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Die Kaiser-Wilhelm- Gesellschaft im Nationalsozialismus Mitchell G. Ash Kaufmann, Doris, Hg., 2000. Geschichte der Kaiser-Wil- helm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsauf- nahme und Perspektiven der Forschung. 2 Bde. Göttingen: Wallstein, brosch. 776 S., ISBN-13: 978-3892444237. Heim, Susanne, Hg., 2002. Autarkie und Ostexpansion. Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialis- mus. Göttingen: Wallstein, brosch. 306 S., 20 , ISBN-13: 978-3-89244-496-1. Maier, Helmut, Hg., 2002. Rüstungsforschung im Nati- onalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgren- zung der Technikwissenschaften. Göttingen: Wallstein, brosch. 396 S., 29 , ISBN-13: 978-3-89244-497-8. Schmuhl, Hans-Walter, Hg., 2003. Rassenforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Göttingen: Wallstein, brosch. 357 S., 27 , ISBN-13: 978-3-89244-471-8. Heim, Susanne, 2003. Kalorien, Kautschuk, Karrieren. Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933–1945. Göttingen: Wallstein, brosch. 280 S., 24 , ISBN-13: 978-3-89244-696-5. Sachse, Carola, Hg., 2003. Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche N.T.M. 18 (2010) 79–118 0036-6978/10/010079-40 DOI 10.1007/s00048-009-0011-8 Published online: 20 April 2010 Ó 2010 BIRKHÄUSER VERLAG BASEL/SWITZERLAND 79 SAMMELBESPRECHUNG /ESSAY REVIEW .

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Die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft imNationalsozialismus

Mitchell G. Ash

Kaufmann, Doris, Hg., 2000. Geschichte der Kaiser-Wil-helm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsauf-nahme und Perspektiven der Forschung. 2 Bde. Göttingen:Wallstein, brosch. 776 S., ISBN-13: 978-3892444237.

Heim, Susanne, Hg., 2002. Autarkie und Ostexpansion.Pflanzenzucht und Agrarforschung im Nationalsozialis-mus. Göttingen: Wallstein, brosch. 306 S., 20 €, ISBN-13:978-3-89244-496-1.

Maier, Helmut, Hg., 2002. Rüstungsforschung im Nati-onalsozialismus. Organisation, Mobilisierung und Entgren-zung der Technikwissenschaften. Göttingen: Wallstein,brosch. 396 S., 29 €, ISBN-13: 978-3-89244-497-8.

Schmuhl, Hans-Walter, Hg., 2003. Rassenforschung anKaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933. Göttingen:Wallstein, brosch. 357 S., 27 €, ISBN-13: 978-3-89244-471-8.

Heim, Susanne, 2003. Kalorien, Kautschuk, Karrieren.Pflanzenzüchtung und landwirtschaftliche Forschung anKaiser-Wilhelm-Instituten 1933–1945. Göttingen: Wallstein,brosch. 280 S., 24 €, ISBN-13: 978-3-89244-696-5.

Sachse, Carola, Hg., 2003. Die Verbindung nachAuschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche

N.T.M. 18 (2010) 79–1180036-6978/10/010079-40DOI 10.1007/s00048-009-0011-8Published online: 20 April 2010� 2010 BIRKHÄUSER VERLAG BASEL/SWITZERLAND

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an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Sym-posiums im Juni 2001. Göttingen: Wallstein, brosch. 336 S.,26 €, ISBN-13: 978-3-89244-699-6.

Schieder, Wolfgang/Trunk, Achim, Hg., 2004. AdolfButenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Wis-senschaft, Industrie und Politik im ,,Dritten Reich‘‘.Göttingen: Wallstein Verlag, brosch. 430 S., 34 €, ISBN-13:978-3-89244-752-8.

Kunze, Rolf-Ulrich, 2004. Ernst Rabel und das Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches und internationalesPrivatrecht 1926–1945. Göttingen: Wallstein, brosch.272 S., 24 €, ISBN-13: 978-3-89244-798-6.

Schmuhl, Hans-Walter, 2005. Grenzüberschreitungen.Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, mensch-liche Erblehre und Eugenik 1927–1945. Göttingen: Wall-stein, brosch. 397 S., 34 €, ISBN-13: 978-3-89244-799-3.

Schwerin, Alexander von, 2004. Experimentalisierungdes Menschen. Der Genetiker Hans Nachtsheim unddie vergleichende Erbpathologie 1920–1945. Göttingen:Wallstein, brosch. 421 S., 33 €, ISBN-13: 978-3-89244-773-3.

Schmaltz, Florian, 2005. Kampfstoff-Forschung im Na-tionalsozialismus. Zur Kooperation von Kaiser-Wilhelm-Instituten, Militär und Industrie. Göttingen: Wallstein,brosch. 676 S., 39 €, ISBN-13: 978-3-89244-880-8.

Gausemeier, Bernd, 2005. Natürliche Ordnung undpolitische Allianzen. Biologische und biochemischeForschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten 1933–1945.Göttingen: Wallstein, brosch. 352 S., 27 €, ISBN-13: 978-3-89244-954-6.

Schüring, Michael, 2006. Minervas verstoßene Kinder.Vertriebene Wissenschaftler und die Vergangenheit-spolitik der Max-Planck-Gesellschaft. Göttingen: Wallstein,brosch. 416 S., 34 €, ISBN-13: 978-3-89244-879-2.

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Rürup, Reinhard (unter Mitwirkung von Michael Schü-ring), 2008. Schicksale und Karrieren. Gedenkbuch fürdie von den Nationalsozialisten aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertriebenen Forscherinnen und Forscher.Mit einem Geleitwort des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft. Göttingen: Wallstein, brosch. 539 S., 34 €,ISBN-13: 978-3-89244-797-9.

Hachtmann, Rüdiger, 2007. Wissenschaftsmanagementim ,,Dritten Reich‘‘. Geschichte der Generalverwaltungder Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. 2 Bde. Göttingen: Wall-stein, brosch. 1397 S., 78 €, ISBN-13: 978-3-8353-0108-5.

Maier, Helmut, 2008. Forschung als Waffe. Rüstungs-forschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und dasKaiser-Wilhelm-Institut für Metallforschung 1900–1945/48. 2 Bde. Göttingen: Wallstein, brosch. 1235 S., 75 €, ISBN-13: 978-3-8353-0109-2.

Maier, Helmut, Hg., 2008. Gemeinschaftsforschung,Bevollmächtigte und der Wissenstransfer. Die Rolle derKaiser-Wilhelm-Gesellschaft im System kriegsrelevanterForschung des Nationalsozialismus. Göttingen: Wallstein,brosch. 613 S., 39 €, ISBN-13: 978-3-8353-0182-5.

Ende 2005 wurde die Arbeit der Prasidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG) im Nationalsozialismus offiziell beendet. Dieswar das erste von drei großen Projektunternehmen, die zusammengenommen die Literatur zur Wissenschaftsgeschichte in Deutschlandvom Kaiserreich bis zur fruhen Bundesrepublik nicht nur betrachtlichvermehrt, sondern die Forschung auf diesem Gebiet in vielfacherHinsicht thematisch neu ausgerichtet haben. Es folgten binnenweniger Jahre die vom Prasidium der DFG geforderte Projektgruppezur Geschichte der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft/Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920–1970, die 2008 ihre Arbeitabschloss, und das DFG-Schwerpunktprogramm Wissenschaft, Poli-tik, Gesellschaft. Wissenschaft in Deutschland im internationalenZusammenhang im spaten 19. und im 20. Jahrhundert. Personen,Institutionen, Diskurse, das noch bis 2010 laufen soll.

Als Ergebnis aller drei Projekte sind neben einer großenAnzahl von Einzelpublikationen auch jeweils eigene Monogra-

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phienreihen vorgesehen. Inwiefern neue Anstoße im konzeptio-nellen Sinne aus diesem immensen Forschungskorpus hervorge-gangen oder bereits programmatisch formulierte Ansatze eherangewendet und fur die Einzelforschung fruchtbar gemacht wor-den sind, wird wohl erst nach Abschluss aller drei Unternehmenzu beurteilen sein. Gleichwohl darf mit Fug und Recht schon jetztvon einer unubersehbaren Verstarkung des seit den 1980er Jahrenbeginnenden und seit den 1990er Jahren weithin sichtbargewordenen ,,Paradigmenwechsels‘‘ (vgl. Band von Hachtmann2007 in der zu besprechenden Reihe S. 63) im Verstandnis derWissenschaften im Nationalsozialismus sowie des Verhaltnissesvon Wissenschaft, Gesellschaft und Politik in den ersten beidenDritteln des 20. Jahrhunderts gesprochen werden.

Seit 2008 liegt die Monographienreihe der Prasidentenkom-mission der MPG geschlossen vor.1 Im Folgenden kann schon ausPlatzgrunden keine eingehende Besprechung aller 17 Bande derReihe im Einzelnen erfolgen, zumal viele von ihnen ohnehin an gutsichtbarer Stelle bereits besprochen worden sind. Vielmehr sollversucht werden, nach einigen Vorbemerkungen uber die dekla-rierten Absichten und Ziele insgesamt sowie zum Forschungsstandzu Beginn des Vorhabens eine Art abschließende Bilanz zu ziehen.Dies soll in vier Schritten geschehen:

1. Besprochen werden zunachst Beitrage aus der Reihe zurallgemeinen Geschichte der KWG als Institution (2 Bande).

2. Es folgen die Beitrage zur Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Institute (KWI) fur Biologie und Biochemie beziehungsweisezur Rolle des im Jahre 1935 ernannten Direktors des zweitenInstituts, Adolf Butenandt (2 Bande).

3. Danach werden sukzessive die Beitrage zu den drei ursprung-lich im Programm vorgesehenen thematischen Schwerpunk-ten – ,,Rassenforschung‘‘ (3 Bande), Ost- und Raumforschungim Zusammenhang mit der NS- Raum- und Besatzungs-politik (2 Bande) und Rustungsforschung (3 Bande) –besprochen.

4. Zum Abschluss wird anhand zweier weiterer Beitrage der Reihedas Verhaltnis der vergangenheitspolitischen Reflexion und derWissenschaftsgeschichtsschreibung in diesem Zusammenhangexemplarisch diskutiert.

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Vorbemerkung zum Forschungsstand der 1990er Jahresowie zu den Absichten und Zielen desForschungsprogramms

Bereits seit Anfang der 1990er Jahre gab es Ansatze zu einerGesamtdarstellung der Geschichte der KWG und ihrer Institute(Vierhaus/vom Brocke 1990, vom Brocke/Laitko 1996). Trotz ihrerVerdienste hatten diese Arbeiten zweierlei deutlich werden lassen:Erstens war an eine flachendeckende historische Gesamt-darstellung aller Einzelinstitute der KWG mit ihren jeweiligenNachfolgern in der MPG oder auch ohne sie in absehbarer Zeitallein aus praktischen Grunden nicht zu denken. Prioritat solltedaher zweitens einer auf zentrale Themenbereiche fokussiertenhistorischen Aufarbeitung der KWG im Nationalsozialismuszukommen. Letzteres erschien zum einen deshalb wichtig, weil dieNS-Zeit in der bis dahin umfassendsten, von Rudolf Vierhaus undBernhard vom Brocke herausgegebenen Gesamtdarstellung nur aufrelativ knappem Raum behandelt wurde. Zum anderen hatte dieseDarstellung der NS-Zeit – an deren Anfang die Vertreibung oderder Rucktritt mehrerer KWI-Direktoren und einer damals nochnicht genau bekannten Zahl ihrer Mitarbeiter aufgrund der rassis-tischen Politik der Nationalsozialisten und an deren Ende dieunmenschlichen Menschenexperimente in Auschwitz standen –auch aus inhaltlichen Grunden Unzufriedenheit in der Offentlich-keit wie auch unter Wissenschaftshistorikerinnen und -historikernhervorgerufen.

Die Kritik aus Fachkreisen hatte unter anderem auch mit einereben als Paradigmenwechsel beschriebenen Umwalzung in derBetrachtung der Rolle der Wissenschaften beziehungsweiseder akademischen Eliten uberhaupt vor und wahrend desNationalsozialismus zu tun, die sich seit den spaten 1970er Jahrenabzuzeichnen begann und von Anfang an internationalen Cha-rakter hatte.2 Zentrale Elemente dieser Wende seien hier kurz inErinnerung gerufen:

• die Infragestellung einer Beschreibung der Wissenschaftsent-wicklung nach 1933 ausschließlich unter dem Vorzeicheneines Niedergangs in die ideologieverseuchte Pseudowis-senschaft;

• ein interaktives Verstandnis von Wissenschaft und Politik,einhergehend mit der Betonung der aktiven Initiative bezie-hungsweise einer von Herbert Mehrtens so genannten,,Selbstmobilisierung‘‘ (Mehrtens 1994, Ludwig 1979) von

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Wissenschaftlern nicht allein in ideologischer Hinsicht, sondernauch und vor allem im Hinblick auf ihre Zuarbeit im Rahmenzentraler politischer Projekte des NS-Regimes;

• eine Infragestellung des einfachen Dualismus von Grundlagenfor-schung und angewandter Forschung, einhergehend mit demHinweis auf die Funktionalisierbarkeit von Grundlagenforschungfur technokratische und militarische Zielsetzungen;

• eine scharfe Kritik der Vergangenheitspolitik, das heißt derSelbstdarstellungen und Neupositionierungen von Wissen-schaftlern und ihrer Forschungsprogramme nach 1945, die zumTeil auf eben dieser apologetisch orientierten Behauptung einesvermeintlichen Ruckzugs in die Grundlagenforschung beruhte(Mehrtens 1990).

