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    Informationenzur politischen Bildung / izpb

    berarbeitete Neuauflage 2015279

    Europische Union

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    2 EUROPISCHE UNION

    Informationen zur politischen Bildung Nr. 279/2015

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    Inhalt

    Die Europische Union im 21. Jahrhundert 4

    Motive und Leitbilder der europischenEinigung 7Europische Einigungsmotive im Wandel 7

    Zielperspektiven und Leitbilder der europischen Einigung 12

    Festung Europa als Gegenbild 16

    Vertragsgrundlagen und Entscheidungs-verfahren 18Der Vertrag von Lissabon eine neue verbesserteRechtsgrundlage 18

    Die EU Arena politischer Macht 21

    Die Verteilung der Haushaltsmittel 29

    Einflussmglichkeiten der Zivilgesellschaft 31

    Ausgewhlte Bereiche gemeinschaftlichenHandelns 36

    Binnenmarkt 36Europische Whrungsunion 40

    Sozial- und Beschftigungspolitik 46

    Agrarpolitik 47

    Umweltpolitik 48

    Regional- und Strukturpolitik 51

    Innen- und Rechtspolitik 52

    Energiepolitik 55

    Das internationale Engagement der EU 58Auenhandelspolitik und internationale Verhandlungen 58

    Entwicklungszusammenarbeit 61

    Regionale Prioritten der EuropischenNachbarschaftspolitik 62

    Gemeinsame Auen- und Sicherheitspolitik (GASP) 64

    Ausblick 68

    Der Weg der EU Rckblick und Ausblick 69Wertefundament und Symbole der EU 72

    Europisches Gesellschaftsmodell im 21. Jahrhundert 74

    Thema im Unterricht 77

    Europa als Alltagserfahrung77

    Was leistet die Schule fr Europa? 77

    Europa in Bildungs- und Lehrplnen 78

    Projekttag Europa und Europawoche 79

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    Glossar 80

    Literaturhinweise und Internetadressen 82

    Die Autorinnen und Autoren 83

    Impressum 83

    EditorialAls 1951 mit der Grndung der Europischen Gemeinschaft

    fr Kohle und Stahl der Grundstein fr die europischeEinigung gelegt wurde und sechs Staaten sich zu einergleichberechtigten Partnerschaft verpflichteten, war eskaum vorstellbar, dass aus den Vlkern Europas, die sich inzwei Weltkriegen erbittert bekmpft hatten, Verbndete,

    ja Freunde werden knnten. Heute umfasst das europische Projekt 28 Staaten und mehr als 500 Millionen Menschen, die wie selbstverstndlich die innereuropischenGrenzen passieren, zum Studieren oder Arbeiten in andere europische Stdte ziehen und in 19 Staaten mit einerWhrung zahlen.

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    Frieden, Wohlstand, offene Grenzen, eine gemeinsameWhrung viele dieser Errungenschaften der europischen

    Integration sind fr die Menschen in Europa lngst selbstverstndlich geworden. -

    Unter dem Eindruck jngster problematischer Entwicklungen werden jedoch einige der Errungenschaften der europischen Integration vermehrt infrage gestellt:

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    Im Zuge der Finanz- und Schuldenkrise seit 2008 wurdeimmer wieder ber den Fortbestand der Whrungsuniondiskutiert. Die bisherige Ausrichtung der Rettungspolitikhat vorrangig die Stabilitt der Finanzmrkte im Blick. Kredite sind mit harten Reformauflagen verbunden, die als Eingriff in die staatliche Souvernitt wahrgenommen werden.Solidaritt und Vertrauen werden zunehmend brchig, dieMenschen in den hoch verschuldeten Staaten leiden unter

    den Folgen der ihnen auferlegten Sparmanahmen undReformanstrengungen und sehen sie nicht als ausreichenddemokratisch legitimiert an.

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    Darber hinaus werden in vielen EU-Mitgliedstaaten europaskeptische Stimmen lauter, die eine Rckkehr zu einemstarken Nationalstaat, die Wiedereinfhrung von Grenzkontrollen oder sogar den Ausstieg aus der EU fordern. DieseTendenzen gefhrden langfristig den Zusammenhalt innerhalb der EU und die Integrationsfortschritte der vergangenen Jahrzehnte.

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    Zudem luft der Umgang der europischen Lnder mit deranhaltenden Flchtlingskatastrophe auf dem Mittelmeerdem eigenen Bekenntnis zu Grund- und Menschenrechten

    zuwider. Obschon die steigenden Flchtlingszahlen von deranhaltenden Attraktivitt des europischen Modells zeugen, ist die EU von einer einheitlichen und von Werten geleiteten Flchtlings- und Asylpolitik noch weit entfernt.

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    Der Krieg in der Ukraine hat auf dramatische Weise gezeigt, dass bei Konflikten in der Nachbarschaft der EU interne Verstndigungsprozesse sowie ein gemeinsames Handeln nach Auen dringend ntig sind, um international alsAkteur von Bedeutung wahrgenommen zu werden.

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    Die europische Einigung ist zweifellos eine Erfolgsgeschichte. Doch insbesondere in Krisenzeiten ist es wichtig,sich die Errungenschaften der europischen Integrationimmer wieder aufs Neue zu vergegenwrtigen und sich fr

    eine gemeinsame Zukunft in Europa stark zu machen.

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    Magdalena Langholz

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    MELANIE PIEPENSCHNEIDER

    Die Europische

    Union im21. JahrhundertUngeachtet der gegenwrtigen stetigen Krisenmeldungen

    bietet die EU ihren Mitgliedern langfristig groe Chancen.Um verschwundenes Vertrauen in die europische Einigung wieder aufzubauen, bedarf es einer Zukunftsstrategiefr mehr Handlungsfhigkeit und Krisenbewltigung.Dabei sollte ein produktives Miteinander der 28 Mitglied

    staaten ermglicht und die Legitimation des europischenProjekts gesichert und ausgebaut werden.

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    Nach ber 60 Jahren europischer Integration (s. Glossar) mitvielen Hhen und Tiefen scheint sich die Europische Union(EU, s. Glossar) im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts ineiner schwierigen und krisenhaften Phase ihrer Entwicklungzu befinden. Nach dem Fall der Berliner Mauer 1989 und derberwindung des Ost-West-Gegensatzes galt es, die EU berReformen an eine vernderte Weltlage anzupassen. Die Anzahl der Mitgliedstaaten wuchs von zwlf auf derzeit 28, dieGemeinschaftswhrung Euro (s. Glossar) wurde in 19 EU-Staa

    ten eingefhrt. Die weltweite Finanz- und Wirtschaftskrise2008 sowie die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischenRussland und der Ukraine 2014/2015 in unmittelbarer Nachbarschaft zur stlichen EU-Auengrenze machten mehr alsdeutlich, dass die europische Einigung wie schon so oft inihrer Geschichte Impulse fr einen neuen Aufbruch bentigt.

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    Schon immer gab es Krisen und Stagnationsphasen in derEU. Meist konnten diese produktiv fr die Weiterentwicklungder europischen Integration genutzt werden. Vieles konntebis heute verwirklicht werden oder strebt der Verwirklichungzu, was in der Grndungsphase in den 1950er-Jahren als Zielund Vision fr ein gemeinsames Europa formuliert wurde. DieMitgliedstaaten bringen unterschiedliche Interessen in die

    Europische Union ein. Gemeinsam leitet sie die Erkenntnis,dass es Probleme gibt, die sie nicht mehr allein lsen knnen.Die EU ist heute in so gut wie jedem Politikfeld aktiv, wennauch mit unterschiedlicher Handlungskompetenz. Dies hateine Europisierung fast aller Politikfelder zur Folge; nationalePolitik hat stets eine europische Komponente.

    Historische Spannungsfelder der EUDie Geschichte der EU ist geprgt von Entwicklungen, Motivenund Interessen, die in einem Spannungsverhltnis zueinanderstehen:

    Wunsch nach Erhalt von Vielfalt (Differenzierung)nZentralisierung von Strukturen und Prozessen;

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    Vertiefung der europischen Integrationn geografischeAusdehnung der Flche (Erweiterung);gemeinschaftliche Strukturen und Entscheidungsverfahren,eigens ausgebildete Organe (supranational)nKooperationzwischen den Regierungen (intergouvernemental);

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    Wirtschaftsgemeinschaft Politische Union;Handlungsfhigkeit der EU groe Zahl an EU-Mitgliedstaaten und damit unterschiedlichster politischer und wirtschaftlicher Strukturen sowie Leistungsfhigkeit;Effizienz des politischen Handelns der EU Reprsentation

    jedes Mitgliedstaates in den Organen der EU;

    Solidaritt der Mitgliedstaaten untereinander Renationalisierungstendenzen (insbesondere bei Krisen);Demokratisierung (Parlamentarisierung) der EU Sicherung von Macht und Einfluss der Mitgliedstaaten;transparente Organisations- und Regelungsstrukturen derEU Ausnahmen unter Bercksichtigung nationaler Besonderheiten.

    Die Liste liee sich noch fortsetzen. Auflsen lassen sich diese Spannungsfelder grundstzlich nicht. Die Strke der EUbestand immer darin, dass sie in krisenhaften Zeiten dieKraft aufbrachte, Strukturen und institutionelle Arrangements auch unter Einbeziehung solcher Spannungsfelder

    zur Lsung von Problemen zu finden. So konnte zum Zeitpunktder Krisenbewltigung oder eines bestimmten Reformschrittszumindest das umgesetzt werden, was jeweilig in den Mitgliedstaaten durchsetzbar war; vorausgesetzt, dass es Mitgliedstaaten gab, die die Fhrung in dem Konzert bernahmen und die Vision einer immer engeren Union dabei nichtaus den Augen verloren. Mehrere kleinere Schritte einschlielich Umwegen fhrten dann zu dem Stand der Integration, derheute mit dem Vertrag von Lissabon erreicht wurde.

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    In den nchsten Jahrzehnten wird sich die Gre der EU etwa in Bezug auf die Wirtschafts- und Innovationskraft sowie auf die Bevlkerungsentwicklung relativieren, wennman die Dynamik in China, Indien, Indonesien und Brasilien

    zum Vergleich heranzieht. Bei der Bewltigung der Finanzund Wirtschaftskrise in der EU einschlielich der Sicherungder weltweiten Wettbewerbsfhigkeit geht es nicht nur umdie Frage, ob die Union ihren Mitgliedstaaten helfen kann. ImKern geht es vielmehr auch darum, welche Rolle und welchenStellenwert die EU zuknftig in der Welt einnehmen wird.

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    Einstellungen der BevlkerungDie Zustimmung zur europischen Einigung hat im Bewusstseinder Brgerinnen und Brger unterschiedliche Phasen durchlaufen: Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges berwogdie Aufbruchstimmung. Der Wunsch nach einer berwindungnationalistischer Kleinstaaterei beflgelte das Integrationspro

    jekt. Auch wenn die Schaffung der Europischen Gemeinschaftvor allem ein Projekt der politisch-gesellschaftlichen Eliten war,so fand sie doch die grundstzliche Zustimmung in der Bevlkerung der beteiligten europischen Staaten. Das fortschreitende Zusammenwachsen der Mitgliedstaaten und die auchgeografisch immer grer werdende EU schufen eine enormeRegelungsdichte und Unbersichtlichkeit der Strukturen. Derwachsende Einfluss der EU im Alltagsleben, besonders sprbarin Wirtschaft, Wettbewerbsregeln und Rechtsnormen, der prozesshafte Charakter der EU im Werden, das sich in den letztenJahren verstrkende Empfinden, dem Zwang eines sich ausweitenden und nicht mehr beherrschbaren Finanztransfers innerhalb der EU zu unterliegen, sowie das latente Unbehagen, die

    Politik sei den Krften der Wirtschafts- und Finanzmarktentwicklungen machtlos ausgeliefert, rufen bei vielen Menschenzunehmend ein Gefhl der Verunsicherung hervor.

