu treffen? -  Wer wird hier behandelt?

•  Falsche erste Frage: Was sollen wir tun? (z.B.: „Sollen wir eine PEG-Sonde legen?“)

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen

Prinzip der Reiseplanung…

Ethiker = Reiseberater mit 3 Fragen in fixer Reihenfolge:

1. Wo sind wir? (Wo fängt die Reise an?) 2. Wo wollen wir hin? („Quo vadis“ Frage…) 3. Wie kommen wir zum gewünschten Ziel?

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen

1.  Wo sind wir? medizintechnische Frage…

•  die ÄrztInnen, Pflegepersonen, TherapeutInnen … informieren über die Situation: Diagnose, Prognose, noch zu klärende Probleme

•  der Ethiker/die Ethikerin muss sicher sein, dass wirklich Experten die Fragen beantwortet haben und dass der Patient und die Angehörigen informiert wurden

•  bei Uneinigkeit des Teams in sachlichen Fragen kann der Ethiker nicht helfen

Gute Ethik beginnt mit guten Fakten.

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen

2. Wo wollen wir hin? Die „quo vadis“ Frage…

•  nur wenig medizintechnisch… der Arzt/die Ärztin erstellt die Prognose, sagt was „im besten“ und was „im wahrscheinlichsten Fall“ geschehen wird

•  hauptsächlich biografische Frage: individuelle Werte, Lebensgeschichte, Lebensziele des Patienten bestimmen die Antwort

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen

3. Wie kommen wir zum gewünschten Ziel? Welche Mittel zum Erreichen des Ziels gibt es?

Eine „technische“ Frage, mit der allzu oft begonnen wird.

Die Verbindung zwischen den 3 Punkten - Fakten, Ziel und Mittel zum Erreichen des Ziels - wird relativ einfach zu machen sein

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen Entscheidungsfähigkeit und kognitive Kompetenz?

Kriterien, Vorbedingungen der Annehmbarkeit eines Entschlusses

•  Genügend Wissen: der Patient/die Patientin muss die Fakten verstehen, er/sie muss die Optionen verstehen (z.B.: was passiert bei Behandlung / bei Nicht-Behandlung), klar und deutlich sagen, welche der Optionen er / sie bevorzugt...

•  Genügend Zeit zum Überlegen

•  Kein Druck, oder Zwang

•  Authentizität: er/sie muss eine Erklärung (warum er/sie das eine, oder das andere vorzieht) im Einklang mit den eigenen Werten geben können. Es ist gleichgültig, ob man selbst damit übereinstimmt, oder nicht…

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Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen Beim Fehlen von Entscheidungsfähigkeit, bzw. kognitiver Kompetenz hilft:

•  Frage nach dem mutmaßlichen Willen: •  Hinweise durch Angehörige, durch v. Pat. früher

designierte Stellvertreter •  Tatsächliche Funktion der („beachtlichen“)

Patientenenverfügungen...

•  Frage, was der Patient bestimmt nicht wollen würde: Schmerzen, Hunger und Durst spüren, Kälte, Entblößung, verlassen sein…

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Eingeschränkte Einwilligungsfähigkeit nach Hick C: Klinische Ethik. Springer, 2006

•  Die Einwilligungsfähigkeit ist gerade in der Geriatrie oft nur graduell gegeben. Es genügt aber, wenn sie für die aktuell anstehende Entscheidung ausreicht.

•  Aus ethischer Sicht soll eine der Situation angepasste Patientenaufklärung auch bei nur eingeschränkt entscheidungsfähigen Pat. erfolgen, auch wenn aus rechtlicher Sicht die Bestellung eines Sachwalters erforderlich ist.

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Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin (nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010)

•  Primär: Klärung der Frage, unter welchen Bedingungen es zulässig ist, eine diagnostische, oder therapeutische Maßnahme durchzuführen

•  Nicht erst der Abbruch einer medizinischen Maßnahme, schon deren Initiierung bedarf einer Rechtfertigung

•  Voraussetzung für medizinische Maßnahmen sind die ethischen Prinzipien, daraus abgeleitet: drei Legitimationsvoraussetzungen: 1.  Die Maßnahme soll dem Pat. insgesamt mehr nutzen als schaden 2.  Der Pat. muss nach Aufklärung der Maßnahme zustimmen

(Ausnahmen: bewusstloser Pat., Gefahr in Verzug...) 3.  Die Maßnahme muss „lege artis“ sein

•  Auf eine (lebensverlängernde) Maßnahme sollte verzichtet werden, wenn schon eine der Legitimationsvoraussetzungen nicht erfüllt ist – dies wäre ein s.g. individualethischer Therapieverzicht...