Der Bezug von alledem zur Geschichte der KWG wurde bereits1993 durch das Buch von Kristie Macrakis mit dem provokanten,den Inhalt nicht ganz treffend wiedergebenden Titel Survivingthe Swastika zumindest partiell hergestellt (Macrakis 1993).Wenngleich dieses Buch nicht in jeder Hinsicht zu der eben umris-senen konzeptionellen Wende beigetragen hatte, handelte essich immerhin um den ersten Versuch einer umfassenden, aufArchivforschung basierten Betrachtung der KWG-Zentrale undmehrerer KWIs im Nationalsozialismus. In einer Besprechungdieses Buches fur Isis habe ich bereits 1994 eine der Implikationendesselben gewissermaßen entgegen der im Titel formuliertenInterpretation der Autorin sinngemaß so formuliert: Vielleicht habe,,good science‘‘ dem NS-Regime am besten gedient (Ash 1994).

Bei der Entscheidung fur ein groß angelegtes Forschungsprojektzur Rolle der KWG und ihrer Institute im Nationalsozialismus stan-den also fachliche Uberlegungen und wohl auch eine vergangen-heitspolitische Absicht von vornherein im Mittelpunkt. FormalerAnlass der Einsetzung der Prasidentenkommission im Jahre 1997war der herannahende 50. Jahrestag der Grundung der MPG imJahre 1948. Die offizielle Erklarung hierzu macht deutlich, dass sichdie MPG, auch wenn sie in juristischer Hinsicht eine andereGesellschaft gewesen war als die KWG, in deren Nachfolge sah undsieht. Die Geschichte der KWG stelle demnach ,,die Vergangenheitder MPG‘‘ dar; folglich sollte im Rahmen der Arbeit derPrasidentenkommission ,,[d]as Verhaltnis der KWG zum NS-System[…] so vollstandig wie moglich, ruckhaltlos und ohne jede institu-tionelle Befangenheit erforscht und publiziert werden‘‘3.

Ganz offensichtlich ging es dem damaligen Prasidenten derMPG, Hubert Markl, darum, der offentlichen Kritik an einer

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vermeintlich ungenugenden Auseinandersetzung der MPG mitihrer Vergangenheit ernsthaft zu begegnen, ohne die Auschwitz-Experimente als Terminus ad quem der gesamten Geschichte derKWG hinzustellen. Dies traf sich mit den Absichten der beidenrenommierten Historiker Reinhard Rurup und Wolfgang Schieder,die vom Prasidenten als Leiter der fur das Vorhaben zustandigenPrasidentenkommission vorgeschlagen wurden, fur die Auswahl derProjektdirektorinnen und -direktoren verantwortlich waren und alsHerausgeber der vorliegenden Monographienreihe eine aktive Rollespielten. Wohlweislich wurde das Projekt direkt beim Prasidentender MPG und nicht beim MPI fur Geschichte oder beim MPIfur Wissenschaftsgeschichte (MPIWG) angesiedelt, die man furzustandig hatte halten konnen. Ebenso mit Bedacht geschah es, dassdie beiden hauptverantwortlichen Historiker nicht Direktoren oderMitglieder dieser Institute, nicht einmal Mitglieder der MPG waren.Uberhaupt bemuhten sich die Leitungen der beiden genannten wieauch die der ubrigen MPIs aus naheliegenden Grunden peinlichstum formale, allerdings nicht um inhaltliche Distanz vom Projekt,auch wenn – oder gerade weil – die Arbeitsraume der Kommissionsich jahrelang im damaligen Haus des MPIWG in Berlin befanden.Diese raumliche Nahe bei gleichzeitiger Zustandigkeit des Prasidi-ums mag aus institutionspolitischen und verwaltungstechnischenGrunden nicht immer angenehm gewesen sein, aus wissenschaft-lichen Grunden erwies sie sich aber als produktiv, weil sie eineZusammenarbeit mit interessierten Mitarbeiterinnen und Mitar-beitern des MPIWG erleichterte.

Die Wahl von Doris Kaufmann (April 1998 bis Januar 2000),Carola Sachse (April 2000 bis Januar 2004), Susanne Heim (Februar2004 bis Marz 2005) und Rudiger Hachtmann (Marz bis Dezember2005) als Projektverantwortliche erwies sich sowohl in administra-tiver als auch in inhaltlicher Hinsicht als glucklich. Wohlgemerktwaren alle Genannten wie die Kommissionsvorsitzenden zur Zeitihrer Ernennung als Historiker oder im Falle Heims als zeithistorischprofilierte Politologin und nicht in erster Linie als Wissenschafts-historiker ausgewiesen; dass hier zunachst einmal dementspre-chende Erkenntnisinteressen im Vordergrund standen, kann nichtverwundern. In der Folge ergab sich daraus aber kein grundsatzli-cher Konflikt mit den anders gelagerten Fragestellungen, die imMPIWG oder in der universitar verankerten Wissenschafts-geschichte bearbeitet wurden. Bereits in einem von Kaufmann ver-fassten Arbeitspapier zum Projekt wurde das Interesse bekundet,neben der Institutionen- und der politischen Geschichte auch die

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Geschichte der Wissenschaftspraxis mit einzubeziehen. Sehr baldwurden uber Gastaufenthalte, interne Vortrage und KolloquienBemuhungen erkennbar, aktuelle Fragestellungen der internationa-len Forschung zum Thema Wissenschaft und Nationalsozialismuseinzubeziehen. Mehrere der eingeladenen Gaste wie auchMitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Projektes selbst habenErgebnisse in einer informellen Preprint-Reihe publiziert, die imVerlauf des Projekts erschien und deren Einzelhefte nach wie voruber die MPIWG bestellbar sind.

Die Monographienreihe beginnt mit einem umfangreichenDoppelband, der aus einer großen Tagung in Berlin hervorging,die im Marz 1999 abgehalten wurde und als eine Art Auftaktdes Unternehmens gedacht war. Bereits zu jener Zeit standendie vorgesehenen Schwerpunkte – ,,Rassenforschung‘‘, Raum- undAgrarforschung im Zusammenhang der NS-Expansions- undBesatzungspolitik sowie Rustungsforschung – als Gliederungsmo-mente der Projektarbeit fest, doch war die Tagung viel breiterangelegt, weshalb der Tagungsband uber den im Untertitel ge-nannten Stand der Forschung zur Geschichte der KWG weithinausging. Die Breite und Vielfalt der behandelten Themen undFragestellungen sind an sich als Positiva zu betrachten, doch wirddamit gleich zu Beginn des Projekts ein Spannungsverhaltniserkennbar zwischen einer engeren Fokussierung auf die KWG selbstals institutionellen Akteur im sozialen Teilsystem Wissenschaftsowie im NS-System insgesamt und der sichtbaren Bemuhungder Projektleitung um eine breitere Kontextualisierung derForschung wie auch der Institutionsgeschichte im Rahmen derSozialgeschichte und der politischen Geschichte der Wissenschaf-ten im 20. Jahrhundert. Dieses Spannungsverhaltnis bleibt bis zumEnde des Unternehmens und auch in den publizierten Ergebnissensichtbar, worauf gelegentlich zuruckzukommen sein wird. In derFolge geriet schon der Doppelband, der aus der Tagung hervorgingund am Anfang der Reihe stand, eher zu einer Bestandsaufnahmeder Wissenschaftsgeschichte des Nationalsozialismus im deutsch-sprachigen Raum Mitte der 1990er Jahre als zu einer der Ge-schichtsforschung zur KWG in diesem Kontext. Gleichwohl sindeinzelne Beitrage dieses ersten Doppelbandes in den folgendenBanden der Reihe immer wieder als Bezugsgroßen herangezogenworden.

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Geschichte der KWG als Institution

Interessanterweise erfolgte eine nahere Fokussierung auf dieGeschichte der KWG als Institution im Nationalsozialismus erstin zwei der zuletzt erschienenen Bande der Reihe. Diese seien ausinhaltlichen Grunden zuerst besprochen, um einen Rahmen furdie Behandlung anderer Themen zu schaffen.

Michael Schurings Buch Minervas verstoßene Kinder. Vertrie-bene Wissenschaftler und die Vergangenheitspolitik der Max-Planck-Gesellschaft beginnt mit einer detaillierten Untersuchung der Folgender Vertreibungen von als Juden definierten Wissenschaftlerinnenund Wissenschaftlern aus KWIs nach 1933 und der Reaktion derKWG-Zentrale. Daran schließt sich eine eingehende Untersuchungder Auseinandersetzung der Rest-KWG nach 1945 beziehungsweiseder neu gegrundeten MPG nach 1948 mit den Emigranten und denvon ihnen erhobenen Anspruchen auf Wiedergutmachung an. Imersten Teil wird die Reaktion auf die Entlassungen seitens der KWG-Leitung als eine Mischung aus vorauseilendem Gehorsam undinstitutionellen Absicherungsmaßnahmen gegen denunzierendeUnruhestifter oder vorpreschende Direktoren an den Institutentreffend charakterisiert. Der wertvollste Befund ist hier aber derNachweis eines engen Zusammenhangs zwischen dieser Reaktionund den parallelen Bemuhungen derselben KWG-Zentrale umKooperation mit relevanten Akteuren des neuen Regimes, vor allemim Reichsinnenministerium, dem Preußischen Kultusministerium,dem daraus entstandenen Reichsministerium fur Wissenschaft,Erziehung und Volksbildung (REM) und dem Militar.

Schuring konstatiert fur die Zeit nach 1945 eine durchausvergleichbare Parallelitat zur Situation nach 1933: DieNeuverhandlungen mit den Besatzungsbehorden und darananschließend mit Bund und Landern verliefen verzahnt mit demzunachst eher improvisierten, aber zunehmend mit Bedachtorganisierten vergangenheitspolitischen Diskurs der MPG-Leitung.Darin ging es vor allem um den Prasidenten Otto Hahn, den ihmtrotz seiner fruheren Verstrickungen mit der NSDAP offenbarunentbehrlichen Generaldirektor Ernst Telschow und viele Insti-tutsdirektoren sowie ihren Umgang mit den Wiedergutma-chungsanspruchen der Vertriebenen. Die Analyse bleibt dabeinicht bei einer Entlarvung damaliger Weißwascherei stehen, auchwenn offensichtlich unwahre Aussagen der Beteiligten uber ihreInvolvierung vor 1945 als solche klar benannt werden. Vielmehrwerden die Elemente des entstehenden vergangenheitspolitischen

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Diskurses – insbesondere Entpersonalisierung und Entkontextu-alisierung – genau herausgearbeitet. Dies gilt ebenfalls fur diescheinbar nur gewitzten, zuweilen atemberaubend zynischen juris-tischen Taktiken, mittels derer die Zustandigkeit der MPG geleugnetoder selbst anerkanntermaßen fallige Wiedergutmachungszahlungenimmer wieder hinausgezogert wurden. Dabei werden dieBemuhungen einiger Mitarbeiter in der Generalverwaltung derMPG, sachlich richtige Entscheidungen zu treffen, gebuhrendgewurdigt. Dass Recht und Gerechtigkeit miteinander unvereinbarerschienen beziehungsweise die einen nur das eine und dieanderen nur das andere suchten und die Gesprachspartner daherallzu oft aneinander vorbei redeten, wird emporend plastischdargestellt. Die Sympathie des Autors mit den Emigranten wirddadurch evident, dass und wie er sie selbst ausfuhrlich zu Wortkommen lasst.

Schuring wagt in dieser verdienstvollen Studie keine Aussagedaruber, was Institutionsgeschichte ist oder sein kann. Dies tut abersehr wohl Hachtmann in seinem nicht nur des Umfangs wegenbeeindruckenden zweibandigen Werk Wissenschaftsmanagementim ‘Dritten Reich’. Geschichte der Generalverwaltung der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Der Doppeltitel spricht buchstablich Bande,denn es handelt sich in der Tat um zwei miteinander verschrankteBucher, eines als Fazit des Forschungstands zur politischen undSozialgeschichte der Wissenschaftsorganisation im ,,Dritten Reich‘‘– genauer: in der ersten Halfte des 20. Jahrhunderts – und einanderes uber die Generalverwaltung der KWG im engeren Sinne.Die Verschrankung rechtfertigt der Autor durch die in dieser Formmaßlos uberzogene Behauptung, die Geschichte der Generalver-waltung sei ,,bis zu einem gewissen Grade auch eine Geschichte dergesamten Wissenschaftsgesellschaft‘‘ (Bd. 1: S. 21). ,,Geschichte derWissenschaftsgesellschaft‘‘ firmiert hier vor allem als eine Ge-schichte sich selbst organisierender Netzwerke gesellschaftlichaffiner (Manner-)Gruppen; die KWIs und die Generalverwaltungder KWG werden dabei als Knoten beschrieben, Orte des Aus-tauschs von Ressourcen und verschiedener, nicht nur symbolischerKapitalsorten im Sinne Pierre Bourdieus. Im Einklang mit derneueren Forschung, namentlich zur Geschichte der Notgemein-schaft und der DFG, hebt Hachtmann die zentrale Bedeutung der1917 gegrundeten Kaiser-Wilhelm-Stiftung fur kriegswissenschaft-liche Forschung hervor. Die Gruppe selbst bestand nach 1919 nichtmehr lange, doch die dort geknupften Netzwerke wurden fort-gesetzt, erweitert und vertieft, beispielsweise uber gemeinsame

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Mitgliedschaften in vielsagend benannten Vereinen wie dem Her-renklub oder dem Nationalen Klub. Diese immerhin auf mehrerenhundert Seiten geschilderten Zusammenhange geben die Folie furdie darauf folgende Analyse der NS-Zeit ab.

