Evaluationsbericht "Gesundheitsbegleiter"

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E V A L U A T I O N S B E R I C H T Teilprojekt I Digitaler Hausassistent (Gesundheitsbegleiter) Uwe Witczak Christian Reinboth Ulrich Fischer-Hirchert http://www.mytecla.de

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E V A L U A T I O N S B E R I C H T

Teilprojekt I

Digitaler Hausassistent

(Gesundheitsbegleiter)

Uwe Witczak

Christian Reinboth

Ulrich Fischer-Hirchert

http://www.mytecla.de

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Evaluationsbericht „Elektronischer Gesundheitsbegleiter“ 2

Einführung

Bereits im Jahr 2035 wird mehr als die Hälfte der Menschheit älter als 50 Jahre sein – und

jeder Dritte schon das Rentenalter erreicht haben. Der „Altenquotient“ – der prozentuale

Anteil der über 65-Jährigen an der Gesamtbevölkerung – wird nach Erwartungen der

Demographen von aktuell knapp 30% bereits bis zum Jahr 2030 auf über 50% ansteigen

[Meyer & Schulze 2008]. Besonders stark dürfte der Anteil der sogenannten „Hochaltrigen“ –

der über 80-jährigen – zunehmen; hier geht man von einem Sprung von derzeit 5% auf über

15% in 2030 aus [Baumgärtner et al. 2009]. Der Anteil der Menschen mit einem Alter

oberhalb von 65 Jahren wird im Jahr 2050 mit 32% schon mehr als doppelt so groß sein, wie

der Anteil an Menschen unter 20 Jahren mit erwarteten 15% [Georgieff 2008].

Die Mehrzahl aller SeniorInnen wünscht sich – heute wie aller Wahrscheinlichkeit auch

zukünftig – möglichst lange selbständig in der ihnen vertrauten Wohnumgebung leben zu

können – auch dann, wenn sich gesundheitliche Probleme einstellen, die eine Pflege durch

Dritte erforderlich machen. Allein schon aufgrund des emotionalen Wertes, den die meisten

Menschen dem eigenen „Zuhause“ beimessen, ist die Frage, ob ein Senior auch im Falle

einer chronischen Erkrankung oder zunehmender Alterserscheinungen in seiner gewohnten

Umgebung verbleiben kann, von entscheidender Bedeutung für die Lebensqualität.

Die veränderten Ansprüche, welche die immer heterogenere Gruppe der Senioren an den

sogenannten dritten und vierten Lebensabschnitt stellt, finden dabei unter anderem im

Leitbild „Aktives Altern“ der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Ausdruck: „Unter aktivem

Altern versteht man den Prozess der Optimierung der Möglichkeiten von Menschen, in

zunehmendem Alter ihre Gesundheit zu wahren, am Leben in ihrer sozialen Umgebung

teilzunehmen und ihre persönliche Sicherheit zu gewährleisten, und derart ihre Lebens-

qualität zu verbessern.“ [WHO 2002]

Die Erfüllung dieser Ansprüche kann durch den Einsatz intelligenter Haustechnik unterstützt

werden. Hierzu gehören so unterschiedliche Techniken wie der Notrufknopf, mit dem ein

Nutzer jederzeit mit einem Angehörigen oder einem Not- oder Pflegedienst in Kontakt treten

kann, der elektronische Impfkalender, das Videotelefonie-System, über das der Nutzer auch

mit weit entfernten Familienangehörigen in Kontakt bleiben kann oder auch der Sturzsensor,

der bei einem vermuteten Sturz automatisch Hilfe herbeiruft. Werden solche Techniken in

einem größeren Gesamtsystem integriert, spricht man vom „intelligenten Haus“ bzw. von

Ambient Assisted Living (AAL), das von der der Deutschen Gesellschaft für Biomedizinische

Technik1 wie folgt definiert wird:

„Ambient Assisted Living bedeutet Leben in einer durch intelligente Technik unterstützten

Wohnumgebung, die sensibel und anpassungsfähig auf die Anwesenheit von Menschen und

Objekten reagiert und dabei dem Menschen vielfältige Dienste bietet. Ziel ist es, die

persönliche Freiheit und Autonomie über die Förderung und Unterstützung der Selbständig-

keit zu erhalten, zu vergrößern und zu verlängern. Der Mensch in allen Lebenssituationen 1 http://www.dgbmt.de/

