Exegese Mk 10,13-16 - uni-wuppertal.de · soll, gilt es nun, diesen Urtext ins Deutsche zu...
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Bergische Universität – Gesamthochschule Wuppertal
Fachbereich 2
WS 2001/2002
Dozent: Prof. Dr. Kurt Erlemann
Proseminar: Einführung in die exegetischen Methoden
Exegese über:
Die Segnung der Kinder, Mk 10,13-16
Vorgelegt von:
Carolin Ortega Blanco
(Adresse) XXXXXX
XXXXXXXXXXXX
Studiengang: Lehramt S I+II
2
Inhaltsverzeichnis
Seite
1. Einleitung
3
2. Textsicherung
2.1 Abgrenzung der Perikope
2.2 Textkritik
2.3 Übersetzung
4
4
5
8
3. Strukturanalyse
3.1 Textlinguistische Betrachtungen
3.2 Formkritik
3.3 Zwischenfazit
10
10
14
15
4. Analyse des innovativen Potentials
4.1 Synoptischer Vergleich
4.2 Vergleich mit Texten aus dem Johannes- und Thomas-
evangelium
4.3 Traditionsgeschichte und religionsgeschichtlicher Vergleich
4.4 Zwischenfazit
17
17
20
22
25
5. Die Frage nach der Wirkabsicht
5.1 Kompositions- und Redaktionskritik
5.2 Soziologische Fragen
5.3 Wirkungsgeschichte
26
26
28
29
6. Ergebnissicherung und Fazit
30
7. Literaturverzeichnis 32
3
1. Einleitung
Der vorliegende Text von der Segnung der Kinder nach Mk 10,13-16 ist
wahrscheinlich eine der bekanntesten Passagen des Neuen Testaments.
Besonders Vers 14b „Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht“
wird oft als Zitat gebraucht bzw. auch missbraucht, denn nur selten wird er in
dem ursprünglichen Sinn und Umstand verwendet, in dem der Satz von Jesus
gesagt war. Gerade der ursprüngliche Sinn der Perikope soll aber unter anderem
Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, die zum Proseminar „Einführung in
die exegetischen Methoden“ verfasst wurde.
Aus Gottesdiensten, vor allem aus der Taufliturgie, ist der Text wohl fast jedem
bekannt. Meinem eigenen Vorverständnis nach geht es in der Passage darum,
dass Kinder den erwachsenen Menschen in Bezug auf das Heil und den Eintritt
in das Reich Gottes gleichgestellt sind. Obwohl Kinder noch keine Verdienste
vorweisen können (sie andererseits aber auch noch nicht schuldig geworden sind
– dieser Aspekt wird allerdings außenvorgelassen), sind Erwachsene ihnen nicht
überlegen, da diese das Reich Gottes falsch aufzunehmen scheinen: Sie messen
ihr Heil an ihren Verdiensten und guten Taten. Kinder hingegen sind
anspruchslos und können sich deshalb auch mit dem Reich Gottes beschenken
lassen. Auch in der Wirkungs- und Auslegungsgeschichte, besonders bei der
Untersuchung von V 15, wurden immer wieder typisch kindliche Eigenschaften
wie „Unschuld, Demut, sündlose Reinheit, unreflektierte Naivität u.ä.m.”1
aufgelistet. Im Folgenden wird zu erörtern sein, ob mein Vorverständnis durch
die genauere Arbeit am Text bestätigt oder widerlegt werden wird.
Seit dem Mittelalter ist die Perikope ein fester Bestandteil der Taufliturgie2. Ob
diese Ausdehnung des Textes von einer Segnung der Kinder zu einem Text
anlässlich einer Kindstaufe gerechtfertigt ist, wird bis heute kontrovers
diskutiert. Diese Frage soll auch in dieser Arbeit berücksichtigt werden.
1 Lachmann, TRE Kind, S.157. 2 Ebd., S. 156.
4
2. Textsicherung
Um einen neutestamentlichen Text auslegen zu können, ist es zunächst
erforderlich, den Text genau zu umreißen. In einem ersten Schritt wird die
Perikope von ihrer Umgebung eindeutig abgegrenzt. In einem zweiten Schritt
geht es darum, eine möglichst ursprüngliche Gestalt des griechischen Textes zu
finden. Zuletzt wird dieser ursprüngliche Text sinngemäß und wortgenau ins
Deutsche übersetzt.
2.1 Abgrenzung der Perikope
Der Beginn der Perikope ist durch einen deutlichen Themenwechsel
gekennzeichnet. Während in V12 von Ehescheidung und Ehebruch die Rede ist –
kaˆ ™¦n aÙt¾ ¢polÚsasa tÕn ¥ndra aÙtÁς gam»sh ¥llon moic©tai –, geht
es nun ab Vers 13 mit paid…a um ein ganz neues Motiv, nämlich um Kinder.
Einige unterschiedliche Auffassungen gibt es über den Ort des Geschehens, da
die Verse 10-12 in einem Haus stattfinden, die vorliegende Szenerie aber wohl
im Freien stattgefunden hat und sich somit von der Situation der vorangehenden
Perikope abgrenzt. Zu Beginn von Kapitel 10 wird der Rahmen hergestellt: kaˆ
sumporeÚontai p£lin Ôcloi prÕς aÙtÒn, kaˆ æς e„èqei p£lin ™d…dasken
aÙtoÚς. Die Szene ist also eine jener typischen Situationen, in denen Jesus eine
große Volksmenge belehrt.