Hachtmanns Schilderung des Ubergangs 1933 als Neugestaltungsozialer Netzwerke – mit dem wendigen, uberall prasenten ErnstTelschow als neuem Knotenpunkt schon vor seiner Amtsubernahmeals Generalsekretar der KWG 1937 – ist sehr detailreich und plau-sibel. Demnach ist Friedrich Glum als Generalsekretar der KWGnach 1933 nicht allein, aber doch in erster Linie deshalb gescheitert,weil er weiterhin auf seine vertrauten Verbindungen im konservativ-deutschnationalen Burgertum setzte. Somit kann Hachtmann dieInstallierung einer neuen Satzung der KWG im Jahre 1937 weniger alseinen Wendepunkt, wie von der bisherigen Forschung geschehen,denn als den Vollzug bereits entwickelter Machtverhaltnissebeschreiben. Neu und interessant ist der Nachweis, dass dieWiederbelebung der Beziehungen zum Militar neben den vonAnbeginn bestehenden Verbindungen zur Wirtschaft zwar vonPrasident und Generalverwaltung befurwortet, aber im Hintergrunddurch Albert Vogler vorangetrieben wurde. Dem Zogling von HugoStinnes, Vorstandsvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke undwirtschafts- wie wissenschaftspolitischer Multifunktionar vor undnach 1933, wird hier eine zentrale Rolle zugewiesen. Hachtmann stelltVogler als graue Eminenz der KWG seit Anfang der 1930er Jahre dar,dessen Rolle im Verlauf der NS-Zeit immer prominenter wurde. Sosind nach dieser Darstellung die Grundlinien des spateren Reichsfor-schungsrates (RFR) in einer Denkschrift Voglers schon 1933vorformuliert, sie wurden dann vom KWG-Prasidenten Max Planck1934 und von Teilen der neuen Wissenschaftsverwaltung ab 1935und 1936 weiterentwickelt. Die zentrale Bedeutung Voglers fur dieLenkung der KWG erschließt sich somit nicht erst mit seiner Prasi-dentschaft im Krieg, sondern bereits viel fruher. Die Ironie, dassVogler das Schicksal eines zentralen Akteurs der Wissenschaftspolitiksozusagen nebenher gelenkt hat, manchmal ohne uberhaupt in Berlinanwesend zu sein – was moglicherweise auf eine doch eheruntergeordnete Bedeutung der Wissenschaft im NS-System schlie-ßen ließe –, wird hier bestenfalls sehr implizit registriert.

Im Mittelpunkt des Buches steht aber keine allein funktionalis-tische Deutung des Geschehens. Dass in diesem Kontext Wissen-schaft und Politik wie auch Wissenschaft und Wirtschaft sowieWissenschaft und Militar Ressourcen fureinander gewesen sind,stellt Hachtmann nicht in Abrede – im Gegenteil, diese Sicht hat er

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so weit verinnerlicht, dass er die Formulierung selbst oder Teilevon ihr mehrfach ohne Quellenangabe benutzt. Er betont aberauch, dass eine forcierte Zusammenarbeit mit der Politik und demMilitar der kaisertreuen Uberzeugung der Leitung der KWG undvieler Institutsdirektoren in den ersten Jahren des NS-Regimesohnehin entsprach, weshalb sie begeistert mitmachten. Naturlichist das richtig, doch an sich ist es unnotig, so zu tun, als wurden sichder inzwischen weithin bekannte Ressourcenansatz und eine tra-ditionell auf ideologisch motiviertes Handeln setzende Deutungwidersprechen. Gemeinsame Uberzeugungen und Zweckbund-nisse gehen im politischen wie im wirtschaftlichen Geschehenhaufig genug miteinander einher. Dafur, dass dies auch im wis-senschaftspolitischen Bereich der Fall war, bringt Hachtmannzahlreiche Belege. Dass Zweckbundnisse ohne gemeinsameUberzeugung durchaus moglich waren, belegt das zeitweiligeZusammengehen Plancks und Johannes Starcks, also der an sichverfeindeten Vertreter der modernen und der ,,Deutschen Physik‘‘,als Alliierte gegen Plane im REM zur Schaffung einer zentralistischorganisierten Reichsakademie der Forschung im Oktober 1934.

Auch mit der von Hermann Goring geleiteten Vierjah-resplanbehorde ging die KWG ein Bundnis ein, in das einstigeKonkurrenten wie Rudolf Menzel als Leiter des Amtes Wissen-schaft im REM und nunmehriger Prasident der DFG sowie dieanderen Mitglieder der sogenannten Gottinger Clique um Minis-ter Bernhard Rust, etwa Peter Adolf Thiessen oder der Leiter desHeereswaffenamtes Erich Schumann, geschickt eingebundenwurden. Wichtig fur Hachtmanns Analyse der Allianz wie fur dieder Politik der KWG im Krieg ist die Betonung der von Voglerreklamierten und sogar von Goring anscheinend akzeptierten,,Freiheit der Forschung‘‘. Gemeint ist jedoch nichts weiter als dieEinsicht, dass nur die Freisetzung der Ressource Forschung zuderen erhohter Produktivitat fur das Militar fuhren kann. Dies warnach Hachtmann auch die intellektuelle Grundlage der Verbin-dung der KWG-Leitung zum Rustungsminister Fritz Todt und vorallem zu seinem Nachfolger Albert Speer sowie fur das rasanteWachstum der Etats der natur- und technikwissenschaftlich ori-entierten KWIs im Krieg. Somit gelingt Hachtmann der Nachweiseiner zentralen, wenn auch keinesfalls allein dominanten for-schungspolitischen Rolle der KWG unter der PrasidentschaftVoglers.

Sehr spekulativ geraten ist hingegen der Abschnitt zurAtomforschung. Immerhin kann Hachtmann Indizien dafur

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aufbringen, dass auch Vogler die Hoffnung auf eine Wende desKriegsgeschehens durch eine atomare Wunderwaffe hegte. Soverblendet konnten selbst hartgesottene Wirtschaftslenker alsosein. Was die Kernfrage betrifft, inwiefern es wirklich zum Baueiner deutschen Atombombe vor 1945 gekommen ist, tragt dieserAbschnitt jedoch wenig zum Forschungsstand bei.4

In den letzten Kapiteln zur Neuformierung der KWGbeziehungsweise zur Grundung der MPG in der Nachkriegszeitsowie zum vergangenheitspolitischen Diskurs gelingt Hachtmanneine grundliche Aufarbeitung der Strukturgeschichte und Gesche-hensablaufe, die sich mit der Arbeit Schurings vortrefflich erganzt.Die emsige netzwerkbildende Tatigkeit Telschows zur Rettung derKWG und damit auch der eigenen Haut schloss sogar die Akti-vierung familiarer Beziehungen zu seinem Schwager Kurt Zierold– zu jener Zeit als Ministerialbeamter in Hannover mitverant-wortlich fur die Bereitstellung finanzieller Mittel fur die GottingerZentrale – mit ein. Zur Netzwerkarbeit gehorte ebenso der engeKontakt zum zustandigen britischen Besatzungsoffizier BertieBlount, einem in Deutschland ausgebildeten Chemiker, der sogarauf demselben Gelande der Aerodynamischen Versuchsanstalt inGottingen wohnte und arbeitete, wo die KWG/MPG-Zentraleuntergebracht war. Wegen des Versuchs einer von RobertHavemann geleiteten und vom Berliner Magistrat wie von derDeutschen Zentralverwaltung fur Volksbildung in der sowjeti-schen Zone unterstutzten Alternativverwaltung und unter-schiedlich motivierten Widerstanden der amerikanischen undfranzosischen Besatzungsbehorden blieb diese Arbeit zunachstnur in der britischen Besatzungszone erfolgreich. Auch dortmusste der Verzicht auf den Namen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaftund damit die Entwertung eines großen Stucks symbolischenKapitals von Hahn, Planck und mehreren Direktoren ausalter Verbundenheit sehr widerwillig, von Telschow eher prag-matisch hingenommen werden. Doch der angeblich vomPrasidenten der Londoner Royal Society vorgeschlageneNamenswechsel zu Max-Planck-Gesellschaft brachte keinenNettoverlust mit sich. Erst die neue politische Großwetterlage,das heißt der Beginn des Kalten Krieges, fuhrte nach Hachtmannzum endgultigen Zusammenrucken der KWIs im westlichenDeutschland einschließlich des Einlenkens der Franzosen undbesiegelte das Scheitern Havemanns.

Auf der Ebene der Vergangenheitspolitik fasst Hachtmann dierhetorischen Strategien der Entlastung und der ,,Persilschein-

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fabrikation‘‘‘ unter Einbeziehung der Arbeiten von Richard Beyler,Carola Sachse und Michael Schuring differenziert zusammen. DieGrundmuster der Legendenbildung auf individueller Ebene – vorallem eine kunstliche Trennung von Wissenschaft und Politik beigleichzeitiger Verengung beider Begriffe, so dass Mitarbeit intechnokratischen Herrschaftsprojekten als apolitisch dargestelltwerden konnte –, sind allerdings lange bekannt. Hinzu kam erstim Laufe der Zeit zunehmend die bereits 1945 formulierteLegende einer strikten Trennung von reiner Grundlagenforschungund angewandter Forschung zum Tragen. Brillant gelingt esHachtmann, das Ineinandergreifen der individuellen und institu-tionellen Ebenen des Entlastungsdiskurses herauszuarbeiten undaufzuzeigen, wie Rhetoriken, die fur die Entnazifizierung Einzelnerfunktionierten, sich fur die Neupositionierung der Institution mitgeringfugigen Akzentverschiebungen umfunktionalisieren ließen.Das ging auch in die Gegenrichtung; somit konnten Telschow undHahn entlastende Zeugnisse sogar fur Hauptakteure des fruherenForschungsestablishments wie Herbert Backes und KonradMeyer oder Heinrich Horlein von der IG Farben erbringen. InZweifelsfallen wie dem des ,,alten Kampfers‘‘ Werner Hoppen-stedt, zuletzt Leiter eines KWI fur Kulturwissenschaften in Rom,gingen sogar glatte Unwahrheiten durch. Telschow entwarf diePersilscheine selbst, die Hahn und Planck fur ihn einreichten, under brachte es so weit, sich auch sonst als rechte Hand des neuenPrasidenten Hahn derart unentbehrlich zu machen, dass er trotzendlich aufkeimender Vorwurfe wegen seiner fruheren aktivenParteimitgliedschaft im Rahmen einer Landerministerkonferenz1948 im Amt blieb. Es war der Sozialdemokrat Adolf Grimme,der ihn mit dem Hinweis rettete, dass es ein ,,Problem Hahn‘‘gabe, wenn Telschow ginge. Die Landerminister zogen sich mitder gewundenen Formulierung aus der Affare, Telschow sei,,unerwunscht, aber nicht untragbar‘‘ (Bd. 2: S. 1133).

Hachtmann gibt sich sichtlich große Muhe, die beiden obengenannten Darstellungs- und Analyseebenen – Geschichte derWissenschaftsorganisation in Deutschland in der ersten Halfte des20. Jahrhunderts einerseits und die der Generalverwaltung im en-geren Sinne andererseits – miteinander zu verzahnen. Doch bleibtein seltsamer Eindruck der Gespreiztheit zuruck, denn uber langereStrecken der Kontexterarbeitung gerat die Generalverwaltung derKWG aus dem Blick. Durch seinen sehr weiten Horizont wird dasBuch aber auch fur Studien anderer Themengebiete nutzlich sein.

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Hachtmanns sozialgeschichtliche Analyse der Vernetzung wis-senschaftlicher und politischer Akteure sowie viele seiner einzelnenThesen sind grundsatzlich richtig und verfolgenswert. Ob alles dasin dieser Ausfuhrlichkeit fur eine Geschichte der Generalverwal-tung der KWG, die immerhin nie mehr als drei oder vier DutzendAngestellte gehabt hat, wirklich notig gewesen ware, darf jedochbezweifelt werden.

Biologische und biochemische Forschung –und der Fall Adolf Butenandt

Bevor es um die Bande der Reihe geht, die sich den obengenannten, ursprunglich gesetzten thematischen Schwerpunktender Prasidentenkommission zuordnen lassen, seien zunachst zweiBande herausgegriffen, die in verschiedener Hinsicht fur sichstehen. Thematisches Bindeglied der beiden ist das Thema Spit-zenforschung im Nationalsozialismus mit oder ohne offen-kundigem Bezug zu den politischen Kernprojekten des Regimes.