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Evaluationsbericht „Elektronischer Gesundheitsbegleiter“ 3

von Arbeit und Freizeit, insbesondere der allein lebende Mensch und / oder Mensch mit

Behinderung ist Adressat.“

Häusliches und mobiles Notrufsystem des DRK, ausgestellt in der barrierefreien

Musterwohnung des TECLA-Netzwerkpartners WWG e.G. (Foto: Christian Reinboth)

Das Ziel der TECLA-Netzwerkpartner im Rahmen des ersten Teilprojektes „elektronischer

Gesundheitsbegleiter“ ist es, in enger Kooperation mit den Anwendern, der Ärzteschaft

sowie möglichen Leistungsträgern ein an die Wohn- und Lebenssituation im Landkreis Harz

angepasstes und auf die hiesigen Wohnbauunternehmen zugeschnittenes AAL-Konzept zu

erarbeiten und bis zum Ende der dreijährigen NEMO-Projektlaufzeit in mindestens einem

tatsächlich bewohnten Quartier umzusetzen. Der vorliegende Evaluationsbericht soll zeigen,

warum das Konzept „AAL“ von grundsätzlichem (auch wirtschaftlichen) Interesse für die

TECLA-Netzwerkpartner ist, welche wesentlichen Markthürden existieren und wie ein

„TECLA-AAL-System“ konzeptionell beschaffen sein könnte.

Zur Wohnsituation von Senioren

Eine vom DZFA Heidelberg durchgeführte, repräsentative Erhebung unter über 55-Jährigen

ergab, dass die überwiegende Mehrheit der Probanden bereits mehr als 20 Jahren in der

gleichen Wohnung bzw. im gleichen Haus lebt [Meyer & Schulze 2008]. Ein Großteil der

Seniorinnen und Senioren verbringt fast 90% des Tages in der eigenen Wohnung [Georgieff

2008]. Es ergibt sich von selbst, dass ein Umzug im hohen Alter angesichts einer so langen

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Bindung an einen Ort – und die dort vorhandenen sozialen Netzwerke – vielen Senioren als

unzumutbar erscheint. Etwa 42% der Befragten gaben an, im Bedarfsfall lieber die eigene

Wohnumgebung barrierefrei umrüsten zu wollen, als einen Umzug in Kauf zu nehmen.

Mit einem Haltegriff ausgestattetes Seniorenbett in der barrierefreien

Musterwohnung des TECLA-Netzwerkpartners WWG e.G. (Foto: Christian Reinboth)

In ein Heim verschlägt es dagegen fast nur solche Menschen, die aufgrund einer chronischen

Erkrankung oder Komplikationen nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr für sich

selbst sorgen können. Der größte Anteil der Heimbewohner ist dabei in die Pflegestufe II

oder höher eingruppiert, d.h. bei der Bewältigung des Alltags stark von der Unterstützung

Dritter abhängig. Lediglich etwa 14% der Frauen über 80 – und 6% der Männer – leben in

einem Heim [Meyer & Schulze 2008]. 93% der über 65-Jährigen leben noch in ihrer eigenen

Wohnung, auch bei den über 80-Jährigen sind es über alle Geschlechter betrachtet noch

knapp 90% [Baumgärtner et al. 2009].

Eine nicht unerhebliche Zahl von Senioren lebt im Alter nicht nur in einem eigenen Haushalt

sondern sogar in den – im Wortsinne – „eigenen vier Wänden“: 57% der Senioren in den

alten Bundesländern verfügen über selbst genutztes Wohneigentum, in den neuen Ländern

sind es immerhin noch etwa 40% [Meyer & Schulze 2008].

Für 77% der deutschen Senioren stellt der mit dem Alter oder altersbedingten chronischen

Erkrankungen verbundene Verlust der Selbständigkeit die größte persönliche Lebensangst

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dar [Baumgärtner et al. 2009]. Zu den am häufigsten auftretenden Erkrankungen in der

primären Zielgruppe der 65 bis 75-jährigen gehören insbesondere die Arthritis und andere

Gelenkerkrankungen, Herzerkrankungen, Diabetes und anderen Stoffwechselstörungen

sowie die Arteriosklerose [Georgieff 2008]. Die größte akute Gesundheitsgefährdung in den

eigenen vier Wänden stellen Stürze dar, insbesondere wenn sie – wie dies bei etwa 30% aller

Stürze in Seniorenhaushalten auch der Fall ist – während der Nachtstunden eintreten, so

dass keine unmittelbare medizinische Hilfe möglich ist [Keck & Stuber 2010].