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Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin (nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010)

Schwierigkeiten beim individualethischen Therapieverzicht: •  Bestimmung der Nutzlosigkeit einer med. Maßnahme.. •  Fehlende Einwilligungsfähigkeit d. Pat. •  Zur Nutzlosigkeit einer med. Maßnahme („Futility“): •  Unterscheidung zw. Nutzen und Wirksamkeit:

•  Eine Maßnahme kann physiologisch wirksam sein, aber f. d. Pat. ohne Nutzen...

•  Relevant f. die Frage des Behandlungsabbruchs ist nur der Nutzen f. d. individuellen Pat., nicht die Wirksamkeit, d.h. z.B. irgendein physiologischer Effekt

•  Beurteilung des Nutzens: •  Evidenz aus klinischen Studien (EBM) •  Leitlinien, Konsensusempfehlungen •  Individuelle ärztliche Expertise

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Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin (nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010)

Definitionsmöglichkeiten von Nutzlosigkeit: •  Enge Definition: eine Maßnahme ist nutzlos, wenn sie keine

physiologische Wirksamkeit hat... •  Definition im weiteren Sinne: nutzlose Maßnahme wenn z.B.:

•  nur geringe Erfolgsaussichten •  keine erstrebenswerten Behandlungsziele •  inakzeptable Lebensqualität •  mehr Schaden las Nutzen zu erwarten

•  Enge Definition der Nutzlosigkeit: •  medizinisch-fachliche Urteile •  eine einseitige ärztliche Entscheidung ist gerechtfertigt, geboten...

•  Weite Definition: •  ist wertend! •  sollte dem Pat. Überlassen werden (wenn er dazu in der Lage ist...)

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Algorithmus zur Berücksichtigung des Patientenwillens bei einwilligungsunfähigen PatientInnen (Marckmann G. 2004)

Ist d. Pat. einwilligungsfähig?

Pat. entscheidet nach Aufklärung

Existiert eine Patientenverfügung?

Ja Nein

Nach erklärtem PatientInnenwillen

entscheiden Sind die Präferenzen

d. Pat. bekannt? (mutmaßlicher Wille)

Ja Nein

Nach mutmaßlichem PatientInnenwillen

entscheiden Nach allgemeinen Wertvorstellungen

entscheiden

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2 Ja Nein

1. „Interne Plausibilitätskontrolle“ des erklärten PatientInnenwillens anhand des mutmaßlichen PatientInnenwillens

2. „Externe Plausibilitätskontrolle“ des erklärten und mutmaßlichen PatientInnenwillens anhand allgemeiner Wertvorstellungen

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Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin (nach Marckmann G, in der Schmitten J, 2010)

Sozialethischer Therapieverzicht: •  Folgt dem ethischen Prinzip der Gerechtigkeit

•  Relevant, wenn es um die gerechte Verteilung limitierter Ressourcen geht (Verteilungsethik, Allokationsethik)

•  Verzicht auf medizinische Maßnahmen, wenn sie dem Pat. einen geringen Nutzengewinn (Grenznutzen) bringen bei gleichzeitig hohen Zusatzkosten (Grenzkosten)

•  Die Ressourcen können anderen Pat. zukommen, die einen größeren Nutzengewinn von ihnen haben

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Ethische Entscheidungsfindung in der Medizin (Marckmann G, in der Schmitten J, 2010)

Ethische Grundlagen des Therapieverzichts

Prinzipien Ethische Voraussetzungen Kriterien f. Therapieverzicht

Benefizprinzip Nutzen für den Patienten (Indikation)

Nutzlosigkeit, Vergeblichkeit (Futility)

indi

vidu

alet

hisc

h

Non-Malefizprinzip

Autonomie Einwilligung d. Pat. Keine Einwilligung d. Pat.

Gerechtigkeit Fairer Einsatz knapper Ressourcen

Geringer Grenznutzen bei hohen Grenzkosten, insb. wenn kostengünstigere Alternative vorhanden

sozi

alet

hisc

h

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Zum Thema Patientenwille Gian Domenico Borasio, Referat beim 66. Deutschen Juristentag, Stuttgart, 20.9. 2006

•  Vor den Überlegungen über den Patientenwillen sollte immer die Frage der allgemeinen medizinischen Indikation geklärt sein. Diese kann mit zwei Fragen geklärt werden:

1. Gibt es ein vernünftiges Therapieziel? 2.  Ist dieses Ziel auch realistisch?

•  Erst wenn diese Fragen mit „ja“ beantwortet wurden, kann man zur individuellen Indikationsprüfung schreiten und fragen, ob dieses Therapieziel mit dem deklarierten, oder mutmaßlichen Patientenwillen auch übereinstimmt.