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    Die Grnde fr die stetige Weiterentwicklung der EU, nmlich Frieden, Freiheit und Demokratie in Europa zu verwirkli

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    5Die Europische Union im 21. Jahrhundert

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    chen, verlieren im Bewusstsein der Bevlkerung an Wirkungsmacht. Heute stehen darber hinaus die Nebenerscheinungender europischen Integration im Blickpunkt der Kritik: dieUndurchschaubarkeit der Entscheidungsvorgnge, die zumTeil vermutete mangelnde demokratische Legitimation eu

    ropischer Institutionen und Entscheidungen, unklare politische Verantwortlichkeiten, das Empfinden, wenig Einflussauf europapolitische Entscheidungen nehmen zu knnen, sowie der Anschein von berbrokratisierung, welcher vom alstechnokratisch und unterkhlt-distanziert wahrgenommenen

    picture alliance / dpa-infografik, Globus 5671 (aktualisiert); Quelle: Eurostat

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    6 EUROPISCHE UNION

    Brssel ausgeht. Einige Umfrageinstitute haben als Folgeeine Renationalisierung des Denkens festgestellt, das denEuropa-Gedanken von innen her aushhle. Auch wenn einegrundstzliche Systemkrise bislang nicht diagnostiziert wird,sei der Vertrauensschwund gegenber der EU bei den Brgerinnen und Brgern nicht mehr zu bersehen. In der Tendenznehme die europa-freundliche Zustimmung ab, der Solidarittsgedanke sei in den Hintergrund geraten. Die EU muss heute mehr denn je und auch mehr als nationale politische Systeme um die Gunst der Brgerinnen und Brger ringen. Es gibtkeinen Vertrauensvorschuss, und die generelle Zustimmungzur europischen Einigung ist kein Selbstlufer mehr.

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    Politik muss Entscheidungen vorantreiben, die nicht vonvornherein eine Mehrheit in der Bevlkerung haben. Aber Politik kann auch nicht eine lngere Zeit gegen den Mainstreamder Meinungen in der Bevlkerung durchgesetzt werden. VonVorteil fr das Politikhandeln ist es, wenn realistische Zieleformuliert sowie konkrete Projekte konzipiert werden und derNutzen bestimmter Entscheidungen den Brgerinnen undBrgern einsichtig gemacht werden kann. Das Projekt der EUist nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes noch genausowichtig und richtig wie unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg. Sowohl die nationale wie die europische Politik mssen fr die Notwendigkeit des europischen Projekts in einerglobalisierten Welt werben, es begrnden, erklren und so ver

    lorenes Vertrauen wieder aufbauen.

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    Eurobarometer 82, Umfrage: November 2014, verffentlicht: Dezember 2014; http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb82/eb82_first_de.pdf, S. 6

    ZukunftsperspektivenDie Zukunft der EU ist nicht voraussehbar. In der Vergangenheit hat die Union die an sie gestellten Herausforderungen

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    stets gemeistert. Die EU war lange Jahre Friedens-, Wachstums- und Wohlstandsgarant dies kann sie nur bleiben,wenn die Mitgliedstaaten sich als eine Interessengemeinschaft verstehen, die politische Ziele gemeinsam verfolgt,freinander einsteht und die gleiche Richtung der Entwicklung anstrebt (zum Beispiel Schuldenbegrenzung und -abbau). Nur in der Summe ihrer Mitgliedstaaten kann die EUdas politische und wirtschaftliche Gewicht entfalten, um imKonzert der Welt mitzuspielen. Der Mehrwert der EU-Mitgliedschaft liegt auch darin, dass die Staaten gemeinsamwesentlich mehr Gewicht in die Waagschale werfen knnenals jede Nation fr sich. Dazu ist es vonnten, dass neben der

    Wirtschafts- und Whrungsunion (s. Glossar) die PolitischeUnion vorangetrieben wird.

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    Es wird sich zeigen, ob die EU die Kraft hat, eine Zukunftsstrategie zu entwickeln, daraus abgeleitete neue sinngebende Projekte anzupacken und ihre Rolle in der Welt strategisch klug wahrzunehmen. Der Kitt, welcher bis 1989 daseuropische Gefge zusammenhielt, ist brchig geworden:Es gilt mehr denn je, in der Gegenwart die Zukunft zu begreifen. Hier bietet die EU groe Chancen, denn sie erprobtseit nunmehr 60 Jahren das friedliche Miteinander und hatdafr Mechanismen und Regeln ausgebildet. Diese Erfahrungen knnen sich bei der Bewltigung der Anforderungeneiner globalisierten Welt positiv auswirken. Der Vertrag von

    Lissabon enthlt eine ganze Reihe von Mglichkeiten fr dieEU, sich weiterzuentwickeln. Dabei muss in Zukunft ein besonderes Augenmerk auf die Strkung der Identifikation derBrgerinnen und Brger mit der europischen Einigung gerichtet werden.

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    OTTO SCHMUCK

    Motive und Leitbilder der

    europischen EinigungBundesstaat mit starken Institutionen, europischer Staatenbund, in dem letztlich weiter die Mitgliedstaaten entscheiden, oder etwas gnzlich Neues? Die Frage nach demLeitbild begleitet den Einigungsprozess seit seinen Anfngen. Die Erwartungen an die EU haben sich jedoch gewandelt und sind in den jeweiligen Mitgliedslndernunterschiedlich.

    Keystone-France/Gamma-KeystoneviaGettyImages

    Alcide de Gasperi, Konrad Adenauer und Robert Schuman (v. l.) bei einem Treffen im Europarat in Straburg 1951 sie trugenmageblich zum europischen Einigungsprozess bei.

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    Europische Einigungsmotive imWandel

    Zahlreiche Motive lassen sich fr die europische Einigungins Feld fhren. Diese Motive geben neben den konkurrierenden politisch-institutionellen Leitbildern Aufschlussber die Triebkrfte und ber die Zielrichtung der historischen Integrationsentwicklung Europas. Zudem helfensie, die Gestalt, die das politische Europa heute hat, besserzu verstehen. Im berblick knnen sechs Motivbndel alswesentliche Triebkrfte fr die europische Einigung ge

    nannt werden:

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    Friedenssicherung,Zugehrigkeit zu einer Wertegemeinschaft,Steigerung des wirtschaftlichen Wohlstands,mehr Einfluss in der Auen- und Sicherheitspolitik,

    die Aussicht auf greren Erfolg bei der Lsung grenzberschreitender Probleme,

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    der Wunsch nach guter Nachbarschaft im zusammenwachsenden Europa.

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    Die Bedeutung dieser Motive war im Zeitverlauf unterschiedlich gro und variiert auch von Land zu Land.

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    Friedenssicherung nach wie vor aktuell

    Die Idee der europischen Einigung ist nicht neu. Philosophen,Schriftsteller und Politiker wie Immanuel Kant (1724 1804), Victor Hugo (1802 1885), Aristide Briand (1862 1932) oder GustavStresemann (1878 1929) haben bereits vor langer Zeit sehr unterschiedlich ausgestaltete Plne zum friedlichen Zusammenleben der europischen Staaten zur Diskussion gestellt. DieseVorstellungen fanden in der ffentlichkeit durchaus Beachtung,Auswirkungen auf die politische Praxis hatten sie jedoch nicht.Erst die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges fhrte zu einemUmdenken und zu konkreten politischen Entscheidungen.

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    Whrend des Zweiten Weltkrieges sahen Teile der Widerstandsbewegung einen bersteigerten Nationalismus als eineder wesentlichen Ursachen fr das Ausbrechen von Kriegen

    in Europa an. Nach 1945 wurde dieser Gedanke in zahlreichenTreffen von Politikerinnen und Politikern und anderen engagierten Brgerinnen und Brgern intensiv diskutiert, unteranderem im September 1946 in Hertenstein, im August 1947in Montreux und im Mai 1948 in Den Haag.

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    Eine wichtige, auf diesen Treffen entwickelte These lautete,dass eine auf nationalen Konzepten basierende politischeOrdnung in Europa in der Vergangenheit immer wieder zuRivalitten und Spannungen, nachfolgend auch zu Aufrstung und kriegerischen Handlungen gefhrt hatte. Um dieseGefahr fr die Zukunft abzuwenden, schlug neben anderen

    auch Winston Churchill (1874 1965) in seiner viel zitiertenZrcher Rede vom 19. September 1946 einen staatenbergreifenden Ansatz vor. Dieser sollte die enge und vertrauensvolleZusammenarbeit, die bertragung von Zustndigkeiten ingenau definierten Teilbereichen sowie die friedliche Konfliktlsung durch ein gemeinsames europisches Gericht zurGrundlage haben.

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    Von besonderer Bedeutung in der Geschichte der europischen Einigung war der Vorsto des franzsischen Auenministers Robert Schuman (1886 1963). Dieser schlug am9. Mai 1950 die Grndung einer Europischen Gemeinschaftfr Kohle und Stahl (EGKS, oft auch als Montanunion bezeichnet) vor, an der alle europischen Staaten gleichberechtigt

    zusammenwirken sollten. Sein Hauptmotiv war die Vershnung zwischen Deutschland und Frankreich. Grundlage der

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    EGKS war die bertragung von Zustndigkeiten in genauabgegrenzten Bereichen an die Gemeinschaft. Entscheidungen sollten in neuartigen Gemeinschaftsverfahren getroffenwerden und gerichtlich berprft werden knnen.

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    Mit diesem Angebot wurde ein neuer Weg im Verhltniszwischen den Siegern und Verlierern eines Krieges beschrit

    ten, der Weg einer gleichberechtigten Partnerschaft. Auf dieser Grundlage konnte Deutschland wieder seinen Platz in dereuropischen Vlkerfamilie einnehmen, ohne dass die Nachbarn erneute Konflikte befrchten mussten. Noch heute ist esfr die europischen Nachbarn von besonderer Bedeutung,dass von Deutschland auch nach der erfolgten Wiedervereinigung durch die Einbindung in die europischen Strukturenkeine Kriegsgefahr mehr ausgeht.

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    In Anerkennung fr ihren Verdienst um die Erhaltung desFriedens wurde der EU im Dezember 2012 der Friedensnobelpreis verliehen. Fr die jngeren Menschen ist das Motiv derFriedenssicherung im Hinblick auf die europische Einigung

    jedoch heute etwas in den Hintergrund getreten, da Frieden

    als etwas Selbstverstndliches empfunden wird. Die aktuellenEreignisse in der Ukraine und im Grenzgebiet zwischen der

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    Frhe Vision fr Europas ZukunftDer 19. September 1946 war ein Festtag fr die Stadt Zrich. ZumEnde seines dreiwchigen Schreib- und Malurlaubs am GenferSee hatte sich der britische Kriegspremier und nunmehrige Oppositionsfhrer im Unterhaus, Winston Churchill, zu einer Redean die akademische Jugend in der Universitt angesagt. [...]

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    Erst sprach Churchill ber Europas Tragdie und die seinerBewohner, die ungeheure Masse zitternder menschlicher We

    sen, die geqult, hungrig, abgehrmt und verzweifelt auf dieRuinen ihrer Stdte und Behausungen starrt und die dsterenHorizonte angestrengt nach dem Auftauchen einer neuen Gefahr, Tyrannei oder neuen Schreckens absucht.

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    Das bedrckende Szenario bildete den Hintergrund der beiden zentralen Botschaften von Churchills Rede, die sie zur Sensation machten und in die Geschichtsbcher brachten:

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    1. Die Europische (Vlker-)Familie msse neu geschaffen,eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichtet werden. Einederartige Fderation knnte den verwirrten Vlkern dieses unruhigen und mchtigen Kontinents ein erweitertes Heimatgefhl und ein gemeinsames Brgerrecht geben.

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    2. Der erste Schritt zu einer Neuschpfung der Europischen

    Familie msse eine Partnerschaft zwischen Frankreich undDeutschland sein.