Bernd Gausemeiers Studie Naturliche Ordnung und PolitischeAllianzen der Arbeit im KWI fur Biologie und im KWI fur Bio-chemie vor und nach 1933 ist ein sehr interessanter Versuch, dieklassische Institutions- mit der neuesten praxeologischen Wis-senschaftsgeschichte zu verbinden. In seiner Einleitung zeichnet erdie Forschungsentwicklungen bis 2003 zum Thema Wissenschaftim Nationalsozialismus klar nach5 und argumentiert durchaus zuRecht, dass es nicht mehr ausreichen kann, allein danach zu fragen,ob Wissenschaftler mit dem Regime ideologisch konform gingenoder nicht beziehungsweise ob sich Affinitaten zwischen be-stimmten Forschungsansatzen und NS-Ideologemen nachweisenlassen. Weitaus wichtiger als offentliche Gesinnungsbekundungensind nach Gausemeier, der hier der Tendenz der Forschungder letzten Jahre durchaus folgt, politisch indizierte Wandlungenund Neuzuordnungen oder Neufunktionalisierungen bereitseingeschlagener Forschungsstrategien und Prioritaten. Die Ver-wendung des Terminus Allianzen fur die hierfur notwendigenVerbindungen mit staatlichen und anderen Forderungsinstanzenverweist auf das (leider noch immer nicht ins Deutsche ubersetzte)Werk Bruno Latours Science in Action von 1987. Dessen Akteur-Netzwerk-Ansatz hat fur manches andere im Buch auch Pate ge-standen, ohne dass Gausemeier auf die Aktanten-Ontologie Latours(die im genannten Buch ohnehin keine Rolle spielt) eingehen muss.

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Der klassischen Institutionsgeschichte ist die Analyse der Wendeum 1933 im KWI fur Biologie sowie die Entlassung des Instituts-direktors Carl Neuburg und die Ernennung Adolf Butenandts alsNachfolger gleichwohl zuzuordnen.

Neu ist die Verbindung solcher institutioneller Analysen miteiner Mikrogeschichte der Forschungspraktiken im Sinne des vonHans-Jorg Rheinberger formulierten Begriffs der Experimental-systeme. Gausemeier zeichnet mehrere solcher Mikrogeschichtendetailliert nach, beispielsweise die von Alfred Kuhn geleiteteArbeit an der Mehlmotte Ephestia kuhniella als Modellorganis-mus. Er beschreibt sie als Teil eines breit angelegtenForschungsprogramms zur Erschließung der Rolle hormonalerWirkstoffe in der genetisch gesteuerten Entwicklung von Orga-nismen, das den konzeptionellen Rahmen der Arbeit am KWI furBiologie in den spaten 1930er Jahren abgab. Da dieses Themenfeldfur die Rockefeller-Stiftung von großem Interesse war, wurdeEphestia ,,zu einem eminent politischen Tier‘‘ (S. 101), gerade weildie Arbeit an ihr den Amerikanern politisch unverdachtig zu seinschien. Direktere Verbindungen solcher Forschungsgeschichtenmit der politischen Geschichte kann Gausemeier plastisch nach-vollziehen anhand der strahlungsgenetischen Arbeiten NikolaiTimofeeff-Ressovskys am KWI fur Hirnforschung, wegen ihrervom Forscher selbst behaupteten Relevanz fur die ,,Rassenhy-giene‘‘ und vor allem im Kontext der vielfachen politischenNeupositionierungen der Forschungsprojekte Butenandts imKrieg. Nicht ganz klar ist die Antwort Gausemeiers auf die Frage,wie genau die beiden Geschichten der Experimentalsysteme undder politischen Positionierung allgemein zusammenzudenkensein sollen. Einmal ist von einer Mobilisierung potenzieller (oderbehaupteter) Kriegswichtigkeit als Ressource der reinen Wissen-schaft die Rede, ebenso wird umgekehrt von der reinen Wis-senschaft als Ressource fur den Krieg gesprochen. Ist sogar beidesgeschehen oder etwas grundsatzlich Neues, Unerwartetes entstan-den? Anscheinend sind alle drei dieser Moglichkeiten denkbar,und Beispiele dafur hat es tatsachlich gegeben.

Kurz nach dem Band von Gausemeier erschien der Sammel-band Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. DieEntscheidung, diesmal entgegen der ursprunglichen Ausrichtungdes Projekts biographisch vorzugehen und auch ein einzelnesInstitut in den Blick zu nehmen, war richtig, und zwar nicht alleinwegen der spateren Rolle Butenandts als langjahrigem Prasidentender MPG, die hier kaum zur Sprache kommt. Vielmehr stellt der Fall

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Butenandt ein Musterbeispiel des Agierens von Spitzenforschernder jungeren Generation im Nationalsozialismus dar. Die Alter-native ,,Uberzeugungstater oder Opportunist‘‘ erweist sich hier inder Tat als unzureichend, denn Butenandt wird, grob vereinfachtformuliert, als beides in einem (und mehr noch) dargestellt. Diepolitischen Wege des Forschers in den 1920er Jahren und danachwerden ausgewogen, aber letztendlich konventionell im KapitelTheodor Schieders dargestellt, die Beziehungen Butenandts zuWissenschaftlerinnen im von Wut getragenen Kapitel HelgaSatzingers plastisch geschildert. Zum Forschungsgeschehen unddessen Verbindungen zu Politik und Industrie außern sich ein-leuchtend und solide Gausemeier (zum KWI fur Biochemie imKrieg), Rheinberger (zur Zusammenarbeit Butenandts mit Kuhn)und Jean-Paul Gaudillere (zum ,,Arbeitskreis Butenandt-Schering‘‘).Mitherausgeber Achim Trunk tragt sorgfaltig interpretierteBefunde zur Rolle Butenandts und seines Mitarbeiters GuntherHillmann bei den Versuchen Josef Mengeles in Auschwitz zusam-men. Gerade wegen des kuhlen, abwagenden Tons ist dies einwertvoller Beitrag zu einer ansonsten von Moralisierungen domi-nierten Diskussion. Dass die von Hillmann analysierten Blutprobenals Grundlage einer von Mengele wie vom damaligen Direktor desKWI fur Anthropologie, Otmar von Verschuer, erhofften Rassen-diagnose dienen sollten, durfte inzwischen als belegt gelten. ImAbschnitt zur Nachkriegszeit steuern Sachse und SchuringErganzungen zu weitgehend anderweitig publizierten Befundenbei. Neu hingegen sind die von Paul Weindling vorgenommeneNachzeichnung der wechselnden Sicht der Alliierten auf die RolleButenandts, das Kapitel von Heiko Stoff uber die Reinigungs- undAssoziierungsstrategien Butenandts zwischen 1945 und 1955 undder Beitrag von Jeffrey Lewis uber die KWIs in der franzosischenBesatzungszone und die Auseinandersetzung der Tubinger Institutemit der Gottinger Zentrale. Mit alledem ist im Band ein umfassenderUberblick mit durchweg ausgewogenen Urteilen gelungen. Da vielesauf dem privilegierten Zugang der Kommissionsmitarbeiterinnenund -mitarbeiter zum Butenandt-Nachlass im Archiv der MPGberuht, wird es allerdings schwer moglich sein, in den nachstenJahren hier weiterzukommen.

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,,Rassenforschung‘‘

Nun endlich komme ich zu den drei ursprunglich gesetztenthematischen Schwerpunkten des Projekts. In allen drei Fallenwar die Publikationsstrategie gleich: Zuerst wurde ein Workshopzum Forschungsstand im breitesten Sinne abgehalten und dieErgebnisse wurden in je einem Sammelband der Reihe publiziert,darauf folgte eine eingehende Monographie zum Themengebiet.Gelegentlich kamen andere Einzelstudien hinzu.

Eine schlussige Interpretation der Geschichte der sogenannten,,Rassenforschung‘‘ vor und nach 1933 wird durch die extremeSchwierigkeit, den Terminus selbst zu definieren, nicht erleichtert.In seiner klar geschriebenen Einleitung zum Sammelband Ras-senforschung an Kaiser-Wilhelm-Instituten vor und nach 1933formuliert Hans-Walter Schmuhl dieses Problem in aller Deut-lichkeit. Dabei unterscheidet er nichtdarwinistische oder garantidarwinistische Zugange, die vor allem in der Tradition desRassentheoretikers Gobineau stehen, auf typologischen Differenz-konstrukten beruhen und auf die Erlangung oder Erhaltung derReinheit einer vermeintlich uberlegenen Rasse (,,Systemrasse‘‘)zielen, von entwicklungsbiologischen, meist darwinistischenZugangen, deren Vertreter von Populationen ausgehen und derangeblichen Gefahr einer durch Zivilisierung verursachten Dege-neration eines Volkes beziehungsweise einer ,,Rasse‘‘ mit eugenischenoder ,,rassenhygienischen‘‘ Mitteln entgegentreten wollen. Wichtigist es, diese beiden Denkstile und Traditionen analytisch getrenntzu halten, damit deutlicher wird, dass ihre Vermischung daseigentliche Spezifikum der nationalsozialistischen Rassenhygieneausmacht. Die relevanten Beitrage zum Band zeigen, dass For-schung auf diesem Themenfeld an KWIs hauptsachlich derzweiten, also der darwinistischen Tradition zuzuordnen ist.

Die beiden Kapitel des Bandes, in denen die Arbeit der vonErnst Rudin geleiteten ,,Genealogischen Abteilung‘‘ des KWI furPsychiatrie diskutiert wird, belegen, dass rassistische Forschung insolchen Kontexten moglich war, ohne dass das Wort ,,Rasse‘‘ eineprominente Rolle spielen musste. Die beiden darauf folgendenKapitel von Michael Hagner und Helga Satzinger zur Arbeit vonOskar und Cecilie Vogt am KWI fur Hirnforschung stimmennicht immer miteinander uberein, doch beide weisen auf einenRuckgang der Forschungsarbeiten ab den 1920er Jahren zugunsteneher popularer Publikationen hin sowie darauf, dass das Vokabularder popularen Publikationen Oskar Vogts sich von dem der

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Forschungsarbeiten unterscheidet. Zwei weitere Kapitel befassensich mit dem KWI fur Anthropologie, menschliche Erblehre undEugenik (KWIA) als Zentrum der ,,Rassenforschung‘‘ im Rahmender KWG. Der Beitrag Benoit Massins zur Geschichte des Institutsist inzwischen durch die Monographie von Schmuhl (s. unten)ersetzt worden. Weindling versucht in seinem Beitrag HansNachtsheim, der in den letzten Jahren des KWIA als Abteilungs-leiter gearbeitet hatte, wegen seiner Forschung uber genetischeKrankheiten an Modelltieren anzugreifen. In der Tat war Nachts-heim in ein Forschungsnetzwerk involviert gewesen, in dem einigeMitglieder an eugenischen Mordaktionen beteiligt waren und uberdas er bekanntlich Hirnpraparate von epileptischen Kindern, dieim Rahmen der sogenannten Euthanasie in Brandenburg-Gordenermordet worden waren, fur seine Studie uber epileptische Anfallebei Kaninchen zur Bearbeitung erhalten hatte. Allerdings ist derNachweis bislang ausgeblieben, dass die Kinder deswegenermordet wurden. Von ,,Schuld‘‘ in diesem Fall zu schreiben, wieWeindling es tut, suggeriert, dass er fur eine Art nachtraglicheRechtsprechung sorgen oder als ruckwartsgewandte moralischeInstanz agieren mochte, da weder Nachtsheim noch von Ver-schuer im Nurnberger Arzteprozess angeklagt worden sind. Keinanderer Autor im Band geht so weit, und es ist mir nicht einsichtiggeworden, dass oder warum hier eine solche anklagende Haltungeiner klaren Aufzeigung und Analyse der historischen Tatbestandevorzuziehen ist. Zwei weitere Kapitel von Thomas Potthast uberdie Kategorie ,,Rasse‘‘ in der botanischen und zoologischen For-schung sowie von Kaufmann uber den Kampf gegen dieseKategorie in der Anthropologie durch Franz Boas sind interessantzu lesen, ohne dass ihre direkte Relevanz zum Thema erkennbarwird.

Schmuhls Monographie Grenzuberschreitungen uber dasKWIA – eine langst uberfallige, im Wortsinne erschopfende Auf-arbeitung – stellt eine im Wesentlichen gelungene, wenn auchstreckenweise bemuht wirkende Synthese extensiver Aktenfor-schung mit Befunden der umfangreichen Sekundarliteratur dar. Neuist die von Schmuhl vertretene These einer scharfen Wende zur,,Phanogenetik‘‘ im Forschungsprogramm des Instituts – das heißtzur Frage der Bestimmung der relativen Bedeutung sowie dermoglichen Wechselwirkung erblicher und umweltbedingter Fak-toren auf dem Weg vom Genotyp zum Phanotyp –, die er auf diespaten 1930er Jahre datiert. Sie stellt fur ihn, gemeinsam mit der,,Entgrenzung‘‘ der Kriegsjahre, den Hintergrund zur Verbindung

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nach Auschwitz dar. Fragwurdig bleibt, ob die Arbeiten Mengeleswirklich in diesem Zusammenhang standen. Ein weiteres Problemmit dieser an sich plausiblen These ist, dass Eugen Fischer dasThema ,,Phanogenetik‘‘ in der eben formulierten Bedeutung bereitsAnfang der 1930er Jahre ausfuhrlich erortert hat.6 Der HinweisFischers auf die Bedeutung psychologischer Forschung in diesemKontext stellt auch die konzeptionelle Grundlage der Einrichtungeiner ,,Erbpsychologischen Abteilung‘‘ des KWIA nach der Beru-fung von Verschuers nach Frankfurt bereits 1935 dar, also Jahre vorder von Schmuhl behaupteten Hinwendung zur ,,Phanogenetik‘‘. Sogesehen ware die Grundung der Erbpsychologischen Abteilung alsRessourcenmobilisierung zur Realisierung eines bereits bestehen-den Forschungsprogramms darzustellen. Und somit ware keinescharfe Wende, sondern vielmehr eine inhaltliche Kontinuitat desFischer’schen Forschungsprogramms von der spaten Weimarer zurNS-Zeit zu konstatieren.

