Europalinks ND beilage-2014

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europalınks Beilage der Tageszeitung neues deutschland in Zusammenarbeit mit der Zeitschrift LuXemburg Februar 2014 Europa hat eine andere Zukunft Was ist uns Europa? Vor den Wah- len zum Europäischen Parlament im Mai und eine der schwersten Kri- sen vor Augen suchen die Linken auf dem Kontinent nach Antworten. Europa ist mehr als die EU, mehr als ihre von neoliberalen Paradig- men getränkten Institutionen, mehr als der Euro, sagen die einen – und verweisen auf die großen Ideale der Integration, auf die Chancen linker Veränderung. Europa ist das, was uns in Ge- stalt undemokratisch-autoritärer Apparate, als Motor der Militari- sierung und Verwertungslogik, was uns als deutsches Machtprojekt ge- genübertritt, sagen die anderen – und betonen die Dauerhaftigkeit der ökonomischen und politischen Ver- hältnisse, die dem zugrunde liegen. Was ist uns Europa? So wichtig ein – mit Gramsci gesprochen – mitreißender Optimismus des Wil- lens europäischer linker Politik und Praxis ist, so notwendig ist ange- sichts der Krise Europas ein Pessi- mismus des Verstandes. Das Un- behagen gegenüber Brüssel, Stras- bourg, gegenüber einer von der deutschen Regierung orchestrier- ten Krisenpolitik; die Wut ob der sozialen und politischen Folgen, die Hoffnungslosigkeit, die angesichts der schieren Unbeweglichkeit eu- ropäischer Verhältnisse und der momentanen Schwäche der euro- päischen Linken aufkommen kann – all das beruht auf der realen Er- fahrung von Millionen. Und es lässt sich nicht allein mit wohlfeilen Ap- pellen an eine bessere europäische Idee überwinden. Was ist unser Europa?, ist die Frage der Stunde für eine euro- päische Linke, die sich ihrer Schwierigkeiten und Fehler be- wusst ist, die nach neuen Wegen und besseren Antworten sucht – und dabei nicht vergisst, dass es am Ende die Menschen selbst sein wer- den, die über ihre Geschicke ent- scheiden wollen. Ein anderes Europa ist möglich. Und es ist nötig. Die seit 2008 gras- sierende Krise macht den Charak- ter der gegenwärtig herrschenden politischen, ökonomischen und konstitutionellen Grundlagen der EU für alle sichtbar. Die Linken sind aufgerufen, Europa eine andere Zukunft vorzuschlagen. Die hier vorliegende Sammlung, die Beiträge aus Griechenland, Spanien, Frankreich, Kroatien, Ös- terreich, Italien, Deutschland und anderen Ländern zusammen- bringt, soll dazu einen Beitrag leis- ten. Tom Strohschneider Daniel Albarracín Nacho Álvarez Fabio Amato Walter Baier Mario Candeias Stipe Ćurković Giorgos Galanis Thomas Händel Michel Husson Pierre Laurent Francisco Louçã Bibiana Medialdea Sandro Mezzadra Mariana Mortagua Toni Negri Lukas Oberndorfer Özlem Onaran Bernd Riexinger Anne Steckner Armando F. Steinko Alexis Tsipras Stavros Tombazos

Transcript of Europalinks ND beilage-2014

europalınksBeilage der Tageszeitung neues deutschlandin Zusammenarbeit mit der Zeitschrift LuXemburg

Februar 2014

Europa hat eine andere ZukunftWas ist uns Europa? Vor den Wah-len zumEuropäischen Parlament imMai und eine der schwersten Kri-sen vor Augen suchen die Linken aufdem Kontinent nach Antworten.Europa ist mehr als die EU, mehr

als ihre von neoliberalen Paradig-men getränkten Institutionen,mehr als der Euro, sagen die einen– und verweisen auf die großenIdeale der Integration, auf dieChancen linker Veränderung.Europa ist das, was uns in Ge-

stalt undemokratisch-autoritärerApparate, als Motor der Militari-sierung und Verwertungslogik, wasuns als deutsches Machtprojekt ge-genübertritt, sagen die anderen –undbetonendieDauerhaftigkeit derökonomischen und politischen Ver-hältnisse, die dem zugrunde liegen.Was ist uns Europa? So wichtig

ein – mit Gramsci gesprochen –

mitreißender Optimismus des Wil-lens europäischer linker Politik undPraxis ist, so notwendig ist ange-sichts der Krise Europas ein Pessi-mismus des Verstandes. Das Un-behagen gegenüber Brüssel, Stras-bourg, gegenüber einer von derdeutschen Regierung orchestrier-ten Krisenpolitik; die Wut ob dersozialen und politischen Folgen, dieHoffnungslosigkeit, die angesichtsder schieren Unbeweglichkeit eu-ropäischer Verhältnisse und dermomentanen Schwäche der euro-päischen Linken aufkommen kann– all das beruht auf der realen Er-fahrung von Millionen. Und es lässtsich nicht allein mit wohlfeilen Ap-pellen an eine bessere europäischeIdee überwinden.Was ist unser Europa?, ist die

Frage der Stunde für eine euro-päische Linke, die sich ihrer

Schwierigkeiten und Fehler be-wusst ist, die nach neuen Wegenund besseren Antworten sucht –und dabei nicht vergisst, dass es amEnde die Menschen selbst sein wer-den, die über ihre Geschicke ent-scheiden wollen.Ein anderes Europa ist möglich.

Und es ist nötig. Die seit 2008 gras-sierende Krise macht den Charak-ter der gegenwärtig herrschendenpolitischen, ökonomischen undkonstitutionellen Grundlagen derEU für alle sichtbar. Die Linken sindaufgerufen, Europa eine andereZukunft vorzuschlagen.Die hier vorliegende Sammlung,

die Beiträge aus Griechenland,Spanien, Frankreich, Kroatien, Ös-terreich, Italien, Deutschland undanderen Ländern zusammen-bringt, soll dazu einen Beitrag leis-ten. Tom Strohschneider

Daniel AlbarracínNacho ÁlvarezFabio AmatoWalter BaierMario CandeiasStipe ĆurkovićGiorgos GalanisThomas HändelMichel HussonPierre LaurentFrancisco LouçãBibiana MedialdeaSandro MezzadraMariana Mortagua

Toni NegriLukas Oberndorfer

Özlem OnaranBernd RiexingerAnne StecknerArmando F. Steinko

Alexis TsiprasStavros Tombazos

2 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

InhaltMario Candeias, Lukas Oberndorfer, Anne StecknerNeugründung Europas?Strategische Orientierungen 3

Pierre LaurentEin geschichtlicher Moment.Die Linke und Europa 6

Alexis TsiprasMove Forward.Die Veränderung hat begonnen 8

Daniel Albarracín, Nacho Álvarez, Bibiana Medialdea,Francisco Louçã, Mariana Mortagua, Michel Husson,Stavros Tombazos, Giorgos Galanis, Özlem OnaranSchulden und Euro: Was tun? Ein Manifest 10

Armando Fernández SteinkoEin mediterraner Block?Südeuropa sucht einen Ausweg 12

Fabio AmatoListe Tsipras.Um die Zersplitterung zu überwinden 15

Stipe ĆurkovićEin lebendiges Netzwerk:Europa und die Neue Linke in Kroatien 17

Walter BaierDrei Aufgaben.Zeit der Monster und der Mutigen 18

Thomas HändelSoziales Europa?Zukunft in die eigenen Hände nehmen 19

Sandro Mezzadra, Toni NegriKampffeld Europa:Den neoliberalen Zauber brechen 21

Bernd RiexingerEine Vision:Einstieg in ein anderes Europa 23

Herausgeber Verlag Neues Deutschland Druckerei und Verlag GmbHFranz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlinwww.neues-deutschland.de, (030) 2978-1111

Redaktion Mario Candeias, Barbara Fried, Rainer RillingGestaltung Michael Pickardt

Illustrationen Raúl SoriaAnzeigen Friedrun HardtV.i.S.d.P. Tom Strohschneider

Druck Druckhaus Schöneweide GmbH, Ballinstr. 15, Berlin

Eine andere EU? Mit links? Diese in Kooperation von »neuesdeutschland« und »LuXemburg«, der Zeitschrift der Rosa-Luxem-burg-Stiftung entstandene Beilage kann nur einen Ausschnitt ausder Debatte über die Krise Europas und Alternativen dokumen-tieren. »nd«und»LuXemburg« setzendieDiskussion imInternetun-ter anderem mit Beiträgen von Sahra Wagenknecht, Joachim Bi-schoff und Heinz Bierbaum fort. Eine Sammlung an Texten zur lin-ken Europadebatte und zum Wahlprogramm der Linkspartei, un-ter anderem vom Schriftsteller Raul Zelik, findet sich unterdasND.de/europalinks. Weitere Texte gibt es unter www.zeitschrift-luxemburg.de. Die Zeitschrift »LuXemburg« gibt es übrigens abHeft1/2014 kostenfrei.

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 3

Neugründung Europas?Strategische OrientierungenVon Mario Candeias, Lukas Oberndorfer, Anne Steckner

Europa ist mehr als die Europäische Uni-on und die EU mehr als ihre neoliberaleund zunehmend undemokratisch-autori-täre Gestalt. Doch ist letztere die gegen-wärtig existierende. Simple Bekenntnissezu Europa oder gar »mehr Europa« ver-fehlen den zu Recht skeptischen Alltags-verstand. Immer wieder wurde die euro-päische Ebene als Hebel genutzt, um So-zial- und Arbeitsrechte auszuhöhlen so-wie Kapital- und Marktlogik zu stärken –und zwar nicht erst seit der Krise 2008,sondern spätestens mit dem Mitte der1980er Jahre einsetzenden Projekt deseuropäischen Binnenmarktes.Hieraus die Rückbesinnung auf die

Verteidigung nationaler Errun-genschaften abzuleiten istebenso kurzschlüssig.Zentrale Richtungsent-scheidungen fallennach wie vor im eu-ropäischen Rat, alsodurch nationale Re-gierungen, aber jen-seits nationaler Par-lamente. Die Prekari-sierung der Arbeit istdurch europäische Ent-scheidungen erleichtertworden. Angetrieben wurde sieüber nationale Parlamente: dieWorkfare-Programme in Großbritannienebenso wie die Agenda 2010 in Deutsch-land. Die Privatisierung kommunalerStadtwerke ist von der EU gewünscht, be-trieben wurde sie schon zuvor durchklamme Kommunen, die sich dadurchschnelle Einnahmen und Effizienzge-winne versprachen. Dienstleistungenmüssen laut EU-Recht europaweit aus-geschrieben werden, doch niemand hattedie Kommunen gezwungen darauf zuverzichten, diese Dienste selbst anzubie-ten. Gerade die Bundesregierung nütztdas europäische Krisenmanagement, umdie Interessen der deutschen und trans-nationalen Export- und Finanzindustriedurchzusetzen:Neoliberale Politikwird inder ganzen EU verallgemeinert und durchRecht auf Dauer gestellt.Von rechts bedient die AfD im Chor mit

anderen rechtspopulistischen Parteien inder EU den Traum von der Rückkehr zurnationalen Währung. Indem sie zur Kri-senbewältigung »imaginäre Gemein-schaften« (Benedict Anderson) be-schwört – ›wir Deutschen‹ ohne Klassenoder andere gesellschaftliche Gegensätze– bedient sie die Sehnsucht nach einemüberschaubaren und beeinflussbarenWährungs- undWirtschaftsraum. Siemaltdas Bild einer »imaginären Ökonomie«von Volkswirtschaften, die es längst nichtmehr gibt. Transnationalisierte Produk-tionsnetze und liberalisierte globale Fi-nanzmärkte bestimmen das Bild.Im Ensemble von Institutionen und

Abkommen der EU sind lokale, regiona-le, nationale, supranationale und inter-nationale Ebenen zu einem komplexenGeflecht verwoben. Zwar hat dieser Um-stand keineswegs zur Überwindung der

Nationalstaaten geführt. Vielmehr spie-len nationale Wettbewerbsstaaten eineentscheidende Rolle im Prozess derTransnationalisierung. Doch übersiehtbspw. die Forderung nach einem gere-gelten Euro-Austritt eben diese transna-tionale Qualität: Wie soll auf nationalerEbene die Reregulierung internationalerFinanzmärkte erfolgen? Wie soll das Aus-spielen von Standorten in transnationa-len Produktionsnetzen verhindert wer-den? Wie soll angesichts globaler Märkteeine national ausgerichtete keynesiani-sche Strategie greifen? Sie würde in kür-zester Zeit mit der Transnationalisierungvon Kapitalströmen und Machtstruk-

turen kollidieren. National-staatlich beschränkte Politikwird nicht einmal zur Ver-teidigung sozialer Er-rungenschaften aus-reichen. Und auch fürGriechenland untereiner möglichenLinksregierung gilt:Sozialismus in einemLand war schon in we-niger transnationali-sierten Zeiten ein gera-

dezu unmögliches Unter-fangen. Es gibt keine Möglich-

keit des Exodus.Dabei ist nicht jeder Euroskeptiker

gleich Nationalist. Es gibt ein wachsen-des Unbehagen gegenüber der EU, auchinnerhalb linker Parteien, das nicht dumpfnationalistisch, sondern erfahrungsge-sättigt ist. Dem kann mit der Predigt ei-nes hilflosen Internationalismus nicht be-gegnet werden. Schließlich war in denletzten Jahrzehnten fast jeder Schritt zureuropäischen Integration ein Mittel zurDurchsetzung neoliberaler Politiken. DieEU gleicht immer mehr einem wirt-schaftsnahen Lobbyverein, der ange-sichts eines schwachen EuropäischenParlaments kaum der politischen Kont-rolle oder der Beeinflussung durch zivil-gesellschaftliche Auseinandersetzungenunterliegt. Die parteiförmige Linke be-wegt sich also in einem strategischen Di-lemma, welches im Europa-Wahlpro-gramm der LINKEN auf den Punkt ge-bracht wird: »Für DIE LINKE stellt sichkeine Entscheidung für oder gegen das ei-ne oder andere – wir führen die Kämpfedort, wo sie stattfinden, in der EU, inDeutschland, weltweit. Nicht, indem wiruns zurückziehen auf den Nationalstaat,in der Hoffnung, dass sich Löhne und So-zialstandards leichter verteidigen lassen.Nicht, indem wir uns Illusionen machenüber die neoliberale Europäische Union.«

Autoritärer KonstitutionalismusNeben den Troika-Auflagen für »Hilfs-kredite«, die auch gegen Grund- undMenschenrechte (z.B. das Recht auf Ta-rifautonomie) verstoßen, steht eine NewEconomic Governance mit diversen Aus-teritäts- und Wettbewerbspeitschen imZentrum des europäischen Krisenma-nagements. Hierbei werden demokrati-

sche Prinzipien und geltendes Rechts,wenn nötig, umgangen oder gebrochen.Das geschieht über den Umweg zwi-schenstaatlicher Abkommen (wie z.B. imFall des Fiskalpaktes) oder über die eu-roparechtswidrige Einpressung von Se-kundärecht in die geltenden Verträge(wie im Fall der New Economic Gover-nance). Hierbei werden die Exekutivap-parate mit umfassenden Beschluss- undSanktionskompetenzen ausgestattet,während die parlamentarischen Arenengeschwächt werden – sowohl auf natio-naler wie auf europäischer Ebene. Dieserautoritäre Konstitutionalismus zählt we-der auf Recht noch auf Zustimmung. SeinZwangscharakter tritt nicht nur in Süd-europa offen zutage.Das heißt: Selbst die im europäischen

Recht verdichteten Handlungsräumewerden nun zu eng für die Radikalisie-rung des neoliberalen Projekts. Nachdemdie Regeln für eine strikte Austeritätspo-litik europaweit auf Dauer gestellt unddamit einer demokratischen Infragestel-lung entzogen wurden, geht es nun umeine Europäisierung der im südeuropäi-schen Laboratorium erprobten Struktur-reformen. In den »Verträgen für Wettbe-werbsfähigkeit« sollen sich die Mitglied-staaten gegenüber der EuropäischenKommission zur Deregulierung ihrer Ar-beitsmärkte, zur Reform ihrer Pensions-systeme und zur Senkung ihrer Löhneverpflichten (vgl. Thomas Händel, Seite19). Die geplanten wie die beschlossenenInstrumente der Krisenpolitik gehen nochwesentlich weiter als das mögliche Frei-handelsabkommen mit den USA. DieKommission erklärt ganz offen, dass dieangedachten Verträge auf die Überwin-dung politischer Widerstände zielen. Diezentrale Konfliktachse im autoritärenKonstitutionalismus lautet daher nichtEuropa vs. Nationalstaat, sondern euro-päisches Staatsapparate-Ensemble vs.(repräsentative) Demokratie.

Strukturelle Selektivität der EUJeder Versuch einer linken Reform musssich außerdem mit der strukturellen Se-lektivität der EU-Institutionen auseinan-dersetzen. DIE LINKE etwa fordert daherzu Recht einen »Neustart mit einer Revi-sion jener primärrechtlichen Grundele-mente der EU, die militaristisch, unde-mokratisch und neoliberal sind«, wie esnoch im Entwurf des Leitantrages hieß.Entsprechende Vertragsänderungen sindaber schwierig. Das in Artikel 48 des Ver-trages über die Europäische Union fest-geschriebene Prozedere sieht die Zu-stimmung jedes Nationalstaates vor.Durch diese zentrale Rolle im Vertrags-änderungsverfahren können sich Inte-ressen im Wesentlichen nur als nationaleInteressen und nur durch ihre Exekuti-ven hindurch artikulieren. FranzösischeArbeiterInnen sitzen so im selbenBootmitfranzösischen Großbauern und Konzer-nen anstatt nach gemeinsamen Interes-sen mit deutschen oder österreichischenLohnabhängigen zu suchen. Dieser nati-

Es gibtein Unbehagen

gegenüber der EU,das nicht dumpfnationalistisch,

sondern erfahrungs-gesättigt ist.

Anne Steckner, Sozialwissen-schaftlerin und in der politischenBildung tätig.Foto: Mauricio Bustamante

Lukas Oberndorfer, Wissenschaft-ler in Wien und aktiv im Arbeits-kreis kritische Europaforschung derAkG.Foto: Harri Mannsberger

Mario Candeias ist Direktor desInstituts für Gesellschaftsforschungder Rosa-Luxemburg-StiftungFoto: privat

4 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Neugründung Europas?Strategische OrientierungenVon Mario Candeias,Lukas Oberndorfer, Anne Steckner

onalstaatliche Flaschenhals führt zu ei-ner Horizontalisierung der Konfliktach-sen: ›Die Deutschen/Österreicher/Belgi-er‹ müssen vermeintlich für ›die Grie-chen/Portugiesen/Irländer‹ die Zechezahlen. Klassenwidersprüche, Ge-schlechterhierarchien und andere Macht-verhältnisse werden unsichtbar, die Ver-ursacher der Krise bleiben ungenannt.Zudem ist die komplexe Rechtslage ein

Feld für ausgewiesene ExpertInnen mitSpezialkenntnissen: Nur wer sich im ju-ristischen Dschungel der EU zu bewegenweiß, kann Vorschläge einbringen, die insbisherige Vertragsgefüge passen. Dasführt nicht nur zu einer Verrechtlichungund Bürokratisierung der Debatte. Esstärkt auch die Exekutiven und schließtdie Bevölkerungen von realer Beteili-gung aus. Darüber hinaus kann das Vetojedes Mitgliedslandes (bzw. seines Staats-und Regierungschefs) dafür sorgen, dassauch nur die kleinste Infragestellung derautoritär-neoliberalen Integration zu-nichte gemacht wird. Ohne den Konsensaller Mitgliedsstaaten keine wesentlicheVertragsänderung. Auf diese Weise kannsich die Vetomacht einer einzigen Regie-rung gegen die große Mehrheit der Be-völkerung in Europa wenden. Auf dieserGrundlage lässt sich eine NeugründungEuropas von unten nicht einmal in An-sätzen erringen. Was bedeutet das fürstrategische Orientierungen der Linken?