    Dies vorzgliche (sovereign) Heilmittel, so meinte Churchill,knne die immer noch mgliche Rckkehr des finsteren Mittelalters mit seiner Grausamkeit und seinem Elend verhindern, inwenigen Jahren den grten Teil des Kontinents frei und glcklich machen und Hunderte von Millionen sich abmhenderMenschen in die Lage versetzen, jene einfachen Freuden undHoffnungen wiederzuerhalten, die das Leben lebenswert machen. Zwar mssten die Schuldigen fr die Verheerung Europas und die in der Menschheitsgeschichte beispiellosen Verbrechen und Massenmorde bestraft werden, nach der Bestrafungaber msse es einen segensreichen Akt des Vergessens geben.

    Nur so knne Europa vor endlosem Elend und schlielich vorseinem Untergang bewahrt werden.

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    Let Europe arise!, rief er am Schluss seinen Zuhrern zu, vondenen manche noch nach Jahren die Erinnerung an ein erhe-

    bendes, aber auch verwirrendes Ereignis mit sich trugen: DieErzfeinde Frankreich und Deutschland sollten vershnt denGrundstock fr eine europische Union bilden. Hatte ich richtigverstanden? Kein Gedanke der Rache? So klang bei einer Zeitzeugin die berraschung noch nach vierzig Jahren nach [...].

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    In der Tat schien Churchills khne Vision unzeitgem zusein und fand im besten Fall eine freundlich zurckhaltende

    Aufnahme. Im patriotisch bewegten Frankreich reagierten dasoffizielle Paris und die Presse emprt auf den Vorschlag einerVereinigung (union) Europas unter der Schirmherrschaft,wieLe Monde(19. September 1946) schrieb, Frankreichs undDeutschlands. Der Friede in Europa hnge nach dem Ende derKampfhandlungen nicht mehr von den franzsisch-deutschenBeziehungen ab, sondern von der Beendigung der Rivalittzwischen der UdSSR auf der einen Seite und den VereinigtenStaaten und England auf der anderen Seite. Und im Bericht undKommentar derIllustrated London News(5. Oktober 1946, S. 370)hie es: Habe Churchill das Wort von den Vereinigten Staatenvon Europa mit der Absicht gebraucht, seine Zuhrer solltensich eine Fderation nach dem Muster der Vereinigten Staaten

    von Nordamerika denken, so sei eine solche offensichtlich eineUnmglichkeit, ein Ziel, das wnschbar oder nicht, auf jedenFall aber in einem Jahrhundert nicht erreichbar sei.

    Zwei Jahre darauf schien das eben noch Unmgliche docherreichbar zu werden, und beinahe triumphierend schrieb Randolph S. Churchill, in Zrich sei sein Vater mit dem Thema desVereinigten Europa der ffentlichen Meinung wieder einmalein gutes Stck voraus gewesen, aber nun [1948] htten sichalle nichtkommunistischen Parteien in Westeuropa und denUSA sein Anliegen zu eigen gemacht. [...] Drei Jahre spter schufen sechs Staaten mit der Europischen Gemeinschaft fr Kohleund Stahl (EGKS) so etwas wie eine europische Kernfamilie,die sich entgegengesetzt zu heutigen Familientrends nach und

    nach zu einer Grofamilie erweiterte und zugleich ihre innerenBindungen festigte. [...]

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    Gerhard Brunn, Die Europische Einigung von 1945 bis heute, Stuttgart: Philipp Reclamjun. 2009, S. 7 ff.

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    9Motive und Leitbilder der europischen Einigung

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    Trkei und Syrien machen jedoch deutlich, dass Kriege auch inEuropa und seiner unmittelbaren Nachbarschaft heute nochmglich sind.

    Erklrung der franzsischen Regierung zumSchuman-Plan vom 9. Mai 1950[] Europa lsst sich nicht mit einem Schlage herstellen und auchnicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunchst eine Solidaritt der Ta

    ten schaffen. Die Vereinigung der europischen Nationen erfordert, dass der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreichund Deutschland ausgelscht wird. Das begonnene Werk mussin erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen. []

    Die franzsische Regierung schlgt vor, die Gesamtheit derfranzsischdeutschen Kohlen- und Stahlproduktion unter einegemeinsame Oberste Aufsichtsbehrde (Haute Autorit) zustellen, in einer Organisation, die den anderen europischenLndern zum Beitritt offensteht.

    Die Zusammenlegung der Kohlen- und Stahlproduktion wirdsofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen fr die wirtschaftliche Entwicklung sichern die erste Etappe der europischen Fderation und die Bestimmung jener Gebiete ndern,

    die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind.Die Solidaritt der Produktion, die so geschaffen wird, wird

    bekunden, dass jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmglich ist. DieSchaffung dieser mchtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Lndern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit demZweck, allen Lndern, die sie umfasst, die notwendigen Grundstoffe fr ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungenzu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. []

    Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Obersten Behrde, deren Entscheidungen

    fr Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmendenLnder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten

    Grundstein einer europischen Fderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerlsslich ist. []

    Im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach ei

    ner Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Mrkte durcheinschrnkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoherProfite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Mrkte und die Ausdehnung der Produktion gewhrleisten.

    Die Grundstze und wesentlichen Vertragspunkte, die hiermit umrissen sind, sollen Gegenstand eines Vertrages werden,der von den Staaten unterzeichnet und durch die Parlamenteratifiziert wird. []

    Die gemeinsame Oberste Behrde, die mit der Funktion derganzen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhngigenPersnlichkeiten zusammensetzen, die auf parittischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemein

    sames Abkommen wird von den Regierungen ein Prsidentgewhlt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschlandund den anderen Teilnehmerlndern bindend sind. Geeignete Vorkehrungen werden Einspruchsmglichkeiten gegen dieEntscheidungen der Obersten Behrde gewhrleisten. Ein Vertreter der Vereinten Nationen bei dieser Behrde wird damitbeauftragt, zweimal jhrlich einen ffentlichen Bericht an dieOrganisation der Vereinten Nationen zu machen, der ber dieTtigkeit des neuen Organismus, besonders was die Wahrungseiner friedlichen Ziele betrifft, Rechenschaft gibt. []

    Agence France Presse-Informations et Documentations, Nr. 291 vom 13. Mai 1950. bersetzung des Europa-Archivs (Folge 11/1950, S. 3091 f.), in: Forschungsinstitut der deutschenGesellschaft fr Auswrtige Politik e. V., Dokumente und Berichte, Bd. 17, Teilband II.

    Europa-Dokumente zur Frage der europischen Einigung, hg. im Auftrag des AuswrtigenAmtes, Bonn 1962, S. 680 ff.

    ullsteinbildAlinariAr

    chives

    Mit der Unterzeichnung der Rmischen Vertrge am 25. Mrz 1957 entsteht die EWG.Christian Pineau (M.) unterzeichnet fr Frankreich, Konrad Adenauer (ganz re.)

    fr Deutschland.

    Zugehrigkeit zu einer WertegemeinschaftDie Ziele der europischen Einigung reichten von Anfang anber die Mehrung des wirtschaftlichen Wohlstands hinaus.Bereits die Grndung des Europarates (s. Glossar) erfolgte 1949

    mit dem Ziel der Achtung und Wahrung gemeinsamer Werte,zu denen neben der Friedenssicherung der Schutz der Menschenrechte und der Vorrang des Rechts gehren. Auch dieVertrge zur Grndung der Montanunion 1951, die RmischenVertrge 1957 (s. Glossar) sowie der Maastrichter Vertrag von1992 zur Grndung der Europischen Union (EU) enthalten allgemeine Bezge zu den grundlegenden gemeinsamen Wertender Mitgliedstaaten.

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    Mit dem Vertrag von Lissabon wurden 2007 die wesentlichen Merkmale dieser gemeinsamen Werte in Artikel 2des Vertrages ber die Europische Union folgendermaenzusammengefasst: Die Werte, auf die sich die Union grndet, sind die Achtung der Menschenwrde, Freiheit, Demo

    kratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung derMenschenrechte einschlielich der Rechte der Personen, dieMinderheiten angehren. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durchPluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit,

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    Solidaritt und die Gleichheit von Frauen und Mnnern auszeichnet.

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    Im Zusammenhang mit der Diskussion um die EU-Osterweiterung und der damit verbundenen Initiative zur Ausarbeitung einer Europischen Verfassung (s. Glossar) trat im

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    Jahr 2000 unter der Leitung des damaligen deutschen Bundesprsidenten Roman Herzog ein Konvent zusammen, derdie Charta der Grundrechte der EU ausarbeitete. Der Europische Rat (s. Glossar) von Nizza proklamierte diese Charta imDezember 2000 in Form einer feierlichen Erklrung. Mit demInkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Dezember 2009wurde diese Grundrechtecharta rechtsverbindlich.

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    Wirtschaftliche Beweggrnde: die Vorteile des

    BinnenmarktesEin weiteres herausragendes Motiv fr die europische Einigung war und ist die Nutzung der Vorteile eines groen europischen Binnenmarktes (s. Glossar). In einem gemeinsamenMarkt von 28 Staaten mit rund 500 Millionen Menschen kannbesser und billiger produziert werden als in einer nationalenVolkswirtschaft. Groe Serien ermglichen eine kostengnstigere Fertigung. Zustzliche Erschwernisse durch jeweils unterschiedliche nationale Zulassungsverfahren, Zlle oder Grenzkontrollen entfallen. Die gemeinsame europische Whrungder Mitgliedstaaten der Eurozone erhht die Vorteile desBinnenmarktes durch den Wegfall von Umtauschkosten undWechselkursrisiken wie Kursschwankungen.

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    Heute ist die EU weltweit der grte Wirtschaftsraum; zugleich ist sie die grte Handelsmacht der Erde. Zwar bringtdie groe Konkurrenz innerhalb des Binnenmarktes fr wirtschaftsschwchere Anbieter auch Nachteile, doch die Vorteile berwiegen bei weitem. In anderen Weltregionen (Nord

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    amerika, Sdostasien) versuchen benachbarte Staaten deshalb mit unterschiedlichem Erfolg, den wirtschaftlichen Zusammenschluss der EU nachzuahmen (NAFTA, ASEAN).

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    Wirtschaftliche Motive sind im Hinblick auf die EU-Mitgliedschaft noch in anderer Hinsicht von Bedeutung: Strukturschwchere EU-Staaten und -Regionen erhalten in vielfltiger Weise Untersttzung aus Brssel. Rund ein Drittelaller EU-Ausgaben flieen in die Regionalpolitik, und hier vorallem in die sogenannten Ziel-1-Gebiete, deren Einkommen

    unterhalb der Schwelle von 75 Prozent des EU-Durchschnittsliegt. Diese Frderung, die auch den ostdeutschen Lndernbeachtliche finanzielle Leistungen erffnete und noch erffnet, kommt heute vor allem den wirtschaftsschwachenRegionen in den neuen EU-Staaten in Mittel- und Osteuropazugute.

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    Bergmoser + Hller Verlag AG, Zahlenbild 714 005

    Einfluss in der Auen- und SicherheitspolitikDie Erkenntnis, dass die europischen Staaten heute als Einzelakteure auf der Weltbhne keine oder nur eine sehr eingeschrnkte Rolle spielen knnen, verstrkte die Motivationfr den europischen Zusammenschluss. Bereits Anfang der1970er-Jahre gab es Bemhungen zu einer Europischen Po

    litischen Zusammenarbeit (EPZ) mit dem Ziel, die damalsso empfundenen Defizite des Wirtschafts-Dinosauriers EGzu berwinden. Doch Vernderungen der Entscheidungsstrukturen und der Zustndigkeiten in der Auen- und Sicherheitspolitik waren damals nur auerhalb der Gemein

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    schaftsverfahren erreichbar. Konkret bedeutete dies, dassauen- und sicherheitspolitische Entscheidungen von denRegierungen unter Umgehung des Europischen Parlamentsnur einstimmig getroffen wurden und der Europische Gerichtshof nicht zustndig war. In wichtigen Fragen der Auenpolitik konnten sich die Mitgliedstaaten oft nicht auf eingemeinsames Vorgehen einigen.