In gewisser Hinsicht kann auch Alexander von SchwerinsArbeit Experimentalisierung des Menschen hier eingereiht werden,auch wenn die in diesem Band ausfuhrlich besprochenen ArbeitenNachtsheims nicht als ,,Rassenforschung‘‘ im engeren Sinnezu beschreiben sind. Von Schwerin gelingt in diesem Bandauf vorzugliche Weise die Verbindung der Geschichte eines,,Experimentalsystems‘‘ mit derjenigen der Eugenik. Wie ernachweisen kann, war der eugenische Diskurs in den 1920er Jahrenauch in der Tiergenetik allgegenwartig. Nachtsheim gewann mitMuhe Autoritat unter Kaninchenzuchtern und verwendete dieseals Ressource zur Etablierung eines groß angelegten Forschungs-programms der Saugetiergenetik. Dies verzahnte sich gut mit dergroß angelegten Tierzucht, die von der Notgemeinschaft derdeutschen Wissenschaft in den 1920er Jahren als Grundlage einesForschungsprogramms in Genetik und Physiologie finanziertwurde. Von der industriellen Produktion von Forschungstierenwar es kein großer Sprung zur Idee des Modellorganismus fur dieHumangenetik. Nach einem Karriereknick infolge des Todes vonErwin Baur orientierte sich Nachtsheim ab 1934 in Richtungvergleichender Erbpathologie und somit von der Saugetier- zurHumangenetik um. Epilepsie war ein geschickt gewahltes Themahierfur, denn diese Diagnose stand auf der Liste der Grunde furZwangssterilisierung. Von hier fuhrte der Weg zum Abteilungs-leiter am KWIA 1941.

Dabei war die eben beschriebene Wende zur Phanogenetikebenfalls von Bedeutung. Um eine Medikalisierung der Genetik ging

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es nicht allein, gleichwohl stimmt die These von Schwerins, dass derWeg von hier in den Abgrund des Menschenexperiments fuhrte, undzwar zu den anderweitig bereits vielfach beschriebenen StudienNachtsheims mit Gerhard Ruhenstroth-Bauer uber induzierte epi-leptische Anfalle bei Kaninchen und auch Kindern, von denen einigespater Opfer der sogenannten Euthanasie wurden. In dieser Versionist dies jedoch nicht (oder nicht nur) eine Kriminalgeschichte, denndie Ermordung war nicht Bestandteil des Forschungsdesigns, son-dern nach der Analyse von Schwerins Folge der grundsatzlich offenenEntwicklung eines Experimentalsystems, der wegen der fur dieseJahre charakteristischen Entgrenzung ohnehin keine Schrankengesetzt waren. Inwiefern dieses Forschungsprogramm tatsachlich alsExperimentalsystem im Sinne Rheinbergers beschreibbar ist, musshier offen bleiben. Wie von Schwerin zu Recht betont, handelte essich dabei jedenfalls nicht um ideologisch getriebene Pseudowis-senschaft, sondern um technokratisch orientierte Grundla-genforschung. Gerade deshalb war es Nachtsheim auch moglich,nach 1945 praktisch bruchlos weiterzumachen. Und gerade deshalb –weil dieser Verlauf derart ,,normal‘‘ gewesen ist – musste dasErgebnis der Studie heute nicht verharmlosend, sondern erschut-ternd wirken.

Raum- und Agrarforschung im Zusammenhangmit der NS-Expansions- und Besatzungspolitik

Ursprunglich hieß dieser Schwerpunkt ,,Ost- und Raumfor-schung‘‘, doch scheint die oben stehende Bezeichnung angesichtsder vorliegenden Ergebnisse gegenstandsadaquater zu sein. Auchin den Banden zu diesem Schwerpunkt ist, wie im Falle dereugenisch ausgerichteten ,,Rassenforschung‘‘, von einem Zusam-menhang mit technokratischen Projekten die Rede, die bereits vor1933 in nuce angelegt waren. Im von Heim herausgegebenenSammelband Autarkie und Ostexpansion wird wieder ein großerBogen gezogen, von den Beitragen Jonathan Harwoods zur poli-tischen Okonomie der Pflanzenforschung 1870–1933 und MichaelFlitners uber agrarpolitische ,,Modernisierung‘‘ und Genetik iminternationalen Vergleich zu den auf die NS-Zeit fokussiertenKapiteln Thomas Wielands uber selbst zugeschriebene ,,politischeAufgaben‘‘ der Pflanzenzuchtung und von Irene Stoehr uber denGenerationswechsel zu Konrad Meyer in der Agrar- und Sied-lungspolitik.7 Zwei Grundlinien stellen sich heraus:

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1. Pflanzen beziehungsweise Saatgut als Ressource im inter-nationalen Konkurrenzkampf der fruhen Pflanzengenetik;

2. die Rolle einer agrarpolitischen Machbarkeitsideologie alsKontext der NS-Großraumpolitik.

Neu ist die Arbeit von Uwe Hossfeld und Carl-GustafThernstrom uber ein von Heinz Brucher geleitetes SS-Sammelkommando in Russland und den Versuch des SS-,,Ah-nenerbes‘‘, auf der Grundlage des Erbeuteten ein eigenes Institutauf diesem Gebiet aufzuziehen. Dieser Hinweis ist wichtig als Belegdafur, dass die Reichweite des ,,Ahnenerbes‘‘ nicht auf (skurrile)geisteswissenschaftliche Projekte beschrankt blieb. In weiterenBeitragen werden Einzelergebnisse anderer Projekte dargestellt,beispielsweise uber agrarwissenschaftliche Forschung an griechi-schen und polnischen Instituten wahrend der Besatzung odervon Elvira Scheich uber Elisabeth Schiemann. Die Beitrage vonHachtmann uber die Kategorien der Expansionspolitik derKWG im 2. Weltkrieg und von Schuring uber den Fehlschlag derWiederkehr Max Ufers ans MPI fur Zuchtungsforschung inVoldshagen sind in ihre oben besprochenen Monographien auf-genommen worden. In ihrem eigenen Beitrag, der den Ubertitel,,Forschung fur die Autarkie‘‘ mit dem des Bandes teilt, stellt Heimerste Ergebnisse ihrer Arbeit uber agrarwissenschaftliche For-schung an KWIs vor.

Auf diesem Beitrag aufbauend breitet Heim in einem knappund klar geschriebenen Band eine breite Palette von Verbindungenzwischen Forschungen an KWIs und politischen Kernprojektendes NS-Regimes aus. Im ersten Teil geht es um die Zu-sammenhange des von Herbert Backe entwickelten ParadigmasRaum und Raumplanung mit dem massiven Ressourcenraub derpflanzengenetischen Institute im besetzten Osteuropa, vor allemnach dem Uberfall auf die Sowjetunion. Der Krieg erwies sich hiertatsachlich als Chance fur Politik und Wissenschaft gleichermaßen.Wie Heim zeigen kann, steht eine vergleichbare Machbarkeits-ideologie hinter der Investition in Forschung zur Kautschuk-synthese, die im zweiten Teil des Bandes analysiert wird. Wie imersten Teil bildet die Autarkiepolitik im Nationalsozialismus denRahmen. Zunachst ging es um eine Reduzierung des Imports vonnaturlichem Kautschuk. Zur Losung des Problems mit bioche-mischen Mitteln entstand das von Heim so genannte Kok-Saghys-Netzwerk, an dem mehrere KWIs mit der IG-Farben beteiligtwaren. Im Krieg kam es aber dann zu einer extensiven Politik.Hitler selbst soll das Ziel, 400.000 Hektar Gummipflanzen

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anzubauen, vorgegeben haben. So kam es zu mehreren, miteinanderkonkurrierenden Initiativen, darunter die experimentellen Versucheam KWI fur Zuchtungsforschung. In diesem Kontext behandeltHeim erstmals ausfuhrlich die Arbeit des von Joachim Cesar gelei-teten Pflanzenlabors in Rajsko, auf dem Gelande des Auschwitz-Birkenau-Komplexes, in die Haftlinge zwangsweise einbezogenwurden. Nach der Auffassung Heims scheiterte diese Verbindungvon NS-Großraumpolitik und Technowissenschaft nur deshalb, weilderartige Forschungsprogramme in den Zeittakt einer ,,Erzeugungs-schlacht‘‘ nicht hineinzupressen waren (S. 197).

Im letzten Teil des Bandes behandelt Heim die kontrastie-renden Karrieren von zwei Zuchtungsforschern, Hans Stubbe undKlaus von Rosenstiel, ehemals Kollegen am KWI fur Zuchtungs-forschung. Den gemeinsamen Kontext bildet die Arbeit beiderForscher am Modellorganismus Antirhinum in Verbindung mitder von Nikolai Vavilov entwickelten Theorie der Genzentren.Bereits im Nationalsozialismus gingen sie jedoch verschiedeneWege. Nach einer Denunzierung wegen seiner angeblichen fru-heren Verbindung zur Sozialdemokratie wechselte Stubbe, wie inder Literatur bereits mehrfach geschildert, ins KWI fur Biologie.Fortan betonte er die eugenischen Implikationen seiner Arbeit undseine politische Zuverlassigkeit, ohne der NSDAP beizutreten.Nach einem scharfen Konkurrenzkampf mit seinem ehemaligenChef Wilhelm Rudorf gelang es ihm, mittels Verweis auf die obengenannten raum- und autarkiepolitischen Zusammenhange nochim Krieg zum Direktor eines neuen KWI fur Kulturpflanzenfor-schung in Tuttenhof bei Wien aufzusteigen. Dort wurde nachHeim auch an Biowaffenauftragen des Oberkommandos derWehrmacht gearbeitet.

Rosenstiel dagegen trat der NSDAP und der SS bei und wurdeim Krieg Leiter des Referats Forschung im Reichsministerium furdie besetzten Ostgebiete. Dort organisierte er den Abtransport vonForschungsmaterialien und Forschern aus der Sowjetunion. Spaterubernahm er Leitungsaufgaben an SS-Forschungsinstituten imbesetzten Russland. Ebenso unterschiedlich verliefen die Nach-kriegskarrieren der beiden Pflanzenforscher in den beidendeutschen Staaten: Im Westen wurde Rosenstiel zunachst alsschwarzes Schaf ausgesondert, wahrend Stubbe in der Sowjet-zone und der DDR eine hervorragende Karriere machen konnte.Somit ergibt sich im Ergebnis dieses Bandes vielleichtuberraschenderweise weniger ein Telos zur Vernichtung hin dennein Nebeneinander von ,,Vordenkern der Vernichtung‘‘ wie Backe

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und Meyer einerseits und Profiteuren der NS-Besatzungspolitikwie Stubbe andererseits, der sich weitgehend aus der Vernich-tungsmaschinerie herausgehalten zu haben scheint.

Rüstungsforschung

Auch im von Helmut Maier herausgegebenen SammelbandRustungsforschung im Nationalsozialismus wird der Fokus – indiesem Fall unausweichlich – auf technologisch ausgerichteteWissenschaft gelegt. In seiner Einleitung ubt Maier stringenteKritik unter anderem an alteren Vorstellungen eines ,,Niedergangs‘‘der Rustungsforschung im Nationalsozialismus infolge einerfehlenden zentralen Steuerung und fordert – im vollen Einklangmit der eingangs beschriebenen Wende der neueren Forschung –die Verabschiedung derartiger Top-down-Modelle zugunsten der,,Tauschverhaltnisse‘‘ und der seit der Weimarer Zeit ,,langsteingeubten Kooperationsformen zwischen Militar, Staat, Industrieund Institutionen der Rustungsforschung, in denen Grundla-gen- und Zweckforschung gleichzeitig stattfanden und in Wech-selwirkung zu einander standen‘‘ (S. 13). Die Beitrage des Bandesspannen wiederum einen breiten Bogen von den allgemeinenBetrachtungen Rolf-Dieter Mullers zur Rolle des Militars in derSteuerung der Kriegstechnik und Ulrich Marschs zur Rolle derSyntheseindustrie in der Kriegswirtschaft, zu Fallstudien derRustungsforschung in verschiedenen Industriebranchen bis hin zuStudien Dieter Hoffmanns und Moritz Epples zu den Einzeldiszi-plinen Physik und Aerodynamik und von Maier selbst zur von ihmso genannten ,,Werkstoffideologie‘‘ am KWI fur Metallforschung.Grundlegend fur die Weiterarbeit im Schwerpunkt ist der Nach-weis Epples, dass gerade die Grundlagenforschung am KWI furStromungsforschung kriegsrelevant, weil fur die Entwicklungneuer Waffensysteme notwendig war. In ihrem Kapitel analysiertRuth Federspiel die sogenannte ,,Aktion Osenberg‘‘ – ein in derLiteratur bereits oft besprochener Versuch des damaligen Leitersdes Planungsamtes des RFR im Jahre 1944, Wissenschaftler von derFront zur Arbeit fur die Rustungsforschung zuruckzuholen. NachMaier widersprechen die Erfolge dieser Aktion der These, dass eineAbschottung der Rustungsforschung der Wehrmacht eineBundelung des Forschungspotenzials verhindert habe. Er meintjedoch auch, dass es keinen Beleg dafur gibt, dass die von WernerOsenberg geplante ,,Wehrforschungsgemeinschaft‘‘ zu diesem

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spaten Zeitpunkt eine signifikante Dynamisierung ermoglichthatte. Uberhaupt konstatiert Maier als Fazit des Bandes, dass derstarke Widerspruch zwischen zweifellos vorhandenen rustungs-technologischen Innovationen einerseits und ,,der offenkundigenSchwache der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik undForschungsplanung‘‘ andererseits nach wie vor besteht (S. 28).