Kritik des autoritären Krisenmanage-ments und SolidaritätDie klare Ablehnung des Krisenmanage-ments war medial durchaus erfolgreichund wurde an der Wählerbasis von Par-teien links der Sozialdemokratie durch-aus positiv aufgenommen. Es gelang, dieUrsachen der Krise mit einer Perspektiveder Solidarität mit den Krisenopfern zuverbinden, statt sich durch nationalisti-sche Deutungen spalten zu lassen.Sinnvoll bleibt auch, auf nationalem

Terrain Möglichkeiten gegen neoliberaleund autoritäre Maßnahmen auf europäi-scher Ebene zu nutzen, etwa mit Klagenvor dem Bundesverfassungsgericht. Auchvor europäischen Gerichten, insbeson-dere dem Europäischen Gerichtshof fürMenschenrechte, lassen sich innerhalbdes bestehenden Rechts soziale und de-mokratische Rechte verteidigen, z.B. mitKlagen gegen die Economic Governance,den Fiskalpakt, das grund- und kompe-tenzrechtlich nicht gedeckte Vorgehender EU-Organe im Rahmen der Troikaoder gegen das Agieren von Frontex. Alldiese möglichen Schritte sind wichtigerTeil einer linken Gegenstrategie und er-reichen ein beachtliches Medienecho.

Verknüpfung von Krise, Alltag undKommuneTrotz kleiner (kommunikativer) Erfolgezeigt sich, dass das Thema Eurokrise oftschwer vermittelbar ist. Linke Strategiensollten weniger von der großen Krise alsvom Lebensalltag der Menschen ausge-hend entwickelt werden: Wie hängen Kri-

se und Alltag miteinander zusammen?Was haben meine Probleme mit den For-derungen vieler Menschen in den Kri-senländern zu tun? Wie lässt sich darauseine gemeinsame, solidarische Perspek-tive entwickeln? Für die am stärksten vonder Krise betroffen Länder in Europa istein Schuldenaudit eine unverzichtbareForderung, um sich von der erdrücken-den Schuldenlast zu befreien. Solch einAudit zielt darauf ab, die Unrechtmäßig-keit der Schulden herauszustellen, in-dem gefragt wird: Muss der Schulden-dienst an jene, eben noch vom Staat ge-retteten Finanzinstitutionen überhauptgeleistet werden? Sind diese Schuldennicht zu großen Teilen illegitim, also un-rechtmäßig? Welche Schulden soll-ten zurückgezahlt werden – undvor allem: welche nicht?Darüber wäre in demo-kratischen Konsultati-ons- und Entschei-dungsprozessen zuberaten.In Deutschland lie-

ße sich die Schulden-problematik mit For-derungen verknüpfen,die der Situation hier-zulande entsprechen. Einwichtiges Thema wäre dieSchuldenbremse. Sie bedrohtdie ohnehin schon recht prekäre Fi-nanzlage der Kommunen ganz unmittel-bar. Die Einschränkung von öffentlichenLeistungen bekommt die Bevölkerung di-rekt zu spüren. Zahlreiche Auseinander-setzungen um die soziale Infrastruktur,von der Ausstattung der Schulen überausreichende Kindergartenplätze, öf-fentlichen Nahverkehr, die Rekommu-nalisierung von Wasserwerken und Ener-gieversorgern bis hin zu Kämpfen um be-zahlbaren Wohnraum, spielen sich aufkommunaler Ebene ab. Hier ist die Kriseam deutlichsten zu spüren. Und es ste-hen zahlreiche Kommunalwahlen an.Ein Beispiel für eine europaweit ver-

bindende Perspektive unterschiedlicherKämpfe um soziale Grundbedürfnissewäre die Arbeit an einer Forderung für ei-ne entgeltfreie soziale Infrastruktur füralle, eine bedingungslose sozial-ökologi-sche Grundversorgung in den BereichenEnergie, Wasser, Mobilität, Internet etc.,sowie kostenlose Gesundheit und Bil-dung.

Europäische Bewegungen und trans-nationale WiderständeDie Eröffnung des neuen EZB-Hochhau-ses im Jahr 2014 und die Neuauflage derBlockypy-Proteste in Frankfurt können alsVerdichtungspunkt transnationaler Or-ganisierung eine wichtige symbolischeBedeutung entfalten. Wichtiger noch alsdas Ereignis selbst dient die Mobilisie-rung dem europaweiten Austausch übergemeinsame Strategien und Aktionen.Dabei konnte die Orientierung auf na-

tionale und europäische Schuldenauditsvon unten bislang nicht die gewünschte

Dynamik entfalten. So wichtig dies ist,so sehr drehen sich die Leidenschaftender Vielen auch bei den Bewegungeneher um alltagsnahe Kämpfe im prekä-ren Leben: Gesundheit, Ausbildung, Er-nährung und Wohnen – ob in Istanbuloder Berlin, Detroit oder Madrid. In Spa-nien sind die darin involvierten Organi-sationen ein institutionell-strategischesRückgrat der gesamten Mobilisierungund können sogar erste substanzielle Er-folge vorweisen. Auch bei uns gehörenMobilisierungen gegen Zwangsräumun-gen oder Initiativen wie Kotti&Co und fürein Recht auf Stadt zu den Hoffnungs-zeichen einer ansonsten wenig bewegli-chen bundesdeutschen Protestgesell-

schaft. Doch wie können die lokalenKämpfe transnational ver-knüpft werden? Mit ge-meinsamen Aktionstagenist ein Anfang gemacht.Blockupy kann dafürgenutzt werden, lo-kale und transnatio-nale Perspektivenzusammenzubringen.Eine Europäische

Bürgerinitiative (EBI)gegen Zwangsräumungund Vertreibung und für

bezahlbares Wohnen wäremöglicherweise eine unterstüt-

zende Initiative, die den Alltags-kämpfen einen europäischen Resonanz-raum geben könnte. Der Forderung nachKommunalisierung von leerstehendenWohnungen und nach demokratisch ver-waltetem, sozial-ökologischem Wohn-raum müssten klare Finanzierungsquel-len, wie die Trockenlegung von Steuer-oasen und eine europaweite Harmoni-sierung der Unternehmenssteuern, ge-genübergestellt werden.Auch wenn die Kommission sich vor-

erst für unzuständig erklären könnte, wä-re darüber die Asymmetrie zwischenwirtschaftlicher und sozialer Integrationthematisierbar. Die erste EBI gegen diePrivatisierung der Wasserversorgung warerfolgreich und erzwang, dass sich dieKommission mit den Forderungen zu-mindest auseinandersetzen musste: Sieklammerte daraufhin Wasser und sani-täre Grundversorgung von der geplanteneuropäischen Konzessionsrichtline aus.Der EBI voraus gingen z.B. das Volksbe-gehren gegen die Privatisierung kom-munaler Dienstleistungen in Italien(2007) und der Volksentscheid zur Re-kommunalisierung der Wasserbetriebe inBerlin (2011). So könnte auch eine EBIgegen Zwangsräumungen und Vertrei-bung mit anderen Initiativen auf kom-munaler und nationaler Ebene verknüpftwerden.Sofern eine solche Initiative nicht mit

der Bewegung an sich verwechselt wird,sondern diese begleitet und mit ihr ver-bunden ist, kann sie ein mobilisierendesMoment sein. Zurzeit planen die Ge-werkschaften des DGB mit europäischenSchwesterorganisationen eine EBI zur

Es gehtdarum, Möglich-

keiten auf nationalerEbene so einzusetzen,dass europäische Ver-

hältnisse in Bewe-gung geraten.

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 5

Realisierung eines »Marschall-Plans fürEuropa«. Wäre dieser Prozess begleitetvon einer Debatte innerhalb des EGB, mitden jeweiligen Gewerkschaften bis hin zuden betreffenden Regionen in den Kri-senländern, die den Plan mit konkretenIdeen für seine Umsetzung vor Ort er-gänzen, könnte dies eine sinnvolle Kam-pagne werden. Andernfalls bliebe es einisolierter Versuch, Einzelforderungendurchzusetzen.Im Unterschied dazu betreiben die Be-

wegungen gegen Zwangsräumung inSpanien – wie die Plattform der von denHypotheken Betroffenen (PAH) – ihreOrganisierung als Arbeit an der breitenNeuformierung der Linken für eine wei-tergehende gesamtgesellschaftliche Ver-änderung. Jeder konkrete Einzelerfolg istzwar individuell bedeutsam, verpufft je-doch, wenn er nicht zugleich die Hand-lungsfähigkeit der Vielen und die Orga-nisationsmacht der Bewegung stärkt.

Vorschläge für eine programmatischeReform der EUDie vielen nach vorne gerichteten Vor-schläge linker Parteien zur Bearbeitungder Eurokrise und zur sozialen Gestal-tung Europas könnten noch deutlicher alsElemente eines solidarischen Prozessesder Neukonstitution Europas vertretenwerden: erstens durch kurzfristige Kri-senintervention soziale und finanzielleNot von den Menschen abwenden – zu-lasten derjenigen, die die Krise verur-sacht und mit ihr noch Profite gemachthaben; zweitens einen alternativen wirt-schaftlichen Entwicklungspfad in Europamöglich machen, der soziale und ökolo-gische Gerechtigkeit in den Mittelpunktstellt; und drittens eine langfristige Visi-on für die Zukunft der europäischen Ei-nigung zur Diskussion stellen.Zugleich deuten sich in der gegen-

wärtigen EU-Politik Veränderungenherrschender Politik an, die gewisse De-battenräume öffnen. Diese Verschie-bungen können genutzt werden, um lin-ken Vorschlägen mehr Gehör zu ver-schaffen: Wie könnte eine kooperativeeuropäische Wirtschaftskoordinationaussehen, was wären Elemente einer so-zial-ökologischen Industriepolitik in Eu-ropa, wie wären solidarische Perspekti-ven europäischer Arbeitsteilung zu ent-wickeln?Vor falschen Hoffnungen sollte man je-

doch auf der Hut sein: Linke Reformen in-nerhalb des autoritären Konstitutionalis-mus der EU sind aufgrund der genanntenSelektivitäten kaum durchsetzbar. Viel-mehr droht mit sinnvoll erscheinendenReformen die Vertiefung neoliberaler Po-litik: Sowird Industriepolitik im Sinne derKommission auf verbesserte Wettbe-werbsbedingungen und Zugang zu Märk-ten reduziert. Ansätze einer europäi-schen Arbeitslosenversicherung zur kon-junkturellen Abfederung von Krisen sollin einzelnen Mitgliedsstaaten an eineweitere Flexibilisierung von Arbeits-märkten gekoppelt werden.

Strategien eines demokratisierendenBruchsEs ist fraglich, wie lange die gegenwär-tige Regierung in Griechenland nochhält. Für die Herrschenden in Europa istdies ein Fanal, sie fürchten den Präze-denzfall: Gelänge es dem Bündnis der ra-dikalen Linken, Syriza, dem drakoni-schen Kürzungs- und Wettbewerbsdiktatwirksamen Widerstand entgegenzuset-zen, droht ein politischer Dominoeffekt.In Griechenland haben sich breite Be-wegungen organisiert, wodurch die Lin-ke bei den Wahlen reüssiert. Die For-mulierung eines klaren Antagonismusführte das Bündnis nicht in die Isolation.Vielmehr scheint es zu gelingen, die inden Bewegungen und größeren Teilender Bevölkerung geäußerten Leiden-schaften und Forderungen aufzuneh-men und zu verdichten: Gegen die au-toritär-neoliberale EU und die Macht desFinanzkapitals, aber für Europa. Auf in-telligente Weise umgeht Syriza die Di-lemmata, in denen sich die Linke in Eu-ropa sonst häufig verfängt.Es geht also darum, Möglichkeiten auf

nationaler Ebene so einzusetzen, dasseuropäische Verhältnisse in Bewegunggeraten. Die demokratische Neugrün-dung Europas wäre das Ziel. Möglicher-weise wird diese Perspektive aber erstdurch ein Ereignis geöffnet, gar hervor-gebracht, das in nur einem Land einen ef-fektiven Bruch erzeugt: etwa durch einegriechische Linksregierung, die die Kür-zungspolitiken der Troika zurückweist,Neuverhandlungen und einen Schul-denschnitt erzwingt, Kapitalverkehrs-kontrollen einführt, Steuerreformenumsetzt und mit einem sozial-ökologi-schen Umbau des Wirtschaftens beginnt.Das politische Risiko, gegen Europa-recht zu verstoßen, ist einzugehen. An-dere werden folgen. So könnten die in ei-nem oder mehreren Ländern begonne-nen Reformschritte innerhalb Europasausgedehnt werden. Doch stellt sich die-se Perspektive bislang realistisch nur inGriechenland. Und die Herrschenden tunalles, um eine solche Position zu isolie-ren. Und doch ist die Unzufriedenheit mitder Politik und den Institutionen der EUso groß, dass Brüche mit den geltendenRegeln, quasi ein staatlicher ziviler Un-gehorsam aus Notwehr, durchaus aufZustimmung treffen könnte.

Verfassungsgebende Prozesse undNeugründung EuropasDas Grundsatzprogramm der LINKENformuliert einen anspruchsvollen Aus-gangspunkt: »Wir setzen uns […] weiterfür eine Verfassung ein, die von den Bür-gerinnen und Bürgern mitgestaltet wirdund über die sie zeitgleich in allem EU-Mitgliedsstaaten in einem Referendumabstimmen können. Wir wollen nicht we-niger als einen grundlegenden Politik-wechsel.«Angesichts der hochgradig vermacht-

eten EU-Institutionen müssen linke Par-teien in Europa scheitern, wenn sie nicht

darauf hinarbeiten, die Anordnung derStrukturen selbst zu verändern und dasTerrain des Kampfes zu verschieben: Oh-ne grundlegende Infragestellung undSchaffung neuer Institutionen bliebe aucheine linke Regierung in Spanien oderGriechenland chancenlos. Die Asymmet-rien der Macht in Europa sind ungeheu-er.So wäre die alleinige Konzentration

aufs Parlament innerhalb des europäi-schen Ensembles von Staatsapparaten ei-ne Selbstbeschränkung auf ein nahezuhoffnungslos vermachtetes Terrain. Esgälte daher, einen Terrainwechsel zuvollziehen und demokratische Gegen-institutionen aufzubauen. Ein partizipa-tiver, lokal und überregional verknüpfterverfassungsgebender Prozess der Bera-tung und Organisierung in Räte-Struk-turen – von den Vierteln bis zur europäi-schen Ebene – hätte die enorme Aufgabezu bewältigen, vielfältige Positionen dergesellschaftlichen Linken zu einer ge-meinsamen Alternative zu verdichten.Zahlreiche gesellschaftliche Kräfte inSüdeuropa und darüber hinaus diskutie-ren in diese Richtung. Am Ende stünde ei-ne verfassungsgebende Versammlung fürEuropa, die zumindest durch allgemeineund gleiche Wahlen zusammengesetztsein müsste – eine Strategie, die schon zuBeginn des 20. Jahrhunderts das Ein-dringen der Massen in die Politik er-möglicht hat.Ein solcher Prozess wäre ein wichti-

ger Verdichtungspunkt einer bereits be-gonnenen Dynamik für ein anderes Eu-ropa. Er kann begonnen werden ohne einMandat der gegebenen Institutionen. Soließe sich die Mobilisierung gegen dieHauptquartiere der Macht und gegen daseuropäische Ensemble von Staatsappa-raten mit ihrer notwendigen Umgestal-tung verbinden: nicht weiter mit diesemHerrschaftsprojekt EU! Es gälte, diedurch die EU-Institutionen erzwungenehorizontale Konfliktachse zwischen na-tionalen Interessen in eine vertikale Ach-se zwischen den subalternen Gruppenund Klassen in der EU einerseits und denherrschenden Machtgruppen und domi-nanten Kapitalfraktionen andererseits zudrehen. Ein solcher Prozess könnte – an-ders als richtige, aber nicht durchsetz-bare Einzelforderungen – eine größereWirkung entfalten, weil es ums Ganzegeht und alle Menschen sich potenziellbeteiligen können: Welches Europa wol-len wir? Wie wollen wir darin leben? Zu-gleich unterbricht er die katastrophaleKürzungsmaschine, klagt Zeit ein undnimmt sie sich – für eine wirkliche Neu-gründung Europas.Zuvor braucht es jedoch auch auf eu-

ropäischer Ebene einen effektiven Bruch.Dieser ist unmittelbar auf transnationa-ler Ebene nicht zu erwarten. Ohne denSturz der neoliberalen Regierungen drohtdas Potenzial eines verfassungsgebendenProzesses zu verpuffen. Bruch und Neu-gründung sind keine Gegensätze, sie ver-weisen aufeinander.

Neugründung Europas?Strategische OrientierungenVon Mario Candeias,Lukas Oberndorfer, Anne Steckner

6 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Ein geschichtlicher Moment.Die Linke und EuropaVon Pierre Laurent

Wir erleben in Europa einen historischenMoment. Die EU befindet sich in einerexistenziellen Krise, alle Grundlagen dereuropäischen Integration, alle EU-Ver-träge sind in Frage gestellt. Ich werde dieschreckliche Krise, die unser Kontinentdurchlebt nicht erneut beschreiben. Wiralle kennen ihre Auswirkungen. Statt-dessen will ich mich darauf konzentrie-ren, Europa eine andere Zukunft vorzu-schlagen.Die europäischen Regierungen, Skla-

ven ihren Dogmen, haben keine Vision fürEuropa. Sie sind dabei, die Idee eines Eu-ropas der Kooperation und der Solidaritätzu beerdigen. Der Autoritarismus raubtden Menschen und Parlamenten immermehr Einfluss. In den Ländern, die demDiktat der Troika unterworfen sind, habendrakonische Maßnahmen, die der Bevöl-kerung wie Strafen aufgezwungenen wer-den, das europäische Modell und seine Re-präsentanten in Misskredit gebracht. Intrüben Wassern fischend versucht die ext-reme Rechte diese Skepsis für sich zu nut-zen. Die Gefahren sind ernst: Es geht umdie Durchsetzung einer immer autoritärerwerdenden Europäischen Union, um dieRückkehr eines »Einzelkämpfertums« imDschungel der Globalisierung, ja sogar umdie Rückkehr von Kriegen, von National-chauvinismen und Rassismus.In dieser Situation werden Stimmen

lauter, die für den Rückzug des einen oderanderen Landes aus der Euro-Zone plä-dieren, was früher oder später zu derenAuflösung führen würde. Die Debattedurchzieht auch die Linke. Es ist ver-ständlich, dass einige solche Schritte inBetracht ziehen – aus Verzweiflung undweil das Kürzungsdiktat die einzige Pers-pektive zu sein scheint. Dennoch handeltes sich aus unserer Sicht um einen fal-schen, sogar gefährlichen Weg. In der er-barmungslosen Welt, in der wir leben,würden die Subalternen in verschärfteKonkurrenz zueinander gesetzt, müssteneinen gnadenlosen Wirtschaftskrieg aus-tragen. Die großen Unternehmensgrup-pen und die hegemonialen Staaten wä-ren die einzigen Gewinner eines solchen»Einzelkämpfertums«. UmSolidarität undKooperation zu fördern, die uns so dra-matisch fehlt, wäre eine radikal andereEuropäische Union nötig: ein auf völliganderen Grundlagen neu gegründetesEuropa.Die Situation in Osteuropa ist beson-

ders besorgniserregend. Die Einwohner-Innen dieser Länder laufen Gefahr, zuGeiseln der Konfrontation zwischen denMächten – EU gegen Russland – zu wer-den; zu Geiseln der Konfrontation natio-naler Oligarchien um die Kontrolle überRessourcen und Märkte.Die Eckpunkte der Neugründung sind

folgende:– ein Ende der Austeritätspolitik und ei-ne Umkehr zu sozialer, ökologischerund solidarischer Entwicklung, zu öf-fentlichen Dienstleistungen.