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Zum Thema Patientenwille Gian Domenico Borasio, Referat beim 66. Deutschen Juristentag, Stuttgart, 20.9.2006

Die Frage nach dem mutmaßlichen Patientenwillen ist oft entbehrlich:

•  Denn für die zur Diskussion stehende therapeutische Maßnahme gibt es oft keine medizinische Indikation mehr, es besteht kein vernünftiges Therapieziel, bzw. ein solches kann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr erreicht werden.

•  Es würden so auch die Angehörigen, die zu oft unnötig den Eindruck vermittelt bekommen, sie hätten über Leben und Tod des Patienten zu entscheiden, psychologisch entlastet...

•  „Lebensverlängerung wäre sicher ein vernünftiges und wichtiges Therapieziel, aber Sterbensverlängerung ist kein ärztliches Therapieziel.“

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Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Inhalte

•  Was ist Ethik? •  Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen? •  Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende •  Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende •  Was kann, was soll die Geriatrie?

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Zu Fragen der Ethik am Lebensende

Leben:

Bei den Griechen zwei Bedeutungen: ‚zoe‘ und ‚bios‘ ...

1.  am Leben sein… ‚zoe‘: biologisches Substrat 2.  ein Leben haben… ‚bios‘: subjektiver Begriff, der nur von dem

bewertbar ist, der ein Leben hat, eine Biografie, Pläne, Gedanken, Hoffnungen, Ängste…

Harold S.Kushner, 1984

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Zu Fragen der Ethik am Lebensende

“Am Leben sein (‘zoe’) ist eine biologische Tatsache die einem Feigenbaum, einer Amoebe, einem Hund und sogar einem Bioethiker zugeschrieben werden kann...

Ein Leben haben (‘bios’) heißt selbstbewußt sein, Schmerzen und Freude erleben können… Leider kann so ein Mensch anhedonisch sein - also nur Schmerzen aber keine Freude empfinden können...

Um ein Leben zu haben muß man am Leben sein und die Qualität dieses ‘am Leben sein’ kann nur der oder die deren Leben es ist einschätzen.”

E.H.Loewy, 2004

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Zu Fragen der Ethik am Lebensende

„Der Tod erscheint nicht mehr als eine zur Natur des Lebendigen gehörende Notwendigkeit, sondern als eine vermeidbare, jedenfalls im Prinzip traktable und lange aufschiebbare organische Fehlleistung.“

Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation“, Suhrkamp, 1979

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Zu Fragen der Ethik am Lebensende

Ein anderes Extrem:

Überlegungen, ob man das Lebensende unter dem Druck demografischer Entwicklungen und mit ökonomischen Argumenten quasi „verordnen“ sollte, sozusagen als gesellschaftliche Verpflichtung der Alten…

John Hardwig: „Is There a Duty to Die?“ Hastings Center Report 27/2, 1997; Routledge, 1st Ed. 2000

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Ad Allokationsethik – Geriatrie Thematisierung der Altersrationierung

Daniel Callahan vertritt die Ansicht, dass das Lebensalter ein entscheidendes Kriterium sei, ob eine Leistung vom Kollektivfinanzierungssystem angeboten wird, oder nicht. Ab dem 80. LJ sollen nur noch Kosten für Leidensminderung, nicht aber für Maßnahmen, der Lebensverlängerung zu übernehmen sein... Callahan D: Setting Limits: Medical Goals in an Aging Society. Georgetown University Press, 1987, 1995 (2nd Ed.)

„A medicine that can save lives but leaves more sick and damaged people in its wake ironically can create even more problems than it solves, often sparing people a quick death but giving them, in its stead, a longer life marked by sickness and disability.“ Callahan D, ter Meulen RHJ, Topinková E: What do we owe the elderly? Allocation Social and Health Care Resources. In: Callahan D, ter Meulen RHJ, Topinková E: A World Growing Old. Wahington D.C., 1995, 148-168

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Ad Allokationsethik Formen der Rationierung

•  Verzögerung (z.B. Wartezeiten bei Transplantationen, bei Bewilligungen von Untersuchungen, Therapien - „hassle factor“...)

•  Abschreckung (z.B. Selbstbeteiligung an Kosten, Selbstbehalte) •  Umlenkung von kommunalen, staatlichen Versorgungssystemen in den

privaten Sektor •  Ausdünnung (z.B. Verordnung von weniger Medikamenten, Therapien,

Hilfsmitteln...) •  Altersrationierung (z.B. keine OP bei bestimmten Indikationen ab dem

70., 80. LJ etc.)