Mit der Arbeit von Maier, Forschung als Waffe: Rustungs-forschung in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und das Kaiser-Wilhelm-Institut fur Metallforschung 1900–1945/48, liegt nebender von Hachtmann eine zweite im Wortsinne gewichtigeMonographie der Reihe vor. Auch diese Arbeit tragt einenDoppeltitel, und auch hier ist ein Doppelbuch entstanden. Dies isteine Folge erstens der sehr weiten Auslegung des Begriffs,,Rustungsforschung‘‘, der unter anderem auch allgemeine Metall-und Legierungsforschung einschließt, weil diese die Effizienz auchvon Kriegsgerat verbessern kann, und zweitens des sehr breitenNetzwerkes, innerhalb dessen sich alles abgespielt hat. Der erstewichtige Befund ist schnell genannt: Statt wie im eben be-sprochenen Sammelband von Technikwissenschaften ist hierrichtiger von Technowissenschaft die Rede. Gemeint ist nicht nurein eigener Wissenschaftstyp, sondern auch die dazugehorigenhybriden Institutionen und Organisationsformen, die durch dasAufeinander-Zugehen von Wissenschaft und Militar bereits vordem Ersten Weltkrieg zu entstehen begannen. Hier wie im Bandvon Hachtmann wird die Bedeutung der Kaiser-Wilhelm-Stiftungfur kriegswissenschaftliche Forschung und die der dort ge-schaffenen Netzwerkverbindungen fur den weiteren Verlauf in den1920er Jahren betont. Fur den Nationalsozialismus selbst belegtauch Maier, dass und wie die Weichenstellung in RichtungRustungsforschung nicht erst mit der Verkundung des Vierjah-resplans, sondern bereits 1934/1935 geschehen war. In dieser wieanderer Hinsicht folgt er dem Weg weiter, der von HelmuthTrischler am Beispiel der Luftfahrtforschung und deren fruherVerbindung zum Reichsluftfahrtministerium Hermann Goringsbereits in den 1990er Jahren exemplarisch abgesteckt wurde(Trischler 2000).

Auf alledem aufbauend steht der zweite, innovative BefundMaiers: sein Hinweis auf die zentrale Rolle extensiver Kooperati-onsnetzwerke der ,,mittleren‘‘ Ebene, der vielen Querverbindungenuber die Instanzen und der multiplen Mitgliedschaften, mittelsderer die Entscheidungstrager im Bilde blieben und das Ganzeam Laufen gehalten wurde. Nach Maier waren vor allem die

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Multifunktionare der oberen Mittelinstanz fur eine Organisations-form verantwortlich, die Dynamisierung durch Eigenverant-wortung, Dauerabsprache, flexible Umorientierung und Problem-losungsstrategien forderte. Maier gelingt es, sowohl die vielenWenden der Forschungs- und Rustungspolitik im Gesamtverlaufdes ,,Dritten Reiches‘‘ detailliert nachzuzeichnen als auch dieseinstitutionellen Netzwerkverbindungen buchstablich erschopfenddarzustellen und in Tabellenform zu veranschaulichen. Vielesdavon befindet sich folgerichtig auch im bereits besprochenen Bandvon Hachtmann, der aus der Arbeit Maiers, die ihm im Manuskriptvor der Veroffentlichung vorlag, mehrfach zitiert.

Die Kernfrage, inwiefern diese vielen ineinander verzahntenGremien und deren Sitzungen tatsachlich zur Produktivitat derRustungsforschung im ,,Dritten Reich‘‘ beitrugen, verliert Maiernicht aus dem Auge, auch wenn ein Ubergewicht der institu-tionellen Seite aufgrund der herangezogenen Quellengattungenwohl unvermeidlich ist. Am Wichtigsten aber ist der Nachweis derProduktivitat, mithin des zweifelhaften ,,Erfolgs‘‘ dieses Ungetumsim Teilsystem Wissenschaft. Als Beispiel der Auswirkung dieserOrganisationsform auf die Praxis nennt Maier die vom Direktordes KWI fur Metallforschung Werner Koster geleitete,,Erfahrungsgemeinschaft Zinkzunder‘‘. Die Ergebnisse dieser undanderer Arbeiten macht Maier sogar fur die Hinauszogerung desmilitarischen Niedergangs des ,,Dritten Reichs‘‘ mit verantwort-lich, und sie waren immerhin fur die Alliierten nach 1945 vonInteresse. Das Thema Peenemunde streift Maier nur am Rande,aber das Raketenprojekt erscheint hier als große Ausnahme, weildort alles in einem Haus und nicht mittels aufwendig organisierterGemeinschaftsforschung geschah. Immerhin merkt Maier an,wenngleich nur im Vorwort und gleichsam im Vorbeigehen, dassdas Raketenprodukt auf Peenemunde das eigentliche Groß-waffenprojekt des ,,Dritten Reiches‘‘ und damit das funktionaleAquivalent zum amerikanischen Manhattanprojekt gewesen ist.

Von grundlegender Bedeutung ist die Hinterfragung der ver-meintlichen Trennung von Grundlagenforschung und zweckorien-tierter Forschung, die in den Legendenbildungen und Entlastungs-konstrukten der Akteure in der Nachkriegszeit eine wichtige Rollespielen sollte. Es ist zwar nicht ganz prazise, diese Konstruktionenals ,,Verantwortungsdiskurs‘‘ zu titulieren, wie Maier es tut – ginges doch vielmehr um ein Hinausstehlen aus der Verantwortung,also um einen Entlastungsdiskurs. Doch zeigt Maier hier inaller Deutlichkeit auf, wie irrefuhrend diese dualistische

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Entlastungskonstruktion ist, denn es war moglich und auch notig,Grundfragen der Metallkunde im Kontext der Rustungsforschungzu bearbeiten, weil die Losung grundlegender Probleme fur dieRealisierung der jeweiligen technischen Zielsetzung Voraussetzungwar. Dabei bleibt die Darstellung keineswegs auf Institutions-geschichte beschrankt; die Versuche einer Ideologisierung auchdieser Wissenschaft mithilfe von Formulierungen wie ,,DeutscheMetallforschung‘‘ und die damit einhergehende Behauptung einestypisch deutschen Forschungs- und Entwicklungsstils wird vonMaier gebuhrend betont.

Die Dissertation von Florian Schmaltz Kampfstoff-Forschungim Nationalsozialismus an KWIs bildet in systematischer Hinsichteine Untergroße der Untersuchung Maiers, auch wenn sie vordieser erschien und sicherlich nicht so intendiert war. Denn auchSchmaltz ubernimmt die von der Berliner Gruppe gepragte, sehrweite Definition des Begriffes ,,Rustungsforschung‘‘. Er nimmt je-doch ein anderes Feld und mehrere andere KWIs ins Visier. Wie erzeigt, arbeiteten insgesamt sechs KWIs auf diesem Gebiet, zwei miteigenen Schwerpunkten und vier mit gelegentlicher Auftragsfor-schung. Schmaltz hat Neues in allen Fallen zutage gefordert,vor allem jedoch in Bezug auf die Geschichte des KWI fur physi-kalische Chemie und des KWI fur medizinische Forschung,beispielsweise uber die Entwicklung der Nervengase Tarbun, Sarinund Soman. Dabei holt auch er zuweilen sehr weit aus. Die Vor-geschichte aller Falle wird in voller Lange einbezogen, die Arbeitenin der IG Farben nehmen 80 Seiten, die Menschenexperimente inKZs weitere 40 Seiten in Anspruch, ohne dass ein enger Zusam-menhang zur Arbeit an den genannten KWIs in jedem Fallbestanden hatte. Folglich gerat das Buch eher zu einer Geschichteder Kampfstoffforschung im Nationalsozialismus anhand derKWIs als zu einer Geschichte derselben an ihnen.

Im Ergebnis ergibt sich bei Schmaltz der dem Tenor allerBeitrage der Berliner Gruppe entsprechende Befund, dass auch furdieses Gebiet Kooperationsverhaltnisse – verzwickte Interaktionender KWG beziehungsweise einzelner KWIs mit Industrie undMilitar – von entscheidender Bedeutung waren. Dabei wurdeauch hier sowohl auf hochster und mittlerer Ebene auf bereitsvor 1933 bestehende Netzwerke zuruckgegriffen, weshalb diebereits vorhandene dezentrale Organisationsform trotz Ansatzenzur Zentralisierung solcher Forschungen im Heereswaffenamttendenziell beibehalten werden konnte. Zwei Momente der Dis-kontinuitat arbeitet Schmaltz aber klar heraus. Erstens deutet er die

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oben bereits erwahnte Vertreibung einer hohen Zahl von als,,Juden‘‘ definierten Wissenschaftlern aus den beiden genanntenKWIs als strukturelle Voraussetzung fur die Einrichtung undIntensivierung der Kampfstoffforschung dort. Zweitens stehen lautSchmaltz alle nachweisbaren Involvierungen in kriminelle Men-schenversuche in Verbindung mit Versuchen des SS-,,Ahnener-bes‘‘ oder anderen SS-Instanzen, ab Anfang der 1940er Jahre dieKontrolle zu ubernehmen. Dabei weist er eine Verbindung mitMenschenexperimenten im Fall Richard Kuhns erstmals nach. Diein Kuhns Institut (mit-)entwickelten Nervengase sind zwar imKrieg nicht eingesetzt, aber großtechnisch produziert worden.Somit stellen Nervengase neben der Peenemunde-Rakete eineweitere, zweifelhafte ,,Erfolgsgeschichte‘‘ der Kriegsforschung im,,Dritten Reich‘‘ dar – eine Erblast, die man auf den Homepages derNachfolgeinstitute der KWG, jedenfalls zum Zeitpunkt desErscheinens der Arbeit von Schmaltz, offenbar entweder unter-schlagen hat oder dezent zu umschreiben versuchte.

Im letzten Band der Reihe Gemeinschaftsforschung, Bevoll-machtigte und der Wissenstransfer (der allerdings aus einem schon2003 abgehaltenen Workshop hervorging) greifen Maier undandere Autoren den in der großen Monographie Maiers aucherwahnten, bereits vor der NS-Zeit verwendeten Begriff der,,Gemeinschaftsforschung‘‘ auf. Die These, dass diese Arbeitsformeine Kontinuitat vor und nach 1933 aufweist, wird hier nochmalsreichlich belegt. Insgesamt stellt der Band eine wertvolleErganzung der Monographie Maiers dar, schließlich werden hierFallbeispiele aus den KWIs fur Eisenforschung, atmospharischeForschung, Chemie, Physik, Biophysik und Silikatforschungherangezogen. Zusammen genommen mit weiteren hier zitiertenEinzelstudien werden somit insgesamt 14 der 18 KWIs in denBanden der Reihe besprochen. Hervorgehoben seien die Beitragevon Ruth Sime uber die Arbeiten Otto Hahns am KWI fur Chemie,von Mark Walker zum KWI fur Physik und von Rainer Karlschuber das KWI Biophysik. Sie basieren zum Teil auf neuem Materialaus dem sogenannten Spezialarchiv – einem Teil des Prasidialar-chivs der Russischen Foderation in Moskau, der unter vielemanderen auch Akten aus dem nationalsozialistischen Deutschlandenthalt. Die Beitrage uber einzelne Institute werden umrahmt vonzwei Kapiteln von Hachtmann, eines uber die Rolle der General-verwaltung und eine tabellenreiche Studie zur Budgetentwicklungder KWG und ihrer Institute von 1911 bis 1945. Letztere belegt dierasante Expansion der finanziellen Ressourcen der KWG im Krieg.

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Zum Verhältnis vergangenheitspolitischerund wissenschaftshistorischer Reflexion

Vor allem zwei Bande der Reihe sind unter dieser Rubrik zunennen: der als Gedenkbuch bezeichnete, von Rurup unterMitarbeit von Schuring verfasste Band uber die Schicksale undKarrieren der vertriebenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen anKWIs, der als einer der letzten Titel der Reihe erschienen ist, undder von Sachse herausgegebene Tagungsband uber die Verbindungnach Auschwitz.

Wie Schuring in seiner oben besprochenen MonographieMinervas verstoßene Kinder aufgrund extensiver Recherchengezeigt hat – und wie fruhere Arbeiten von Macrakis und UteDeichmann im Ansatz bereits angedeutet hatten –, waren dieInstitute der KWG von der Vertreibung nach 1933 in sehrunterschiedlichem Ausmaß betroffen (Macrakis 1993: 207f.,Deichmann 1992: Kap. 1, 2001: Kap. 3). Im Kontext des Projekts zurGeschichte der KWG wird dieser Befund von Schuring, Hacht-mann und anderen durchaus zu Recht als Indiz der Offenheiteinzelner Disziplinen, Institute oder Institutsdirektoren fur einmeritokratisches Rekrutierungsprinzip vor 1933 betrachtet. Furdie Betroffenen selbst hingegen ist der Verlust in vielerlei Hinsichtunbestreitbar – eben nicht nur als Verlust eines Arbeitsplatzesund damit eines wissenschaftlichen Arbeitszusammenhangs, andem die Betroffenen auch emotional hingen, sondern auch als fursie kaum verstandliche Absprechung der Zugehorigkeit zurdeutschen Kultur wie als personlicher Verlust im engsten Sinne.Deshalb ist das Gedenken an begangenes Unrecht unbedingtnotwendig. Rurup, als Historiker der Juden in Deutschlandseit Jahrzehnten bekannt, ist wie kaum ein anderer pradestiniert,die Arbeit dieser Kompilation auf sich zu nehmen. Hier werdenbiographische Details aus vielen disparaten Quellen zusammen-getragen, ohne Anspruch darauf, eine weitergehende These zuihrer Bedeutung im Gesamtzusammenhang vertreten zu wollen.Das Buch wird nicht umsonst als Gedenkbuch tituliert, wird abersicherlich als wertvolles Nachschlagewerk zur Verwendungkommen.