– die Übermacht der Finanzmärkte musszerschlagen werden, indem Schulden

neuverhandelt und ihr illegitimer Teilerlassen wird, und indem die Rolle derEZB so neu bestimmt wird, dass sie da-zu beiträgt eine soziale Entwicklung zufinanzieren.

– wir müssen die Durchsetzung von so-zialen Rechten und Menschenrechtenin ganz Europa voran bringen – siemüssen nach und nach an den jeweilshöchsten Stand angeglichen werden.

– wir müssen gerechte Handelsbezie-hungen unter den europäischen Staa-ten und mit dem Rest der Welt auf-bauen - zunächst gilt es das Projekt ei-nes Transatlantischen Freihan-delsabkommens zu stop-pen.

– ein friedliches Europamuss die NATO ver-lassen, Abrüstungbetreiben und anpolitischen, nicht-militärischen Lö-sungen von Kon-flikten arbeiten.

– Zu guter Letzt gehtes darum, die Demo-kratie (wieder)herzu-stellen: die Bevölkerungmuss das letzte Wort überstrukturelle Entscheidungen in der EUhaben, ihre Souveränität und die heu-te lächerlich gemachten Parlamentemüssen wieder respektiert werden.

Wir alle sind dieses Europa, das mit allenMitteln nach menschlicher Emanzipationsucht.

Wie können wir auf diesem Weg vorankommen?Die Europäische Linke hat sich an vielenBündnissen beteiligt, die für eine – wiewir es nennen – »soziale und politischeFront in Europa« zentral sind. Sie hat ih-re Zusammenarbeit mit sozialen und ge-werkschaftlichen Bewegungen intensi-viert und eine Politik verfolgt, die daraufzielt, neue gesellschaftliche Kräfte undpolitische Akteure zu gewinnen.Wir wollen unsere Beziehungen mit ei-

ner ganzen Reihe von linken Kräften inEuropa intensivieren. Ich denke an denBalkan, die nordischen Ländern, Groß-britannien, die Länder im Osten. Wirschlagen vor, unsere Statuten so zu än-dern, dass andere Parteien »Partner«-Or-ganisationen der Europäischen Linkenwerden können. Auf diese Weise wollenwir die Zusammenarbeit verbessern undunsere Strahlkraft vergrößern.Wir haben an einer Annäherung mit

dem Sao Paulo-Forum, den Organisatio-nen der lateinamerikanischen Linken undder mediterranen Linken gearbeitet. Alldas ist von großer Bedeutung. Wir wol-len, dass dieser Austausch in praktischesHandeln mündet, für eine konkreteTransformation Europas, der Welt unddes Lebens der Menschen.

Ein Symbol der HoffnungDie Europäische Linke ist nicht mehr nurein Ort des politischen Austauschs. Sie ist

eine Partei der konkreten Zusammenar-beit, der Aktion – eine Partei der Verän-derung.Wir schlagen vor, dass die Europäi-

sche Linke Kampagnen durchführt, die esermöglichen, kämpferisch und bürger-schaftlich neue gemeinsame Ziele zu ver-folgen. Darum ging es bei der Europäi-schen Bürgerinitiative, die wir ins Lebengerufen haben, um eine öffentliche eu-ropäische Bank oder einen Fonds für so-ziale und ökologische Entwicklung zugründen.In diesem Sinne wollen wir im Jahr2014 eine große Kampagne gegen

das Transatlantische Freihan-delsabkommen starten, zu-sammen mit Bewegun-gen und NGOs. DasFreihandelsabkommenist für die Europäe-rInnen ebenso ge-fährlich wie für dieMenschen im Rest derWelt. Seine Inhaltemüssen offengelegtwerden. Wir können dieUnterzeichnung des Ab-

kommens verhindern – un-sere lateinamerikanischen

Freunde haben es uns mit dem ALCA-Ab-kommen vorgemacht. Nichts ist ent-schieden.Außerdem wollen wir im März einen

Schuldengipfel in Brüssel organisieren.Diese Positionen müssen wir auch in denEuropa-Wahlkampf tragen. Schulden sindzu einer ideologischen Waffe geworden,um eine Politik sozialer Ungleichheit unddas Kürzungsdiktat zu legitimieren. Wirwollen die Austerität stoppen, eine Bele-bung der Wirtschaft anders finanzierenund den Reichtum wieder gerechter ver-teilen.Schließlich möchte ich betonen, dass

wir 2014 –demhundertsten Jahrestag desErsten Weltkriegs – Friedensinitiativenstarten. Ich denke besonders an Veran-staltungen, die Anfang des Jahres in Ver-dun und später in Sarajewo stattfindenwerden.Wir setzten uns für ein stärkeres poli-

tisches Zusammenwachsen ein. Die ELschlägt vor, jedes Jahr ein »EuropäischesForum der Alternativen« zu veranstalten– als neuen, offenen Raum für alle Orga-nisationen und gesellschaftlichen Kräfte,die an einer Zusammenarbeit mit uns in-teressiert sind. Das erste Forum könnteim Herbst 2014 stattfinden, in einer neu-en, aus den Wahlen hervorgegangenenpolitischen Landschaft.Selbstverständlich sind alle unsere po-

litischen Anstrengungen bis Mai 2014 aufdie Vorbereitung der europäischen Wah-len gerichtet. Wir sehen auch die Gefahrder radikalen Rechten. Die Vorsitzendeder Front National, Marine Le Pen, ist ge-rade durch die europäischen Hauptstäd-te gereist, um die Gründung einer rechts-extremen Fraktion im Parlament vorzu-bereiten. Sie werden versuchen, auf derWelle einer Europa-Ablehnung zu reiten.

Die EUbefindet sich in

einer existenziellenKrise, alle Grundlagender Integration sind

infrage gestellt.

Pierre Laurent ist Vorsitzenderder Europäischen Linken.Dies ist die gekürzte Fassung seinerEröffnungsrede zum Kongressder Europäischen Linken, Madrid,15. Dezember 2013Foto: dpa/Maxppp/Hugues Leglise Bataille

Übersetzung: Raul Zelik

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 7

Die Sozialdemokraten werden sich be-mühen, als Bollwerk gegen diese Gefahrzu erscheinen. In einer gemeinsamen, am23. Oktober in Berlin veröffentlichten Er-klärung verkünden die deutsche Sozial-demokratie und die französischen Sozia-listen von François Hollande: »Wir wollenneues Vertrauen in Europa schaffen, in-dem wir für den Wandel in Europa, fürein demokratischeres, sozialeres undnachhaltigeres Europa werben. Das ist es,was wir den Menschen als Vorschlag fürdie Europawahlen 2014 unterbreitenmöchten.« In dieser Erklärung bekundetdie französische Sozialistische Partei au-ßerdem ihre Unterstützung für MartinSchulz als Vorsitzenden der EuropäischenKommission. Aber welche Glaubwürdig-keit haben sie noch, wo doch die SPD jetztStakeholder einer Großen Koalition unterder Führung von Angela Merkel ist? Siehalten die Menschen zum Narren.Dazu bieten wir eine linke Alternative

– ›wir‹ das sind all jene, die wie wir eineStärkung der GUE-NGL, der VereintenEuropäischen Linken/Nordischen Grü-nen Linken anstreben. Die Europäische

Linke hat sich entschlossen, für diese Auf-gabe einen Kandidaten für den Vorsitz derEuropäischen Kommission zu nominie-ren: Alexis Tsipras. Diese Entscheidunggründet auf dem Wunsch, Europa zu ei-nigen und es auf einer demokratischenund fortschrittlichen Grundlage neu zubegründen.Für die Europäische Linkspartei ist die-

se Kandidatur ein starkes Symbol derHoffnung für Europa. Griechenland hatder Austeritätspolitik als Versuchskanin-chen gedient. Aber Griechenland hat Wi-derstand geleistet und leistet ihn immernoch. Syriza hat es verstanden, unter-schiedliche gesellschaftliche Kräfte gegendie barbarischenMemoranden, gegendenAutoritarismus und für eine Wiederbele-bung Griechenlands innerhalb eines so-lidarischen Europas zu vereinen. DieStimme von Alexis Tsipras ist die Stimmeder Hoffnung und des Widerstands ge-gen eine ultraliberale Politik und gegendie Drohung der radikalen Rechten. Die-se Kandidatur könnte zahlreiche Bürgerund politische Organisationen zusam-menbringen.

8 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Move Forward.Die Veränderung hat begonnenVon Alexis Tsipras

Wir leben in außergewöhnlichen Zeiten.Europa ist an einem kritischen Scheide-weg angelangt, und es gibt zwei Rich-tungen, die es einschlagen kann: Entwe-der entscheiden wir uns für Stillstandoder wir bewegen uns vorwärts. Entwe-der wir finden uns mit dem neoliberalenStatus quo ab und tun so, als könne dieKrise mit derselben Politik gelöst wer-den, die sie hervorgerufen hat, oder wirmachen uns mit der europäischen Linkendaran, die Zukunft in unsere Hand zunehmen. Denn der Neoliberalismus be-droht die Existenz der Menschen überallin Europa und damit ist auch die Demo-kratie in Gefahr, insbesondere durch dasErstarken der extremen Rechten.Diejenigen, die behaupten, dass die

verabreichte »Medizin« zum Kurieren derKrise geführt hat, sindHeuchler. Denn dereuropäische Traum hat sich für Millionenvon Menschen in einen Albtraum ver-wandelt. Umfrageergebnisse des Euro-barometers zeigen, dass wir es mit einererheblichen Vertrauenskrise in der EU zutun haben und dass die Popularität derultrarechten Parteien wächst.Wir waren es, die europäische Linke,

die noch vor der Etablierung der Euro-zone zu Recht vor den Schwächen, Män-geln und destabilisierenden Ungleichge-wichten dieses Projektes gewarnt haben.Aber die Eurozone existiert nun einmal.Wir haben eine Wirtschaftsunion und ei-ne gemeinsame Währung, und die un-mittelbaren Alternativen sind kei-nen Deut besser. Ein Aus-scheiden aus der Eurozonewürde keinem Krisen-staat etwas nutzen. ImGegenteil. Damit wür-den nur neue Proble-me entstehen wie ei-ne instabile Wäh-rung, ein möglicherSturm auf die Banken,Inflation, Kapitalfluchtund massenhafte Ab-wanderung. Schon des-halb sollte etwa Griechen-land nicht freiwillig die Euro-zone verlassen. Das Ausscheiden Grie-chenlands oder eines der anderen Kri-senländer wäre eine Katastrophe für ganzEuropa. Denn sobald ein Land aus derWährungsunion austritt, werden dieMärkte und die Spekulanten sofort da-rauf reagieren und fragen, wer der Nächs-te ist. Dies ist ein Prozess, der – einmal be-gonnen – nicht mehr zu stoppen ist.Unser Interesse als EuropäerInnen ist

ein anderes: Wir wollen die Eurozoneverändern. Und hier stellen sich drei Auf-gaben: Erstens müssen wir in Bezug aufEuropa neue Ideen entwickeln, zweitensmüssen wir dementsprechend eine ver-änderte Krisenpolitik betreiben und drit-tens müssen wir zwangsläufig die Insti-tutionen, ja die ganze Grundlage der EUverändern. Diesen politischen Kampfmüssen wir an zwei Fronten führen: zumeinen zu Hause, zum anderen in Brüssel,Frankfurt und Berlin.

Denn das europäische Establishmenthat die Schuldenkrise zum willkomme-nen Anlass genommen, die wirtschaftli-che und politische NachkriegsordnungEuropas in seinem Sinne umzugestalten.Aus diesem Grund lehnen sie auch unse-ren Vorschlag ab, eine europäische Schul-denkonferenz einzuberufen, die sich ander Londoner Konferenz zur Regelung derAuslandsschulden von 1953 orientierensoll und auf der eine endgültige und trag-fähige kollektive Lösung für das Problemerarbeitet werden könnte.

In Europa kämpfen...Denken wir uns für einen Moment zu-rück in die Vergangenheit: Es ist der 27.Februar 1953. Die BundesrepublikDeutschland ächzt unter ihrer Schulden-last und droht die übrigen europäischenLänder in einen Krisenstrudel mit hi-neinzuziehen. Die Gläubigerstaaten, da-runter Griechenland, machen sich ernst-hafte Sorgen um ihre eigene Zukunft. Erstin dieser Situation begreifen sie, was ab-gesehen von den Neoliberalen längst al-len klar war: Die Politik der »internen Ab-wertung« – gemeint ist eine Senkung derLohnkosten – sorgt nicht dafür, dass dieSchulden abbezahlt werden können.Ganz im Gegenteil.Auf einem Sondergipfel in London be-

schließen 21 Staaten, ihre Forderungenan die tatsächliche wirtschaftliche Leis-tungsfähigkeit der Schuldnerländer an-

zupassen. Sie streichen 60 Prozentder deutschen Schulden, ge-währen dem Land ein fünf-jähriges Zahlungsmora-torium (von 1953 bis1958) und verlängerndie Rückzahlungsfristum 30 Jahre. Über-dies führen sie eineArt Nachhaltigkeits-klausel ein: Demnachmuss Deutschlandnicht mehr als einZwanzigstel seiner Ex-

porteinnahmen für denSchuldendienst aufwenden.

Diese Beschlüsse waren also das ge-naue Gegenteil des Versailler Vertragsvon 1919 und bildeten die Grundlage fürdie erfolgreiche wirtschaftliche Ent-wicklung der Bundesrepublik nach demZweiten Weltkrieg.Nichts anderes fordert heute die »Ko-

alition der Radikalen Linken« (SYRIZA).Wir sollten uns also daran machen, all dievielen Mini-Versailler-Verträge, die Bun-deskanzlerin Merkel und ihr Finanzmi-nister Schäuble den europäischenSchuldnerstaaten aufgeherrscht haben,wieder rückgängig zu machen. Lassen wiruns also von jenem großen Tag in der jün-geren Geschichte Europas inspirieren, andem seine Führung so viel außerge-wöhnliche Weitsicht unter Beweis ge-stellt hat. Die verschiedenen Rettungs-programme für die südeuropäischen Län-der sind gescheitert. Sie haben ein Fassohne Boden hinterlassen – die Zeche da-

für müssen, wie meistens, die einfachenSteuerzahlerInnen zahlen.Nun bestehen die politischen Eliten in

Europa – die sich freiwillig in die Geisel-haft von Frau Merkel begeben haben –aber darauf, diese Maßnahmen, die dieProbleme in den südlichen Ländern nurverschlimmert haben, auf den gesamtenEuroraum auszudehnen. Wir dagegenmeinen, dass Europa einen »New Deal«benötigt, um das Problem der Arbeitslo-sigkeit in den Griff zu bekommen und umausreichend Mittel für die Finanzierungder Zukunft unserer Länder zu generie-ren. Europa benötigt mehr Umverteilungund Solidarität, wenn es überleben will.Dies sind die Grundpfeiler des neuen

Europas, für das wir uns engagieren undkämpfen. Es soll an die Stelle des heuti-gen Europas treten, das unter den Armennur Angst und Schrecken verbreitet, wäh-rend es das Vermögen der Reichen an-wachsen lässt. In Griechenland hat dasMemorandum eine für die Nachkriegs-zeit beispiellose humanitäre Krise nachsich gezogen. Sie stellt eine Schande fürdie europäische Zivilisation dar. ZweiMillionen GriechenInnen sind nicht mehrin der Lage, Grundbedürfnisse zu befrie-digen, es fehlt an Geld für ordentlicheMahlzeiten und zum Heizen. Vor kurzemist in Thessaloniki ein Mädchen an einerRauchvergiftung gestorben, weil ihre Fa-milie die Stromrechnung nicht bezahlenkonnte und versucht hatte, die Wohnungmit Hilfe eines selbst installierten Holz-ofens zu beheizen. In Athen und anderengrößeren Städten gehört es inzwischenzum Alltag, dass gut gekleidete Frauenund Männern in Mülltonnen nach Essenwühlen. Eine Währungsunion, die zu ei-ner Spaltung ihrer Mitgliedsstaaten undderen Gesellschaften führt, die für wach-sende Arbeitslosigkeit verantwortlich istund für ein Mehr an Armut und sozialerPolarisierung steht, muss entweder um-gestaltet werden oder wird zusammen-brechen. Eine Umgestaltung bedeutet ei-nen grundsätzlichen Wandel.

...und zu HauseVergessen wir jedoch nicht die anderenUrsachen der griechischen Finanzkrise.So hat sich in Griechenland nach wie vornichts an der Verschwendung öffentli-cher Gelder geändert. Nirgends in Euro-pa kommt etwa der Bau eines KilometersStraße teurer wie hier. Ein weiteres Bei-spiel: Die Privatisierung der Autobahnendient angeblich der »Vorfinanzierung«neuer Strecken – deren Bau ist aber aufEis gelegt, gefüllt werden die Taschen der»Investoren«.Die wachsende Ungleichheit kann da-

her nicht einfach als Nebeneffekt der Kri-se abgetan werden. Das griechische Steu-ersystem ist ein Ausdruck von Klientelis-mus, der die Eliten des Landes zusam-menschweißt. Dank zahlloser Ausnah-meklauseln ist das System löchrig wie einSieb, wobei die zahlreichen Ausnahme-regelungen und Vergünstigungen spezi-ell auf die Oligarchen zugeschnitten sind.

Diejenigen,die behaupten,

dass die verabreichte»Medizin« zum

Kurieren der Krisegeführt hat, sind

Heuchler.

Alexis Tsipras ist Spitzenkandidatder Europäischen Linken für dieWahlen zum Europäischen Parla-ment und damit zugleich für dasAmt des Präsidenten der Europäi-schen Kommission.Foto: dpa/Manuel De Almeida

Übersetzung: Britta Grell

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 9

Dieses Arrangement beruht seit demEnde der Diktatur auf einem informellenPakt zwischen Unternehmern und derdoppelköpfigen Hydra des Zweipartei-ensystem, bestehend aus Nea Dimokratiaund Pasok. Das ist einer der Gründe, wa-rum der griechische Staat bis heute nichtdie so dringend benötigten Steuern vonden Wohlhabenden eintreibt, sondernvorzugsweise die Löhne und Rentenkürzt.Aber das politische Establishment – das

übrigens die letzten Wahlen nur überlebthat, weil es erfolgreich die Angst derMenschen vor einem Ausscheiden aus derEurozone schüren konnte – verfügt nochüber ein zweites Lebenselixier: die Kor-ruption. Die geheimen Absprachen zwi-schen den politischen und wirtschaftli-chen Eliten aufzubrechen, gehörte daherzu den Prioritäten einer von SYRIZA an-geführten popularen Regierung. Wir for-dern ein Schuldenmoratorium also auch,um in Griechenland einen grundlegen-den Wandel herbeizuführen.Der Wandel Europas ist übrigens weit

mehr als eine längst fällige Forderung, eshandelt sich vielmehr um eine existenzi-elle Frage. In Griechenland hat der Pro-zess des Wandels bereits begonnen. SY-

RIZA ist nur noch einen Schritt von derMachtübernahme entfernt. Die gegen-wärtige griechische Regierung versuchtder EU dadurch zu imponieren, dass siedie Rolle des »Musterzöglings« spielt.Aber auch das hat ihr nichts gebracht.Nehmen wir als Beispiel die Zusage, diegriechische Schuldenlast zu mindern. DieDebatte darum wurde ein ganzes Jahrlang ausgesetzt, weil man die Bundes-tagswahlen in Deutschland abwartenwollte. Jetzt erklärt man uns, wir müss-ten uns noch bis zu den Europawahlenim Mai 2014 gedulden. Die Herrschen-den in Europa werden uns aber erst dannGehör schenken, wenn wir einen politi-schen Wandel in Griechenland herbeige-führt haben und sich die Unzufriedenheitmit der Austeritätspolitik in den bevor-stehenden europäischen Wahlen in ent-sprechenden Stimmenzuwächsen für lin-ke Parteien niederschlägt.