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Der am Lebensende akut erkrankte alte Mensch

Drei häufige Charakteristika: 1.  insgesamt zwar schlechte, aber unsichere Prognose 2.  Therapie kann lebensverlängernd sein, ist aber oft belastend 3.  der/die Pat. ist betreuungsbedürftig, oft kognitiv beeinträchtigt

Zwei mögliche Wege: 1.  Symptomkontrolle, Wahrung optimaler Lebensqualität und Würde 2.  belastende Behandlung mit mehr oder minder großer Hoffnung auf

sinnvollen Nutzen für den/die Pat.

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The Clinical Course of Advanced Dementia Mitchell SL et al; NEJM 2009; 361:1529-38 •  Prospektive Studie über 18 Monate, 323 PH-Pat., Ø 85,3a,

fortgeschrittene Demenz: Global Deterioration Scale - GDS 7 (u.a. Nicht-Erkennen v. Angehörigen, „Wortzerfall“, Immobilität...)

•  mittlere Überlebenszeit: 478 d (wie fortgeschr. Tumor, od. NYHA IV) •  6-Monatsmortalität: 25%, nach 18 Monaten: 54,8% •  wenig „sentinel events“ wie Insult, Myokardinfarkt, Hüftraktur... •  häufigste unmittelbar kausale Situationen: Pneumonie, St.febrilis,

Ernährungsprobleme > 6-Monatsmortalität 40-50% •  Bei Pat. in dieser Situation müsste der Tod antizipierbar und Palliative

Care indiziert sein... Trotzdem wurden auch 3 Monate ante mortem bei 40,7% Pat. belastende Interventionen wie Akuthospitalisierungen, parenterale Therapien, Sondennahrung durchgeführt...

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The Clinical Course of Advanced Dementia Mitchell SL et al; NEJM 2009; 361:1529-38

•  Fortgeschrittene Demenz sollte wie eine terminale Erkrankung, die palliative Care benötigt betrachtet werden, insb. wenn Pneumonie, St.febrilis u./od. Ernährungsprobleme auftreten.

•  Die Behandlungs- und Pflegeplanung sollten dies berücksichtigen – unter Einbeziehung der Angehörigen u. ev. Betreuungsbevollmächtigten.

•  „Patients with dementia who are dying often receive aggressive treatments, such as tube feeding or hospitalization for pneumonia, that may be of limited benefit and that are inconsistent with a palliative approach to care.“

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Survival after the First Episode of Pneumonia, the First Febrile Episode, and the Development of an Eating Problem The Clinical Course of Advanced Dementia

Mitchell SL et al; NEJM 2009; 361:1529-38

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Überlebensraten bei fortgeschrittener Demenz + •  Pneumonie •  St.febrilis •  Essschwierigkeiten

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Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Inhalte

•  Was ist Ethik? •  Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen? •  Einige Fragen zur Ethik in der Geriatrie und am Lebensende •  Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende •  Was kann, was soll die Geriatrie?

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Seite 37 Seite 37

Spannungsfelder der Geriatrie

•  zwischen der Todesnähe und dem Sichern einer Lebensqualität unabhängig von der Länge des noch verbleibenden Lebens

•  zwischen Förderung der individuellen Selbständigkeit und Autonomie einerseits und Gewährleistung von Schutz, Hilfe und Betreuung durch fürsorglichen Paternalismus (der Institution), wenn die alten Menschen selbst nicht mehr dazu in der Lage sind andererseits

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Autonomie am Lebensende

Autonomie: (wörtlich: Selbst-Gesetzgebung) •  Ein Faktor der subjektiven und auch objektiven Einschätzung

der Lebensqualität... •  Möglichkeit, bzw. Fähigkeit zur Selbstbestimmung... J.G.Meran

•  Auf das Subjekt bezogene Freiheit...

Der Begriff ‚Freiheit‘ beinhaltet nach Kant 2 Teile: 1. Freiheit des Willens - bei Dementen oft nicht mehr

vorhanden, bzw. ihnen nicht mehr zugestanden... 2. Freiheit des Handelns - am Lebensende oft verloren...

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Erosion der Autonomie am Lebensende

1.  Demenz: Führt zur weitgehenden Zerstörung der Autonomie. Hat der Mensch mit Demenz dann keine Lebensqualität mehr? Erfreut er / sie sich nicht der Dinge des Lebens?