Bluetooth-fähiges Blutdruck-Messsystem der Firma Omicron im TECLA-Technikum. Systeme

dieser Art könnten irgendwann mit dem elektronischen Gesundheitsbegleiter des TECLA-

Netzwerkkonsortiums kompatibel sein. (Foto: Christian Reinboth)

Festzustellen ist auch, dass sich vor allem die Zahl der Einpersonenhaushalte in den aktuell

noch arbeitenden Generationen beständig erhöht, weshalb künftig von einer zunehmenden

Zahl an Senioren-Einpersonenhaushalten zu rechnen ist, in denen im Pflegefall noch größere

Probleme auftreten, da kein Partner als potentiell „Mit-Pflegender“ vorhanden ist.

Es ist nach heutigem Stand der Forschung davon auszugehen, dass neben der physischen

Gesundheit insbesondere soziale Aspekte wie etwa nachbarschaftliche Kontakte und die

Eingebundenheit in Familie oder andere Gemeinschaften einen ganz erheblichen Einfluss auf

das Wohlbefinden im Alter haben. Die Förderung der Teilhabe älterer Menschen am sozialen

Leben ist daher eine wesentliche Zielstellung des gesamten TECLA-Projekts. Für das soziale

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Netzwerk älterer Menschen von besonderer Bedeutung sind neben der Familie und den

Freunden auch nachbarschaftliche Kontakte. Gerade das Vorhandensein eines starken

sozialen Netzwerks im Wohnumfeld des Senioren gilt mittlerweile als eine zentrale

Voraussetzung für psychisches Wohlbefinden im Alter und wird zudem als eine wesentliche

gesellschaftliche Ressource betrachtet [WHO 2002]. Auch für den Erfolg von AAL-Projekten

sind funktionsfähige soziale Strukturen übrigens von großer Wichtigkeit – so berichtet etwa

[Spellerberg 2010], dass ein wesentlicher Positiv-Faktor für die Akzeptanz von AAL-Systemen

eine aktive Hausgemeinschaft sein kann, die sich regelmäßig – moderiert oder unmoderiert

– über die Vor- und Nachteile des Systems austauscht.

Mit zunehmendem Alter steigt auch das Bedürfnis nach Sicherheit – je stärker sich der ältere

Mensch dem Nachlassen der eigenen körperlichen Fähigkeiten bewusst wird, umso mehr ist

er an Strukturen interessiert, die aktiv die Sicherheit verbessern oder aber die zumindest das

persönliche Sicherheitsgefühl stärken [Baumgärtner et al. 2009].

Bei der Debatte um das Wohnen im Alter sind zudem geschlechterspezifische Unterschiede

zu berücksichtigen: So verfügen Frauen im Vergleich zu Männern nach wie vor über eine klar

höhere Lebenserwartung, aufgrund ihrer Erwerbsbiographien im Schnitt aber auch über

deutlich geringere finanzielle Mittel und sind zudem in weitaus geringem Umfang dazu

bereit, Aspekte der Haushaltsführung an Dritte abzugeben oder sich auf Pflegedienstleister

„einzulassen“ *Baumgärtner et. al. 2009+.

Als wesentliche Aspekte „guten“ Wohnens im Alter sind nach [Baumgärtner et al 2009] vor

allem diese drei festzuhalten: (1) Gute Rahmenbedingungen für den Aufbau und die Pflege

sozialer Kontakte, (2) möglichst kleinräumige Versorgung mit Lebensmitteln und Waren des

täglichen Bedarfs sowie (3) die persönliche Sicherheit und Barrierefreiheit. Diese Aspekte

können insbesondere dann durch AAL-Technologien unterstützt werden, wenn diese die

Mobilität verbessern, den Einkauf einfacher Waren unterstützen, dem Sicherheitsbedürfnis

Rechnung tragen (z.B. Notruffunktion oder Fensterkontrolle) oder aber den Austausch von

Mensch zu Mensch verbessern (z.B. Videotelefonie oder seniorengerechter Netzzugang). Als

wichtiger Impulsgeber für Entwicklungen im Bereich der AAL sind zudem neue Ansätze für

„intelligente Häuser“ im Zusammenhang mit CO2-Ersparnis und Energieeffizienz zu sehen.