Hin zu einem anderen EuropaDie anstehende Europawahl bietet eineGelegenheit, einen wirklichen Dialog mitden Menschen in Europa zu beginnen –vor allem mit denjenigen, die den Ein-druck haben, dass sich niemand für ihrSchicksal interessiert. Wir zählen dabei

auf jede Einzelne und jeden Einzelnenvon euch. Wir setzen auf die Solidarität,um bei den ersten entscheidendenSchritten unserer Regierung nicht alleindazustehen. Denn unter einer von SY-RIZA geführten Regierung wird es inGriechenland eine Abkehr von all denKürzungspolitiken geben. Wir werdeneinen tragfähigen Plan zur Förderung dergriechischen Wirtschaft vorlegen, aber –was noch von größerer Bedeutung ist –einen realistischen Plan für einen Um-bau hin zu einem anderen Europa. Waswir in Europa brauchen, ist eine mög-lichst breite Front gegen den vorherr-schenden Kurs, eine Solidaritätsbewe-gung für die Rechte der Lohnabhängi-gen sowohl im Norden als auch im Sü-den. Was wir brauchen, wenn die euro-päische Linke an Stärke gewinnen undeinen maßgeblichen Unterschied ma-chen will im Alltag der einfachen Leute,sind möglichst umfassende soziale undpolitische Bündnisse. Die Europawahl imkommenden Mai bietet eine historischeChance, die Voraussetzungen für diesenWandel mit zu schaffen. Wenn versuchtwird, das Rad der Geschichte zurückzu-drehen, ist es an der Linken, Europa in ei-ne bessere Zukunft zu führen.

10 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Schulden und Euro:Was tun?Ein Manifest von Daniel Albarracín, Nacho Álvarez, Bibiana Medialdea, Francisco Louçã,Mariana Mortagua, Michel Husson, Stavros Tombazos, Giorgos Galanis, Özlem Onaran

Ein falsches DilemmaDiese Krise hat gezeigt, dass dieses neo-liberale Projekt in Europa nicht tragfähigist. Progressive Alternativen zu dieser Kri-se erfordern eine Neugründung Europas:Kooperation ist notwendig sowohl aufeuropäischer als auch auf internationalerEbene, für die Restrukturierung der In-dustrie, für ökologische Nachhaltigkeitund für die Schaffung von zusätzlichenArbeitsplätzen.Da aber eine globale Neugründung an-

gesichts des derzeitigen Kräfteverhält-nisses utopisch erscheint, stellt sich derAusstieg aus den Euro für einige Länderals eine unmittelbare Lösung dar. Das Di-lemma scheint also klar: riskanter Aus-stieg aus der Euro-Zone oder hypotheti-sche europäische Harmonisierung, dieaus den sozialen Kämpfen hervorgehensoll.Wir denken, dass diese Gegenüber-

stellung falsch ist; es ist im Gegensatz da-zu wichtig, an einer gangbaren Strategiefür die unmittelbare Konfrontation zu ar-beiten. Jeder soziale Wandel beinhalteteine Infragestellung der vorherrschendengesellschaftlichen Interessen, deren Pri-vilegien und deren Macht. Diese Kon-frontation spielt sich hauptsächlich aufnationaler Ebene ab. Der Widerstand derherrschenden Klasse und ihr Potential anVergeltungsmaßnahmen reichen jedochüber den nationalen Rahmen hinaus. DieStrategie des Ausstiegs aus dem Euro be-inhaltet nicht ausreichend die Notwen-digkeit einer europäischen Alternative.Deswegen muss eine Strategie aufgestelltwerden, welche mit dem »Euroliberalis-mus« bricht und Mittel für eine anderePolitik frei setzt. Es geht in hier nicht umdas Programm, sondern um die Mittel derUmsetzung.

Sich von dem Griff der FinanzmärktebefreienKurzfristig müsste eine der ersten Maß-nahmen einer linken Regierung sein, ei-nen Weg zu finden, mit dem das Haus-haltsdefizit unabhängig von den Finanz-märkten finanziert wird. Das erlauben dieeuropäischen Regeln nicht, und es wäreder erste Bruch, der durchzuführen wä-re.Es gibt ein großes Spektrum an mög-

lichen Maßnahmen, die nicht neu sindund die früher in unterschiedlichen eu-ropäischen Ländern durchgeführt wur-den: eine Zwangsanleihe bei den reichs-ten Haushalten; das Verbot, Kredite beiDevisenausländern aufzunehmen; eineVerpflichtung von Banken, eine be-stimmte Quote an Staatsanleihen aufzu-nehmen; eine Steuer auf internationaleDividendentransfers sowie auf Kapital-transfer usw.; und selbstverständlich ei-ne radikale Steuerreform.Der einfachste Weg wäre, dass die na-

tionale Zentralbank den öffentlichenHaushalt finanziert, wie es in den USA,in Großbritannien, Japan usw. gemacht

wird. Es wäre möglich, eine besondereBank ins Leben zu rufen, welche sich ge-genüber der Zentralbank refinanzierendarf, welche aber als Hauptfunktion denKauf öffentlicher Anleihen hätte (etwas,was die EZB bereits gemacht hat).Natürlich ist das nicht wirklich eine

technische Frage. Es wäre ein politischerBruch mit den bisher geltenden Regeln inEuropa. Ohne einen solchen Bruch wärejegliche Politik, die nicht »die Finanz-märkte beruhigen« würde, sofort blo-ckiert durch einen Anstieg der Kosten fürdie Finanzierung der öffentlichen Schul-den.Dieses erste Paket von Sofortmaß-

nahmen würde jedoch nicht die bereitsangehäuften Last von Schulden und derZinsen auf diese Schulden reduzieren. DieAlternative sieht folgendermaßen aus:entweder weiter andauernde Austeritätoder ein sofortiges Moratorium auf die öf-fentlichen Schulden.Nach einen solchen Moratorium sollte

ein öffentliches Audit organisiert wer-den, um die illegitimen Schulden he-rauszufinden – was vor allem vier Berei-che betreffen würde:– die »Steuergeschenke« zugunsten derreichsten Haushalte, der großen Fir-men und der »Rentiers«;

– die »illegalen« Steuerprivilegien: Steu-erflucht, Steueroptimierung, Steuer-oasen und Amnestien für Steuer-flüchtlinge;

– die Bankenrettungsaktionen seit Aus-bruch der Krise;

– die Schulden, die per Schneeballeffektaus den Schulden selbst entstandensind durch die Differenz zwischen derHöhe der Zinsen und der Wachstums-raten des BIP, weil letztere infolge derneoliberalen Kürzungspolitik und derArbeitslosigkeit stark in Mitleiden-schaft gezogen wurden.

Auf ein solches Audit muss ein Austauschder Schuldtitel folgen mit dem Ergebnis,dass ein Großteil der Schulden annulliertwird. Das wäre der zweite Bruch.Die öffentlichen Schulden sind aber

auch eng verwobenmit der Bilanz der pri-vaten Banken. Darum sind die soge-nannten Rettungsaktionen für die Staa-ten in der Regel Bankenrettungsaktio-nen. Also ist ein dritter Bruch mit der neo-liberalen Ordnung erforderlich: interna-tionale Kapitalverkehrskontrolle, Kont-rolle über das Kreditwesen und Soziali-sierung der Banken. Das ist der einzigevernünftige Weg, um das Geflecht derSchulden zu entwirren. Immerhinwar dasdie Option, die in Schweden in den 1990-er Jahren gewählt wurde (auch wenn dieBanken später wieder privatisiert wur-den). – Das sind die Mittel für eine echtesoziale Transformation. Aber wie kom-men wir dahin?

Eine linke Regierung ist notwendigDiese drei bedeutenden und notwendi-gen Brüche, um erfolgreich Widerstand

gegen eine finanzpolitische Erpressung zuleisten, können nur von einer linken Re-gierung zu einem guten Ende gebrachtwerden. Obwohl die sozialen und politi-schen Bedingungen für eine abgestimmteStrategie des Kampfes für eine solche Re-gierung von Land zu Land sehr unter-schiedlich sind, richtete sich im Sommer2012 in ganz Europa alles Augenmerk aufdie Aussichten von Syriza (dem Bündnisder Radikalen Linken), die Wahlen zu ge-winnen und damit das Rückgrat für einesolche Regierung in Griechenland zu bil-den.Seit dieser Zeit führt Syriza eine Kam-

pagne mit den grundlegenden Themen,die wir in diesem Manifest entwickeln:Eine Regierung der linken Kräfte ist einBündnis für die Aufkündigung der Me-moranda der Troika und die Umstruku-rierung der Schulden, so dass Löhne,Renten, Öffentliche Gesundheitsversor-gung, Bildung und Sozialversicherunggeschützt werden könnten.

Für eine Strategie des unilateralenBruchs und AusbauDie fortschrittlichen Lösungen stehen imGegensatz zu dem neoliberalen Projektverallgemeinerten Wettbewerbs. Sie sindvon Grund auf kooperativ angelegt undfunktionieren umso besser, auf je mehrLänder sie ausgedehnt werden. Wennbeispielsweise alle europäischen Länderdie Arbeitszeit reduzieren und eine ein-heitliche Kapitalertragssteuer erhebenwürden, könnte eine solche Koordinie-rung den Gegenschlag vermeiden, dengenau diese Politik erleiden würde, wennsie in einem einzigen Land umgesetztwürde.Um diesen kooperativen Weg einzu-

schlagen, muss eine Regierung der lin-ken Kräfte eine unilaterale Strategie ver-folgen:– Die »geeigneten Maßnahmen« werdenunilateral getroffen, wie beispielswei-se die Ablehnung der Austeritätspoli-tik oder die Besteuerung von Finanz-transaktionen.

– Sie müssten einhergehen mit Schutz-maßnahmen wie beispielsweise dieKontrolle der Kapitalmärkte.

– Die Durchführung einer Politik, die aufnationaler Ebene nicht im Einklangmitden europäischen Bestimmungensteht, stellt ein politisches Risiko dar,das zu beachten ist.

Die Antwort dazu besteht in einer Logikder Erweiterung, damit solche Maßnah-men wie beispielsweise fiskalpolitischeImpulse oder die Finanztransaktions-steuer von anderen Mitgliedstaaten an-genommen werden.Die politische Konfrontation mit der EU

und den herrschenden Klassen andererStaaten, insbesondere der deutschen Re-gierung, kann jedoch nicht vermieden wer-den, und die Drohung eines Verlassens desEuroraums darf nicht a priori von mögli-chen Optionen ausgeschlossen werden.

Das Manifest entstand auf Initiati-ve von Michel Husson, Ökonom amInstitut de recherches économiqueset sociales (IRES) in Paris und Mit-glied des Wissenschaftlichen Bei-rats von Attac. Die weiteren Auto-ren: Daniel Albarracín, NachoÁlvarez, Bibiana Medialdea (Spa-nien), Francisco Louçã, MarianaMortagua (Portugal), StavrosTombazos (Zypern) Giorgos Gala-nis, Özlem Onaran (Großbritanni-en). Die AutorInnen sind als linkeWissenschaftlerInnen aktiv in un-terschiedlichen europäischen Be-wegungen und Parteien der Lin-ken. Eine Langfassung des Mani-fests gibt es unter:http://gesd.free.fr/euromani.htm

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 11

Dieses strategische Schema erkenntan, dass die Neugründung Europas nichteine Vorbedingung für die Umsetzung ei-ner alternativen Politik sein darf. Diemöglichen Vergeltungsmaßnahmen ge-gen eine linke Regierung müssen von Ge-genmaßnahmen neutralisiert werden,die in der Tat einen Rückgriff auf pro-tektionistische Systeme implizieren.Doch diese Orientierung ist nicht im üb-lichen Sinne des Wortes protektionis-tisch, denn sie schützt einen sozialenTransformationsprozess, den die Bevöl-kerung mit trägt, und nicht die Interes-sen des nationalen Kapitals, das sich imWettbewerb mit anderen Kapitalinte-ressen befindet.Es handelt sich also um einen »Erwei-

terungsprotektionismus«, der obsoletwird, sobald die sozialen Maßnahmen fürArbeitsplätze und gegen die Austeritäts-politik sich quer durch Europa durchge-setzt haben.Der Bruch mit den Bestimmungen der

Europäischen Union ist keine Prinzipi-enfrage, sondern stützt sich auf der Le-gitimität von gerechten und effizientenMaßnahmen, die den Interessen derMehrheit entsprechen und ebenso denNachbarländern vorgeschlagen werden.Diese strategische Orientierung kanndurch die soziale Mobilisierung in denanderen Ländern verstärkt werden undsich schließlich auf ein Kräfteverhältnisstützen, das in der Lage ist, die Institu-tionen der EU in Frage zu stellen. Diejüngste Erfahrung mit den neoliberalenRettungsschirmen der EZB und der Eu-ropäischen Kommission zeigt, dass es ab-solut möglich ist, eine Reihe von Be-stimmungen der EU-Verträge zu umge-hen, und dass die europäischen Behör-den nicht gezögert haben, dies auf Ge-deih und Verderb zu tun. Daher fordernwir das Recht auf Maßnahmen, die in dierichtige Richtung gehen, inklusive derEinrichtung einer Kapitalverkehrskont-rolle und jeglichen Systems, das geeig-net ist, um Löhne und Renten zu si-chern. In diesem Rahmen wäre das Ver-lassen des Euroraums eine Drohung oderein allerletzter Ausweg.Diese Strategie stützt sich auf die Le-

gitimität der fortschrittlichen Lösungen,die aus ihrem Klassencharakter er-wächst. Es handelt sich hier also um ei-ne auf Kooperation bauende Strategiedes Bruchs mit dem aktuellen Rahmender EU, dies im Namen eines anderenEntwicklungsmodells, das auf einerneuen Architektur für Europa beruht: einerweiterter europäischer Haushalt aufder Grundlage einer gemeinsamen Ka-pitalsteuer, der Harmonisierungsfondsund sozial und ökologisch sinnvolle In-vestitionen finanziert. Eine an den In-teressen der Bevölkerungsmehrheitenorientierte Strategie einer linken Re-gierung muss für diesen demokrati-schen Kampf alles tun, was erforderlichist.

12 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Ein mediterraner Block?Südeuropa sucht einen AuswegVon Armando Fernández Steinko

Spanien gehört neben Portugal, Grie-chenland, Italien und Irland zu den vonder Finanzkrise am stärksten betroffenenLändern, den sogenannten PIIGS. Ihrepolitischen, wirtschaftlichen und Sozial-systeme sind einem Strukturwandel un-terworfen, dessen Ergebnis noch nichtabsehbar ist. Während Irland als Son-derfall gelten kann, besitzen die anderenvier Länder viele Gemeinsamkeiten undhaben ähnliche historische Entwicklun-gen durchlaufen. Nichtsdestotrotz geltenfür Italien einige Besonderheiten: DasLand verfügt als Gründungsmitglied derEuropäischen Gemeinschaft (EG) über ei-ne größere Verhandlungsmacht als dieanderen südeuropäischen Staaten. Seinewirtschaftliche, politische und institutio-nelle Modernisierung fand über dreiJahrzehnte innerhalb eines reguliertenKapitalismus statt und war über zwei Ge-nerationen in politische und Sozialpakteeingebettet. Dieser Sozialpakt beinhalte-te ein System politischer Freiheiten undindividueller Rechte, ein (minimales)Gleichgewicht der Interessen von Kapitalund Arbeit und die Umleitung von einemTeil der Produktivitätszuwächse in dieAusdehnung des Binnenmarktes und dieErhöhung des Konsumniveaus der Be-völkerung. Der Pakt beruhte desWeiteren auf einer Anglei-chung der Lebensbedin-gungen innerhalb Itali-ens durch öffentlicheInfrastrukturinvestiti-onen (steuerfinan-zierte Verkehrswege,Gesundheits- und Bil-dungseinrichtungenusw.) sowie auf derSchaffung von Indust-rien und Dienstleistungs-sektoren, die in der Lagewaren, die durch die schritt-weise und regulierte Auflösung dertraditionellen Sektoren freigesetzten Ar-beitskräfte zu absorbieren. Von dieser Po-litik hat v.a. die Landbevölkerung profi-tiert, die im Rahmen der europäischenAgrarpolitik in den Genuss dauerhafterRessourcentransfers kam, was eine »An-passung des Lebensniveaus« ermöglichte(vgl. Art. 39.1.b des Vertrags von Rom).Die schrittweise Öffnung gegenüber denWeltmärkten ermöglichte das Entsteheneines dynamischen und innovativen Ex-portsektors, der sich dank der chronischunterbewerteten Lira und einer auch vonanderen Gründungsmitgliedern der Ge-meinschaft (wie Frankreich und Deutsch-land) verfolgten Handelspolitik in denJahrzehnten des ›regulierten Kapitalis-mus‹ weiter entfalten konnte. Diese Ex-portkapazität sorgte dafür, dass die Zah-lungsbilanz Italiens über viele Jahrzehn-te und selbst nach der Krise 2008 ausge-glichen blieb. Und das obwohl die öf-fentlichen Schulden in Italien heute bei160 Prozent des Bruttoinlandsproduktesliegen.Die kapitalistische Modernisierung in

Portugal, Griechenland und Spanien (von

nun an PGS) nahm andere Bahnen. Diedrei Länder durchliefen einen Prozess desnachholenden Fordismus und kamennicht in den Genuss jener Pakte, die denKapitalismus nach 1945 einhegten. Als sieder EG beitraten (Griechenland 1981,Portugal und Spanien 1986), verlorendiese Pakte selbst in den Gründungs-staaten an Bedeutung, und mit den Ver-trägen von Maastricht beschleunigte sichdie Kehrtwende auf dem ganzen Konti-nent. Der verspätete Zugang zu einemeingehegten Kapitalismus, d.h. zu einemZeitpunkt, als die Regulation in der ge-samten westlichen Welt aufgekündigtwurde, trieb die für den EG-Beitritt zuzahlenden gesellschaftlichen und öko-nomischen Kosten in die Höhe.

In Richtung eines mediterranenBlocks?Wegen dieser historischen Entwicklungbefinden sich die PGS in der aktuellen po-litischen und wirtschaftlichen Konjunk-tur in einer ähnlichen Situation. Der Ver-fall ihrer Sozialsysteme könnte im Prin-zip dazu führen, dass sich neue, der Aus-teritätspolitik entgegen gesetzte Mehr-heiten bilden. Es ist allerdings ausge-sprochen unwahrscheinlich, dass sich

die drei Länder dieser Politikeinzeln mit Erfolg wider-setzen können. Darausleitet sich die Notwen-digkeit ab, einen ge-meinsamen Block zubilden. Dieser Blockkönnte das notwen-dige politische undwirtschaftliche Ge-wicht erlangen, um ei-ne Abkehr von der Aus-teritätspolitik zu erzwin-

gen, die Zahlung der Schul-den an das Wirtschaftswachs-

tum zu koppeln und öffentliche In-vestitionsprogramme zur Schaffung vonBeschäftigung im Rahmen einer sozialenund ökologischen Konversion in Gang zusetzen. Für den Fall, dass es nicht zu ei-nem Abkommen mit den großen Export-nationen kommt und die Austeritätspo-litik weiter fortgesetzt wird, hätte nur einBlock der Staaten im Süden eine realis-tische Aussicht, außerhalb der heutigenEU zu bestehen. Genauer gesagt: ein eu-ropäisch-mediterraner Block.1 Er würde seine Mitgliedsländer auf-grund des Volumens seiner Auslands-schulden in eine viel bessere Ver-handlungsposition bringen. Die Dro-hung eines Zahlungsstopps könnte daseuropäische und globale Finanzsysteman den Rand des Abgrunds bringen.Dieses Szenario würde hohe Kosten fürdie PGS implizieren, wäre jedoch fürdie Gläubiger der zentralen Staatennoch gefährlicher, weshalb diese einderartiges Risiko vermutlich vermei-den würden.