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    Die vernderte weltpolitische Lage nach dem Ende des Kalten Krieges und die damit verbundenen hheren Erwartungen

    anderer Staaten an ein verstrktes Engagement der Europer vor allem seitens der USA erhhten den Druck auf die EU,eine grere weltpolitische Verantwortung zu bernehmen.Dies betraf vor allem die internationale Friedenssicherungund Krisenbewltigung. Konflikte und Kriege am PersischenGolf, in Ex-Jugoslawien und zuletzt auch in Afghanistan, imIrak, in Nordafrika, in Syrien und in der Ukraine belegen dieNotwendigkeit einer verstrkten Beteiligung der EU bei derLsung internationaler Konflikte. Die Union hat auf diese Anforderungen durch verbesserte Verfahren und Instrumente reagiert. Entsprechende Reformen wurden mit dem Vertrag vonLissabon vereinbart, der im Dezember 2009 in Kraft trat.

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    Die auenpolitischen Motive fr Europa schlieen auch

    die Zusammenarbeit mit Entwicklungslndern mit ein; hierleistet die EU auf der Grundlage der Vertrge mit einer Vielzahl von afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten(AKP-Staaten) seit Jahrzehnten einen sehr positiven Beitrag. Sie hat sich bei diesen Lndern durch ihre langjhrige

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    Zusammenarbeit mit neuartigen und partnerschaftlichenInstrumenten als Zivilmacht Europa erhebliches Vertrauenerworben.

    Kohlekraftgegner bilden im August 2014 bei Gro Gastrose an der deutsch-polnischen Grenze eine Menschenkette ber den Fluss Neie. Bei grenzberschreitenden Politik

    feldern wie der Klimapolitik und dem Umweltschutz ist ein gemeinsames Handeln auf europischer Ebene notwendig.

    CarstenKoall/GettyImages

    Grenzberschreitende Probleme fordern gemeinsame Lsungen

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    Viele der heutigen politischen Probleme knnen nationalnicht mehr wirkungsvoll angegangen werden diese Erkenntnis ist ein weiterer wesentlicher Beweggrund fr den

    Einigungsprozess. Am deutlichsten zeigt sich dies bei der Umweltpolitik. Die Bekmpfung von saurem Regen, die Reinhaltung der Flsse oder die Vorbeugung von Katastrophen, diemglicherweise durch technische Groprojekte wie Kernkraftwerke oder chemische Fabriken verursacht werden, knnen nur gemeinsam ber die Grenzen hinweg erfolgen. Anschauliche Beispiele hierfr sind die hilflosen internationalenReaktionen in den 1980er-Jahren auf Umweltkatastrophenwie das Reaktorunglck in Tschernobyl, die Rheinverseuchung nach einem Betriebsunfall der Chemiefirma Sandozin Basel (beide 1986) oder auch das Tankerunglck vor derspanischen Atlantikkste im Jahr 2002. Die Katastrophe im

    japanischen Atomkraftwerk Fukushima im Mrz 2011 zeigte

    erneut die Anflligkeit technischer Groprojekte und die Notwendigkeit eines gemeinsamen Handelns.

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    Auch in anderen Bereichen wird ein koordiniertes Vorgehen im EU-Rahmen zunehmend notwendiger. Dies betrifftdie Bekmpfung des internationalen Terrorismus, des Drogen

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    schmuggels und der internationalen Geldwsche ebenso wiedie Ankurbelung der Wirtschaft, die Schaffung neuer Arbeits

    pltze, die langfristige Sicherung der natrlichen Rohstoffeund die Behebung der Ursachen fr die weltweiten Migrationsstrme. In vielen Fllen wren globale Lsungen am wirkungsvollsten, doch werden entsprechende bereinknftewegen der fehlenden Verbindlichkeit etwa im Rahmen derVereinten Nationen hufig nicht eingehalten.

    EuropeanUnion2013Eur

    opeanParliament

    Mit Programmen wie Erasmus+ frdert die EU die allgemeine und berufliche Bildung junger Menschen und bietet ihnen Mglichkeiten, im Ausland zu studieren odersich fortzubilden. EP-Prsident Martin Schulz mit Studierenden im Rahmen der Unterzeichnung des neuen Programms im Dezember 2013

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    Den europischen Nachbarn besser kennen- undverstehen lernenNicht zuletzt gehrt zu den Motiven der europischen Einigung das Bestreben nach einer guten Nachbarschaft in Europa. Regionen, Stdte, Schulen und Vereine schlieen Partnerschaften; Schlerinnen und Schler, Studierende, junge

    Berufsttige und andere interessierte Brgerinnen und Brgernehmen an Austauschprogrammen teil und bauen damit einEuropa von unten auf. Derartige Kontakte werden erleichtertdurch offene Grenzen und verbesserte Sprachkenntnisse, diein Schulen, Universitten, Volkshochschulen und speziellenSprachkursen freier Trger, aber auch bei privaten Kontaktenerworben werden. Die EU frdert und untersttzt derartigeAktivitten durch eine Vielzahl von Programmen. Studierende knnen beispielsweise am Erasmus-Austauschprogrammteilnehmen und fr einige Semester im Ausland studieren.Fr Schulen gibt es das Comenius-Programm. Und durch dasLingua-Programm wird die Vermittlung von Sprachen untersttzt.

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    Viele Grnde sprechen fr eine Fortfhrung des europischen Einigungsweges. ber die Ausgestaltung und ber dasEndziel des geeinten Europa gab und gibt es allerdings unterschiedliche Vorstellungen. Diese wurden in den zurckliegenden Einigungsetappen immer wieder sichtbar.

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    Zielperspektiven und Leitbilder dereuropischen Einigung

    Von den handelnden Politikerinnen und Politikern wurde beimAufbau Europas immer wieder auf bestimmte europapolitischeLeitbilder Bezug genommen, die vor deren jeweiligem nationalen, politischen und kulturellen Hintergrund zu sehen sind. Besonders bedeutsam war und ist hierbei der Gegensatz zwischen

    fderalistischen und intergouvernementalistischen Leitbildern. Dabei geht es vor allem um die Frage, wie tiefgehend dieeuropische Integration voranschreiten soll. Whrend das ersteLeitbild einen mit Souvernittsrechten ausgestatteten europischen Bundesstaat favorisiert, bevorzugt das zweite eineneuropischen Staatenbund, der die Souvernitt der National

    staaten weitgehend unangetastet lsst. Daneben gibt es weitere Vorstellungen zur Zukunft Europas, wie das Konzept Europader Regionen oder differenzierte Anstze zu einer verstrktenZusammenarbeit einzelner Staaten oder Staatengruppen. ImKontext zunehmender Einwanderung in die EU aus rmerenund oft von Brgerkriegen betroffenen Weltregionen wird hufiger auch darauf Bezug genommen, ob die EU internationaleine Rolle als Partner Europa einnehmen will oder sich zu einer Festung Europa entwickeln wird.

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    In der politischen Praxis kommen diese Modelle in einerreinen Ausprgung nicht vor. Dennoch ist die Kenntnis dieserModelle wichtig fr eine Bestimmung der erreichten Integrationsdichte und der europischen Zielperspektiven.

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    Modell Europischer BundesstaatVor allem Vertreter der sechs Grndungsstaaten der Europischen Wirtschaftsgemeinschaft Deutschland, Frankreich,Italien, Belgien, Niederlande, Luxemburg sowie nach dem

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    13Motive und Leitbilder der europischen Einigung

    EU-Beitritt 1995 sterreich verfolgen als Zielperspektive deneuropischen Bundesstaat. Das fderale Modell erscheint auseiner deutschen Perspektive besonders einleuchtend, da esdem eigenen politischen System entspricht. Der EuropischeBundesstaat ist durch eine klare Kompetenzabgrenzung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten sowie durch jeweilshandlungsfhige und demokratisch legitimierte Regierungenauf den verschiedenen politischen Ebenen gekennzeichnet.Auch auf der europischen Ebene wrde die Regierung ausWahlen hervorgehen. Dies knnte beispielsweise dadurch ge

    schehen, dass der europische Regierungschef vom Europischen Parlament mit Mehrheit gewhlt wrde.

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    Alle Ebenen trgen eine Mitverantwortung fr das Gesamtsystem. Grundlage des demokratischen Zusammenlebenswre eine ausformulierte Verfassung, in der die Grund- undMenschenrechte als gemeinsame Werte verbindlich festgeschrieben sind. Der Europische Bundesstaat msste danebeneine klar definierte Zustndigkeit in der Auen- und Sicherheitspolitik sowie in der Wirtschafts- und Whrungspolitikerhalten. Zudem wrde die EU ber eigene Steuereinnahmenund ein Steuerfindungsrecht verfgen.

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    Hauptkritikpunkt an dem Modell ist der Machtverlust derMitgliedstaaten, der zur Folge htte, dass diese nicht mehr

    ber wichtige politische Fragen entscheiden knnten.In der Vergangenheit wurde eine Vielzahl von Plnen zur

    bundesstaatlichen Ausgestaltung Europas vorgelegt. Hervorzuheben sind dabei vor allem die Vorste des EuropischenParlaments aus den Jahren 1984 und 1996/1999. Dabei hat

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    dieses regelmig ein fderales Europa mit einer starken Stellung des Parlaments angestrebt. In den Jahren 2003 und 2004wurde unter starker Beteiligung der Parlamente der Entwurffr einen Vertrag ber eine Verfassung fr Europa ausgearbeitet. Dieser scheiterte jedoch im Mai bzw. Juni 2005 an negativen Volksentscheiden in Frankreich und den Niederlanden.

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    Jacques Delors: Fr eine Fderation derNationalstaatenAls Prsident der Europischen Kommission hat Jacques Delorszwischen Januar 1985 und Januar 1995 entscheidend dazu beigetragen, den europischen Binnenmarkt zu etablieren, und

    damit die Grundlagen fr die europische Wirtschafts- undWhrungsunion gelegt. [] In dem folgenden Gesprch [derZeitschrift Mittelweg 36] mit Jacques Delors wird die berzeugung deutlich, auf der seine europischen Ziele grnden. []

    Mittelweg 36: [] Welche Beziehung sehen Sie zwischen derdurch gemeinsame Werte verbundenen europischen Gesellschaft und den Nationalstaaten?

    Jacques Delors: Ich glaube weder daran, dass die Nationenverschwinden werden, noch an die vorherrschende Idee, dassdie Wirtschafts- und Whrungsunion die politische Integrationnach sich ziehen kann, zumal die politische Agora immer dieNation ist, und den besten Dienst, den man ihr in demokratischer Absicht erweisen kann, ist, die demokratische Ordnung

    im Rahmen des Nationalstaates zu respektieren. Deshalb binich fr eine Fderation der Nationalstaaten.Ich verlange nicht von den Deutschen oder den Franzosen,

    dass sie aufgeben, was sie sind, aber ich sage ihnen: Betrachtetsowohl eure gemeinsamen Werte als auch eure gemeinsamenInteressen in der Welt, so wie sie heute ist. Wenngleich Europadiese gemeinsamen Werte besitzt, bleibt die Nation dennochein Element der Zugehrigkeit, das weder zu vernachlssigenist noch berbewertet werden sollte. Wir haben alle Bindungenan ein nationales Erbe. Ich betone das umso mehr, als es gegenwrtig eine, wie [Sigmund] Freud sie bezeichnete, Faszinationfr die kleinen Unterschiede gibt: Serbien und Montenegro,Flandern und Wallonien, Irland. [...]