Viele Senioren erwarten paradoxerweise, dass ihnen die Technik auf der einen Seite das

Leben erleichtert, befürchten auf der anderen Seite jedoch eine schleichende Förderung der

technischen Abhängigkeit und Unselbständigkeit [Baumgärtner et al. 2009]. Es ist jedoch

davon auszugehen, dass zukünftige Seniorengenerationen, die bereits heute privat sowie im

Berufsleben permanent mit IuK-Technik umgehen, weniger Ängste dabei haben werden,

entsprechende technische Systeme zur Vereinfachung des eigenen Lebens zu nutzen. Mit

der Technikvertrautheit steigen allerdings auch die Anforderungen, die von den Nutzern an

die jeweilige Technik gestellt werden [Krebs & Nethe 2008].

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Stand der Technik und Alternativtechnologien

Der europäische und insbesondere der deutsche „Markt“ für AAL-Systeme bestehen aktuell

in wesentlichen Teilen aus Modell- und Musterprojekten, wie etwa dem von [Panek & Zagler

2008] beschriebenen AAL-Living-Lab in Schwechat2. Dabei wird die Technik lediglich in neun

von gegenwärtig über 60 EU-weit geförderten Projekten zum Thema AAL auch von „echten“

Anwendern eingesetzt [Spellerberg 2010]. Da eine breite Betrachtung aller Aktivitäten auf

diesem Gebiet den Rahmen dieses Evaluationsberichtes sprengen würde, sei an dieser Stelle

auf die Übersicht der europäischen AAL-Musterprojekte in [Spellerberg 2010] verwiesen.

Von Interesse für das TECLA-Projekt „elektronischer Gesundheitsbegleiter“ ist insbesondere

das in [Meyer & Schulze 2008] dargestellte Projekt SOPHIA, das primär auf die Förderung der

Mobilität sowie der Kommunikation ausgerichtet ist und als eines der wenigen Produkte aus

dem AAL-Umfeld – trotz eines hohen monatlichen Beitrags um 50 Euro – als marktfähig gilt.

Der Erfolg von SOPHIA belegt eindrücklich, dass Videotelefonie-Anwendungen – wie sie auch

die TECLA-Netzwerkpartner in den elektronischen Gesundheitsbegleiter integrieren möchten

– sowohl von der Zielgruppe angenommen werden als auch technisch ansprechend

umsetzbar sind. Wie [Niederberger-Burgherr 2007] feststellt, ist es dank der Bildqualität

bereits am Markt erhältlicher Videotelefonie-Systeme für entsprechend geschulte Fachleute

theoretisch bereits möglich, klinische Beurteilungen abzugeben, die den „von Angesicht zu

Angesicht“ getroffenen Beurteilungen in ihrer Qualität kaum nachstehen.

[Spellerberg 2010] beschreibt noch ein weiteres und gemessen am langsamen Wachstum

des AAL-Marktes insgesamt besonders erfolgreiches Projekt, das nachfolgend ebenfalls kurz

betrachtet werden soll: PAUL, den „Persönlichen Assistenten für Unterstütztes Leben“. Bei

PAUL handelt es sich um ein Tablet-PC-System mit einfachster Bedienung - ähnlich dem

durch den TECLA-Netzwerkpartner AIBIS GmbH3 mitentwickelten Daily Care Journal4 -

welches für die Haussteuerung, die Kommunikation sowie die Aktivitätsüberwachung (und

damit auch die Notfallerkennung) eingesetzt werden kann. Das System gestattet unter

anderem die Kontrolle von Licht, Rolläden und Fenstern und ermöglicht zudem das

Abschalten von Steckdosen, an denen potentiell gefährliche Geräte wie Bügeleisen oder

Wasserkocher angeschlossen sein können.

Eine Sicherheitsfunktion, die sich bei den PAUL-Anwendern besonderer Beliebtheit erfreut,

ist die Möglichkeit, mittels einer Türkamera auf ein Klingeln an der eigenen Haustür zu

reagieren. Darüber hinaus sind Kommunikationsfunktionen wie etwa der vereinfachte Zugriff

auf das Internet und Multimediafunktionen wie das Abspielen von Musik integriert. Der –

relative – Erfolg von PAUL belegt, dass sich Tablet-PCs in besonderer Weise als Plattform für

seniorengerechte EDV-Anwendungen eignen. Dies deckt sich mit den Erfahrungen und

Erwartungen der TECLA-Netzwerkpartner, die als technische Basis für den elektronischen

Gesundheitsbegleiter derzeit ebenfalls mit einem Tablet-PC planen.