Der von Sachse betreute Sammelband ist ein Zwitter, wie dieTagung selbst, aus der er hervorgegangen ist. Er verbindet Beitragevon Gerhard Baader und Rolf Winau zur Geschichte derMenschenexperimente im Allgemeinen, von Gausemeier undMassin zu Verbindungen mehrerer KWIs nach Auschwitz und der

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Gedankenwelt dahinter mit Statements der – inzwischen gutorganisierten – Opfer als Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sowie desdamaligen Prasidenten der MPG, Hubert Markl. Eine Auswahl derim Kontext der Tagung publizierten Presseberichte rundet dasGanze ab. Die Tagung – genauer: die Frage, ob der Prasident eineformale Entschuldigung fur die furchtbaren Taten von Wis-senschaftlern an KWIs beziehungsweise in Verbindungen mitdiesen abgeben wurde – hatte erheblichen medialen Wirbel auf-geworfen. Markls Antwort stand bereits im Titel seines Beitrags:Da den jetzigen Akteuren keine personliche Schuld zukomme undeine Institution als Rechtsperson sich eigentlich nicht entschuldi-gen konne, sei ,,die beste Entschuldigung eine Offenlegung derSchuld‘‘. Sein kurz danach vorgetragenes Pladoyer fur eine teilweiseLockerung der Begrenzungen humangenetischer Forschung inDeutschland hatte zeitweise den Verdacht entstehen lassen, dieTagung sei als eine Alibiveranstaltung und als Begleitmusik furdiese Stellungnahme intendiert gewesen. Nachdem einige Jahreverflossen sind, steht die damalige Erregung vielleicht weniger imVordergrund, weshalb nach dem Verhaltnis der verschiedenenBeitrage im Band zueinander naher gefragt werden kann. DasErgebnis ist ein Nebeneinander. Es gibt kein Indiz dafur, dass dieBetroffenen trotz ihres bekundeten Respekts fur die Muhe derWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler irgendein Interesse furdie Ergebnisse der historischen Forschung hatten, und es bleibtunklar, wie die Erinnerungen der Betroffenen ihrerseits – imGegensatz zu den von Weindling mustergultig aufgearbeitetenAussagen der Verfolgten nach 1945 – Eingang in die Historiefinden konnen. Anscheinend handelt es sich um zwei Denkstile, dievon zwei grundlegend verschiedenen Interessen getragen sind,deren Vermischung zur Klarheit in der Sache wenig beitragt.Moglicherweise ist dieses Resultat als Indiz fur die Schwierigkeitdieser Problematik uberhaupt zu deuten.

Schlussfolgerungen

Aus diesen Tausenden gedruckten Seiten so etwas wie ein ein-heitliches Ergebnis ableiten zu wollen, muss vermessen erschei-nen. Gleichwohl mochte ich wesentliche Befunde in acht Punktenformulieren, auf deren Basis es moglich sein konnte, eine Antwortauf die eingangs gestellte Frage nach dem Verhaltnis von

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grundlegend neuen Ergebnissen zu Erkenntnissen, die bereitsbestehende Ansatze unterstutzen, zu formulieren.

Erstens wird, wie bereits erwahnt, die Tatsache, dass dieInstitute der KWG von der Vertreibung der als Juden definiertenWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach 1933 in sehrunterschiedlichem Ausmaß betroffen waren, im Kontext desProjekts zu Recht als Indiz der Offenheit einzelner Disziplinen,Institute oder Institutsdirektoren fur ein meritokratisches Rekru-tierungsprinzip vor 1933 betrachtet. Dieser differenzierte Befundist prinzipiell vergleichbar mit den Ergebnissen, die fur die Uni-versitaten und fur verschiedene Disziplinen vorgelegt wordensind.8 Er relativiert pauschale Behauptungen uber einen ,,Verlust‘‘fur die ,,deutsche Wissenschaft‘‘ insgesamt in Verbindung mit derVertreibung der als Juden definierten Wissenschaftler, die zumTeil noch immer im Umlauf sind. Diese altere Sicht mag furZwecke der politischen Bildung heute weiterhin nutzlich er-scheinen, aber sie hatte und hat eine weitere, eher zweifelhaftevergangenheitspolitische Funktion, die langsam selbst eine eigeneHistorisierung verdient. Denn die Vertreibung wird im offent-lichen Diskurs noch immer als wesentlicher Grund fur denrelativen Bedeutungsverlust der Wissenschaften in Deutschlandim 20. Jahrhundert genannt. Wegen des betonten Verweisesdarauf konnte lange Zeit aus dem Blickfeld geraten, welcheWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verblieben und welcheWissenschaft auf welche Weise im Nationalsozialismus nutzbargemacht werden konnte. Die fortgesetzte Wirkung dieserRedeweise lenkt aber auch davon ab, wie Entscheidungen derdeutschen Wissenschaft und Wissenschaftspolitik nach 1945zugunsten der Entlastung und Neuintegration hunderterWissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und der darauf fol-genden Rekonstruierung und Fortsetzung zum Teil sehr alterForschungsprogramme zu einer Selbstprovinzialisierung derForschung beitrugen.

Zweitens wird hier die Vertreibung von als Juden oder als,,politisch Unzuverlassige‘‘ definierten Wissenschaftlerinnen undWissenschaftlern nach 1933, dem neueren Forschungsstand eben-falls entsprechend, nicht allein als Bruch am Anfang des Regimesverdeutlicht – was sie zweifellos auch war –, sondern auch imHinblick auf ihre strukturelle Bedeutung fur die Umgestaltungder Beziehungen von Wissenschaft und Politik im Nationalsozia-lismus. Schuring und Hachtmann zeigen, dass und wie die Vertrei-bungen, die lavierenden Anpassungsleistungen 1933 und die

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Neueinordnung der KWG ins Regime zusammenhingen. Wichtigin diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis von Schmaltz aufden strukturellen Zusammenhang der Vertreibung mit der Kampf-stoffforschung. Demgegenuber stehen zahlreiche Belege einerweitgehenden Kontinuitat nicht nur von institutionellen Strukturen,sondern auch von Forschungsprogrammen. Somit steht die bereitsin den 1990er Jahren gestellte Frage danach, ob ein Verlust vonWissenschaftlern automatisch und immer zu einem Wissen-schaftsverlust fuhre, weiterhin im Raum.

Drittens sind im Hinblick auf die Bedeutung der Struktur desRegimes insgesamt fur die Wissenschaftsorganisation zwei Ebenenzu unterscheiden. Zum Thema Wissenschaftsorganisation heißtPolykratie bei Hachtmann jetzt ,,charismatisch aufgeladene Poly-kratie‘‘, und statt Amterchaos ist nun bei Maier von einerDynamik durch Konkurrenz die Rede. In gewisser Hinsicht ist dieskeine neue Position, sondern eher eine dezidierte Parteinahme furdie seit Jahrzehnten vertretenen Auffassungen Karl-Heinz Lud-wigs und Trischlers, auch wenn Maier mit mehreren einzelnenDarstellungen Ludwigs kritisch umgeht. Doch vor allem dieArbeiten von Hachtmann und Maier wie auch die Beitrage vonSchmuhl und Schmaltz zeigen in uberwaltigendem Detail genau,wie polykratische Herrschaft im wissenschaftspolitischen Bereichfunktionieren konnte, und das ist sicher in diesem Umfang neu.Wichtig ist auch die Relativierung der fruher akzeptierten Theseeiner Wende von der versuchten Ideologisierung mehrererWissenschaften hin zur Kriegsforschung beziehungsweise ,,kriegs-wichtigen‘‘ Forschung in direkter Verbindung mit dem Vierjah-resplan. Vielmehr, wie in einigen Banden der Reihe gezeigt wird,begann diese Umstellung auf der Ebene der Zentrale der KWGsowie in mehreren, wenngleich noch nicht allen Instituten bereits1933/1934, und die Mobilisierung von Forschungsressourcen undWissenschaftlern erreichte eine neue Intensitat nach der Wendeim Kriegsgeschehen um 1943.

Bei alledem hat viertens die Rolle des REM und des Reich-forschungsrates (RFR) eine erhebliche Aufwertung erfahren. Dieneueren Befunde zur Geschichte der KWG – wie auch die kor-respondierenden Ergebnisse aus dem Programm zur Geschichteder DFG – stehen im krassen Gegensatz zur Schilderung NotkerHammersteins9, der ganz im Sinne des alteren apologetischenDiskurses die Schwache des Ministers Rust uberbewertet, diepolykratische Vielfalt der Forderungs- und Kontrollinstanzen alsZeichen der Ineffizienz auslegt und Nischen einer grundsatzlich

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harmlosen Grundlagenforschung ausmachen will. Genauer geht eshierbei um die oben bereits erwahnte ,,Gottinger Clique‘‘ – dieGruppe um Rust, darunter Menzel, Schumann und Thiessen. IhreRolle als Intrigant und Fadenzieher ist zwar auch in der fruherenLiteratur niemals aus dem Blick geraten; ihre zentrale Bedeutungfur die Umstellung der Forschungspolitik auf Kriegsvorbereitungwird in mehreren Banden dieser Reihe deutlich herausgearbeitet,zugleich aber durch den Hinweis auf die ebenfalls entscheidendenRollen anderer Akteure wie Vogler relativiert.

Funftens wird in diesen Banden die Bedeutung des Terminus,,Politisierung‘‘ erheblich erweitert. War mit ihr fruher imWesentlichsten eine Ideologisierung wissenschaftlicher Ansatzegemeint, heißt Politisierung hier, ebenfalls der Tendenz derneueren Forschung entsprechend, die verstarkte Vernetzungverschiedener Interessengruppierungen mit dem Staat – genauer:mit technokratisch orientierten Kraften der NSDAP im Staate –im Sinn einer Mitarbeit an politisch zentralen Projekten desRegimes. Wie bereits seit langerem anhand mehrerer Einzelbei-spiele aus anderen Zusammenhangen bekannt ist, war eineexplizite Ideologisierung der eigenen Wissenschaft oder derEintritt in die Partei hierfur auch im Fall der KWG nicht erfor-derlich – im Gegenteil, gerade die ,,Ideologisierer‘‘ wie JohannesStarck standen in der Wahrnehmung der am Ende entscheidendenAkteure eher im Weg. Dass es sich bei diesen Allianzen umGeschafte auf Gegenseitigkeit gehandelt hat, ist nun uberdeutlichgeworden. Somit kommt aber eine zweite Bedeutungserweiterungdes Terminus ,,Politisierung‘‘ zum Vorschein, namlich auf dieinnerwissenschaftlichen Machtverhaltnisse. Hier sind nachLekture der Bande dieser Reihe drei Ebenen zu unterscheiden:

1. die verschiedenen obersten Gremien um die Generalverwal-tung der KWG, insbesondere der Senat und der Verwal-tungsrat, deren Besetzung vor und nach 1933 so organisiertwar, dass die KWG, wie Hachtmann es schon formuliert,,,mit sich selbst‘‘ verhandelt;

2. das Verhaltnis der Zentrale mit den Institutsleitungen,das von einem standigen Wechselspiel der Zieh- undFliehkrafte charakterisiert war;

3. die schon seit Beginn der KWG gesicherte Ubermacht derInstitutsdirektoren im jeweils eigenen Hause.

So gesehen gewinnt sechstens die Rede einer ,,Autonomie‘‘ derWissenschaft in der Diktatur ebenfalls eine veranderte Bedeutung.Wie bereits betont wurde, ist die Frage, ob sogenannte Freiraume

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fur Wissenschaftler bestanden, weniger wichtig geworden als dieFrage danach, wie und wofur solche Handlungsspielraume erlangtoder zugestanden wurden. Die Bande der Reihe erbringen zahl-reiche Belege der Einbindung von KWIs und ihrer Forschungs-programme in zentrale politische Projekte des NS-Regimes. Erst indiesem Zusammenhang stellt sich die eigentliche Bedeutung dervielfach auch im NS abgegebenen Bekenntnisse zur Freiheit derForschung. Nach den unterschiedenen Ebenen durchdekliniert,bedeutete diese vor allem die ,,Freiheit‘‘ der KWG-Zentrale undauch der Institutsdirektoren, das jeweils eigene Haus so zubestellen, dass potenziell Nutzliches fur das Regime entsteht.