    All das muss man bekmpfen, nicht indem man die Partikularismen verhindert, sondern indem man den Leuten sagt: Wohin soll euch das fhren? Es gibt einerseits die Werte, die uns

    zusammenfhren, und andererseits eine Tendenz, uns voneinander abzuspalten. Solche Abspaltungstendenzen sind gegenwrtig immer noch zu beobachten. Warum? Weil die Menschender heutigen Zeit ein Unbehagen verspren. Sie haben Angstvor der Globalisierung, und sie klammern sich an ihr Territorium, an familire, geographische oder sonstige Bindungen. Zwischen der Globalisierung auf der einen Seite und den lokalenBindungen auf der anderen kann die Nation keine Synthesemehr herstellen, auer ber einen erbitterten Nationalismus,wie er in vielen europischen Lndern zu beobachten ist. DieGlobalisierung abzulehnen und sie zum absoluten Feind zu erklren, ist auch keine Lsung.

    Nur die Konstruktion Europas als Fderation der Nationen

    kann eine Antwort auf dieses Unbehagen, die Erschtterungdurch die Globalisierung, geben und dazu beitragen, die familiren wie auch geographischen Bindungen zu respektieren.Denn nur so knnen wir einen Ausgleich zwischen dem souvernen Staat, der bereit ist, bestimmte Befugnisse abzugeben,und der Globalisierung herstellen. []

    Meiner Ansicht nach ist ein Bewusstsein um gemeinsameInteressen zu wenig verbreitet. Dabei kann Europa durch dieFormulierung solcher gemeinsamen Interessen existieren undsich erneuern. []

    Jacques Delors: Gibt es eine europische Gesellschaft? Gesprch mit Nikola Tietze undUlrich Bielefeld, in: Mittelweg 36, H. 2/2011, S. 71 ff.

    Modell Europischer StaatenbundVor allem britische und skandinavische Stimmen pldieren frein pragmatisches europisches Vorgehen in Richtung eines

    wie auch immer ausgestalteten europischen Staatenbundes.Auch in Spanien und in vielen der neuen EU-Staaten in Mittel- und Osteuropa findet ein derartiges Konzept bei bedeutsamen politischen Parteien Untersttzung. Ein Staatenbundberuht auf einer Zusammenarbeit der Regierungen souverner Staaten, ohne dass diese das Letztentscheidungsrecht ausder Hand geben. Die Vertreterinnen und Vertreter der Regierungen entscheiden in der Regel einstimmig im Ministerrat oder im Europischen Rat der Staats- und Regierungschefsber alle wesentlichen Themen.

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    Aktuelle Probleme sollen durch die Bndelung der Krfte gemeinsam effizienter gelst werden. Ein starkes EuropischesParlament wird in diesem Konzept nicht angestrebt, da es die

    Handlungsmglichkeiten der Regierungen beschrnken wrde. Die Entscheidungsverfahren sind wegen des Einstimmigkeitszwangs langwierig und zumindest auf der europischenEbene demokratisch nicht hinreichend legitimiert. Die Verhandlungsergebnisse sind wegen der notwendigen Kompro

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    14 EUROPISCHE UNION

    misssuche unter Konsenszwang oftmals wenig zufriedenstellend. Zudem knnen solche Entscheidungen nur bedingt durchein unabhngiges europisches Gericht berprft werden.

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    Fr die Denkrichtung Europischer Staatenbund gibt esin den europischen Lndern eine lange Tradition: So lassensich zwischen Meinungsuerungen des damaligen franz

    sischen Staatsprsidenten Charles de Gaulle aus den frhen1960er-Jahren, den Reden der britischen PremierministerinMargaret Thatcher aus der zweiten Hlfte der 1980er-Jahreund aus Statements des ehemaligen tschechischen Staatsprsidenten Vclav Klaus oder des ungarischen Ministerprsidenten Viktor Orban deutliche Parallelen aufzeigen. In der Praxisist die EU heute schon merklich ber das Modell Staatenbundhinausgewachsen. Mehrheitsabstimmungen sind zum Beispiel bei Binnenmarktentscheidungen die Regel. EuropischesRecht geht vor nationalem Recht.

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    Modell Europa der RegionenDie europischen Regionen haben sich seit Mitte der 1980er-

    Jahre in der Diskussion um die Zukunft Europas verstrkt zuWort gemeldet und eine Weiterentwicklung von der EG/EU zueinem Europa der drei Ebenen gefordert. Auf einer solchendritten Ebene knnten die Regionen an der Entscheidungsfindung in der EU mitwirken. Ihrer Einschtzung nach befrchtendie Brgerinnen und Brger zunehmend eine unerwnschteZentralisierung von Macht auf der europischen Ebene.

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    Die Regionen waren zu Beginn des europischen Einigungsprozesses vorrangig Objekte europischer Politik. In der Folgedrngten sie jedoch auf strkere Mitwirkungsmglichkeitenin der EU. Der im November 1993 in Kraft getretene Vertragvon Maastricht (Vertrag ber die Europische Union, kurz EUV)enthielt eine Reihe von Positionsverbesserungen fr die Regio

    nen auf der europischen Ebene. Die wichtigsten davon sind:

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    Die Europische Union wird gekennzeichnet als eine neueStufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union derVlker Europas [...], in der die Entscheidungen mglichst offenund mglichst brgernah getroffen werden (Artikel 1 EUV).Diese brgernahe Entscheidung darf aus Sicht der Regionennicht bei der nationalen Ebene Halt machen.Im Ausschuss der Regionen (AdR) wirken heute 350 Vertreterinnen und Vertreter der Regionen und der kommunalen Ebene beratend an der europischen Rechtsetzung mit.

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    Durch die mit dem Vertrag von Maastricht genderte Festlegung der Zusammensetzung des Rates (Artikel 16 Absatz 2EUV) knnen heute auch Ministerinnen und Minister der regi

    onalen Ebene fr die Mitgliedstaaten im Rat handeln.

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    Mit der Verankerung des Subsidiarittsprinzips (s. Glossar)in Artikel 5 EUV ist auch die Bedeutung der unteren Ebenein der Gemeinschaft unterstrichen worden (siehe S. 19 undGrafik S. 49).

    Mit diesen Neuerungen hat sich die EU erkennbar in Richtungeines Europas der drei Ebenen weiterentwickelt, in dem neben den Mitgliedstaaten und der europischen Ebene auchdie Regionen eine eigenstndige Rolle spielen.

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    Ein Problem besteht allerdings darin, dass es eine allgemeinakzeptierte Definition von Region nicht gibt. Die Gre undMachtbefugnisse der Regionen sind in den EU-Staaten sehr un

    terschiedlich. Die Bandbreite reicht von den vergleichsweisefinanzstarken und einflussreichen deutschen und sterreichischen Bundeslndern mit Staatscharakter, eigener Regierungund Gesetzgebungsgewalt ber die Regionen in Belgien und dieAutonomen Gemeinschaften in Spanien bis hin zu dezentralen

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    Verwaltungseinheiten ohne autonome Gestaltungsmglichkeiten wie den vergleichsweise machtlosen britischen Grafschaften.

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    Regionen knnen jedoch in Europa eine wichtige Brckenfunktion bernehmen: Sie stellen berschaubare politischeEinheiten dar, mit denen sich ihre Brgerinnen und Brgerberwiegend identifizieren. Diese Problemnhe der regiona

    len Ebene wird als wesentliche Voraussetzung fr eine effiziente Umsetzung von getroffenen Entscheidungen angesehen.Zudem knnte es zur Legitimitt von europischen Entscheidungen beitragen, wenn die Brgerinnen und Brger ber dieRegionen an der Entscheidungsfindung beteiligt werden. Europisierung und Regionalisierung in Europa sind aus diesemBlickwinkel in einem engen Zusammenhang als zwei Seiteneiner Medaille zu sehen. Eine wachsende Zahl an Brgerinnenund Brger sieht in einer strkeren Regionalisierung der Europischen Union ein Gegengewicht zu den Zentralisierungstendenzen durch die EU-Organe. Die Vertreter der Regionen sehen darinwiederum ein Mittel, ihre Einflussmglichkeiten gegenber derstaatlichen und der europischen Ebene zu verstrken.

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    Ein wohldurchdachtes Konzept eines Europa der Regionenknnte also einen Beitrag zur strkeren Akzeptanz der europischen Einigung bei den Brgerinnen und Brgern leisten.Untersttzt wird das Modell von Regionalvertretungen sowiezurckhaltender von Politikerinnen und Politikern aus Staatenmit fderalen Strukturen (Belgien, Deutschland, sterreich). Vonden Gegnerinnen und Gegnern wird auf die Gefahr der Zersplitterung und der Lhmung des Entscheidungsprozesses durch allzu viele Beteiligte hingewiesen.

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    Modell Differenzierte IntegrationDie Schwierigkeiten, in einer grer werdenden EU Einigungsfortschritte zu erzielen, fhrten immer wieder auch zu ber

    legungen hinsichtlich einer differenzierten Integration. Modelle nach diesem Muster sind gekennzeichnet durch mehrere,sich teilweise oder vollstndig berlagernde Zusammenschlsse unterschiedlich ausgeprgter Integrationsdichte, die sichum einen fderalen Kern gruppieren. Auf diese Weise knnensich die Mitgliedstaaten in unterschiedlicher Zusammensetzung und mit abweichenden Aufgabenstellung beteiligen. Einderartiges Vorgehen erscheint auf den ersten Blick deswegenbesonders reizvoll, weil es leicht umsetzbar ist. Zu nennen sindhier drei Varianten, die bei nherer Betrachtung aber allesamtdeutliche Nachteile aufweisen:

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    Europa der zwei Geschwindigkeiten:Hier werden gemeinsame Ziele von allen Mitgliedstaaten verbindlich festgeschrie

    ben, doch nach unterschiedlichen Zeitvorgaben erreicht. Soknnen bei abweichenden Ausgangsvoraussetzungen neuepolitische Aufgaben in Angriff genommen werden, indem einfderaler Kern von Staaten vorangeht und die anderen Staaten sich verpflichten, nach einer festgelegten Zeit oder nachErreichen bestimmter Kriterien nachzufolgen. Nachteil diesesKonzepts ist es, dass in den Staaten, die nicht zum Integrationskern gehren, leicht das Gefhl einer Zweiklassengesellschaft entstehen kann. Dem kann jedoch dadurch entgegengewirkt werden, dass zgernde Staaten jederzeit aufgrundeigener Entscheidung oder nach Erfllung der vereinbartenKriterien zum Integrationskern hinzustoen knnen. DasKonzept Europa der zwei Geschwindigkeiten ist grundstz

    lich gemeinschaftskonform und steht der langfristigen Verwirklichung einer handlungsfhigen Europischen Unionnicht entgegen.

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    Vermehrtes Zulassen von staatlichen Sonderwegen (engl.:opting out):Einzelne Staaten knnen sich zeitlich begrenzt

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    15Motive und Leitbilder der europischen Einigung

    oder auf Dauer von gemeinsamen Entwicklungen ausklinken. Wie die Einfhrung des Euro beispielhaft zeigt, funktioniert dieses Verfahren, doch kann es institutionelle Probleme bei der Entscheidungsfindung aufwerfen und so dieSolidaritt zwischen den EU-Staaten gefhrden. Dennochbietet es in Blockadesituationen einen Ausweg.

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    Konzept der Variablen Geometrie:Hier finden sich einzelne Mitgliedstaaten in immer neuen Arrangements zurgemeinsamen Problemlsung pragmatisch zusammen.Beispielsweise knnten alle 28 Staaten an den Verfahrendes Binnenmarktes mitwirken, zehn von ihnen eine europische Forschungspolitik betreiben und acht andere sichzu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zusammenfinden. Dieses Verfahren gefhrdet nach Ansicht von Fachleuten jedoch die Solidaritt zwischen den Mitgliedstaatenund damit die EU als Ganzes. Zudem kann es eine demo

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    kratische Legitimation auf europischer Ebene kaum gewhrleisten. Deshalb lehnt die Mehrheit der EU-Staatendas Konzept ab.