2 Die vereinten PGS hätten mehr Kraft,eine internationale Gläubigerkonfe-renz zu erzwingen, wie es sie 1953 in

London gab. Damals wurden in einemmultilateralen Abkommen die Zah-lungen der von Deutschland seit demErsten Weltkrieg gegenüber den USA,Großbritannien und Frankreich ange-häuften Auslandsschulden an dasWirtschaftswachstum und die Ent-wicklung der Produktivkräfte in derBundesrepublik gekoppelt. Dieses Zu-geständnis war keinem plötzlichenAusbruch von Menschlichkeit bei denWestmächten geschuldet, sondernhatte damit zu tun, dass West-Deutschland nach 1945 aufgrund derneuen Militärstrategie gegenüber demsozialistischen Lager eine zentrale Be-deutung erlangt hatte. Das deutscheArgument lautete, dass es seinen mi-litärischen Verpflichtungen ohne eineNeuverhandlung der Schulden nichtwürde nachkommen können und dasseine wirtschaftlich schwache, am Bo-den liegende Bundesrepublik dasImage des Kapitalismus zum Schadendes gesamten westlichen Lagers inMitleidenschaft ziehen könnte. Dasdeutsche »Wirtschaftswunder« wäreohne diese Konferenz unmöglich ge-wesen, bei der die BRD Auslands-schulden in Höhe von etwa 14,6 Mil-liarden Mark erlassen bekam. Die PGSwerden heute einzeln niemals die nö-tige Kraft entfalten, um wie die Bun-desrepublik Deutschland nach demKrieg eine derartige Konferenz durch-zusetzen. Da sie jedoch für das atlan-tische Bündnis zentrale geostrategi-sche Positionen innehaben, könnte ihrZusammenschluss eine ähnliche Wir-kung besitzen wie die Existenz der so-zialistischen Staaten in den 1950erJahren.

3 Deutschland, die neue europäischeHegemonialmacht, ist dazu ver-dammt, sein Währungssystem weiter-hin an die schwächstenÖkonomien desSüdens zu binden, um den Euro zu-gunsten der eigenen Exporte abzu-werten, die Rückzahlung der Kreditezu garantieren und eine aufgrund desAnsteckungseffekts drohende Implo-sion der Euro-Zone zu verhindern:Deutschland benötigt die PGS. Wenndiese sich zusammenschlössen und ei-ne gemeinsame Strategie entwickel-ten, könnten sie mit der Schaffung ei-ner eigenenWährung drohen: dem Eu-rosur. Dieser Schritt hätte positive undnegative Auswirkungen, die gründlicheinzuschätzen wären. Auf jeden Fallwären nachteilige Effekte im Blockleichter zu bewältigen als getrennt. Einsolcher Bruch würde in jedem Fall da-zu führen, dass die heute von Deutsch-land verfolgte Exportstrategie wegender schnellen Aufwertung eines hypo-thetischen Euronorte an ihr Ende kä-me. Dies würde in Deutschland den ge-sellschaftlichen Konsens, wie er vonTeilen der Gewerkschaftsbewegung,der Sozialdemokratie und den Grünenmitgetragen wird, zum Zerbrechenbringen. Es ist wahrscheinlich, dass die

In Portugal,Spanien und

Griechenland könntensich neue Mehrheiten

gegen dieAusteritätspolitik

bilden.

Armando Fernández Steinko lehrt– von links und kritisch – Soziolo-gie an der Universidad Complu-tense in Madrid, Spanien. Er ar-beitet in der Fundación de Investi-gaciones Marxistas mit, der Part-nerorganisation von Transform!und der RLS, und ist Mitglied derIzquierda Unida. Sein Blog heißtPiensa y Actúa.Foto: privat

Übersetzung: Raul Zelik

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 13

deutschen Eliten zur Vermeidung ei-nes solchen Szenarios die nötigen Res-sourcen, wenn auch keinen Euro mehr,zur Verfügung stellen würden.

4 Nichtsdestotrotz wäre es ein Irrtum zuglauben, dass diese Situation – so sehrder Norden den Süden auch benötigt –den Süden ökonomisch besser stellenwürde. Tatsächlich droht der Süden ineine sozial unerträgliche Lage abzu-rutschen. In der aktuellen Lage ist eszumindest ausgesprochen unwahr-scheinlich, dass Deutschland oder an-dere Exportnationen Ressourcen zurVerfügung stellen würden, damit diePGS eine eigenständige produktive Ba-sis entwickeln könnten, um den politi-schen und sozialen Konsens ihrer jun-gen Demokratien nachhaltig zu finan-zieren. Die einzige Hoffnung bestündedarin, die Kräfteverhältnisse in Europazu verschieben. Für eine solidarischePolitik müssten dann eine neue euro-päische Arbeitsteilung definiert, geld-politische Mittel für eine schrittweiseAnnäherung der Produktivität festge-legt und die heute die Wirtschaftsbe-ziehungen zwischen den europäischenStaaten regulierenden Grundregeln ei-ner Prüfung unterzogen werden. Es istjedoch unwahrscheinlich, dass es dazukommt, ohne dass die wichtigstenNutznießer eines solchen Politikwech-sels – die PGS – die dafür notwendigeVerhandlungsmacht erlangen.

5 Nur wenn einige Grundpfeiler dessen,was wir als »atlantisches Projekt« (sie-he unten) bezeichnen, in Frage ge-stellt werden, besteht die Möglichkeiteines alternativen Produktionsmo-dells. In den PGS, nicht aber im Restder EU-Staaten, verlieren die Parteiendes atlantischen Konsenses zurzeitmassiv an Unterstützung. Diese Pa-rallelität der Entwicklung im Süden er-möglicht ein gemeinsames politisches

Handeln. Die nach den Wahlen imFebruar 2013 in Italien geschaffene Si-tuation deutet ebenfalls in diese Rich-tung.

6 Abgesehen von der strategischen Be-deutung des Mittelmeerraums könnendie PGS ihre privilegierten Beziehun-gen nach Lateinamerika (Portugal undSpanien) und zur arabischen Welt undRussland (Griechenland) als Faust-pfand einsetzen. Auch dies kann abernur in Absprache untereinander ge-lingen.

Das Problem der AsymmetrieDie Eliten Portugals, Spaniens und Grie-chenlands waren in den vergangenen 30Jahren dem atlantischen Projekt ver-pflichtet. Seit dem Ausbruch der Krise2008 – und schon zuvor – haben sie im-mer wieder den Beweis erbracht, dass sieden Interessen einer Minderheit Vorrangeinräumen, und damit den Konsens derdemokratischen Transition faktisch auf-gekündigt. Ihre Politik zielt nicht darauf,die Gesellschaften gegenüber den gro-ßen europäischen Exporteuren und denVermögensbourgeoisien des Planeten zuschützen, sondern die Interessen des Ka-pitals noch rücksichtsloser als bisherdurchzusetzen – und zwar sowohl nachinnen (Umwidmung öffentlicher Mittelzur Sanierung von Banken ohne politi-sche Gegenleistung, deflationäre Politikbei Preisen und Löhnen, »interne Ab-wertung« usw.) als auch nach außen (Er-höhung der Handelsaggressivität, Be-günstigung multinationaler Unterneh-men, latente Währungskriege usw.). Ihrerklärtes Ziel ist es, diese Politik anderenStaaten, die dadurch noch verwundbarersind als man selbst, aufzuzwingen. Diedeutsche Politik der vergangenen 15 Jah-re wird reproduziert: auf Kosten desNachbarn Arbeitsplätze schaffen und diepolitische Legitimität der eigenen Regie-

rung stärken. Diese Dynamik bringt diebeiden angreifbarsten Ökonomien desSüdens (Portugal und Griechenland mitihren 22 Millionen Einwohnern) in einebesonders komplizierte Lage und er-schwert die Aussicht, dass das größereSpanien (mit seinen 47 Millionen Ein-wohnern) Teil eines Solidarblocks im Sü-den werden könnte. Spanien ist in vielenBereichen ein direkter Konkurrent beiderLänder und verfügt über ein größereswirtschaftliches Potenzial als diese, wasdie Hoffnung weckt, das deutsche Mo-dell auf Kosten kleinerer und schwäche-rer Länder wie Portugal und Griechen-land umsetzen zu können (der Fall Itali-en ist dem Spaniens in dieser Hinsichtähnlich). Aber Spanien fehlen einige Vo-raussetzungen, um den deutschen Wegkopieren zu können:1 Es verfügt über wenig Zeit. Die Ar-beitslosigkeit könnte in wenigen Mo-naten über 27 Prozent steigen, und eswird, nicht zuletzt wegen der Korrup-tionsskandale der konservativen Re-gierungspartei, über den Ausbruch un-kontrollierbarer sozialer Unruhen spe-kuliert.

2 Mehrere lateinamerikanische Regie-rungen verteidigen heute die Interes-sen ihrer Bevölkerungen und habenden aggressiven Strategien spanischerMultis in Lateinamerika deshalb Gren-zen gesetzt. Dies führt zu einer Ver-ringerung der Gewinntransfers durchdie auf dem Kontinent tätigen spani-schen Multis an ihre Firmenzentralensowie zu einem Verfall ihrer Börsen-notierungen.

3 Die Erschließung alternativer Märktein Indien, China oder den Golfstaatenhat zu einer Erholung der spanischenLeistungsbilanz geführt. Diese Erho-lung ist jedoch weniger einer gestie-genen Wettbewerbsfähigkeit als demZusammenbruch der Binnennachfrage

AKTUELLE PUBLIKATIONEN

LUXEMBURG 3/4 2013Gesellschaftsanalyse und linke PraxisDie Kampfzone ausweiten

Mit Beiträgen von Rodrigo Nunes | Corinna Trogisch | Lena Ziyal | Assef Bayat | Sarah Bormann | Andrew Herod | Göran Therborn | Nicole Mayer-Ahuja | Michael Vester u. a.www.zeitschrift-luxemburg.de

SCHÖNE GRÜNE WELTÜber die Mythen der Green Economyluxemburg argumente Nr. 3 April 2012, Autor: Ulrich BrandISSN 2193-5831

LINKE STRATEGIEN IN DER EUROKRISEEine Übersicht einschließlich einer kommentierten Synopse der europapolitischen Positio-nen der Partei DIE LINKE

Analyse von Mario Candeias, ISSN 2194-2951Download unter: www.rosalux.de/publication/39479

LINKE PARTEIEN IN EUROPAEin Vergleich der europa-politischen Positionen vor den Europawahlen 2014

Studie von Thilo Janssen, ISSN 2194-2242Download unter: www.rosalux.de/publication/39751

DIE EUROPAPOLITIK DES DEUTSCHEN MACHTBLOCKS UND IHRE WIDERSPRÜCHEEine Untersuchung der Positionen deutscher Wirtschaftsverbände zur Eurokrise

Studie von Frederic Heine, Thomas Sablowski, ISSN 2194-2242Download unter: www.rosalux.de/publication/39834

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14 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

geschuldet. So hat die Steigerung derExporte keine neue Beschäftigung ge-schaffen, und es ist unwahrscheinlich,dass den spanischenUnternehmen diesin der Zukunft auf ähnliche Weise ge-lingen könnte wie den deutschen Fir-men: Das aggressiv exportorientierteModell hat seine Grenzen.

4 Die Sozial-, Umwelt- und stadtplane-rischen Standards sind in Spanien be-reits sehr niedrig, so dass deren Ab-senkung – wie sie von der PP-Regie-rung vorgeschlagen wird – kaum zu ei-nem neuen, vom Immobiliensektor ge-tragenen Wachstumszyklus führenkann. Beschäftigungseffekte, wie siesich ab 1997 ergaben, sind daher eben-falls unwahrscheinlich.

5 Die Krise verschärft auch das Problemder innerstaatlichen Verfasstheit Spa-niens. In mehreren reichen Regionenwie Katalonien wächst die Unterstüt-zung verarmter Mittelschichten für dasSelbstbestimmungsrecht. Dass die Re-gierungen in Anbetracht einer derar-tigen Situation die soziale Lage zur

Durchsetzung eines deutschen Mo-dells weiter verschärfen können, isteher unwahrscheinlich. Der politischeHandlungsspielraum für unpopuläreMaßnahmen ist begrenzt.

Vor diesem Hintergrund gibt es Argu-mente dafür, dass Spanien als bevölke-rungs- und ressourcenreichstes der dreiLänder ebenfalls ein strategisches Inte-resse an einem mediterranen Block ha-ben könnte, um einen Politikwechsel inBrüssel bzw. Berlin zu erzwingen. Wenndieser Block zustande käme, könnte auchdie öffentliche Meinung in Italien zu-gunsten eines Eurosur kippen (Italien isteine Exportnation, deren Konkurrenzfä-higkeit durch eine Abwertung der Wäh-rung unmittelbar steigen würde). Die vorallem von Frankreich wahrgenommeneGefahr, dass diese Situation zu einem Al-leingang Deutschlands in Europa führenwürde, ist hingegen kalkulierbar. Eindeutscher Alleingang, der zu einer Auf-kündigung der europäischen Charta undzu einer ausschließlichen Orientierungan den Märkten der Schwellenländer

führen würde, ist im Land selbst kaumkonsensfähig: Die deutsche Vergangen-heit wiegt zu schwer und die Ungewiss-heiten eines solchen Abenteuers sind zugroß.Damit dieser Vorschlag nicht bloßer

Voluntarismus bleibt, müsste man zei-gen, dass die drei Länder im Süden ähn-liche Entwicklungen hinter sich habenund mit gemeinsamen Problemen kon-frontiert sind, die sich im Block besseroder realistischer bewältigen ließen. Diezentrale Frage lautet in diesem Sinnenicht, ob man aus dem Euro austreten solloder was mit den Schulden geschieht. DieAngelegenheit ist grundlegender – wasden Währungs- und Finanzproblemen al-lerdings nichts von ihrer Dramatik nimmt.Es wird darum gehen, wie, mit was undmit wem eine Beschäftigungs- und Wirt-schaftsstruktur geschaffen werden kann,die eine gerechte, demokratische undnachhaltige soziale und politische Ord-nung dauerhaft finanzieren könnte. Da-für gilt es gemeinsame Praxen zu entwi-ckeln.

Ein mediterraner Block?Südeuropa sucht einen AuswegVon Armando Fernández Steinko

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 15

Liste Tsipras.Um die Zersplitterung zu überwindenVon Fabio Amato

Die italienische Linke ist scheinbar hoff-nungslos zersplittert und als parlamen-tarische Linke seit dem letzten Jahrenpraktisch verschwunden – mit Ausnahmeder Sinistra ecologia e libertà (SEL, dieLinke für Ökologie und Freiheit), die alsKoalitionspartner der Mitte-Links-Regie-rung für die neoliberalen Kürzungspoli-tiken im Zuge der Krise mitverantwort-lich gemacht wird. Hoffnung macht nunder Versuch, die nationalen Probleme ei-ner Fragmentierung der Linken mit einerausdrücklich europäischen Perspektive zuüberwinden: der Aufstellung einer »ListeTsipras« gegen die Austritt bei den an-stehenden Wahlen zum EuropäischenParlament.

Krise und AntipolitikWas ist der Hintergrund? Sieben Jahrewirtschaftlicher Rezession, eine Ver-dopplung der Arbeitslosigkeit auf jetzt of-fiziell 13 Prozent (aber in Wirklichkeit vielhöher), die Jugendarbeitslosigkeit über 40Prozent, das Prekariat immer prekärer, dieReichen immer reicher und eine sozialeUngleichheit wie nur in wenigen anderenTeilen Europas – dies ist das Ergebnis derUmsetzung eines Programms von sozia-len Anti-Reformen in Italien, die den oh-nehin schon fragilen Sozialstaat zusätz-lich geschwächt haben, mit Kürzungen imRentensystem, im Gesundheitswesen, imBildungswesen und in den Kommunen.Maßnahmen, die parteiübergreifend vomsozialdemokratischen Partito Democrati-co (PD) und Berlusconis Mitte-Rechts-Bündnis verabschiedet wurden.Vorhersehbar war: diese Anti-Refor-

men haben die hohe Staatsverschuldungdes Landes nicht gesenkt, sondern im Ge-genteil auf einen Wert von 132 Prozentdes BIP angewachsen lassen. Seit Jahrenmacht die Bedienung der Zinsen dengrößten Posten des Staatshaushalts aus.Sein Anwachsen ist die Konsequenz derZinsentwicklung, der Schrumpfung desBIP und des ausbleibenden Wachstums.Und doch gibt es in der öffentlichen De-batte kaum Auseinandersetzung darüber,wie einer Alternative zu den Kürzungs-politiken und zum neoliberalen Modellaussehen könnte, welche Positionen zurFunktion und Rolle der EU, zur Einheits-währung oder zur Verschuldung sinnvollwären. Die Diskussion dreht sich nach wievor um die Person Berlusconi, der inzwi-schen in letzter Instanz verurteil wurde,und um die Reform des Wahlgesetzes. Diedominierenden Kräfte, die sich in denTalkshows beschimpfen, segnen im poli-tischen Alltag gemeinsam die Umsetzungder Vorgaben der EZB und die Durchset-zung der Kürzungspolitik ab. Gemeinsamstimmten sie für die Aufnahme der Schul-denbremse in die Verfassung und für denberüchtigten Fiskalpakt, der Italien unddie anderen Länder Südeuropas zu im-mer neuen Einschnitten verurteilt, dereneinziger Effekt es ist, die Krisenlasten aufden Sozialsektor abzuwälzen, die Ar-beitslosigkeit anschwellen, die schwacheBinnennachfrage weiter schrumpfen zu

lassen und weitere Jahre wirtschaftlichenAbschwungs zu begünstigen. Gerade indiesen Tagen beschließt die Regierungweitere Privatisierungen, wie die der Post.Vor diesem Hintergrund ist es kein Zu-

fall, dass Pepe Grillos Populismus seinenMasseneinfluss behauptet. Seine Redengegen die politische Kaste fallen ange-sichts ihres politischen Spektakels auffruchtbaren Boden. Eine Mehrheit derItalienerInnen glaubt, dass man durch dieReduzierung der Politikergehälter undder öffentlichen Parteienfinanzierung(vor wenigen Monaten als Ergebnis einerInitiative Grillos abgesenkt), sei dasHauptübel der Krise. Die sich verbrei-tende Antipolitik von Berlusconi bis Gril-lo zerstört die demokratische Kultur. DieEntwicklung geht in Richtung fragwür-diger Mehrheitswahlgesetze, zu Parteien,die immer mehr ihren Charakter als po-litische Organisationen verlieren und voncharismatischen Führungspersönlichkei-ten abhängig werden, dem Auf und Abder öffentlichen Meinung und deren Aus-wirkungen auf die Umfragewerte hinter-her heischend. Italien hat sich am stärks-ten der US-amerikanischen Mediende-mokratie angenähert. In dieses Bild mussauch der Bedeutungsverlust anderer ge-sellschaftlicher Organisationen einge-ordnet werden, des kritischen Journalis-mus wie der Gewerkschaften. Anders alsin Griechenland, Spanien oder Portugalvermochten es die Gewerkschaften Itali-ens nicht auf die Krise mit einer starkenReaktion zu antworten. Es bleibt bei spo-radischen Wutausbrüchen der Bevölke-rung, denen aber eine organisatorischeund politische Perspektive fehlt. Ursäch-lich ist auch das Ausscheiden der linken

Alternative aus dem Parlament, der ein-zigen Kraft, die versuchte die soziale Fra-ge in den Mittelpunkt ihrer politischenAgenda zu stellen. Dieser kurze Über-blick über die politische Situation sollverständlich machen, vor welchem Hin-tergrund die inner-linken Debatten imVorfeld der Europawahlen geführt wer-den. Eine Debatte, die mit der Nominie-rung von Alexis Tsipras zum Spitzen-kandidat der Europäischen Linken (fürdas Amt des Präsidenten der Europäi-schen Kommission) neu belebt wird.