Siebtens sind zur Rolle der Geisteswissenschaften imNationalsozialismus aufgrund dieser Bande nur sehr bedingtAussagen moglich. Nur ein Band der Reihe, das hier aus Platz-grunden nicht weiter besprochene Buch von Rolf-Ulrich Kunzeuber Ernst Rabel und das KWI fur offentliches Recht und Pri-vatrecht, behandelt eine Nicht-Naturwissenschaft. Entgegen einerallein gesinnungsbetonten Auffassung der Rolle dieser Disziplinenbelegen Kunze wie auch Hachtmann in Teilen ihrer Arbeit, dasssolche Disziplinen sehr wohl auch fur praktische politische Arbeitvor und nach 1933 funktionalisiert werden konnten. So zeigtHachtmann zum Beispiel, dass das eben genannte KWI sich derMitarbeit im Kampf gegen den Versailler Vertrag als Aufgabeschon Anfang der 1920er Jahre verschrieb. Als ,,einzige Partei-buchkarriere‘‘ im Kontext der KWG im Nationalsozialismusschildert Hachtmann die Ernennung des ,,alten Kampfers‘‘ undbegeisterten Mussolini-Anhangers Hoppenstedt zum stellvertre-tenden Direktor der Bibliotheca Hertziana in Rom. Dort betrieber mit Erfolg die Begrundung eines eigenen KWIs fur Kulturwis-senschaften, dessen Zweck die Verstarkung der kulturellenBeziehungen zwischen den beiden Diktaturen war. Parallelenzwischen der ,,Gemeinschaftsforschung‘‘ im Bereich der Rus-tungstechnik und Gemeinschaftsprojekten im geisteswissen-schaftlichen Bereich, wie sie von Frank-Rutger Hausmann (2007[1999]) beschrieben worden sind, sind hier leider kaum thema-tisiert. Sie waren eine nahere Analyse durchaus wert. Allerdingswidersprechen die Ergebnisse dieser Literatur wie auch andererArbeiten uber die Funktionalisierung von Expertenwissen aus denSozialwissenschaften im Nationalsozialismus der AuffassungHachtmanns, dass die Geistes- und Sozialwissenschaften imRegime vernachlassigt worden seien. Die von ihm selbst erstellte,oben erwahnten Tabelle der Budgetausgaben der KWIs belegt fur

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die wenigen geisteswissenschaftlichen KWG-Einrichtungen eineNettoexpansion ihrer finanziellen Ressourcen im Krieg (bis 1944).Der explosive Mittelzuwachs der natur- und technikwissen-schaftlichen Institute zu jener Zeit berechtigt also nicht zumUmkehrschluss einer ,,Stagnation‘‘ der Geisteswissenschaften.

Achtens wird zur Vergangenheitspolitik der MPG nach 1945 imAllgemeinen ein zu erwartendes Bild nachgezeichnet. Weniger,,Verdrangung‘‘ im psychoanalytischen Sinn ist hier festzustellen,sondern eher die bewusste Unterlassung einer reflektiertenBetrachtung der Kollaborationsverhaltnisse, zunachst unter demDruck alliierter Verhore. Selbst ein Nobelpreistrager und Nicht-parteimitglied wie Kuhn benimmt sich hier nach Schmaltz wie jederAngeklagte, der nur so viel preisgibt, was ihm nachgewiesen werdenkann. Danach, aber nicht allein deswegen, begann eine zunehmendgezielte diskursive wie institutionelle Neuzuordnung im Kontextder entstehenden Bundesrepublik und deren anders gelagertenInteressen, die sich allerdings mit den seit langem bestehendenstrukturellen Machtinteressen und der konservativen Gesinnungder Institutsdirektoren sehr gut verzahnten. Allerdings lassen diehier veroffentlichten eingehenden Aktenforschungen bislang nichtso deutlich gesehene Komplizierungen und Ambivalenzen zutagetreten. So wird jetzt beispielsweise sichtbar, dass und wie erst imVerlauf der zehn Jahre nach 1945 der apologetische vergangen-heitspolitische Diskurs in Bezug auf die Rolle insbesondere derNaturwissenschaften im Nationalsozialismus Konturen angenom-men und sich verhartet hat, der sich dann bis in die 1980er oder garin die 1990er Jahre halten konnte und gegen den die jungeren For-scher dieses Projekts noch immer zu polemisieren fur notig halten.Vielleicht wird diese vergangenheitspolitisch orientierte Haltungbegreifbarer – wenn keinesfalls verzeihlicher! –, wenn man nichtnur den mittlerweile erreichten Stand der Forschung bedenkt,sondern sich auch vor Augen fuhrt, wie wenig davon in den Kreisender heute arbeitenden Vertreterinnen und Vertreter der Natur-,Technik- und Medizinwissenschaft bekannt ist. Immerhin stelleninsbesondere die Bande Schurings, Hachtmanns und Maiers indieser Reihe wichtige Beitrage zu einer Entstehungsgeschichtedieses lange dominanten vergangenheitspolitischen Diskurses dar,die noch zu schreiben ist.

Somit ist als Fazit festzuhalten: Die eingangs kurzbeschriebene Umwalzung grundlegender Kategorien, die sich alsKonsens der Wissenschaftsgeschichte zum Nationalsozialismusseit den 1980er Jahren herauszubilden und seit den 1990er Jahren zuverfestigen begonnen hat – etwa das interaktive Verstandnis von

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Wissenschaft und Politik als beiderseitige Ressourcenmobilisierungbeziehungsweise als Geschaft zum gegenseitigen Nutzen, die aktiveSelbstmobilisierung der Wissenschaftler und ihr Zugehen aufInstanzen des Nationalsozialismus bis hin zur Formulierung poli-tischer Ziele durch Wissenschaftler oder Wissenschaftsmanagerwie Meyer, die Infragestellung des vermeintlichen Dualismuszwischen angeblich reiner Grundlagen- und angewandter For-schung im Krieg –, hat in diesen Studien eine eindrucksvolleBestatigung und Vertiefung, aber auch neue Akzentuierungenerfahren.

Wissenschaftsgeschichte und Vergangenheitspolitik

Im ersten Abschnitt dieser Bemerkungen wurde die vergan-genheitspolitische Intention der Arbeit der Prasidentenkom-mission im Sinne einer Neupositionierung der MPG selbstgegenuber der eigenen Vergangenheit kurz besprochen. Ange-sichts der vollig anders gearteten Wissensbedurfnisse der Medienund des von ihnen bedienten oder gegangelten Publikums bleibtunklar, inwiefern derart detaillierte Studien wie die hier be-sprochenen zur vergangenheitspolitischen Reflexion wirklichdienlich sein konnen. Ein großer Teil der Bande dieser Reihe sindohnehin akademische Qualifizierungsarbeiten, die fur ein breitesPublikum nicht gedacht sind oder sein konnen. Ihre oben bereitsmehrfach beklagte Uberlange ist nicht der Projektleitung oder denReihenherausgebern personlich anzulasten, sondern eher alsSymptom einer maßlosen, fast ans Pathologische grenzendenErweiterung der Anspruche an solche Arbeiten (und der Autorenan sich selbst) anzusehen, die seit mehreren Jahren vor allem inden Geisteswissenschaften zu beobachten ist. Es ist kaum zuerwarten, dass Nichtwissenschaftler oder gar Nichthistoriker,geschweige denn die naturwissenschaftlich arbeitenden Mitgliederder relevanten MPIs oder gar die Angestellten des Prasidiums derMPG, die fur die Offentlichkeitsarbeit zustandig sind, diese Bandejemals in die Hand nehmen werden. Somit scheint eher die bloßeExistenz der Reihe als die darin zur Darstellung gelangten Inhalteals vergangenheitspolitisches Faktum relevant und wichtig.Inwieweit es gelingen kann, wenigstens einige bedeutsame Inhaltedieser verdienstvollen Monographienreihe in verbreitungsfahigereMedien zu ubersetzen – oder gar auf der Homepage der betref-fenden MPIs anzubringen –, bleibt noch abzuwarten. Bis dies

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geschehen ist, wird hier wie in so vielen anderen Fallen wenigerein Dialog als ein Nebeneinander von geschichtswissenschaftli-chen und vergangenheitskulturellen Diskursen zu konstatierensein. Fur diejenigen, die seit Jahrzehnten in diesem Themenfeldmitwirken, mag dieser Befund zwar traurig, aber kaum uberra-schend sein.

Angesichts der von vornherein begrenzten zeitlichen Dauerdes Unternehmens ist eine ernorme Forschungsleistung zustandegekommen, doch konnte eine Gesamtdarstellung der Geschichteder KWG im Nationalsozialismus nicht zu erwarten sein. Diebereits oben erwahnte Tatsache, dass zugunsten eines themati-schen Zugriffs von einer monographischen Behandlung einzelnerKWIs mit einigen Ausnahmen abgesehen wurde, lasst die Frageoffen, inwieweit diese Befunde fur andere Institute stimmen. Somitbleibt also mehr als genug Weiterarbeit auf diesem Themenfeld.Wie oben in Bezug auf den Fall Butenandt bereits angemerktwurde, wird es allerdings in einer Hinsicht schwer moglich sein, inden nachsten Jahren weiterzukommen, denn viele Ergebnisse derKommissionsarbeit beruhen auf einem Zugang zu sonst gesperr-ten Akten im Archiv der MPG. Gleichwohl kann und soll eineuberaus positive Bilanz festgehalten werden. Vor allem durch dieBande der Reihe zur allgemeinen Geschichte der KWG ist dieRolle eines der Hauptakteure der deutschen Wissenschaft imDritten Reich wie in der ersten Halfte des 20. Jahrhundertsuberhaupt nun weitaus besser bekannt als je zuvor. Auch einigeder weiteren Bande dieser Reihe haben bereits uber die engereBetrachtung der Geschichte der KWG hinaus Bedeutung erlangt.

Bezieht man die vorliegenden Ergebnisse der Veroffentli-chungsreihe zur Geschichte der DFG mit ein, insbesondere die2008 erschienene, in einigen der vorliegenden Bande im Vorfeldbereits zitierte Arbeit von Soren Flachowsky zur Geschichte derNotgemeinschaft und des RFR (Flachowsky 2008), so steht nunauch ein zweiter institutioneller Akteur als weitgehend, wenn-gleich keinesfalls vollstandig bearbeitet da. Uber einige weitereprominente außeruniversitare Forschungsinstitutionen wie das,,SS-Ahnenerbe‘‘ oder das ,,Reichsinstitut fur die Geschichte desneuen Deutschlands‘‘ liegen zum Teil seit langem fundierteArbeiten vor. Neuerdings sind Studien zur damals so genannten,,Gegnerforschung‘‘ – wissenschaftliche Forschung in politischerAbsicht uber Gruppen, die im Nationalsozialismus als Feindeauserkoren wurden, insbesondere, aber nicht nur die Juden –hinzugekommen (Rupnow 2006). Im Vergleich hierzu hat die

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universitare Seite der NS-Wissenschaftsgeschichte trotz einerReihe beachtlicher Leistungen in Einzelfallen jetzt Betrachtlichesnachzuvollziehen und zu berucksichtigen. So fragt sich beispiels-weise, inwiefern sich eine traditionelle Fachgeschichtsschreibungangesichts der nun nachgewiesenen Bedeutung der ,,Gemein-schaftsforschung‘‘ sowohl in den Natur- und Technik- wie auch inden Geisteswissenschaften uberhaupt noch halten lasst.

Mitteilung der Redaktion

Dieser Beitrag uberschreitet deutlich die ubliche Lange einer Sammelrezension.Die Redaktion hat sich entschieden, ihn dennoch ungekurzt zu veroffentlichen,da wir der Meinung sind, dass die Beitrage des Forschungsprogramms, uber dashier berichtet wird, nicht nur den Wissensstand zum Thema entscheidendbereichert haben, sondern auch Maßstabe fur kunftige Forschungen zur Wis-senschaftsgeschichte des Nationalsozialismus setzen.

Anmerkungen

1 Neben diesen Banden sei insbesondere auf Darstellungen der Ergebnissedes Programms in englischer Sprache hingewiesen: Sachse/Walker 2005,Beitrage von Richard Beyler, Michael Schuring u. a. in Minerva, 44 (2006),Heft 3, Heim/Sachse/Walker (2009).

2 Fur zusammenfassende Uberblicke vgl. u. a. Harwood 1997, Szolloszi-Janze 2001.

3 URL: http://www.mpiwg-berlin.de/KWG/commission.htm [zugegriffen am 1.Juni 2009].

4 Hierzu s. zusammenfassend Karlsch 2005.5 Eine Ausnahme sei hier in eigener Sache am Rande vermerkt: Auf S. 31

bespricht Gausemeier einen Text von mir mit dem inzwischen vielzitiertenTitel ,,Wissenschaft und Politik als Ressourcen fur einander‘‘ (Ash 2002).Dabei behauptet er, dass der dort umrissene Ansatz den Ressourcenbegriffauf seine okonomische Bedeutung einenge. Das genaue Gegenteil ist aberder Fall – geht es doch um eine Ausweitung des Begriffes auf Personal,Ideen und Praktiken. Meiner Meinung nach stellt Gausemeiers Arbeit inWirklichkeit eine starke und willkommene Stutze des von mir damalsprogrammatisch formulierten Ansatzes dar.

6 S. Fischer 1931. Diese Arbeit hat Schmuhl in seine Bibliographieaufgenommen, aber nicht eigens besprochen.

7 Vgl. auch Heinemann 2006.8 S. Gruttner/Kinas 2007; zum allgemeinen Befund unter Einbeziehung der

KWIs vgl. Ash 2000 und die dort zitierte Literatur.9 S. Hammerstein 1999. Naturlich hindert die grundsatzliche Kritik an

diesem Band die Autoren der Reihe nicht daran, aus ihm an passendenStellen zu zitieren.

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