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    Vor allem dann, wenn sich im Rahmen der erweiterten Europischen Union keine Einigungsfortschritte mehr erzielen

    lassen, knnte das Konzept des Europa der zwei Geschwindigkeiten an Attraktivitt gewinnen: Es ffnet den dazu bereiten EU-Staaten den Weg fr die zgige Errichtung einerdemokratischen und handlungsfhigen Europischen Union.Fr die anderen EU-Staaten mssten akzeptable vertraglicheRegelungen fr einen spteren Beitritt gefunden werden.

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    Kritisiert werden allerdings die sehr komplizierten Strukturen durch das Nebeneinander verschiedener Gruppierungen,die jeweils ber unterschiedliche Institutionen und Verfahrenverfgen.

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    Wenn Grobritannien aus der EU austretenwrde Endlich raus aus der Europischen Union: Viele Menschen inGrobritannien sympathisieren mit diesem Gedanken. AusSicht von DIW*-Chef Marcel Fratzscher htte der Brexit jedochdrastische Konsequenzen nicht nur fr das Knigreich.

    n-tv.de: Der britische Regierungschef David Cameron hat seinen Landsleuten versprochen, bei einem Wahlsieg [2015] bisEnde 2017 ein Referendum ber den Verbleib Grobritanniensin der Europischen Union abzuhalten. [] Schauen wir malauf die mglichen Folgen, die ein EU-Austritt fr Grobritannien htte. Welche Nachteile htte ein solcher Brexit?

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    Es gibt vor allem zwei groe Nachteile. Zum einen die Kostenfr den Finanzsektor. Grobritannien ist enorm abhngig vomFinanzplatz London, das neben New York, Tokio und Hongkongeines der wenigen Finanzzentren der Welt ist. London profitiertenorm von der Eurozone. So wird der Euro zum grten Teil dortgehandelt. Also in einem Finanzmarkt, der den Euro gar nichtals eigene Whrung hat. Wenn Grobritannien aus der EU austreten und eine andere Regulierung entwickeln wrde, dannknnte sich fortsetzen, dass die Europer darauf bestehen, dassdie Finanztransaktion des Euro auch in der Eurozone abgewickeltwird. Das htte fr Grobritannien massive negative Folgen.

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    Knnen Sie diese benennen?Der Finanzplatz London wre damit gefhrdet. Ein Groteil

    des Handels in Euroanleihen oder -whrung knnte abwandern Richtung Frankfurt, Paris, Mailand und Madrid. [] Damitwre fr London ein deutlicher Arbeitsplatzverlust und weniger Wachstum verbunden und ein riesiger Verlust an Steuereinnahmen durch weniger internationale Transaktionen. Londonwrde einen Teil seiner Mittlerrolle als Finanzplatz verlieren.

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    Sie sprachen noch von einem zweiten groen Nachteil.Die EU spricht in allen internationalen Fragen sei es Han

    del oder internationales Whrungssystem mit einer Stimme.TTIP verhandelt die EU beispielsweise fr alle Mitgliedsstaatenmit den USA. Das Gleiche gilt fr das mgliche Handelsabkommen mit China, dass jetzt angedacht wird. Als Gemeinschafthat die EU einen viel strkeren Einfluss als ein einzelnes Land

    alleine htte. Dadurch haben alle EU-Lnder immense Vorteile.Grobritannien wre durch einen Austritt quasi isoliert in vielen globalen Fragen und knnte seiner Position nicht wirklichmehr das gleiche Gewicht wie bisher verleihen.

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    Htte ein EU-Austritt auch Vorteile?Grobritannien wrde marginal Mitgliedsbeitrge sparen,

    bei Rechtsprechung und Regularien wre man nicht mehr aufBrssel angewiesen, sondern knnte viel selber machen. Dasbrchte viel mehr Entscheidungsfreiheit als jetzt innerhalb derEU. Letztlich wren die Vorteile also politisch und populistisch,und die Nachteile wirtschaftlicher Natur.

    Mal angenommen, Grobritannien wrde die EU verlassen: Was wren die Konsequenzen fr Rest-Europa?

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    Fr die EU wre es eine wirtschaftliche Schwchung. Vorallem die Gre gibt ihr global eine wichtige Rolle. Sie wrdeden Finanzplatz London verlieren und damit die Fhigkeit, ge

    meinsame Standards zu setzen. In einigen Bereichen wrde eszu noch strkeren Konflikten zwischen der EU und Grobritannien kommen als in der Vergangenheit, zum Beispiel was dieBankenunion und die Finanztransaktionssteuer angeht. []

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    Grobritannien wre durch einen Austritt nicht mehr Teildes Binnenmarktes. Wie aufwndig wre es, neue Vertrgeund Vereinbarungen zu schlieen?

    Letztlich wrde man mit Grobritannien wohl hnlich umgehen wie mit der Schweiz oder Norwegen und sagen: Ja, wirknnen eine Freihandelszone haben, aber ihr msst euch dannnach unseren Regularien und Kriterien richten. Grobritannienwrde da eher als Verlierer hervorgehen. Die EU wrde ihre Interessen hier deutlich behaupten.

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    [] In welchem Sinne msste die EU reformiert werden, umfr Grobritannien lukrativ zu sein?

    Grobritanniens Interesse liegt vor allem im Ausbau desHandels und in der ffnung der Finanzmrkte. Man mchtekeine weitere Integration. Hier besteht der groe Widerspruch.Der Euro kann nur bestehen, wenn weitere Reformen folgen:eine Bankenaufsicht, an der sich langfristig alle EU-Lnder beteiligen, eine strkere Koordinierung auf Seiten der Fiskalpolitik. Der Wunsch Grobritanniens, diese Integration nicht weiterzu betreiben, widerspricht dem Ansinnen, den Euro nachhaltiger zu machen. Das ist ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.Wenn die Lcke zu gro wird, dann wird es immer schwerer,eine gemeinsame Politik zu machen. Und langfristig muss diese

    Lcke geschlossen werden. []

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    Christian Rothenberg im Gesprch mit Prof. Dr. Marcel Fratzscher, Grobritannien wreder Verlierer, n-tv.de vom 4. August 2014* DIW = Deutsches Institut fr Wirtschaftsforschung Berlin

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    16 EUROPISCHE UNION

    Das reiche Europa schottet sich ab: Afrikanische Flchtlinge versuchen im Oktober 2014, ber den Grenzzaun zwischen Marokko und der spanischen Enklave Melilla zu gelangen.

    REUTERS/JosePalazon

    Festung Europa als Gegenbild

    Neben diesen zumeist positiv besetzten Leitbildern der europischen Einigung wird in der Diskussion um die Zukunft Europashufiger auch auf das Gegenbild der Festung Europa Bezuggenommen. Dieses Gegenbild ist gekennzeichnet durch ver

    schrfte Kontrollen an den Auengrenzen der EU, Diskussionenber die Wiedereinfhrung von Grenzkontrollen innerhalb derEU etwa zwischen Dnemark und Deutschland sowie durcheine restriktive Einwanderungs- und Asylpolitik der EU-Staaten.

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    Dabei wird unterstellt, dass sich die innerhalb der GrenzenEuropas lebenden Menschen auf einer Insel der Glckseligkeit von Sicherheit und Wohlstand befinden, whrend darumherum Armut herrscht und ein Kampf ums berleben stattfindet. Aus dieser Perspektive scheint es unabdingbar, dasssich die EU vor einem unkontrollierten Zuzug von Zuwanderern durch die Errichtung von Grenzanlagen und durch strengeKontrollen an den Auengrenzen schtzen muss. Dabei wirdhufig auf aktuelle Fernsehbilder von ankommenden Flcht

    lingen auf der italienischen Insel Lampedusa, auf Malta oderauch im griechischen Grenzgebiet zur Trkei verwiesen.

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    Ein derartiges Leitbild Festung Europa gilt allerdings ausvielerlei Grnden weder als eine realistische noch als eineerstrebenswerte Alternative fr die Zukunft des Kontinents.Kritikerinnen und Kritiker weisen zum einen darauf hin, dasses auch durch strenge Manahmen kaum gelingen wird, denunkontrollierten Zuzug von Umzugswilligen wirksam zu stoppen. Zum anderen knne eine Abschottung vor der Auenweltim Zeitalter der Globalisierung kein realistischer Weg sein.Nicht zuletzt sei die EU aufgrund des demografischen Wandels, der sich in einer rasch beralternden Bevlkerung und

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    einer schrumpfenden Erwerbsbevlkerung abzeichnet, zu einem gewissen Grad auf Zuwanderung angewiesen.

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    Zweckmiger sei es daher, mit den auer- und osteuropischen Staaten in einer guten Nachbarschaft zu leben undaktiv dazu beizutragen, dass dort, wo die Menschen leben,keine Notwendigkeit besteht, das eigene Land zu verlassen.

    Die Politik der EU ist in vielerlei Hinsicht darauf ausgerichtet,diese Ziele zu erreichen:

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    Seit vielen Jahren betreibt die EU eine aktive Nachbarschaftspolitik, die den Schwerpunkt in einer engen und vertrauensvollen Zusammenarbeit mit den Staaten in Osteuropa und in Nordafrika setzt.

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    Die Entwicklungspolitik der EU ist neben anderem daraufgerichtet, die Lebenssituation der Menschen in den Partnerstaaten zu verbessern, um ihnen dort ein menschwrdigesLeben zu ermglichen.

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    Vorrangiges Ziel der Gemeinsamen Auen- und Sicherheitspolitik der EU ist es zudem, Brgerkriege und andere kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern und die

    Lebenssituation der Menschen vor Ort durch humanitreAktionen zu verbessern.

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    Diskutiert wird zudem eine europische Einwanderungspolitik, die Zuzugswilligen einen legalen Zugang zur EUerffnen wrde. Eine Einigung ber Reichweite und Modalitten einer derartigen Politik erscheint allerdings angesichts der Einstimmigkeitserfordernis im Kreis der EU-Staaten in weiter Ferne.

    -

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    All diese Aktivitten sollen dazu beitragen, dass die EU nicht zu einer Festung Europa wird oder sogar werden muss, sondern einepositive Rolle als Partner Europa einnehmen kann.

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    17Motive und Leitbilder der europischen Einigung

    Der Schutz der EU-AuengrenzenWenn Manuel Mohr im Lagezentrum von Frontex auf Europaschaut, sieht er kleine grne Punkte auf einer Landkarte. Sieleuchten auf einem leinwandgroen Monitor vor ihm, der denMittelmeerraum zeigt. Er sieht Punkte die ganze trkische

    Kste entlang, ein Band mit Punkten an der bulgarisch-griechischen Grenze. Zwischen Libyen und Sizilien, wo Lampedusaliegt, ballen sich Dutzende zu einem dichten Teppich.

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    Es ist das Bild eines Kontinents, der sich bedroht fhlt. Eineriesige Insel der Glckseligen, umzingelt von Instabilitt, Unruhen und Hoffnungslosigkeit. Ein sicherer Hafen fr die, diedrin sind. Ein gelobtes Land fr jene, die rein wollen. Und reinwollen immer mehr. []

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    Das Lagezentrum, der situation room, befindet sich im 22.Stock eines glsernen Hochhauses in Warschau. Es ist einRaum ohne Fenster, getaucht ins blaue Licht der Bildschirme.Fnf bis sechs Beamte gehen hier still ihrer Arbeit nach. Es istdas Auge von Frontex, die Alarmanlage Europas. Hier laufen

    die Informationen von den Grenzen zusammen, auerdemvon angeschlossenen Nachrichtendiensten und Europol: Berichte, Satellitenbilder, Migrantenprofile, Wettervorhersagenund vieles mehr. Von hier aus organisiert das reiche Europaseine Abwehrstrategie gegen den Ansturm der Armen. []

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    2004 wurde die Agentur Frontex auf Beschluss des europischen Rates ins Leben gerufen, um auf die neuen Herausforderungen zu reagieren, die das Schengener Abkommen mitsich brachte. Durch den Wegfall der innereuropischen Grenzkontrollen wurde Grenzschutz pltzlich Sache jener EU-Lnderam Rande Europas. Gut fr Lnder wie Deutschland, die keineeuropische Auengrenze haben, schlecht fr Griechenland,Spanien und Italien.