Gegen die ZersplitterungEine Reihe von Intellektuellen verschie-dener Schattierungen, der marxistischenwie der liberalen Linken, haben einen Auf-ruf zur Bildung eines Wahlbündnisses zurUnterstützung dieser Kandidatur verfasst.Im Namen einer Verteidigung der euro-päischen Idee, einer Kritik an den neoli-beralen Kürzungspolitiken und dem Fi-nanzpakt. Unter ihnen finden sich be-rühmte Intellektuelle und Künstler wieBarbara Spinelli und Andrea Camilleri. Einpositives Zeichen, auch wenn der Aufrufselbst die vorherrschende antipolitischenKultur zu bedienen droht, indem er nurWissenschaftler, Philosophen, Künstlerund allgemein an die Zivilgesellschaft an-ruft, sich von den Parteien – auch der Eu-ropäischen Linkspartei EL – abgrenzt undjeden Bezug auf die sozialen Opfer der Kri-se vermissen lässt. Dennoch öffnet dasSignal der Nominierung von Tsipras durchdie EL Möglichkeiten für eine Überwin-dung der Spaltungen innerhalb der par-teiförmigen Linken wie zwischen Intel-lektuellen, Zivilgesellschaft und Links-parteien.

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Zu den ganz unterschiedlichen Gründen für die verstärkte Migration aus Süd- und Osteuropa und über die inakzeptablen Arbeits- und Lebensbedingungen der MigrantInnen, die Funktion von Migration für den EU-Binnenmarkt und ihre Auswirkungen.

Soeben

erschienen

»Europa« als machtpolitische Antwort auf den als bedrohlich empfun-denen Aufstieg der Schwellenländer – dies ist die Botschaft namhafter Intellektueller. Dabei werden über die Aushöhlung nationalstaatlicher Souveränität soziale und demokratische Rechte leichtfertig zur Dis-position gestellt.

Andreas WehrDer europäische Traum und die WirklichkeitÜber Habermas, Rifkin, Cohn-Bendit, Beck und die anderen

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Fabio Armato ist Mitglied desNationalen Sekretariatsder Rifondazione Comunista.Foto: privat

Übersetzung: Bodo Acker

16 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Die Rifondazione Comunista hat sichsofort zur Bildung eines breitmöglichstenWahlbündnisses und einer Sammlungs-bewegung bereit erklärt, auf der Basis desProgramms der EL und der Unterstützungder Kandidatur von Alexis Tsipras. Eskommt jetzt darauf an, alle Hindernisseund Fallstricke aus den Weg zu räumenund in einem demokratischen Prozess,ausgehend von der Basis und der Veran-kerung in der Bevölkerung, alle jene Kräf-te einzubeziehen, die die politischen Zieleeiner Linken Liste gegen die Austeritätmitzutragen bereit sind, seien es nun or-ganisierte Kräfte oder Einzelpersonen, Be-wegungen oder Initiativen – im gegen-seitigen Respekt. Der Name Tsipras sym-bolisiert bereits eine Haltung. Nun geht esdarum, der Liste eine klare und bestimm-te Ausrichtung und Inhalte zu verleihen:Antineoliberal, im Kampf gegen die neo-liberalen Kürzungspolitiken, in der Kritikan den undemokratischen und autoritär-technokratischen Machtmechanismen inder EU, an ihren neoliberalen Funda-menten, kapitalismuskritische.

Sinistra ecologia elibertà, wichtiger po-tenzieller Partner einessolchen Wahlbündnis-ses, ist dabei in einerschwierigen Situation. DiePartei hatte sich vor einiger Zeitfür eine strategische Allianz mit dersozialdemokratischen Partito Democra-tico und der Einbeziehung in deren Mit-te-Links-Bündnis entschieden. Sie hat of-fiziell das Aufnahmeverfahren eingelei-tet, um Mitglied der Sozialdemokrati-schen Partei Europas (SPE) zu werden.Sie muss sich nun aber ihrer Basis stel-len, die den Schritt, Martin Schultz alsSpitzenkandidat zu unterstützen, nichtgut heißt. Und dies vor dem Hintergrundschmerzhaft sinkender Umfragewerte.Die SEL betreibt das Spiel der Ambiva-lenz und möchte den Raum zwischenSchultz und Tsipras besetzen. Konkretheißt das: im EU-Parlament stimmen siefür Tsipras, treten aber in die europäi-sche Sozialdemokratie ein und behaltenihre Beziehungen zum Partito Democra-

tico in Italien bei. Esexistiert jedoch keinRaum zwischen Tsi-pras und Schultz: ent-weder entscheidet man

sich für denKampf gegendieAusterität und die sie ausfüh-

renden Großen Koalitionen, in Itali-en wie in Deutschland und Europa, odereben nicht. Die dramatische Situation derKrise erlaubt keine taktischen Manöver.Die Wähler haben wenig Verständnis fürPolitikerspielchen und nehmen diese alsunlautere List wahr. Es bleibt unklar, obein breites Bündnis unter Beteiligung derSEL zustande kommen wird.Eine linke Anti-Austerity-Liste könnte

jedoch, wenn sie glaubhaft ist, eine eige-ne Ausstrahlungskraft entwickeln undStimmen der Nichtwähler, von Grillo undenttäuschten PD-Wählern zurückgewin-nen. Aber dafür muss sie eine klare Al-ternative vertreten, im »Geist der Ab-spaltung«, wie Antonio Gramsci dies einstnannte, für ein anderes, sozial-ökologi-sches Europa.

Im »Geistder Abspaltung«

(Antonio Gramsci)für ein anderes,

sozial-ökologischesEuropa.

Liste Tsipras.Um die Zersplitterung zuüberwindenVon Fabio Amato

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 17

Ein lebendiges Netzwerk:Europa und die Neue Linke in KroatienVon Stipe Curkovic

Mit dem EU-Beitritt ist am 1. Juli 2013 ei-ne Epoche zu Ende gegangen, in der esin Kroatien vor allem um eines ging:»Wieder Europa werden!« Nationalistenwie antinationalistische Liberale und So-zialdemokraten beriefen sich nach demZerfall Jugoslawiens gleichermaßen aufEuropa, um Zustimmung für ihre Politikzu erringen. Die Aussicht auf EU-Mit-gliedschaft und das damit verknüpfteWohlstandsversprechen dienten der Le-gitimation neoliberaler Strukturreformenund des damit einhergehenden Abbaussozialer Rechte. Die gemeinsame Erzäh-lung von einer »Rückkehr nach Europa«entpolitisierte die öffentliche Debatte undließ jede Deregulierung als ›administra-tive Notwendigkeiten‹ auf dem Weg zurIntegration dastehen. Einwände konntenals populistisch fehlgeleitete Gefährdungeines breit geteilten Endziels »Europa«ausgelegt und entkräftet werden.

Bedingungen linker KritikUnter solchen Bedingungen fehlte einerlinken Kritik an Neoliberalisierung undkapitalistischer Restauration der gesell-schaftliche Resonanzboden. Sogar ihremSelbstverständnis nach »linke« Intellek-tuelle und NGOs nahmen erst spät kapi-talismuskritische Motive in ihr politi-sches Repertoire auf. Erst im Zuge derstark links geprägten Studierendenbe-wegung von 2009, die sich durch wo-chenlange Fakultätsbesetzungen Gehörverschaffte, begann Neoliberalismuskri-tik in Teilen der Medien und der Öffent-lichkeit eine gewisse Verbreitung zu fin-den.Die Studiengebühren – Aufhänger der

Proteste – konnten zwar nicht abge-schafft werden. Aus dem Umfeld der Stu-dierendenbewegung ist jedoch ein le-bendiges Netzwerk oft explizit kapitalis-muskritischer Organisationen und Initi-ativen entstanden, die Teile der beste-henden NGOs und andere Akteure der Zi-vilgesellschaft, Journalisten und Intel-lektuelle maßgeblich beeinflussen. DieseKonstellation wird gemeinhin als dieNeueKroatische Linke bezeichnet. Neben derStudierendenbewegung gehörten vor al-lem Organisationen und Initiativen ge-gen Gentrifizierung und die Einhegungöffentlichen Raums zum politischen Ent-stehungskontext dieser Neuen Linken.Viele von ihnen arbeiten inzwischen mitanderen zivilgesellschaftlichen Akteurenund teils feministischen NGOs an der Ar-tikulation einer breiten Plattform gegendie Privatisierungsprojekte der seit De-zember 2011 regierenden sozialdemo-kratisch-liberalen Koalition. Kooperatio-nen mit Gewerkschaften sind – wegen de-ren Anfälligkeit für Sozialpartner-schaftsideologie, korporatistische Ein-bindungsangebote und kurzsichtiges Be-harren auf sektorspezifischer Interessen-politik – teils noch fragil. Obwohl drasti-sche Beschneidungen der Arbeitsrechteimmer wieder mit Verweis auf Forde-rungen aus Brüssel und den angestrebtenEU-Beitritt legitimiert wurden, verspre-

chen sich viele Gewerkschaftsfunktionä-re von der EU-Mitgliedschaft nach wie voreine generelle Verbesserung der sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen undsomit auch der Lebensverhältnisse der ei-genen Mitglieder.Die Auswirkungen der Finanz- und

Weltwirtschaftskrise sowie die Perspek-tive anhaltender Kürzungspolitiken ha-ben den EU-Beitrittsenthusiasmus in denletzten Jahren jedoch erheblich ge-dämpft. Trotz der massiven Pro-EU-Kam-pagnen der gesamten politischen Klasse(einschließlich der Opposition), öffent-lich-rechtlicher wie privater Medien, derkatholischer Kirche, in Den Haag inhaf-tierter Generäle, großer Nichtregie-rungsorganisationen, bekannter Intel-lektueller und Künstler, der Unterneh-merverbände und Gewerkschaften ließensich für das Beitrittsreferendumnur 43,51Prozent der Wahlberechtigten zum Ur-nengang motivieren. Diese stimmten je-doch am 22. Januar 2012 mit einer Mehr-heit von 66,3 Prozent für den Beitritt.

EU-Kritik statt Anti-EU-KursTeile der Neuen Linken hatten das Refe-rendum als Gelegenheit genutzt, um indie öffentliche Diskussion einzugreifen.Unter dem umstrittenen Namen »Demo-kratische Initiative gegen die EU« publi-zierten sie kritische Analysen und Pole-miken, in denen die von offizieller Seiteund den Mainstream-Medien verbreite-ten Heilsversprechungen mit derreal existierenden Europäi-schen Union konfrontiertwurden. Auch wenn dieReichweite solcher EU-kritischer Argumenteauf ein relativ engesSpektrum von Intel-lektuellen, Journalis-ten und Aktivisten be-grenzt blieb, so hat dieKampagne dieses Um-feld (und einigen klei-neren Gewerkschaften)doch nachhaltig beeinflusst.Erstmals wurde öffentlichkeits-

wirksam Kritik an antidemokratisch-au-toritären Entwicklungen und der neoli-beralen Ausrichtung der EU geübt. Auchdie in der linksliberalen Öffentlichkeitverbreitete Hoffnung, die EU würde alsBollwerk gegen das erneute Aufkommeneines aggressiven kroatischen Nationa-lismus dienen, wurden mit Gegenbei-spielen aus anderen EU-Mitgliedsländernin Frage gestellt: Von der Mitgliedschaftin einer EU, die ökonomisch von einemKonkurrenzkampf auf dem Binnenmarktgeprägt ist, sei in wirtschaftlich schwä-cheren Ländern wie Kroatien mittel- bislangfristig eher die Stärkung standort-nationalistischer Denkmuster zu erwar-ten. Gerade die Kombination von lang an-haltender Wirtschaftskrise und Stand-ortnationalismus begünstige das Um-schlagen in politisch explizite nationalis-tische Projekte mit xenophoben Ausprä-gungen – dies sollte den Bürgern Kroati-

ens schon aufgrund ihrer eigenen Erfah-rung mit der politischen ZerfallsdynamikJugoslawiens verständlich sein.Die Neue Linke hatte sich keine Illusi-

onen gemacht, den Ausgang des Bei-trittsreferendums relevant zu beeinflus-sen. Die Überlegungen, gezielt in die öf-fentliche Diskussion einzugreifen, warenandere: mit dem Versuch, eine EU-Kritikvon links zu formulieren, sollte verhin-dert werden, dass Anti-EU-Positionen vonder politischen Rechten vereinnahmtwerden. Gleichzeitig ging es darum, denBoden für künftige Auseinandersetzun-gen zu bereiten, wie sie nach der end-gültigen Erschöpfung der EU-Illusionenabzusehen sind.Das jahrzehntelang beschworene Ziel

einer EU-Mitgliedschaft ist seit Sommerdieses Jahres erreicht. Damit fällt »Euro-pa« als konsensstiftendes Fernziel ausdem ideologischen Repertoire. Gesell-schaftlicheWidersprüche lassen sich nichtmehr so leicht mit Verweis auf ver-meintliche automatische Lösungen ent-schärfen. Gerade haben die EU-Finanz-minister die Eröffnung eines Defizitver-fahrens gegen Kroatien beschlossen. NeueDebatten stehen an.Für die Linke ist dies eine Chance und

eine Gefahr zugleich. Ein ungarischesSzenariomitsamt »kroatischemOrban« istnicht auszuschließen. Die wachsendeStärke einer organisierten Linken in Slo-wenien, wie die »Initiative für Demokra-

tischen Sozialismus«, lässt jedochauch andere Entwicklungenmöglich erscheinen.Gleichzeitig steckt diekroatische Linke nochin den Kinderschuhen,hat ernste Schwä-chen: es fehlt eine Or-ganisationsstruktur,die langfristiges, stra-tegisches Handeln er-möglichen, und die alsGravitationspunkt für

Bewegungen und die wei-tere Öffentlichkeit dienen

könnte. Auch fehlt es an plausib-len positiven Gegenentwürfen zur domi-nanten neoliberalen Krisenbewältigung.Diese müssen, angesichts der neuen Re-alität einer EU-Mitgliedschaft, in engerZusammenarbeit mit der europäischenLinken erarbeitet werden. Hier liegt eineVerantwortung von etablierten Kräftenwie der Linkspartei in Deutschland für diekünftige Entwicklung der Linken in peri-pheren Ländern wie Kroatien. Sie sindwichtiger Referenzpunkt und Ansprech-partner.

Mit EU-Kritikvon links sollte

die Vereinnahmungvon Anti-EU-Positionen

durch die Rechtenverhindert

werden.

Stipe Ćurković ist Chefredakteurder kroatischen Ausgabe derLe Monde Diplomatique und Mit-begründer des Centre forLabour Studies in Zagreb.Foto: privat

18 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

Drei Aufgaben.Zeit der Monster und der MutigenVon Walter Baier

Die bevorstehenden Europaparlaments-wahlen sind die erste Gelegenheit, bei derdie europäischen Bevölkerungen Gele-genheit haben werden, gleichzeitig undgemeinsam ein politisches Urteil über diePolitik zu sprechen, die von Regierungenund Institutionen in der kapitalistischenKrise durchgeführt werden. Die-ses Urteil, soviel kannman vo-raussagen, wird durch tiefeDesillusionierung, Ver-bitterung und vielfachauch durch Protest ge-kennzeichnet sein. Ineinigen Ländern mussman mit einem deut-lichen Ansteigen po-pulistischer, nationa-listischer, rechtsextre-mer bis neonazistischerParteien rechnen. DiesesPhänomen ist nicht einfachAusdruck einer gesellschaftlichenPathologie, sondern Konsequenz der Kriseund der in ihrem Zeichen europaweitdurchgesetzten Austeritätspolitik.Es ist falsch und manipulativ, wenn die

Sozialdemokratie, die in der Vergangen-heit Mit- und Hauptverantwortung für dieDurchsetzung dieser Politik getragen hat,sich vor den Europaparlamentswahlen,als Schutz vor dem drohenden Wachs-tum der extremen Rechten präsentierenwill.Viele Untersuchungen zeigen, dass es

Massenarbeitslosigkeit, Präkarisierungund Einschränkung des Sozialstaats sind,die Menschen in die Netze der Rechtentreiben. Wenn das zutrifft, dann ist in ers-ter Linie erforderlich, diese Zustände unddie Politik zu ändern, und dafür steht dieEuropäische Linke, die Linke der Linken,die radikale Linke oder wie immer wir un-sere Parteien nennen.Aber es gibt noch etwas Anderes, das

die bevorstehenden Europaparlaments-

wahlen von denen 2009 unterscheidenkönnte. Eine kürzlich publizierte Wahl-prognose sagt den in der GUE/NGL zu-sammengeschlossenen Parteien, den Par-teien der Europäischen Linken eine Stär-kung im Europaparlament voraus. Mansoll gegenüber Wahlprognosen grund-

sätzlich skeptisch sein. Wahr al-lerdings ist, dass unsere Linkebei den kürzlich abgehal-tenen Wahlen in Tsche-chien, Deutschland, Lu-xemburg, Griechen-land, Spanien Gewin-ne erreichen konnte.Die Chance besteht al-so.Eine substantielle

Stärkung der Linken derLinken im Europarlament

ist möglich. Im Unterschiedzu 2009 könnte das Ergebnis

der Wahlen nicht nur eine sinken-de Wahlbeteiligung und ein einseitigeRechtentwicklung sein. Da gleichzeitigmit einer Schwächung der Grünen undder Liberalen gerechnet wird, könnte ei-ne politische Polarisierung zwischenRechts und Links bei den Wahlen sicht-bar werden. Die politische Landkarte inEuropawürde dann anders aussehen, unddie Voraussetzungen für den Kampf dersozialen Bewegungen und Gewerkschaf-ten wären günstiger. Darauf, dass ausdieserMöglichkeit eineWirklichkeit wird,wollen wir mit Mut und Optimismus hin-arbeiten.Es gibt ein wunderschönes, häufig ge-

brauchtes Zitat von Antonio Gramsci: Ei-ne Krise ist der Zustand, in dem das Alteabstirbt, aber das Neue noch nicht zurWelt kommen kann. Seltener wird derfolgende Satz zitiert: In einer solchen Zeitdes Interregnums gibt es viele Gefahren,und es kann zu allen möglichen Krank-heitserscheinungen kommen. Eine solche

Krankheitserscheinung ist der Nationa-lismus. Niemand kann in der heutigenKrise voraussagen, was die Zukunft dereuropäischen Integration sein wird.Es ist das Recht, der Bevölkerung je-

des Landes demokratisch zu entschei-den, aus dieser Integration auszuschei-den. Wir können auch nicht ausschlie-ßen, dass der Euro aufgrund der Wider-sprüche, die innerhalb der herrschendenEliten bestehen, auseinanderbricht. Nur,lasst mich eines aussprechen. Wir sindauf kein überzeugendes Argument ge-stoßen, dass ein solches Auseinander-brechen der europäischen Integration einfür die Bevölkerungen und die arbei-tenden Klassen günstiges Szenario wäre.Nicht nur, dass sich dadurch nichts anden Machtverhältnissen, die durchtransnationale Konzerne und Finanz-märkte gebildet werden, etwas ändernwürde. Es scheint uns auch nicht realis-tisch, sich mit ihnen ausschließlich mitdem Instrumentarium auseinanderzu-setzen, das auf nationalstaatlicher Ebe-ne zur Verfügung steht. Es ist keine po-sitive Perspektive die Länder des euro-päischen Südens und Ostens in einen Ab-wertungswettlauf bei der Senkung derProduktionskosten zu hetzen. Undschließlich ist auch ein Szenario, in demdie traditionellen imperialistischen Wi-dersprüche der europäischen Groß-mächte wieder aufleben, keine positivePerspektive für die Linke.Wir glauben also nicht, dass der Zer-

fall oder Auflösung der europäischenUnion eine positive Alternative darstellt,sondern meinen, dass wir den Kampf umein anderes Europa und einen andereRichtung der europäischen Integrationführen müssen. Darin besteht unsereVerantwortung auch im Hinblick auf denanwachsenden Nationalismus. Man kannüber das Verhältnis zwischen europäi-scher Integration und Nationalstaat the-oretisch und abstrakt diskutieren. ZweiWahrheiten möchte ich unterstreichen:Erstens, die EU ist ein multinationalesGebilde, ein institutioneller Rahmen mitmehreren Ebenen der Macht, und dieLinke muss ihren Kampf auf allen diesenEbenen führen. Und zweitens, Natio-nalstaat ist nicht gleich Nationalstaat,und es macht einen Unterschied, ob manüber den Nationalstaat und seine Stär-kung in Portugal, Griechenland, Spani-en, Italien, Österreich oder Deutschlandspricht.Was ich vor allem sagen will ist, dass

wir in diesem historischen Augenblick ei-ne große Verantwortung zu tragen ha-ben. Die Linke muss drei Aufgaben lösen:Wir müssen glaubhafte politische Alter-nativen entwickeln, wir müssen breitepolitische Fronten bilden, die soziale Be-wegungen, die Gewerkschaften und po-litische Akteure miteinander vereinen.Und wir müssen das politische Kräfte-verhältnis auf europäischer Ebene und inden Ländern verändern. Dazu sind die be-vorstehenden Europaparlamentswahlenein wichtiger Anlass.