2 http://www.eschwechat.at/

3 http://www.aibis.de/

4 http://www.dailycarejournal.de/

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Evaluationsbericht „Elektronischer Gesundheitsbegleiter“ 8

Insgesamt erwiesen sich aus Sicht der PAUL-Anwender insbesondere solche Funktionen als

gewünscht, die den Bereichen „Soziale Kontakte“ und „Persönliche Sicherheit“ zuzuordnen

waren – eine Erkenntnis, die auch bei der Konzeption des nachfolgend dargestellten

elektronischen Gesundheitsbegleiters der TECLA-Netzwerkpartner berücksichtigt wurde.

Marktpotential und Markteintrittsbarrieren

Die von [Georgieff 2008] geäußerte Erwartung, dass sich bis 2012 ein lebensfähiger Markt

für AAL-Technologien entwickeln würde, scheint sich derzeit nicht zu bestätigen: Noch

immer dominieren wenig erfolgreiche Insellösungen, noch immer fehlt es an tragfähigen

Geschäftsmodellen, die Wohnungswirtschaft, Pflegedienstleister, IuK-Dienstleister sowie die

Hersteller von Medizintechnik und Sensorik einschließen. Als für die Entwicklung des AAL-

Marktes hemmend haben sich insbesondere die fehlenden Standards erwiesen, aufgrund

derer fast ausschließlich untereinander inkompatible Lösungen existieren, die entweder nur

in ihrer Vollständigkeit oder überhaupt nicht eingesetzt werden können. Als ein weiteres

wesentliches Hindernis gilt die Integration der Sozialversicherung in AAL-Konzepte, d.h. die

Frage, wie man Leistungsträger dazu bewegen könnte, in AAL-Konzepte zu investieren.

Dass eine derartige Integration erforderlich ist, ergibt sich aus der derzeit noch geringen

Bereitschaft der potentiellen Anwender, für AAL-Technik und zugehörige Dienstleistungen zu

zahlen. So zeigt etwa eine Studie des Instituts für Wohnungswesen, Immobilienwirtschaft,

Stadt- und Regionalentwicklung (INWIS5) aus dem Jahr 2005, dass die Bereitschaft älterer

Mieter, für die bauliche Anpassung ihrer Wohnung eine Mieterhöhung zu tragen, äußerst

gering ausfällt [Naegele et. al. 2006]. In einer Untersuchung der TU Kaiserslautern aus dem

Jahr 2008 wurde festgestellt, dass lediglich etwa 36% der Senioren bereit wären, Geld für die

einmalige Installation von AAL-Technik in ihrer Wohnumgebung auszugeben, lediglich 31%

wären zudem dazu bereit, für den Betrieb eines AAL-Systems monatliche Beiträge zu zahlen.

Die wichtigsten erklärenden Faktoren sind den Autoren der Studie zufolge die Erfahrung der

Probanden mit Technik sowie deren verfügbares Einkommen [Georgieff 2008].

Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Erfahrungen, die [Meyer & Schulze

2008] aus dem ältesten deutschen AAL-Projekt – einer intelligenten Seniorenwohnanlage in

Gifhorn – berichten: Trotz geringer Investitionskosten aufgrund des Einsatzes von Powerline-

Technologie (d.h. die Übertragung von Daten über bereits bestehende Stromverbindungen,

durch welche eine neue Verkabelung bei der Installation eines AAL-Systems in bestehende

Wohnsubstanz überflüssig wird), konnte die betreibende Wohnbaugesellschaft GWG6 seit

Projektstart im Jahr 1997 keine weiteren Gebäude mehr ausstatten, da lediglich für das

Pilotprojekt einer Förderfähigkeit bestand. Ein Ausbau ohne Fördermittel sei jedoch aus

Sicht der GWG nicht vorstellbar, da die Technik zwar von den Mietern gerne angenommen

würde, die Bereitschaft zur Zahlung höherer Mieten dagegen quasi gegen Null tendiere.