    --

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    Der offizielle Auftrag von Frontex lautet, Grenzstaaten zuuntersttzen, die besonders stark von Kriminalitt wie Menschenhandel oder Schmuggel, vor allem aber vom Migrationsdruck betroffen sind. Dann schickt Frontex Verstrkung:Grenzschtzer aus anderen EU-Lndern oder Flugzeuge undNachtsichtgerte. Bestand das Team in der Zentrale im Grndungsjahr noch aus rund 20 Mitarbeitern, sind es heute schonber 300 hauptschlich abgesandte Grenzpolizisten ausanderen EU-Lndern. Sie steuern die Einstze und erstellenaufwendige Risikoanalysen, um vorherzusehen, an welchenGrenzen es die nchsten Probleme geben wird. [] Grenzschutz heit fr Frontex [] schon lange in erster Linie Migrationsverhinderung.

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    Auch aus diesem Grund will die Kritik an Frontex nicht verstummen. Menschenrechtsorganisationen sehen Frontex alsInstrument einer zynischen Abschottungspolitik. [] Dabeimachen sie doch nur ihren Job, den Brssel ihnen aufgetragenhat. Zune und Patrouillen verhindern keine Migration, sagtMohr [Einsatzleiter im Lagezentrum und zustndig fr dieKommunikation zwischen Frontex und den Einsatzgebieten].

    Da ist andere politische Arbeit gefordert. Dann mssten sichnicht mehr so viele ins Boot setzen und ihr Leben riskieren.[]

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    Allein im Jahr 2013 habe Frontex an Seerettungen von 37 000Menschen mitgewirkt, sagt [Batrice Comby, Direktorin derAbteilung Kapazittsaufbau]. Die Franzsin kmmert sich da

    rum, fr Einstze das richtige Personal und die ntige Ausrstung bereitzustellen.

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    Tatschlich zwingen das internationale Seerecht und dasVlkerrecht alle Grenzschtzer, Menschen in Seenot sofort zu

    retten und an den nchstgelegenen Hafen zu bringen. In derPraxis hie das fr manche Flchtlinge aber, dass sie wiederdahin gebracht wurden, wo sie aufgebrochen waren. Oder aneinen Ort, an dem ihnen Verfolgung drohte. Im europischen

    Abwehrkampf gegen illegale Einwanderer wird geltendesRecht schnell zur Auslegungssache. Deshalb gilt bei Frontex-Operationen seit diesem Sommer eine neue EU-Verordnung: Flchtlinge in Seenot drfen nur noch in das EU-Landgebracht werden, in dessen Hoheitsgebiet die Operation stattfindet. So werden aus Grenzschtzern immer fter Seeretter.Manchmal sogar unfreiwillig Verbndete im zynischen Kalklder Schleuser. Da fast jedes Flchtlingsboot berfllt ist unddamit rechtlich als seeuntauglich gilt, wird es gerettet, sobaldwir es entdecken, erklrt Comby. Das ist ein Automatismus,den auch die Schleuser in Libyen mitbekommen haben. Dieknnen ihre Flchtlinge nun mit gestiegenen Erfolgschancenlocken. Bisher hatten sie nicht einmal davor zurckgeschreckt,

    Flchtlingsboote zu zerstren, wenn die Kstenwache sich nherte so wollten sie die Rettung erzwingen. []

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    Frontex ist als Institution eine Fehlkonstruktion, meintTom Koenigs, Menschenrechtsbeauftragter von Bndnis 90/Die Grnen: Weil man sich nicht traut, die Verantwortungfr den Schutz der Flchtlinge zu bernehmen, statt allein frden Schutz der Grenzen. Nach Jahren harter Kritik werde inder Chefetage von Frontex heute viel ber Menschenrechtegesprochen. Frher unterstrich Frontex seine effiziente Arbeit,indem die Agentur regelmig die Zahl zurckgeschobenerFlchtlinge meldete. Inzwischen rede man lieber ber die Zahlaus Seenot geretteter Menschen. []

    Frontex koordiniert auch in Europas Binnenstaaten die

    Deportation von Flchtlingen, die nach EU-Recht als illegalgelten. Die Abschiebehftlinge werden auf europischenFlughfen eingesammelt und per Charterflug in Drittstaatengebracht. Vom Flughafen Dsseldorf gehen regelmig Flgenach Serbien und Mazedonien ab. Durch hartnckige Lobbyarbeit sorgten Organisationen wie Pro Asyl und Amnesty International dafr, dass Menschenrechte ein Teil der Grundstzevon Frontex wurden, ebenso der Zurckweisungsschutz frFlchtlinge. []

    --

    Im vergangenen Jahr haben der Ministerrat und das Europische Parlament der Agentur Frontex eine Menschenrechtsbeauftragte an die Seite gestellt. []

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    Inmaculada Arnaez schreibt Richtlinien fr Frontex-Ope

    rationen fest und schult die daran beteiligten Grenzschtzer.Ihre Mission: Beamte sensibilisieren fr die menschlichen Fragen ihrer Arbeit. [] Arnaez ist Pragmatikerin, sie findet auchnichts dabei, auf Massenabschiebeflgen dabei zu sein, dieFrontex durchfhrt. Sie hat die Gesetze nicht gemacht, die daumgesetzt werden. Aber sie will dafr sorgen, dass die Menschen mit Wrde und Respekt behandelt werden, mit so wenig Zwang wie mglich. []

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    Am Ende bleibt die Frage, wie sich all das mit dem europischen Geist vertrgt. Oder ob er nur bis zur Grenze reicht. []

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    Thomas Brnthaler, Malte Herwig, An ihnen fhrt kein Weg vorbei, in: SddeutscheZeitung Magazin, Nr. 27 vom 4. Juli 2014

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    MELANIE PIEPENSCHNEIDER

    Vertragsgrundlagen undEntscheidungsverfahrenMit dem Vertrag von Lissabon hat sich die EU von einerDachorganisation hin zu einer eigenstndigen Rechtspersnlichkeit entwickelt. Kritische Stimmen monieren

    allerdings die fehlende demokratische Legitimationdes Vertragswerks und fordern mehr Einflussmglichkeiten der Brgerinnen und Brger.

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    Der Vertrag von Lissabon eine neueverbesserte Rechtsgrundlage

    Die aktuelle primrrechtliche Grundlage fr das Handeln derEuropischen Union ist der Vertrag von Lissabon (s. Glossar).Er trat am 1. Dezember 2009 in Kraft. Der Vertrag besteht auszwei (Teil-)Vertrgen, wobei der Vertrag ber die EuropischeUnion (EUV) die Grundanlage der EU beschreibt, whrend derVertrag ber die Arbeitsweise der Europischen Union (AEUV)vor allem das Handeln der Organe und die Zustndigkeitender EU przisiert. Mit dem Vertrag von Lissabon gibt es fr dieinstitutionelle Organisation der europischen Integration nurnoch die Bezeichnung EU, die bisherigen Europischen Gemeinschaften (EG und Euratom) gehen in der EU auf.

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    Der Vertrag nennt und bekrftigt die Werte und Ziele, aufdenen die Europische Union aufbaut. Er steht fr ein Europa der Freiheit und Sicherheit und sieht neue Instrumente derSolidaritt vor. Jeder Mitgliedstaat der EU muss die Grundwerte achten: Menschenwrde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit,

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    Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Minderheiten. Die sozialenBelange der Brgerinnen und Brger werden den wirtschaftlichen Zielen der EU gleichgestellt. Die EU erhlt mehr Kompetenzen in den Bereichen Freiheit, Sicherheit und Recht. DasLeitbild der sozialen Marktwirtschaft wird erstmalig im europischen Vertragswerk genannt, ebenso der Grundsatz derreprsentativen Demokratie.

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    Der Lissabonner Vertrag bedeutet nach einer Phase der Stagnation und des Nachdenkens einen Schritt in die Zukunftder EU, auch wenn er hinter den Zielen und Inhalten des nichtin Kraft getretenen Verfassungsvertrages von 2004 zurck

    bleibt. Der Reformvertrag weist eine hohe Detaildichte auf. FrLaien sind viele Regelungen nur schwer zu durchschauen. Voneinem knappen, verstehbaren Grundvertrag ist er weit entfernt. Trotzdem ermglicht der Reformvertrag im Vergleich zuseinen Vorgngern (EWG-Vertrag, Einheitliche EuropischeAkte, Maastrichter Vertrag, Vertrag von Amsterdam, Vertragvon Nizza) mehr Transparenz und Klarheit.

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    Die EU eine RechtsgemeinschaftDie beiden Teilvertrge des Lissabonner Vertrages sind klassische intergouvernementale Vertrge (Primrrecht). Die Regierungen der damals 27 Mitgliedstaaten haben sie ausgearbeitetund nach den Regeln ihrer nationalen Verfassungen ratifiziert.

    Mit den Vertrgen werden Souvernittsrechte durch dieMitgliedstaaten auf die EU bertragen. Die EU gewinnt ihreSouvernitt somit durch die Abgabe von Souvernittsrechten seitens der Mitgliedstaaten (Souvernittsgewinn durchSouvernittsverzicht) und bildet eine eigene Rechtsgemein

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    Festakt in Portugal : Am 13. Dezember 2007 unte rzeichnen die EU-Mitglieder hier der zypriotische Prsident Tassos Papadopoulos und seine Auenministerin EratoKozakou-Marcoullis bei der Unterschrift den Vertrag von Lissabon.

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    ERICFEFERBERG/AFP/GettyImages

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    19Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren

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    schaft, das heit, die Organe der EU setzen fr die EU, derenMitgliedstaaten, ihre Brgerinnen und Brger (natrlichePersonen) sowie Krperschaften (juristische Personen) unmittelbar geltendes Recht (Sekundrrecht). Die EU kann frdie Mitgliedstaaten politisch handeln, Gesetze erlassen unddurchsetzen wenngleich nur im Rahmen ihrer in den Vertr

    gen niedergelegten Zustndigkeiten. Die EU verfgt also bereine eigene Rechtspersnlichkeit. Sie ist befugt, vlkerrechtlich verbindliche Vertrge abzuschlieen und internationalenOrganisationen beizutreten. Das eigenstndige Generierenvon Zustndigkeiten (Kompetenzkompetenz) ist fr die EUund ihre Organe grundstzlich nicht zulssig. Ferner bleibendie Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen, etwa in Teilender Auen- und Sicherheitspolitik, weiterhin die entscheidenden Akteure.

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    Auf diese Weise wird eine vorrangige Rechtsordnung gegenber dem nationalen Recht ausgebildet (Europarecht brichtnationales Recht). Das sekundre Gemeinschaftsrecht wirdvon den (Haupt-)Organen der EU der Kommission, dem Rat

    der Europischen Union und dem Europischen Parlament(EP) gesetzt. Der Gerichtshof der Europischen Union legt dasRecht aus. Im Laufe der Zeit ist so ein dichtes Netz von rechtlichen Regelungen entstanden. Das Primrrecht und das darausentstandene sekundre Gemeinschaftsrecht werden auch als

    gemeinschaftlicher Besitzstand (frz.: acquis communautaire)bezeichnet.

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    Der Vertrag von Lissabon verleiht der im Dezember 2000von den Staats- und Regierungschefs der EU unterzeichneten Grundrechtecharta Rechtsverbindlichkeit, auch wenn sienicht unmittelbar in das Vertragswerk aufgenommen wurde.EU-Brgerinnen und -Brger knnen sich vor dem Gerichtshofder EU auf dieses Dokument berufen. Polen und Grobritanni

    en haben einopt outeingerumt bekommen, fr sie geltenim Hinblick auf die Zustndigkeiten des EU-Gerichtshofes undder nationalen Gerichte Ausnahmeregelungen.