Eine Kriseist der Zustand,in dem das Alte

abstirbt, aber dasNeue noch nicht

zur Welt kommenkann.

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Walter Baier ist Koordinator vonTransform! – dem europäischenStiftungsverbund der EL.www.transform-network.org.Dies ist seine Rede zum4. EL- Parteitag, Madrid,13.-15. Dezember 2013.Foto: EU-EP/Francois Walschaerts

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 19

Soziales Europa?Zukunft in die eigenen Hände nehmenVon Thomas Händel

Die Politik der sozialen Phrase hat Tra-dition in der EU. Schon in der im Jahr2000 von den europäischen Staats- undRegierungschefs beschlossenen Lissabon-Strategie wurde behauptet, »Vollbe-schäftigung« und »deutliche Fortschrittebei der Überwindung von Armut und so-zialer Ausgrenzung« seien zentrale Zieleder EU. Ein Dutzend Jahre später resü-mierte die EU-Kommission selbstgefällig:»Durch ihre Maßnahmen trägt die Euro-päische Union zur Verringerung der Ar-beitslosigkeit und zur Verbesserung derQualität der Beschäftigung bei.« Neue be-schäftigungspolitischeMaßnahmen in deraktuellen EU-Strategie sollen bis 2020 dieBeschäftigungsquote der Bevölkerung imerwerbstätigen Alter auf 75 Prozent stei-gern und die Zahl der Menschen, die vonArmut und sozialer Ausgrenzung be-droht oder betroffen sind, soll um min-destens 20 Millionen gesenkt werden. DieMaßnahmen sollten zusammen mit denEU-Mitgliedstaaten eng überwacht wer-den, »damit beschäftigungs- und sozial-politische Erwägungen nicht hinter denwirtschaftspolitischen zurückstehen«.Die Wirklichkeit ist anders:

– Es gibt inzwischen keinen Mitglieds-staat mehr, in dem die Quote der Be-schäftigten in unbefristeter Normal-arbeit noch die Hälfte aller Beschäf-tigten ausmacht. Die Quote der Be-schäftigten im Alter von 18 bis 64 Jah-ren ist in den 27 (jetzt 28) EU-Mit-gliedstaaten von 65,8 Prozent (2008)auf 64,3 Prozent (2011) gesunken.

– Dagegen erreicht die Arbeitslosigkeit inEuropa neue Rekorde. Allein in denLändern der Eurozone hatten im No-vember 2013 rund 19,24 MillionenMänner und Frauen im erwerbsfähi-gen Alter keine Arbeit; fast ein halbeMillion Arbeitslose mehr als vor einemJahr. Die Jugendarbeitslosigkeit er-reicht im Durchschnitt in Europa fast24 Prozent – mit Spitzenwerten inGriechenland (54,8 Prozent) und Spa-nien (57,7 Prozent).

– Die Prekarität frisst sich wie ein Krebs-geschwür durch die Gesellschaften.Atypische – meist prekäre und schlechtbezahlte – Arbeit ist europaweit zwi-schen 1990 und 2010 um 80 Prozentgestiegen. Gleichzeitig ist das Lohnni-veau drastisch gesunken. Allein inDeutschland ist davon auszugehen,dass fast ein Drittel der Beschäftigtenunter oder nahe der OECD-Armuts-grenze leben – viele trotz Arbeit. Mehrals ein Viertel der Menschen in Europa– 125 Millionen – lebt in Armut oderist armutsgefährdet.

In Europa herrscht ein stillschweigenderKonsens der Machteliten: Die wirt-schaftlich »Nützlichen« werden gesuchtund umsorgt – weltweit. »Brauchbare«aus der EU sollenmit dem »Abbau von Be-standschutz-Maßnahmen« flexibel dahinbewegt werden, wo sie benötigt werden.Die aus dem Arbeitsmarkt »Herausgefal-lenen« werden irgendwie prekär be-schäftigt und die ökonomisch »Überflüs-

sigen« sollen möglichst kostengünstig»verwahrt« werden. Ein Großteil der Be-völkerung wird für die Ökonomie nichtmehr benötigt. In dieser Bilanz spiegeltsich der Bankrott des viel gerühmten eu-ropäischen Sozialmodells.

Kapitalismus ohne DemokratieSeit 2013 wird der letztlich für alle EU-Staaten gültige »Wettbewerbspakt« ent-wickelt. Die Wirtschaftspolitik der Mit-gliedstaaten soll strikter koordiniert, dieArbeitsmärkte noch weiter dereguliertund damit die internationale Wettbe-werbsfähigkeit der Unternehmen gestei-gert werden. Schon 2011 forderte dieKommission eine »Reform« der Arbeits-schutzvorschriften »um den übermäßi-gen Schutz von Beschäftigten mit unbe-fristeten Verträgen zu reduzieren unddenjenigen, die außerhalb oder am Randdes Arbeitsmarkts stehen, einen gewis-sen Schutz zu vermitteln.« Zum Kern desWettbewerbspakts soll die uneinge-schränkte Gültigkeit der Prinzipien desmarktradikalen Wirtschaftsmodells auchin der Arbeits- und Sozialpolitik gehören.Finanzielle Anreize für die Mitglieds-staaten sollen diese zur Umsetzung derneuen Verträge animieren. Das Sagen ha-ben allein die Regierungen – die Rechtedes europäischen Parlaments werden erstgar nicht erwähnt.Aktuelle Themen in der Debatte sind

die Einführung des Renteneintrittsalterüber 67 Jahre hinaus, weitere Arbeits-zeitflexibilisierungen, die Revision derBereitschaftszeiten, die Erhöhung derHöchstarbeitszeit und die Ausweitung deroptout-Klausel (Umgehung der 48-Stun-den-Begrenzung) – dies alles steht aufdem Wunschzettel von Businesseurope,dem europäischen Unternehmerverband.Bisher wurden in 18 von 27 Mitglied-staaten Löhne, Arbeitsrechte, Tarifver-träge und demokratischenRechte von den

Regierungen der Mitgliedsstaaten de-montiert – fast immer mit der Hand-schrift der Europäischen Zentralbankoder der Troika.

Der Kampf um die europäischeEntsenderichtlinieEin Beispiel ist der Kampf um die euro-päische Entsenderichtlinie, die seit 1996Beschäftigte vor Lohn- und Sozialdum-ping schützen soll. Sie listet eine Reihevon Bedingungen auf, die bei der Ent-sendung von Arbeitskräften in einen an-deren Mitgliedsstaat eingehalten werdenmüssen; dazu gehören Mindestlohnsät-ze, Mindestarbeitsstandards, Arbeits-schutz, Arbeitssicherheit, Nicht-Diskri-minierung, Mindesturlaub, Höchstar-beitszeiten und Mindestruhezeiten. DieEU geht jährlich von einer Million ent-sandter Arbeitskräfte aus. Die Tendenz istseit Jahren steigend.Mittlerweile wird dieEntsenderichtlinie immer häufiger um-gangen. Vorwiegend aus Osteuropa wer-den über Briefkastenfirmen Beschäftigtezum Arbeiten in andere Mitgliedsstaatengeschickt und dort meist über Subunter-nehmer beschäftigt. Immer häufiger wer-den sie als Scheinselbständige deklariert,um nicht unter den ohnehin einge-schränkten Schutz der Entsenderichtliniezu fallen. Selbst auf die Mindeststan-dards des Ziellandes haben sie dann kei-nen Anspruch. Vor allem in der Bau- undFleischwirtschaft spielt dieses Thema ei-ne Rolle. Mindestlöhne – wenn sie dennexistieren – stehen in vielen Fällen nur aufdem Papier. Nun soll die »Arbeitneh-merfreizügigkeit« im Sinne eines Indivi-dualrechts in eine erzwungene Wande-rung betriebswirtschaftlich brauchbarerArbeitskräfte verwandelt werden – einebenso grenzen- wie rücksichtsloser eu-ropäischer Arbeitsmarkt wird angestrebt.Statt die Richtlinie auf Scheinselbständi-ge auszuweiten, sollen jetzt die Kontrol-

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Europa ändErn!alexis Tsipras und

www.european-left.org

Thomas Händel ist Stellv. Vorsit-zender der RLS und für Die Linkeals Abgeordneter in der Fraktionder GUE/NGL im EuropäischenParlament. Von ihm und FrankPuskarev steht »Europa besserLinks«, ein Ebook mit Texten zurEuropawahl 2014 als freierdownload überwww.thomas-haendel.eu/zur Verfügung.Foto: EU-EP/Michel Christen

20 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

len erschwert und womöglich generelleHaftungen gestrichen werden, was Dum-pingangebote erleichtern würde.

»Fit für Wachstum«Auf der anderen Seite soll in aktuellenGesetzgebungsverfahren versucht wer-den, (betriebswirtschaftlich brauchbare)Saisonarbeiter aus Drittstaatenanzuwerben – natürlich al-lerhöchstens zu Mindest-arbeitsbedingungen. PerKonzern-Leihe sollenaus Drittstaaten (be-triebswirtschaftlichnützliche) Hochqua-lifizierte aus Dritt-staaten angeworbenwerden, die Unter-nehmen von Mitglied-staaten mit »günstigen«Arbeitsbedingungen ein-stellen und nach kurzer Zeiteuropaweit verleiht – zu den Ar-beitsbedingungen des Erstaufnahme-Staates. Jugendliche (betriebswirt-schaftlich brauchbare) Arbeitslose wer-den aus Krisenstaaten mit EU-Förder-mitteln abgeworben, was dem Einzelnenzwar hilft, nicht aber den Heimatländernbeim Wiederaufbau ihrer Ökonomie.

Ein guter Anfang und eine alte IdeeSelbst unter den herrschenden Mehr-heitsverhältnissen im EU-Parlament ist esmöglich, eine alternative Politik zu for-mulieren. Im Beschäftigungsausschussdes Parlaments konnten wir eine Mehr-heit für Positionen organisieren, die kont-rär zur marktradikalen Politik der EU-

Kommission und der Mehrheitder nationalen Regierungenim Rat steht. Der Aus-schuss fordert »SozialeMindeststandards umsoziale Ungleichheitenzu stoppen«, und»Existenz sicherndeLöhne mit Mindest-einkommen, die Ar-mut trotz Arbeit ver-hindern«. Er will eine»Soziale Grundsicherung,

Zugang zu grundlegendenGesundheitsdiensten und Exis-

tenzsicherheit gewährleisten« undfordert die »Einführung eines sozialenProtokolls zum Schutz grundlegenderSozial- und Arbeitsrechte«. Gefordertwerden »gleicher Lohn und gleiche Rech-te für gleichwertige Arbeit für alle«. »Ent-sandte Arbeitnehmer (sollen) ordnungs-gemäß bezahlt und nicht für unfairen

Wettbewerb benutzt« werden. Gefordertwird ferner »ein stabiles Niveau der Bin-nenkaufkraft« – Löhne und Renten seienkeine ökonomische Variable, sondern dasEinkommen, das die Menschen zum Le-ben brauchen.Ein guter Anfang!Mehr allerdings auch

nicht. Eine starke Linksfraktion im Euro-päischen Parlament kann versuchenfrühzeitig Informationen über Kommis-sionspläne bekannt werden zu lassen undspezifische Öffentlichkeiten für Kritik undAlternativen zu öffnen. Doch für die Um-setzung von Beschlüssen, wie dem obengenannten, braucht es nicht nur andereMehrheiten im EU-Parlament. Die fran-zösische Linke hat eine alte Idee wieder-belebt: »Versammlungen für eine Erneu-erung der EU« sollen europaweit einbe-rufen werden. Gefordert ist eine Kon-zeption für ein kooperatives, solidari-sches Europa mit guter Arbeit, hohen so-zialen Standards und Sicherheit und demmittelfristigen Ziel gleichwertiger Le-bensverhältnisse. Parteien, Gewerk-schaften, Verbände, Netzwerke und Be-wegungen, alle, die Europa politisch, so-zial und demokratisch auf neue Beinestellen wollen, sind dazu eingeladen. Esist an der Zeit, Europa in die eigenen Hän-de zu nehmen.

Gefordertist eine Konzeption

für ein kooperatives,solidarisches Europa

mit guter Arbeitund sozialenStandards.

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 21

Kampffeld Europa:Den neoliberalen Zauber brechenVon Sandro Mezzadra und Toni Negri

Wer wie wir keine Wahlinteressen hat, istin der besten Position, um die großeWichtigkeit der Wahlen zum Europapar-lament 2014 für Europa zu erkennen. Esist leicht, in den meisten betroffenen Län-dern eine hohe Wahlenthaltung und einesignifikante Stärkung der »euroskepti-schen« Kräfte vorherzusehen, die vereintsind in ihrer Rhetorik über die Rückkehrzur »nationalen Souveränität«, der Feind-schaft zum Euro und zu den »Techno-kraten in Brüssel«. Für uns ist das nichtsGutes. Wir sind schon länger überzeugt,dass das Europa Realität ist, dass die In-tegration mittlerweile normativ, macht-politisch und kapitalistisch die Schwellezur Irreversibilität überschritten hat. Inder Krise hat die allgemeine Angliede-rung der Mächte um das Zentrum EZBund das, was »Exekutivföderalismus« ge-nannt wird, die Richtung des Integrati-onsprozesses gewiss verändert – mehraber nicht. Die Subjekte der europäi-schen Macht stellen die Fortsetzung derIntegration nicht zur Diskussion. Auch derEuro als einzige Währung scheint durchdie Perspektive der Bankenunion gesi-chert. Zwar ist es notwendig, gegen dieGewalt zu protestieren, mit der sie das ka-pitalistische Kommando ausdrückt. EineRückkehr zu den nationalen Währungenherbeizusehnen bedeutet jedoch, nicht zuverstehen, was heute das Feld ist, auf demsich die Klassenauseinandersetzung ab-spielt.Gewiss, Europa ist heute ein »deut-

sches Europa«, dessen ökonomische undpolitische Geografie entlang bestimmterKräfteverhältnisse und Abhängigkeiten

reorganisiert wird, die sich auch auf dermonetären Ebene ausdrücken. Aber nurder neoliberale Zauber bringt uns dazu,die Unumkehrbarkeit des Integrations-prozesses mit der Unmöglichkeit zu ver-wechseln, dessen Inhalte und Rich-tungen zu verändern und in-nerhalb des europäischenRaums die Kraft und denReichtum einer neuenkonstituierenden Hy-pothese bzw. strategi-schen Option in Gangzu setzen. Dieser Zau-ber ist in Italien ver-stärkt worden durchdie wahrliche Verfas-sungsdiktatur, unter derwir leben; ihn zu brechenheißt heute, den europäi-schen Raum als Feld des Kamp-fes, des Experimentierens und der poli-tischen Erfindung wieder zu entdecken:Als Feld, auf dem die neue Gesellschafts-zusammensetzung aus ArbeiterInnen undArmen möglicherweise eine Perspektiveder politischen Organisation eröffnet. Ge-wiss, auf europäischer Ebene zu kämpfen,das hätte die Möglichkeit, die neue kapi-talistische Akkumulation direkt zu tref-fen. Und schon jetzt kann man nur auf eu-ropäischer Ebene die Fragen von Lohn undEinkommen, die Festlegung von Rechtenund des Umfangs des Sozialstaats, dasThema der Verfassungsänderungen in-nerhalb der einzelnen Länder und die Fra-ge der europäischen Verfassung aufwer-fen. Heute gibt es außerhalb dieses Fel-des keinen politischen Realismus.

Uns scheint, dass die rechten Kräfteschon lange verstanden haben, dass dieUnumkehrbarkeit der Integration heutedie Grenzlinie dessen markiert, was poli-tisch denk- und machbar ist. Rund um die

strategische Option der substantiel-len Vertiefung des Neolibera-lismus hat sich nun ein he-gemonialer Block organi-siert, der in seinem In-neren auch stark hete-rogene Varianten um-fasst – von den nichtnur taktischen Öff-nungen Angela Mer-kels in Richtung sozi-aldemokratischer Opti-onen bis hin zum re-pressiv-gewalttätigen und

konservativen Druck des spa-nischen Ministerpräsidenten

Mariano Rajoy. Die selben rechten Kräf-te die sich als »Anti-Europäer« präsentie-ren, setzen auf europäischer Ebene aufdiese Option mit dem Ziel, die in der Ver-fassung der EU durchaus vorhandenenBereiche nationaler Autonomie auszu-weiten und demagogisch die Ressenti-ments und die Wut aufzugreifen, die nachJahren der Krise in breiten Bevölke-rungsteilen existiert.Der Bezug zur Nation zeigt hier, was

er ist: Die Verwandlung eines Ohn-machtsgefühls in eine xenophobe Ag-gression und die Verteidigung von Ein-zelinteressen, die als Träger einer»Schicksalsgemeinschaft« imaginiert wer-den. Hingegen tut sich die sozialistischeLinke auch dort schwer, wo sie nicht di-

Aufeuropäischer

Ebene kämpfen –um die neue

kapitalistischeAkkumulation

direkt zutreffen.

Sandro Mezzadra ist Professorfür Politische Theorie an derUniversität Bologna.