5 http://www.inwis.de/

6 http://www.gwg-gifhorn.de/

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Evaluationsbericht „Elektronischer Gesundheitsbegleiter“ 9

Folgt man der Einschätzung der Gifhorner Wohnbaugesellschaft, sind hochwertige AAL-

Technologien lediglich in oberen Marktsegmenten – d.h. für ohnehin bereits hochpreisige

Wohnanlagen – in wirtschaftlich tragfähiger Weise vermarktbar.

Der nachfolgend dargestellte Ansatz der TECLA-Netzwerkpartner zur Umgehung dieses

Problems besteht in einer weitestgehenden Modularisierung des AAL-Konzeptes, die die

individuelle Selektion einzelner Komponenten pro ausgestatteter Wohnung ermöglichen

wird; über eine frühzeitige Einbindung der späteren Anwender in die Konzeptionsphase soll

zudem ermittelt werden, welches Interesse und welche Zahlungsbereitschaft hinsichtlich

einzelner Dienstleistungen besteht. Über Einzelvereinbarungen zwischen Krankenkassen und

mit Wohnbaugesellschaften kooperierenden Pflegediensten soll darüber hinaus erreicht

werden, dass sich Kostenträger zumindest mit Kleinsummen an AAL-Diensten beteiligen.

Ergebnisse der bisherigen Netzwerkarbeit

Aus den vorgenannten Gründen streben die im TECLA-Netzwerk zusammengeschlossenen

Partner die gemeinsame Entwicklung eines häuslichen elektronischen Gesundheitsbegleiters

bestehend aus modularen Einzelkomponenten an, der möglichst einfach in bereits genutzte

Wohnumgebungen integrierbar sein soll. Die technische Basis dieses Systems soll das durch

den Netzwerkpartner AIBIS GmbH entwickelte und sich bereits im Vertrieb befindliche Daily

Care Journal sein, welches wiederum auf der SliM-Plattform des Fraunhofer ISST7 basiert.

Durch den TECLA-Netzwerkpartner AIBIS GmbH entwickeltes Daily Care Journal (Foto: AIBIS)

Da der möglichst lange Verbleib in den eigenen vier Wänden – wie aufgezeigt – für viele

Senioren eine besonders hohe Priorität hat, müsste ein AAL-System aus Sicht der TECLA-

7 http://www.isst.fraunhofer.de/

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Partner so beschaffen sein, dass seine Grundstruktur jederzeit in vorhandene Bausubstanz

integriert werden kann. Ideal erscheint dabei eine modulare Struktur, welche die Option zur

schrittweisen „Aufrüstung“ des Systems biet, da Menschen im 3. Lebensalter (zwischen 65

und 77 Jahren) längst nicht alle Funktionen eines voll ausgebauten AAL-Systems wünschen

oder benötigen, wie dies bei Menschen im 4. Lebensalter (jenseits der 77) der Fall sein kann

– welcher Nicht-Herzkranke würde sich etwa durch an sich überflüssige medizinische

Sensorik permanent daran erinnern lassen wollen, dass derartige Gesundheitsprobleme in

Zukunft gegebenenfalls zu erwarten wären?

Das AAL-Konzept richtet sich – zumindest nach Lesart der TECLA-Netzwerkpartner –

demnach an eine sehr breite Zielgruppe von Personen im 3. und 4. Lebensalter – und längst

nicht nur an Menschen, die bereits aufgrund von Erkrankungen oder Altersschwäche eine

erhöhte Pflegebedürftigkeit aufweisen.

Um das Problem der mangelnden Marktfähigkeit von Insellösungen zu umgehen, ist geplant,

den elektronischen Gesundheitsbegleiter mit offenen Schnittstellen zu versehen, über die

etwa Vitalwert-Sensoren ganz verschiedener Hersteller von Medizintechnik auslesbar sind.

Auf diese Weise wird es Pflegediensten und Einzelanwendern, welche das System nach

eigenen (Marken-)Vorstellungen zusammenstellen sowie solchen Anwendern, bei denen

bereits geeignete Technik – wie etwa eine Bluetooth-fähige Körperwaage – vorhanden ist,

möglich sein, die „gewohnten“ Systeme in das individuelle AAL-Konzept zu integrieren.