2.  Institutionalisierung: Bedeutet eine zusätzliche Erosion der Autonomie: Reduktion der Privatsphäre des Patienten, Einschränkung seines Willens durch die Regeln und die Ordnung der Institution. Das Autonomieprinzip des Individuums wird vom Wohltätigkeitsprinzip der Institution untergraben…

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Selbständigkeit und / oder Autonomie

Selbständigkeit •  oft als Maß der individuellen Freiheit bzw. Autonomie genannt •  Handlungsfähigkeit •  der graduelle Verlust der Selbständigkeit, der mit zunehmenden

Alter häufiger vorkommt, erodiert die Autonomie •  Selbständigkeit sollte sich auf objektiv erfassbare, messbare

somatische Parameter, auf die funktionelle Kapazität d. Pat. bzw. auf ihre / seine Behinderung beziehen

Autonomie •  eine subjektivere Größe, die sich durch die Fähigkeit des

Individuums manifestiert, sich zu kennen, sich frei entscheiden zu können, für seine Handlungen verantwortlich zu sein, sich selbst zu respektieren, sich zu entwickeln

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

Autonomie und / oder Selbständigkeit

•  Autonomie ist nicht mit Selbständigkeit (Handlungsfähigkeit) ident, sie sollte auch bei mangelnder Selbständigkeit bestehen können.

•  Durch größere Selbständigkeit kann sich Autonomie deutlicher manifestieren - durch geriatrische Betreuung, durch rehabilitative und pflegerische Förderung kann dieses Ziel erreicht werden.

•  Selbständigkeit erhaltende bzw. fördernde Maßnahmen im Rahmen der geriatrischen Rehabilitation und Pflege unterstützen Autonomie.

•  Bei nicht erreichbarer Selbständigkeit gilt es, die Autonomie trotzdem zu bestätigen: z.B. indem man nicht akzeptiert, dass bei Selbständigkeits- und / oder Autonomieverlust das Selbstwertgefühl des Individuums schwindet.

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

Autonomie und / oder Selbständigkeit

•  Differenzierung zwischen Entscheidungsautonomie und Durchführungsautonomie – Entscheidungsautonomie ist gegeben auch ohne die getroffenen Entscheidungen selbst ausführen zu können (B.Collopy, 1988)

•  Körperliche Abhängigkeit (= Einschränkungen der Handlungsfähigkeit) und der Erhalt von Entscheidungsfreiheit (= Selbstbestimmung) sind vereinbar

•  Die freie Entscheidung, Handlungsspielräume trotz noch vorhandener physischer und kognitiver Fähigkeiten (= Handlungsfähigkeit, Selbständigkeit) nicht zu nutzen und sich für mehr Unterstützung bei Verrichtungen im Alltag zu entscheiden ist mit Selbstbestimmung (= Autonomie) vereinbar (A.Kruse, 2005)

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Autonomie in der Geriatrie zwischen Mythos und Wirklichkeit nach Th.Rehbock: Autonomie-Fürsorge-Paternalismus - Zur Kritik medizin-ethischer Grundbegriffe. Zeitschrift f. Ethik in der Medizin 3;131-150,2002

Mythos: •  Die sich aus der Menschenwürde ableitende Autonomie d. Pat. als

die einzige ausschlaggebende Dimension bei der Entscheidungsfindung in der Geriatrie

Wirklichkeit: •  Ohne optimale Fürsorge für die Pat. in Form adäquater Beratung u.

persönlicher, empathischer Anteilnahme u. Begleitung, Betreuung, Pflege bestünde die Gefahr in einen Autonomismus abzugleiten - das sich Verlassen auf die autonome Entscheidung von Menschen, die nicht sicher dazu in der Lage sind...

•  Gefahr einer indifferenten, gleichgültigen Haltung, die nur noch den autonomen Kunden sieht und sich nicht um die Folgen kümmert...

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Autonomie in der Geriatrie zwischen Mythos und Wirklichkeit nach Th.Rehbock: Autonomie-Fürsorge-Paternalismus - Zur Kritik medizin-ethischer Grundbegriffe. Zeitschrift f. Ethik in der Medizin 3;131-150,2002

Begründung:

Es stellt eine Missachtung der allen Menschen immanenten Würde sowohl

•  wenn Menschen ihrer Freiheitsrechte, ihrer Autonomie beraubt, diskriminiert und zu Objekten der Willkür gemacht werden,

•  als auch wenn kranken Menschen die für ihr physisches und psychisches Wohl notwendige Fürsorge vorenthalten wird, somit die Bedingung für ein freies und autonomes Leben nicht ermöglicht wird...