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    Die Kompetenzen der EUGrundstzlich gilt in der EU das Prinzip der begrenzten Einzelermchtigung: Die EU darf also nur innerhalb der Grenzenderjenigen Zustndigkeiten ttig werden, die die Mitgliedstaaten ihr bertragen haben. Im Laufe der Zeit sind der EUauf fast allen klassischen Politikfeldern von den Mitgliedstaaten Kompetenzen bertragen worden. Dabei knnen sich dieGesetzgebungskompetenzen der EU je nach Politikfeld unterscheiden.

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    So gibt es

    ausschlieliche Zustndigkeiten der EU: hier setzt die EUverbindliches Recht;geteilte Zustndigkeiten: sowohl die EU als auch die Mitgliedstaaten knnen gesetzgeberisch ttig werden;

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    untersttzende Zustndigkeiten: die EU ergnzt oder koordiniert Manahmen der Mitgliedstaaten;

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    Sonderformen fr die Koordinierung der Wirtschafts- undBeschftigungspolitik sowie fr die Auen- und Sicherheitspolitik.

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    Zwei Prinzipien sind fr die Rechtsetzung leitend: Das Subsidiarittsprinzip regelt, dass die EU in den Politikfeldern, die

    nicht in ihre ausschlieliche Zustndigkeit fallen, nur dannttig werden darf, wenn die Ziele von den Mitgliedstaatenallein nicht erreicht werden. Das Prinzip der Verhltnismigkeit bedeutet, dass grundstzlich nur Manahmen ergriffen werden drfen, die geeignet, erforderlich und angemessen sind.

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    Der Lissabonner Vertrag sieht erstmals die Mglichkeit derRckverlagerung von Kompetenzen an die Mitgliedstaatenvor. Auf diese Weise begegnen die vertragschlieenden Staaten der Kritik, die EU sei eine alle Grenzen ausschpfende undin Teilen sogar berschreitende Organisation, die einmal aufsie bertragene Aufgaben nicht mehr aufzugeben bereit sei.

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    Bergmoser + Hller Verlag AG, Zahlenbild 714 020

    EntscheidungsverfahrenDer Lissabonner Vertrag hat das Verfahren zur Vertragsnderung reformiert: Sowohl der zur Ausarbeitung der EU-Grundrechtecharta und des Verfassungsvertrages eingesetzteKonvent als auch das Ordentliche Verfahren zur Vertragsnderung wurden in das Vertragswerk aufgenommen. Ob einKonvent zur Ausarbeitung von nderungsvorschlgen eingesetzt wird oder nicht, bedarf immer der Zustimmung des Europischen Parlaments. ber die nderungsvorschlge musszunchst eine Regierungskonferenz beschlieen, abschlieend mssen sie nach den nationalen verfassungsrechtlichenVerfahren von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden. Andersals die Regierungskonferenz setzt sich der Konvent nicht nur

    aus Regierungsvertretern der Mitgliedstaaten zusammen; anihm nehmen auch Vertreter des Europischen Parlaments, dernationalen Parlamente und der Kommission teil. Damit sollendie nderungen am europischen Vertragswerk auf eine grere politische Basis gestellt werden.

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    20 EUROPISCHE UNION

    Informationen zur politischen Bildung Nr. 279/2015

    picture alliance / dpa-infografik, Globus 5915; Datenquellen: Europische Union, Bundeszentrale fr politische Bildung

    An dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zuvor Mitentscheidungsverfahren genannt sind die Kommission, dasEP und der Rat der EU beteiligt. Das Verfahren sieht drei Lesungen und gegebenenfalls ein Vermittlungsverfahren vor.

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    Nach wie vor hat die Kommission das alleinige Initiativrechtfr Gesetzgebungsakte; in speziellen Fllen gibt es aber auchdie Mglichkeit, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten, das EPoder der Rat der EU die Kommission dazu auffordern, eine Gesetzesinitiative einzuleiten. Der Gesetzesvorschlag der Kommission wird dann von EP und Rat der EU errtert. Bei unvereinbaren Positionen ist ein Vermittlungsverfahren vorgesehen.Wird hier keine Einigung erzielt, ist der Rechtsakt (s. Glossar)gescheitert; kommt eine Einigung zustande, haben Rat und

    EP jeweils sechs Wochen Zeit, den gemeinsamen Entwurf zuerlassen; geschieht dies nicht, ist der Rechtsakt ebenfalls gescheitert. Entscheidend bei diesem Gesetzgebungsverfahrenist, dass sowohl das EP wie auch der Rat gleichberechtigt daranteilnehmen.

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    Der Rat der EU entscheidet entweder einstimmig, mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit. Fr sensible Politikmaterien,die die vitalen Interessen der Mitgliedstaaten berhren, ist dieEinstimmigkeit vorgesehen. Verlangt das Vertragswerk eineeinfache Mehrheit, dann hat jedes Mitgliedsland eine Stimme. In den meisten Fllen sieht der Vertrag eine Abstimmungmittels qualifizierter Mehrheit vor. Eine qualifizierte Mehrheitist erreicht, wenn folgende Bedingungen erfllt sind: Zustim

    men mssen mindestens 55 Prozent der Mitglieder im Rat, diegemeinsam mindestens 65 Prozent der EU-Bevlkerung abbilden (doppelte Mehrheit); jedes Mitgliedsland hat dabei eineStimme. Die Sperrminoritt liegt bei vier Staaten, die 35 Prozent der EU-Bevlkerung abbilden.

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    Fr eine bergangszeit bis zum 1. April 2017 kann jedoch jedesLand, wenn eine qualifizierte Mehrheit vertraglich vorgesehenist, beantragen, nach den alten Regeln aus dem Nizza-Vertrag abzustimmen. Hierbei werden die Stimmen gewichtet:Die Mehrheit der gewichteten 352 Stimmen muss erreichtwerden, das heit 260 Stimmen (70 Prozent); die Mehrheit derMitgliedstaaten muss zustimmen, und diese Mehrheit muss62 Prozent der EU-Bevlkerung reprsentieren. D. h. mit 92 Gegenstimmen kann eine Mehrheit verhindert werden.

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    Die Staffelung der Stimmen von mindestens drei und maximal 29 Stimmen bevorzugt die kleineren Mitgliedstaaten.Durch die Bevlkerungsquote erhalten die Mitgliedstaatenmit groem Bevlkerungsanteil wiederum mehr Gewicht.

    In einer Erklrung zum Vertrag von Lissabon sind weitereAusnahmen und Quoren fr die Zeitspanne zwischen dem1. November 2014 und dem 31. Mrz 2017 sowie ab dem 1. April2017 festgeschrieben. Dies macht deutlich, wie sensibel undschwierig das Thema der Gewichtung und damit des Einflusses der Mitgliedstaaten auf Entscheidungen im Rahmen derEU ist. Hufig werden die Entscheidungen im Rat jedoch imKonsens getroffen, sodass die Abstimmung mittels qualifizierter Mehrheit gar nicht zur Anwendung kommt auch wennsie im Vertrag vorgesehen ist.

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    Im Rahmen der Entscheidungsverfahren sind verschiedeneGesetzesnormen vorgesehen. Diese lassen sich wie folgt charakterisieren:

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    Verordnungengelten unionsweit unmittelbar, sind in allenTeilen verbindlich und stehen ber nationalem Recht;Richtlinienmssen von den Mitgliedstaaten, an die sie gerichtet sind, in nationales Recht umgesetzt werden, ihre Ziele sind verbindlich;

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    21Vertragsgrundlagen und Entscheidungsverfahren

    Beschlssesind fr die benannten Empfnger, zum BeispielStaaten oder Unternehmen, in allen Teilen verbindlich;Empfehlungen sind unverbindlich, ebenso wie Stellung-nahmen.

    Rat und EP ben gemeinsam auch die Haushaltsbefugnis aus.

    Der Vertrag von Lissabon legt folgende Instrumente fr denBereich des Haushaltes fest:

    Eigenmittel:Hierbei handelt es sich um Einnahmen der EUaus eigenem Recht, auch wenn die Mitgliedstaaten letztendlich darber befinden und die EU keine eigenen Steuernerhebt.

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    Mittelfristiger Finanzrahmen (MFR):Die EU verabschiedetfr eine Periode von sieben Jahren einen MFR. Nach zweieinhalbjhriger Verhandlung beschloss der Rat im Dezember 2013 einen MFR fr die Jahre 2014 2020, der im Einklangmit der Wachstumsstrategie Europa 2020 (s. Glossar) einePriorisierung der Politik der EU fr eine nachhaltige Entwicklung im Bereich Wachstum, Wettbewerbsfhigkeit und

    Beschftigung sichert und jhrliche Ausgabenobergrenzenfr die Politikfelder festlegt. Hiermit werden Schwerpunktefr das zuknftige Handeln der EU gesetzt und Planungssicherheit sowohl fr die Mitgliedstaaten als auch fr dieEU-Organe hergestellt.

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    EU-Haushaltsplan: Er beinhaltet die Einnahmen und Ausgaben der EU fr ein Jahr.

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    Das Verfahren zur Aufstellung des Jahreshaushalteswurdedurch den Vertrag von Lissabon vereinfacht und dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren angepasst. Das EP und der Ratentscheiden (jetzt) gemeinsam ber den gesamten EU-Haushalt. Der Rat kann ein ablehnendes Votum des Parlaments

    nicht berstimmen. In einem solchen Fall muss die Kommission einen neuen Haushaltsentwurf vorlegen, und das Verfahren beginnt von vorne.

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    Liegt bis zum Jahresbeginn kein verabschiedeter Haushaltvor, tritt die sogenannte Zwlftel-Regelung in Kraft. Jeweils einZwlftel des vorjhrigen Haushaltes wird pro Monat zur Verfgung gestellt. Der damit eingeschrnkte politische Gestaltungsspielraum soll die Einigung zwischen EP und Rat frdern.

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    Die EU Arena politischer Macht

    Prsident des Europischen RatesDer Prsident des Europischen Rates (PER) wird fr die Dauervon zweieinhalb Jahren mit qualifizierter Mehrheit durch denEuropischen Rat gewhlt. Das bis zum Vertrag von Lissabongltige halbjhrliche Rotationsverfahren wird damit abgeschafft. Dies sichert mehr Kontinuitt im Amt. Zudem darf derPrsident des Europischen Rates gleichzeitig kein nationalesStaatsamt mehr innehaben.

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    Der PER gibt dem Europischen Rat Impulse, bereitet zusammen mit dem Kommissionsprsidenten seine Treffen vorund leitet dessen Sitzungen. Er ist ehrlicher Makler in derRunde der im Europischen Rat vertretenen Staats- und Regierungschefs, des Kommissionsprsidenten sowie des beratend

    teilnehmenden Hohen Vertreters der Union fr Auen- undSicherheitspolitik (s. Glossar). Der Prsident legt dem EP zweimal pro Halbjahr einen Bericht vor und unterrichtet es berseine politischen Aktivitten. Darber hinaus vertritt er dieEU auch selbst in Angelegenheiten der Gemeinsamen Auen

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    und Sicherheitspolitik (GASP, s. Glossar) und dies unbeschadet der Befugnisse des Hohen Vertreters.

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    Der Europische Rat wird durch den Vertrag von Lissabon inden Rang eines Organs der EU erhoben. Er hat insbesonderein Krisenzeiten eine zentrale Rolle bei der Koordination vonPositionen der Mitgliedstaaten und bei der Entwicklung vonLsungsanstzen.

    Erster gewhlter EU-Ratsprsident war von Dezember 2009bis Ende November 2014 fr zwei Amtszeiten der ehemalige

    belgische Premierminister Herman Van Rompuy. Ihm folgteab Dezember 2014 der ehemalige polnische MinisterprsidentDonald T