Im Rahmen der zum Thema „elektronischer Gesundheitsbegleiter“ durchgeführten TECLA-

Workshops konnten vier wesentliche Funktionsbereiche für ein solches System identifiziert

werden: Sicherheit, Kommunikation, Dienstleistungen sowie Gesundheit. In unmittelbarer

Rücksprache mit den im TECLA-Netzwerk zusammengeschlossenen Partnern sowie mit der

kassenärztlichen Vereinigung wurde für die weitere Entwicklung eine Begrenzung dieser vier

Bereiche auf die aus Sicht der Partner interessantesten Applikationen durchgeführt.

Im Bereich der Gesundheit ist primär die Erfassung bestimmter Vitaldaten angedacht; von

Interesse sind hier vor allem Blutdruck und Puls, Blutzucker sowie Gewicht, außerdem ist die

Integration einer Erinnerungsfunktion für Arzttermine und Impfauffrischungen geplant. Im

Bereich der Sicherheit ist zuungunsten diverser technisch umsetzbarer Funktionen wie etwa

Wasser- und Bewegungssensorik zunächst lediglich die Integration von Rauchmeldern sowie

eines Hausnotruf-Systems angedacht, wobei hier das DRK als Projektpartner zur Verfügung

steht. Zentrale kommunikative Funktion soll die Videotelefonie über den Tablet-PC werden,

die unter anderem für den Telekonsil mit dem Pflegedienst oder dem Hausarzt – so dieser

dafür zur Verfügung stünde – genutzt werden könnte, primär aber der Aufrechterhaltung

des persönlichen Kontakts zu Freunden und Familienangehörigen und damit der Pflege der

psychosozialen Gesundheit dient.

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Gemeinsame Systemskizze der TECLA-Projektpartner zum Gesundheitsbegleiter

Im Dienstleistungsbereich ist u.a. die Implementierung einer (Notdienst-)Apothekenliste und

eines Wetterdienstes sowie die Integration von Einkaufsapplikationen angedacht – ein

aktiver Austausch mit dem lokalen EDEKA-Markt, der großes Interesse an der Ausweitung

seines Quartierlieferservices hat, findet bereits statt. Integriert werden soll auch das

EngelCard-Konzept8 der Halberstädter PetterLetter GmbH9, die dem TECLA-NEMO-Netzwerk

in der nächsten Förderperiode gegebenenfalls als Partner beitreten möchte.

Da die Einbindung potentieller Anwender in den Prozess der Konzeptionierung eines AAL-

Systems von ganz entscheidender Bedeutung für dessen spätere Akzeptanz ist (vgl. hierzu

u.a. Panek & Zagler 2008), ist für die zweite Projektphase eine umfassende soziologische

Befragung von älteren MieterInnen der verpartnerten Wohngesellschaften angedacht, in

deren Rahmen unter anderem evaluiert werden soll, welche Dienstleistungen des in diesem

Bericht vorgestellten TECLA-Konzepts seitens der Anwender von Interesse wären. Hierfür ist

eine enge Zusammenarbeit mit dem ebenfalls an der Hochschule Harz angesiedelten Projekt

KoMoSerV10 geplant – die KoMoSerV-Projektgruppe betreibt übrigens gemeinsam mit den

TECLA-Netzwerkpartner WWG e.G.11 und der Steinke Gesundheitscenter GmbH12 eine

8 http://www.engelcard.de/

9 http://www.petterletter.de/

10 http://www.hs-harz.de/komoserv.html

11 http://www.wwg-wr.de/

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barrierefreie Senioren-Musterwohnung, in der unter anderem das weiter oben bereits

erwähnte DRK-Hausnotrufsystem demonstriert wird. Wie [Baumgärtner et al. 2009] zeigen,

sind älteren Menschen die Möglichkeiten, die sich durch den Einsatz von Technik ergeben,

nur sehr unzureichend bewusst – insbesondere der AAL-Begriff ist eher nebulös. Bei

entsprechenden Befragungen kommt es daher insbesondere darauf an, die Technologie

seniorengerecht zu erklären.