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Autonomie in der Geriatrie zwischen Mythos und Wirklichkeit nach Th.Rehbock: Autonomie-Fürsorge-Paternalismus - Zur Kritik medizin-ethischer Grundbegriffe. Zeitschrift f. Ethik in der Medizin 3;131-150,2002

Die Begrenzung der Autonomie zu akzeptieren, vor allem auch im hohen Alter mit seinem immanenten, zunehmenden Hilfs- und Unterstützungsbedarf, ist eine Voraussetzung für ein gelingendes Alter und kein Widerspruch zum Grundsatz der Alterspflege (auch der Geriatrie...), alles daran zu setzen, die Selbständigkeit (u. Autonomie) möglichst zu wahren oder wieder zu erlangen.

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

Autonomie am Lebensende

„ ... die Normen der Autonomie und der Selbstbestimmung werden konkurrenzlos als die Nr.1, als unendlich steigerbar vorgestellt... merkwürdigerweise insbesondere für die Zeit des Lebensendes... Dabei handelt es sich um den Kampf gegen die Arroganz der Halbgötter in Weiß...“

„...es wird aber zunehmend auch die Frage gestellt, ob nicht die Patientenautonomie dabei sei, ein Optimum zu überschreiten und ein dann eher wieder schädigendes Maximum anzustreben, während umgekehrt die Autonomie der Ärzte (und der anderen Behandler) und damit ihre Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, Anlass zur Sorge gebe...“

Klaus Dörner, Plenarvortrag am 5.Kongress der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, Aachen, April 2005

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Das Dogma der Autonomie wird nun relativiert...

Schneider CE. The practice of Autonomy. Oxford Univ.Press, N.Y., 1998 zitiert in: Atul Gawande. Complications. A surgeon‘s notes on an imperfect science. H.Holt & Co, 2002 Autonomie ist nicht der ultimative Wert, wie er neuerdings von der Medizinethik propagiert wird - sie ist ein Wert von vielen...

Patienten erwarten nicht primär den Respekt ihrer Autonomie, sondern Güte („kindness“). Sie vermittelt einem die Gewissheit der eigenen Kontrolle über lebenswichtige Entscheidungen, sie lässt aber auch die Möglichkeit zu, schwierige Entscheidungen, die man nicht machen will / kann zu übernehmen, oder den Patienten dabei zu begleiten, ihn/ sie anzuleiten.

Manchmal ist der richtige, der gütige, mitfühlende (“kind, compassionate“) Weg, den Patienten zur richtigen, guten Entscheidung mit sanftem Druck anzuleiten, zu zwingen...

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Zum Thema Autonomie in der Geriatrie

•  In der Praxis gibt es in der Geriatrie ein Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fürsorge...

•  So einfach, dass es nur Pat. gibt, die alle Informationen haben und autonom entscheiden wollen ist es nicht: sie sind selten, genauso wie die, die tatsächlich gar nichts wissen und entscheiden wollen...

•  Dazwischen liegen die meisten Pat., sie wollen eine individuelle Mischung aus Autonomie und Fürsorge haben, wie sie sie gerade im Moment benötigen...

•  Dieses „Mischungsverhältnis“ herauszufinden ist oft nicht einfach, weil es sich auch im Verlauf der zeit, mit der Progression der Erkrankung verändern kann.

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Zum Thema Autonomie in der Geriatrie

Man muss immer wieder schauen, wo der Patient steht:

„Wenn wir jemandem helfen wollen, müssen wir herausfinden, wo er gerade steht. Das ist das Geheimnis der Fürsorge. Wenn wir das nicht tun können, ist es eine Illusion zu denken, wir können anderen Menschen helfen. Jemanden zu helfen impliziert, dass wir mehr verstehen als er, aber wir müssen zunächst verstehen, was er versteht.“ SØren Kierkegaard

Fürsorge sollte nicht durch Bevormundung geschehen: •  Es ist genauso schlimm, wenn es sich dabei um ärztlichen

Paternalismus oder um ethischen Paternalismus handelt. •  Fürsorge sollte durch rechtzeitige Aufklärung und durch gemeinsame,

dialogische Entscheidungsfindung mit allen Beteiligten erreicht werden.

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

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Zum Thema Autonomie E.H.Loewy, 2009, 2010 •  Autonomie ist Ausdruck von Beziehung •  Die Pflichten der Wohltätigkeit (Fürsorge, Benefizienz) sind für unser

Weiterleben notwendig - es genügt nicht, nur negative (obligate) Pflichten zu haben um wirkliche Solidarität entstehen zu lassen...

•  Wenn ich weiß, dass ich der Hilfe Anderer sicher sein kann, so kommt ein viel stärkeres Solidaritätsgefühl heraus...