Toni Negri ist marxistischerPhilosoph. Beide sind wichtigeBezugspunkte von Teilen globali-sierungskritischer Bewegungen.Fotos: privat (o.), AFP/JackGuez

Übersetzung: Andreas Fink

AutorenkollektivVON WEGEN CASINOPopuläre Irrtümer über Banken, Börse und Kreditluxemburg argumente Nr. 5, März 2013, ISSN 2193-5831Download unter: www.rosalux.de/publication/39098

Stephan KaufmannIST DIE GANZE WELT BALD PLEITE?Staatsverschuldung: Was sie ist und wie sie funktioniertluxemburg argumente Nr. 1, 5. Auflage, Dezember 2013, ISSN 2193-5831Download unter: www.rosalux.de/publication/37900

Dr. Nadja Rakowitz GESUNDHEIT IST EINE WAREMythen und Probleme des kommerzialisierten Gesundheitswesensluxemburg argumente Nr. 6, Juni 2013, ISSN 2193-5831Download unter: www.rosalux.de/publication/39638

Wolfgang PomrehnARMTSRISIKO ENERGIEWENDEMythen, Lügen, Argumenteluxemburg argumente Nr. 4, Februar 2013, ISSN 2193-5831Download unter: www.rosalux.de/publication/39097

LUXEMBURG ARGUMENTE

Sabine Reiner«ALTE KASSIEREN! JUNGE ZAHLEN NUR DRAUF!»Mythen und Fakten zur Rentenpolitikluxemburg argumente Nr. 7, November 2013, ISSN 2193-5831Download unter: www.rosalux.de/publication/40003

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22 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

rekt Teil des hegemonialen neoliberalenBlocks ist, sich auf effektive Weise abzu-grenzen und programmatische Vorschlä-ge von klar innovativen Zielen auszuar-beiten. Die Kandidatur von Alexis Tsipras,Leader von Syriza, für das Amt des Euro-päischen Kommissionspräsidenten ist indieser Situation zweifellos von großer Be-deutung und hat in vielen Ländern einepositive Öffnung der linken Debatte nachsich gezogen, auch wenn in anderen (vorallem in Italien) die Interessen von klei-nen Gruppen und »Parteien« vorzuherr-schen scheinen, welche unfähig sind, ei-nen voll und ganz europäischen politi-schen Diskurs zu entwickeln.Wenn die Dinge so sind, warum er-

scheinen uns die Europawahlen im nächs-ten Mai dann wichtig? In erster Linie weilsowohl die relative Stärkung der Befug-nisse des Parlaments als auch die Auf-stellung eines Kandidaten für die Kom-missionspräsidentschaft von Seiten derParteien aus der Wahlkampagne einenMoment europäischer Debatte machen, inder die unterschiedlichen Kräfte ge-zwungen sind, den Entwurf eines euro-päischen politischen Programmes zu de-finieren und zumindest darzulegen. Unsscheint daher, dass sich hier für all jenedie Gelegenheit einer politischen Inter-vention bietet, die sowohl für den Bruchdes neoliberalen Zaubers als auch gegenjene kämpft, für die als einzig möglicheOpposition zur gegenwärtigen Form derEuropäischen Union der anti-europäische»Populismus« gilt. Wir schließen nichtgrundsätzlich aus, dass sich dabei Ge-sprächspartnerInnen zwischen den Kräf-ten finden könnte, die sich auf dem Feldpolitischer Wahlen bewegen. Aber wirdenken vor allem an eine Intervention derBewegung, die fähig ist, sich im Innerenjener Kämpfe zu verwurzeln, die sich inden letzten Monaten in verschiedenen

Formen in vielen europäischen Ländernentwickelt haben (und auch Deutschlandmit bedeutender Intensität erfasst hat).Ausschlaggebend ist heute die Wieder-herstellung eines programmatischen Dis-kurses. Das ist nur innerhalb des euro-päischen Raums und gegen diesen mög-lich. Es liegt heute nicht an, möglicher-weise im Schatten irgendeiner Mistgabeldie »technische Klassenzusammenset-zung« in messianischer Erwartung der ad-äquaten »politischen Zusammensetzung«soziologisch zu ermitteln.So wieman heute nicht erwarten kann,

dass sich siegreiche Klassenbewegungenergeben, die die europäische Dimensionnicht verinnerlicht hätten. Es wäre nichtdas erste Mal auch in der jungen Ge-schichte der Kämpfe, dass so manche Be-wegungen genötigtwären, sich an die sichändernden politischen Rahmenbedin-gungen anzupassen. Es geht darum, ei-nen allgemeinen Horizont der Verände-rung zu schaffen, gemeinschaftlich eineneue politische Grammatik und ein En-semble programmatischer Elemente aus-zuarbeiten, die Kraft und Macht aus demInneren der Kämpfe schöpfen und sich je-nen Entgleisungen entgegenstellen kön-nen, die wir in den letzten Wochen in Ita-lien gesehen haben und deren vereini-gendes Symbol nicht zufällig die Triko-lore war. Hier und heute erscheint unsEuropa als der einzige Raum, in dem diesmöglich ist.Ein Punkt ist für uns besonders wich-

tig. Die Gewalt der Krise wird noch lan-ge ihre Wirkung zeigen. Am Horizont istnicht der »Aufschwung«, wenn wir mitAufschwung einen signifikanten Rück-gang der Arbeitslosigkeit, die Reduktionder Prekarität und eine relative Wie-derangleichung der Einkommen verste-hen. Die prekäre Einigung zum Min-destlohn in Deutschland könnte – nach

Geometrie und Geografie variabel – alsallgemeine Referenz für die Ausformu-lierung eines Szenarios relativer kapita-listischer Stabilität in Europa fungieren.Es ist ein Szenario, nicht die aktuelle Re-alität, und es ist ein Szenario von nur re-lativer kapitalistischer Stabilität, das dieVerbreitung und Intensivierung der Pre-karität, der Mobilität im Inneren des eu-ropäischen Raums und von außerhalb,die Deklassierung erheblicher Teile derkognitiven Arbeit und die Formierungvon neuen Hierarchien berücksichtigenmuss. Innerhalb dieses Szenarios heißtes natürlich, die Eigenheiten der sichentwickelnden Kämpfe zu berücksichti-gen, ihre Unterschiede zu analysierenund ihre Wirksamkeit in politischen, so-zialen und territorialen Kontexten ab-zuschätzen.Aber es geht auch um das Problem der

Art und Weise, in der die Kämpfe zu-sammenlaufen und sich ihre »lokalen«Potenzen innerhalb eines europäischenRahmens multiplizieren können. DieSkizzierung von neuen programmati-schen Elementen kann inzwischen dieForm einer kollektiven Charta einer Rei-he von unabdingbaren Prinzipien an-nehmen, für die Bereiche des Sozialsys-tems als auch der Arbeit, der Finanzenund der Mobilität, der Lebensweisen undder Prekarität und für alle Bereiche, in de-nen die Bewegungen in Europa sich äu-ßern. Es ist keine Charta von Rechten, dievon unten geschrieben werden und ir-gendeiner Institution vorgelegt werden,an die wir denken: Es ist vielmehr einekollektive Aufgabe der programmati-schen Definition, die – wie die Ausarbei-tung der »Charta von Lampedusa« in die-sen Wochen für Migration und Asyl zuzeigen beginnt – ein Instrument derSelbstorganisierung auf europäischerEbene werden kann.

JEDER SCHRITT WIRKLICHER BEWEGUNG IST WICHTIGER ALS EIN DUTZEND PROGRAMME. Karl Marx

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Kampffeld Europa:Den neoliberalen Zauber brechenVon Sandro Mezzadra undToni Negri

europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg Februar 2014 23

Eine Vision:Einstieg in ein anderes EuropaVon Bernd Riexinger

»...man kann auch sagen«, so AntonioGramsci, »dass der historische Prozess zudieser Union hinstrebt und es vielematerielle Kräfte gibt, die sich nur indieser Union werden entfalten können:wenn es in x Jahren diese Union gebenwird, wird das Wort »Nationalismus« diegleiche archäologische Bedeutung habenwie das derzeitige ›Munizipalismus‹ «.

Nicht erst heute teilen viele Linke dieHoffnung, dass mit der Herausbildung ei-nes vereinten Europas Nationalismus undKriege der Vergangenheit angehören undsich ein friedliches Europa herausbildenkann, in dem sich Wohlstand, Men-schenrechte, Demokratie und Weltoffen-heit entfalten können. Entwicklungen indieser Richtung werden von vielen Men-schen als Fortschritt und Erweiterung ih-rer Lebensmöglichkeiten betrachtet: of-fene Grenzen (zumindest in einem TeilEuropas), keinen Krieg (der Jugoslawi-enkrieg zeigte, wie brüchig dieser Frie-den ist), die Herausbildung eines euro-päischen Parlamentes und europäischerInstitutionen (bei aller Zurückgenom-menheit ihrer demokratischen Funktio-nen), die Verbreiterung einer europäi-schen Kultur. Im Entwurf unseres Wahl-programms formulieren wir: »VielenMenschen ist das Nationale zu eng.« Auchfür uns. Gemeinsam mit sozialen Bewe-gungen, Gewerkschaften und linken Par-teien streiten wir für eine neue, andereEuropäische Union.« Für eine EU, dieFreiheit nicht mit der Freiheit von Warenund Kapital verwechselt und für die Si-cherheit nicht darin besteht, dass an denMauern ihrer Festung immer mehr Men-schen den Tod finden.Gleichzeitig ist die Europäische Union

ganz deutlich von Verwertungs- undWettbewerbsinteressen geprägt. Die»marktkonformen Demokratie« wie sieAngela Merkel gefordert hat, ist hierschon weit voran geschritten. Nicht we-nige Linke warnen davor, an die euro-päische Vereinigung Illusionen zu knüp-fen, die den gegenwärtigen Kräftever-hältnissen nicht entsprechen. Unter neo-liberaler Hegemonie kann die Verlage-rung von Rechten und Kompetenzen andie EU derzeit nur zu einem weiterenAusverkauf von sozialen Errungenschaf-ten und demokratischen Rechten führen.Die soziale Verwüstung, die die Austeri-tätspolitik der Troika unter Führung derdeutschen Regierung in Europa hinter-lässt, ist ein Beleg für diese These.Doch die beiden Ansätze für sich ge-

nommen greifen zu kurz, erst recht, wennsie gegeneinander gestellt werden. Eu-ropa ¬– das ist mehr als die EU oder derEuroraum – ist ein wichtiges Hand-lungsfeld der sozialen und politischenAuseinandersetzungen. Das Kapital isteuropäisch und international stark ver-flochten; die politischen Institutionen unddie verbindlichen europäischen Rege-lungen begrenzen die Wirkung lokaleroder auch nationaler Kämpfe. Die vielenNiederlagen selbst kämpferischer Beleg-

schaften im Kampf gegen Standort-schließungen internationaler Konzernezeigen das; sogar Generalstreiks haben inden letzten Jahren nur begrenzte Wir-kungen erzielt. Die europäische Ebenebegrenzt nicht nur die Kämpfe, sondernist selbst Teil der Handlungsgrundlagenvon Politik auf nationaler, regionaler undkommunaler Ebene. Es gibt kein »außen«gegenüber der Europäischen Union, keinLokales, was es dagegen zu verteidigengilt. Die Ebenen sind gleichzeitig prä-sent. Jenseits eines »hilflosen Internatio-nalismus« (vgl. Candeias/Oberndorfer/Steckner), bedarf es eines wirksamen In-ternationalismus, der die Ebenen neuverknüpft, reale Verbesserungen für allemit sich bringt, keine Bekenntnisse.

Ein Bild der sozialen VerwüstungEs drängt sich auf: Die Politik der Troikaunter der einflussreichen Führung vonBundeskanzlerin Merkel hinterlässt einBild der sozialen Verwüstung in den vonder Krise betroffenen Ländern Europas.Die Rettungspakete retten vor allem dieBanken. Die Armen müssen die Schuldender Reichen bezahlen. Von den rund 200Milliarden Euro die Griechenland bislangan Zahlungen erhalten hat, sind 195 Mil-liarden Euro in den maroden Finanzsek-tor geflossen. Es ist nicht schwer zuverstehen, warum das Ver-trauen der Menschen in dieZukunftsfähigkeit dieserEU erodiert. Für ein so-ziales Europa zukämpfen bedeutetgleichzeitig, gegendiese EuropäischeUnion, gegen dieseanti-europäische Poli-tik zu kämpfen.Die aktuelle Formati-

on des finanzgetriebenenKapitalismus ist nicht in derLage, ein neues Wachstums- undEntwicklungsmodell des Kapitalismushervorzubringen. Es steht wohl eher einelängerfristige Periode der Stagnation undKrise bevor. Im Sinne einer nachhaltigenEntwicklung weg vom klassischen, fossilgetriebenen »Wachstum« müssen wirstark machen: es braucht neue Formender Erweiterung der Lebensqualität durchStärkung des Öffentlichen (Sektors), so-ziale Dienstleistungen und sozial undökologisch zukunftsfähige Formen vonMobilität und Industrie. Der finanzge-triebene Kapitalismus stellt weder dastraditionelle Wachstum noch die Neue-rung bereit. Die Profite und der schier un-ersättliche Nachschub frischen Geldes fürdie Finanzmärkte nähren sich fast aus-schließlich aus der Umverteilung: von denLöhnen zu denGewinnen; unterstützt voneiner Steuerpolitik, die unten und in derMitte überproportional zuschlägt und Fi-nanzspekulationen begünstigt. Offen-sichtlich ist der finanzgetriebene Kapita-lismus in ganz Europa in ein Stadium ge-treten, in dem die destruktiven Folgenüberwiegen.

In linken Diskussionen wird AngelaMerkels Politik angesichts der Verwer-fungen oft als gescheitert bewertet. DieseAnalyse greift zu kurz, weil sie MerkelsPolitik danach bewertet, ob ihr ein Wie-deraufbau der Wirtschaft in den ver-schuldeten Staaten oder der Abbau der(Jugend)Arbeitslosigkeit gelingt. Aberwas sind die Kriterien der Regierung?Standortförderung und globale Wettbe-werbsfähigkeit. Kanzlerin Merkel erklär-te auf dem Weltwirtschaftsforum in Da-vos: »Die Wettbewerbsfähigkeit ist daszentrale Thema für die Zukunft«. Nur sokönne Wohlstand gehalten und weitergemehrt werden. Doch wessen Wohl-stand? Noch nie in der Geschichte hat esfunktioniert, in eine Krise hinein zu »spa-ren«, also öffentliche Ausgaben und In-vestitionen zurückzuhalten und die Kauf-kraft der Bevölkerung zu unterminieren.Wer das der LINKEN nicht glauben möch-te, kann es bei Paul Krugman, Nobel-preisträger für Wirtschaft, nachlesen.Merkels Vision von Europa ist kein Euro-pa der Solidarität und Gerechtigkeit undder ausgeglichenen Lebensverhältnisse,sondern die eines gemeinsamen, inter-national wettbewerbsfähigen Wirt-schaftsraums. Die Regionen und Länderstehen darin in einem ruinösen Wettbe-

werb um Löhne, Steuern und qua-lifiziertes Personal zueinan-der, um das »scheue Reh«(das Kapital) nicht zuverschrecken, das »Ver-trauen der Märkte«nicht zu belasten. Dasschafft auch prospe-rierende Cluster undBoom-Regionen, lässtaber Millionen Men-schen zurück, für dieder Markt keine weitereVerwendung hat. Mas-

senarbeitslosigkeit, eine Ju-gend ohne Perspektive und auf-

gegebene Regionen in Europa, werdendabei bewusst in Kauf genommen. Dievom wirtschaftlich stärksten Land in Eu-ropa betriebene Politik der Exportüber-schüsse, gestützt nicht nur auf eine hoch-produktive, weltmarktorientierte Wirt-schaftsstruktur und Produktpalette, son-dern auch auf ein Modell des Lohndum-pings und vergleichsweise niedrige Lohn-stückkostenentwicklung, verschärft dieKrise der Defizitländer, die in der Folgeauf ganz Europa übergreift. Merkels Eu-ropa ist ein Europa der Spaltung.Diese Politik schädigt die Demokra-

tie; ganz offen wird sie als Hindernis ge-sehen, wenn die Rede davon ist, dass ei-ne »marktkonforme Demokratie« durch-gesetzt werden soll. Luxemburgs Premi-er Junker beschreibt die übliche Vorge-hensweise: »Wir beschließen etwas, stel-len das dann in den Raum und warten ei-nige Zeit ab, was passiert. Wenn es keinGeschrei gibt und keine Aufstände, weildie meisten gar nicht begreifen, was dabeschlossen wurde, dann machen wirweiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zu-

Der finanz-getriebene

Kapitalismus istin ein Stadium

getreten, in dem diedestruktiven Folgen

überwiegen.

Bernd Riexinger istCo-Vorsitzender der ParteiDie Linke.Foto: Aris

24 Februar 2014 europalinks Beilage von neues deutschland und LuXemburg

rück mehr gibt.« Hinzugefügt werdenmüsste: auch »Geschrei«, also demokra-tische Meinungsäußerung durch Protes-te der Menschen, berührt die BrüsselerPolitik wenig. Eindrucksvoll bleibt in Er-innerung welches Drohpotenzial Mer-kel, Schäuble und die Finanzmärkte ent-fachten, als Griechenlands früherer Pre-mier beim Gipfel in Cannes genötigtwurde, ein geplantes Referendum abzu-blasen und schließlich zurück trat. Diegegenwärtige Verfasstheit der EU ist einProblem für die Demokratie. Denn wenndie sozialen Rechte der Menschen der-artig vernachlässigt werden, erodiertauch die materielle, soziale Grundlageder Demokratie.DIE LINKE hat in diesen Auseinan-

dersetzungen verschiedene Aufgaben:Sie kann einen Beitrag dazu leisten, dassdie sozialen Kämpfe sowie soziale unddemokratische Rechte gestärkt werden,vor allem im »Mutterland der Austeri-tätspolitik«. Sie kann die europäischeSolidarität stärken, damit diese Ausei-nandersetzungen nicht isoliert und ge-spalten werden. Sie muss die Ausei-nandersetzungen zu einer Frage gegen-sätzlicher Interessen von »unten« und»oben« (Klassenfrage) machen, schonalleine um nationalpopulistischen undnationalistischen Tendenzen entgegen-zutreten. Dafür haben wir in der Euro-päischen Linken die Forderung nach ei-ner europaweiten Millionärsabgabe ein-gebracht. DIE LINKE muss über denCharakter der gegenwärtigen neolibe-ralen Politik aufklären und Gegenmo-delle zur Ausgestaltung der gegenwär-tigen Europäischen Union entwickeln.Ganz wesentlich kann eine europawei-te, verbindende Kampagne zur Wieder-

herstellung und Stärkung des Öffentli-chen dazu beitragen gemeinsame Posi-tionen zu entwickeln und linke Kräftezusammen zu bringen. Dies geht nur inVerbindung mit einer gerechteren Steu-erpolitik, die Kapital und Vermögende,insbesondere Banken und Finanzinves-toren als Verursacher der Krise, wiederstärker zur Finanzierung des Öffentli-chen heranzieht, also das gesellschaft-liche Mehrprodukt wieder der Allge-meinheit zurückführt.Der neoliberalen Hegemonie, der völ-

ligen Unterordnung der herrschendenPolitik unter die Verwertungsinteressendes europäischen Kapitals, der Heraus-bildung des wettbewerbsfähigsten Wirt-schaftsraumes müssen wir grundlegendeAlternativen entgegensetzen. Diese müs-sen einerseits geeignet sein, an die vor-handenen Auseinandersetzungen undsozialen Kämpfe in Europa anzudocken,andererseits sollen sie auch einen Hori-zont eines anderen Europa, jenseits vonKapitalismus und Wettbewerbsfähigkeitaufzeigen. Die Einstiege in dieses andereEuropa sind sehr konkret:– Wir brauchen europaweite Standardsgegen die Abwärtsspiralen von Löh-nen und Sozialleistungen einerseitsund Steuern für Unternehmen, Reicheund Vermögende andererseits. DieMindestlöhne dürfen 60 Prozent desjeweiligen nationalen Durchschnitts-lohns nicht unterschreiten. Die Löhnein Deutschland müssen steigen; auchum die Außenhandelsdefizite zurück-zufahren. Die Arbeitszeit muss ge-senkt und gerechter verteilt werden.

– Gegen die Massenarbeitslosigkeit unddie wirtschaftliche Verödung ganzerRegionen brauchen wir ein Investiti-

onsprogramm, mit dem das Öffentli-che ausgebaut und Bildung und per-sonennahe Dienstleistungen beson-ders gefördert werden. Leitbild mussein sozialökologischer Umbau sein.Energie- und Wasserversorgung ge-hört in dieHände der Bevölkerung! Dastransatlantische Freihandelsabkom-men zwischen der EU und den USA(TTIP) lehnen wir ab und werden unsan den europaweiten Kampagnen undWiderstandsaktionen beteiligen.

– Wir müssen die Parlamente in Europastärken, ihre Befugnisse ausweiten unddie Macht der Lobbyisten einschrän-ken. Über Volksentscheide sollen dieMenschen direkt die europäische Po-litik mitentscheiden können. Demo-kratie hat eine materielle Seite: in derSicherung gegen Armut durch eine eu-ropaweite Mindestsicherung. Und miteiner wirksamen Umverteilung desReichtums von oben nach unten.

– Und schließlich müssen wir den Fi-nanzsektor entmachten und regulie-ren: Schattenbanken müssen abgewi-ckelt werden, wie das Investment-banking als Geschäftsfeld insgesamt.Private Großbanken sollen in öffentli-ches Eigentum und demokratischeKontrolle überführt werden. Steuer-oasen wollen wir trockenlegen.

Diese Forderungen stehen zunächst aufdem Papier. Damit sie wirksam werdenkönnen, muss sich die Europäische Linkemit sozialen Bewegungen entscheiden,welche Forderungen geeignet sind, umdarum ein gemeinsames politisches Pro-jekt, eine gemeinsame Kampagne zu ent-wickeln. Erst mit gemeinsamer Praxiskann es gelingen, die Kräfteverhältnissein Europa nach links zu verschieben.

Eine Vision:Einstieg in ein anderes EuropaVon Bernd Riexinger