Bluetooth-fähige Waage der Firma Beurer im TECLA-Technikum. Waagen unter anderem

dieses Typs sollen mit dem im Rahmen des TECLA-Netzwerkprojekts konzeptionierten

elektronischen Gesundheitsbegleiter kombinierbar sein (Foto: Christian Reinboth)

Eine enge Zusammenarbeit erfolgt bei diesem Teilprojekt auch mit dem „Schwesterprojekt“

TECLA WZW13, welches ebenfalls an der Hochschule Harz angesiedelt ist und durch das

Wissenschaftszentrum Wittenberg finanziert wird. Im Rahmen dieses Projektes soll im

Innovations- und Gründerzentrum (IGZ) in Wernigerode14 ein Telemonitoring-Technikum

entstehen, in dem verschiedene AAL-Systeme dauerhaft installiert und anschließend in

Kooperation mit der Uniklinik Halle sowie den Design-Experten der Burg Giebichenstein „auf

Herz und Nieren“ getestet werden sollen. Der Grundstein hierfür wurde 2010 mit der

Anschaffung der ersten Systeme gelegt: Einem Kardio- und Gewichts-Monitoring-System der

12

http://www.steinke-gsc.de/ 13

http://www.laenger-selbstbestimmt-leben.de/ 14

http://www.igz-wr.de/

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Evaluationsbericht „Elektronischer Gesundheitsbegleiter“ 13

Firma Aipermon15 sowie korrespondierenden Systeme der SmartLab-Produktreihe16 der

HMM Group. Die Ergebnisse der im Technikum durchgeführten – und noch bis Ende 2011

abzuschließenden – Funktions- und Qualitätstests werden den TECLA-Netzwerkpartnern für

die weitere Konzeption ihres AAL-Systems zur Verfügung stehen.

Verwendete Quellen

[Baumgärtner et al. 2009] Baumgärtner, Barbara; Halder, Luca & Kolip, Petra: Qualitative

Interviewstudie mit 50- bis 60-jährigen, alleinlebenden Bremerinnern und Bremern sowie

Bremer Experten zu dem Thema: Wohnen im Alter in Bremen, Endbericht des Instituts für

Public Health und Pflegeforschung (IPP), Bremen, 2009.

[Georgieff 2008] Georgieff, Peter: Ambient Assisted Living. Marktpotenziale IT-unterstützer

Pflege für ein selbstbestimmtes Altern, herausgegeben im Rahmen der FAZIT-Schrifenreihe

durch die MFG Stiftung Baden-Württemberg, Stuttgart, 2008.

[Keck & Stuber 2010] Keck, Wolfgang & Stuber, Michael: Automatische Alarmierung nach

Stürzen, in: horizonte 36, September 2010, Seite 13-15.

[Krebs & Nethe 2008]: Krebs, Irene & Nethe, Arnim: E-Health- and Living-Technologies für

ein selbstbestimmtes Leben? Intelligentes Wohnen im Alter; in: Forum der Forschung

21/2008, erschienen im Eigenverlag der BTU Cottbus, Cottbus, 2008.

[Meyer & Schulze 2008]: Meyer, Sibylle & Schulze, Eva: Smart Home für ältere Menschen –

Handbuch für die Praxis, herausgegeben vom Berliner Institut für Sozialforschung GmbH im

Auftrag des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, Berlin, 2008.

[Naegele et al. 2006] Naegele, Gerhard; Heinze, Rolf & Hilbert, Josef: Wohnen im Alter.

Seniorenwirtschaft in Deutschland; herausgegeben von der Forschungsgesellschaft für

Gerontologie e.V., Dortmund, 2006.

[Niederberger-Burgherr 2007] Niederberger-Burgherr, Johanna: Über das Videotelefon in

direkter Verbindung, in: Krankenpflege 4/2007, Seite 10-14.

[Panek & Zagler 2008] Panek, P. & Zagler, W.L.: Das Living Lab für E-Homecare und Ambient

Assisted Living (AAL) Technologien in Schwechat, in: Tagungsband der eHealth 2008, Wien,

2008.

[Spellerberg 2010] Spellerberg, A.: Intelligente Technik für das selbständige Wohnen im

Alter: Ambient Assisted Living für Komfort, Sicherheit und Gesundheit; in: Schreier, G.;

Hayn, D. & Ammenwerth, E. (Hrsg.): Tagungsband der eHealth 2010: Health Informatics

meets eHealth, Wien, 2010.

15

http://www.aipermon.com/ 16

http://smartlab.org/

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[WHO 2002] o.V.: Aktiv Altern. Rahmenbedingungen und Vorschläge für politisches Handeln.

Ein Beitrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für die Zweite UN-Weltversammlung zu

Altersfragen, New York, 2002.

Kontakt

ZIM-NEMO-Netzwerk TECLA

Hochschule Harz

Friedrichstraße 57-59

38855 Wernigerode

Website: http://www.mytecla.de