•  Man kann autonom handeln nur wenn man mit Anderen ist, denn um autonom zu handeln setzt Andere, also eine Gesellschaft, voraus. Genauso kann es ohne „die Anderen“ Fürsorge nicht geben...

•  Autonomie und Benefizienz sind in einer fixen Beziehung... Beide sind nicht außerhalb einer Gesellschaft vorstellbar...

•  Autonomie und Benefizienz sind nicht nur Kehrseiten einer Medaille... •  Das alleinige Anbeten der Autonomie, wie es der Neoliberalismus

vorschlägt, ist sinnlos.

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Zum Thema Autonomie

„Wir sind alle Hüter des Anderen. Ohne eine solidarische Gemeinschaft ist es unmöglich unseren Interessen nachzugehen und unsere Talente zu verwirklichen. Diejenigen, die behaupten, dass Benefizienz keine (gesellschaftliche) Pflicht, sondern einfach eine Sache des Geschmacks ist, übersehen die Tatsache, dass um ein ‚autonomer‘ Mensch zu sein wir auf die Wohltätigkeit (Benefizienz) anderer angewiesen sind.“ E.H.Loewy, 2009

„As the field grows more complex and technological, the real task is not to banish paternalism, the real task is to preserve kindness.“ Atul Gawande, 2002

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

Ethische Fragestellungen in der Geriatrie Der alte Mensch am Lebensende Inhalte

•  Was ist Ethik? •  Ethische Entscheidungen in konkreten Fällen - Wie vorgehen? •  Einige Fragen zur Ethik am Lebensende •  Autonomie - Erosion der Autonomie am Lebensende •  Was kann, was soll die Geriatrie?

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Die Ziele der Geriatrie

•  Erhaltung der Gesundheit und der größtmöglichen Selbständigkeit durch präventive Maßnahmen und Behandlung akuter Krankheiten

•  Kompression der Morbidität - Verlängerung der behinderungsfreien Lebenserwartung

•  Bei neu auftretender Behinderung: Wiedererlangen und Sicherung der größtmöglichen Unabhängigkeit durch medizinische, rehabilitative und soziale Maßnahmen

•  Bei bleibender Abhängigkeit und Behinderung: Betreuung und Entwicklung der verbliebenen Fähigkeiten

•  Bei fortschreitenden Leiden: Linderung der Beschwerden und mitmenschliche Begleitung bis zum Tod - in der Geriatrie ist der sonst erwartete angelernte Zwang zum Heilen nicht immer am Platz, palliative Ziele werden wichtiger

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Nutzen der geriatrischen Betreuung Ellis G, Langhorne P. Comprehensive Geriatric Assessment for Older Hospital Patients. Br Med Bull 2005;71: 45-59

•  Metaanalyse v. 20 randomisierten kontrollierten Studien der Ergebnisse stat. geriatrischer Behandlung auf der Basis eines CGA (Comprehensive Geriatric Assessment) im Akut-KH im Vergleich zur „Usual care“- insges. 10 427 Pat.

•  „Clear benefit to be seen from in-patient CGA“

•  Evidenz für: •  signifikant geringere Frühmortalität •  signifikant höhere Wahrscheinlichkeit, in 1 Jahr zu Hause zu leben •  signifikant bessere physische (ATL‘s) und kognitive Funktionen

•  „Admission to a department of geriatric medicine is associated with a 25% reduction in death and disability.“

•  „The current evidence strongly suggests that ward-based comprehensive geriatric assessment should now be considered the evidence-based standard of care for the frail older inpatient.“

•  Ähnliche Ergebnisse: Baztán J, Suárez-García FM et al. Effectiveness of acute geriatric units on functional decline, living at home, and case fatality among older patients admitted to hospital for acute medical disorders: meta-analysis, BMJ 2009; 338; b50

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

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Ethische Prinzipien in der Geriatrie sfgg 2007 (Profil der Geriatrie in der Schweiz, Schweizerische Ärzteztg. 2007, 88,4:132-139) Richtlinien d. Schweizerischen Akademie d. med. Wissenschaften <www.samw.ch>: - Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen (2004), - Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende (2004), - Zwangsmassnahmen in der Medizin (2005)

•  Bei alten Menschen sollen Entscheidungsprozesse in Berücksichtigung ihrer Selbstbestimmung, Würde und subjektiven Lebensqualität erfolgen.

•  Eine Maßnahme darf nur mit der freien Einwilligung des urteilsfähigen, informierten alten Menschen durchgeführt werden

•  Bei Urteilsunfähigkeit soll sich jeder Entscheid am mutmaßlichen Willen des alten Menschen orientieren und in seinem besten Interesse getroffen werden

•  Freiheitsbeschränkende Maßnahmen müssen grundsätzlich die Ausnahme bleiben und dürfen nur unter klar definierten Bedingungen eingesetzt werden

•  Suizidbeihilfe ist grundsätzlich nicht Teil der ärztlich-geriatrischen Tätigkeit

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Ethik - Geriatrie. T.Frühwald, 13.04.2011

Ethische Prinzipien in der Geriatrie sfgg 2007 (Profil der Geriatrie in der Schweiz, Schweizerische Ärzteztg. 2007, 88,4:132-139) Richtlinien d. Schweizerischen Akademie d. med. Wissenschaften <www.samw.ch>: - Behandlung und Betreuung von älteren pflegebedürftigen Menschen (2004), - Betreuung von Patientinnen und Patienten am Lebensende (2004), - Zwangsmassnahmen in der Medizin (2005)

•  Anspruch auf Respektierung der Menschenwürde gilt uneingeschränkt für alle Menschen. Recht auf Schutz der Persönlichkeit u. Recht auf Autonomie

•  Eingeschränkte Autonomiefähigkeit, wie sie im Alter häufiger vorkommt und die das Gleichgewicht zwischen den abhängigen und unabhängigen Seiten beim Menschen stört, ihn somit besonders vulnerabel macht, hebt den Anspruch auf Respektierung seiner Würde sowie auf Schutz seiner Persönlichkeit und seiner (verbliebenen) Autonomie nicht auf.

•  Alte Menschen haben bis an ihr Lebensende Anspruch auf eine angemessene Behandlung und Betreuung.

•  Alter, Abhängigkeit und Pflegebedürftigkeit im Alter dürfen nicht zu einer Vorenthaltung indizierter Maßnahmen führen.

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Was braucht die Geriatrie? Frengley JD. The Use of Physical Restraints in the Absence of Kindness. JAGS

44:1125-1127,1996 Neben Fachkompetenz ist gerade in der Geriatrie eine zusätzliche Dimension notwendig:

“Als professionell in der Geriatrie Engagierte sollte man Hüter der Nächstenliebe (Güte, Empathie – ‚guardians of kindness') in der Betreuung älterer Menschen sein. Tatsächlich kann man oft nichts Wichtigeres mehr tun. Jedoch: Nächstenliebe auszuüben kann den Arzt/die Ärztin, die Pflegeperson verunsichern, denn da heißt es Emotionen zeigen, die er/sie zu verbergen gelernt hat. Akte der Nächstenliebe ('acts of kindness') könnten deshalb gemieden werden... Nächstenliebe kann man nicht nur auf Basis der Theorievermittlung erlernen... Geriatrie sollte Eingang in die praktische Ausbildung der Ärzte finden..."

Die Kombination von fachlich kompetentem, ethischem und auch gütigem, empathischem Handeln wäre wohl ideal...

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Literaturempfehlungen: •  Agich GJ: Autonomy and Long-Term Care. Oxford University Press, 1993 •  Beauchamp TL, Childress JF: Principles of Biomedical Ethics, 5th Ed. Oxford

University Press, 2001 •  Gormally L, Ed.: The Dependent Elderly - Autonomy, Justice and Quality of Care.

Cambridge University Press, 1992 •  Helmchen H, Kanowski S, Lauter H: Ethik in der Altersmedizin. Kohlhammer, 2006 •  Hick Ch, Hrsg.: Klinische Ethik, Springer, 2006 •  Jonas H: Das Prinzip Verantwortung, Suhrkamp TB, 1984 •  Jones AR, Siegler M, Winslade WJ: Clinical Ethics, 5th Ed. McGraw-Hill, 2002 •  Körtner UHJ: Grundkurs Pflegeethik. Facultas - UTB, 2004 •  Lidz CW, Fischer L, Arnold RM: The Erosion of Autonomy in Long Term Care.

Oxford University Press, 1992 •  Loewy EH: Ethische Fragen in der Medizin. Springer-Verlag Wien New York, 1995 •  Loewy EH, Loewy RS: The Ethics of Terminal Care - Orchestrating the End of Life.

Kluwer Academic Publishers, 2000 •  Loewy EH, Loewy RS: Textbook of Health Care Ethics, 2nd Ed. Kluwer Academic

Publishers, 2004 •  Pauer-Studer H: Einführung in die Ethik. WUV-UTB, 2003 •  Pöltner G: Grundkurs Medizin-Ethik. Facultas - UTB, 2002 •  Randall F, Downie RS: Palliative Care Ethics. Oxford Medical Publications, 1996 •  Steinkamp N, Gordijn B: Ethik in der Klinik. Luchterhand, 2003

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