Ein weiteres Indiz dafür, dass die in den VV 13-16 beschriebene Situation an die
ersten Verse von Kapitel 10 anknüpft, ist, dass die Leute, die die Kinder zu Jesus
bringen, nicht näher beschrieben werden, wenn erzählt wird kaˆ prosšferon
aÙtù paid…a. Der Leser weiß nicht genau, wer die Kinder zu Jesus brachte. Es
liegt also nahe, dass es sich hierbei genau um die Menschen handelt, die Jesus
zuvor zugehört haben und deshalb nicht erneut Erwähnung finden müssen. Die
Perikope grenzt sich also lediglich durch eine Veränderung des Hauptthemas von
den vorangehenden Versen ab.
Von der nachfolgenden Erzählung hebt sich die Perikope von der Kindersegnung
noch deutlicher ab, denn in Vers 16 wird sie mit den Worten kateulÒgei tiqeˆς
5
t¦ς ce‹raς ™p' aÙt£ durch die Segnung abgeschlossen. Bis heute hat eine
Segnung die Funktion eines Abschlusses bzw. eines Abschiedes, so auch
beispielsweise der Segen am Ende eines Gottesdienstes. Weiterhin tritt in Vers
17 ein Ortswechsel ein: Jesus macht sich auf den Weg und verlässt somit den Ort
seiner Lehre.
2.2 Textkritik
Nachdem der Textumfang – Mk 10,13-16 – genau umrissen wurde, stellt sich die
Frage nach der zuverlässigsten Textgestalt. Hierzu versucht man, die
ursprünglichste Variante des griechischen Textes zu finden. Diese
herauszuarbeiten, ist Aufgabe der Textkritik. Die Grundlage für die folgenden
Untersuchungen wird das „Novum Testamentum Graece“ von E. Nestle und K.
Aland in der 27. Auflage mit dem darin enthaltenen kritischen Apparat sein.
Mit Hilfe dieses Apparates lassen sich Handschriften feststellen, die eine
abweichende Lesart zum Haupttext des Novum Testamentum Graece3 bieten.
Die Frage, die sich dann stellt, lautet: Wie zuverlässig sind die Zeugen der
unterschiedlichen Lesarten?
Solche Abweichungen werden nun untersucht werden.
Vers 13
In diesem Vers gibt es zwei strittige Stellen. Im ersten Teilsatz handelt es sich
um die Worte aÙtîn ¤yhtai. Im NTG sind sie in dieser Reihenfolge
abgedruckt. Diese Lesart wird von den Unziale-Handschriften 01 א – Codex
Sinaiticus (4. Jh., Kat4.1), B 03 – Codex Vaticanus (4. Jh., Kat.1), C 04 – Codex
Ephraemi rescriptus (5. Jh., Kat. 2), L 019 – Codex Regius (8. Jh., Kat.2), D 037
– Codex Sangallensis (9. Jh., Kat. 3), Q 038 – Codex Coridethianus (9. Jh., Kat.
2), Y 044 – Codex Athous Laurensis (9./10. Jh., Kat. 3), den Minuskeln 579 (13.
Jh., Kat. 2), 892 (9. Jh., Kat. 2), 1241 (12. Jh., Kat. 3), 1424 (9./10. Jh., Kat. 3),
2427 (14. Jh., Kat. 1), ferner von Lektionar l 844 pc (wenige), der altlateinischen
3 Im Folgenden mit NTG abgekürzt. 4 Kategorien nach Aland/Aland, Der Text des Neuen Testaments, S. 117ff.
6
Handschrift f – Vetus Latina Brixianus sowie dem Kirchenvater Basilius
Caesariensis (4. Jh.) bestätigt.
Aus dem Apparat lässt sich des Weiteren entnehmen, dass einige Handschriften
genau die umgedrehte Lesart ¤yhtai aÙtîn bezeugen. Diese sind die Unzialen
A 02 – Codex Alexandrinus (5. Jh., Kat. 3), D 05 – Codex Bezae Cantabrigiensis
(5./6. Jh., Kat. 4), W 032 – Codex Freerianus (5. Jh., Kat. 3), die
Minuskelfamilien ƒ1-Ferrargruppe, die die Minuskeln 1, 118, 131, 209, 1582,
u.a. enthält (Kat. 3) und ƒ13-Lakegruppe, die 13, 69, 124, 174, 230, 346, 543,
788, 826, 828, 983, 1689, 1709, u.a. enthält (Kat. 3), außerdem der Mehrheitstext
und Kirchenvater Origenes (3. Jh.).
Eine Entscheidung für die Nestle-Aland-Variante ist hieraufhin sehr eindeutig.
Die großen und bedeutenden Codizes Sinaiticus und Vaticanus bezeugen diese
Lesart, ebenso vor allem alexandrinisch und westlich orientierte Textzeugen,
während die zweite Variante vor allem von byzantinischen Texten bezeugt wird.
Weiterhin macht der Blick auf die Kategorien deutlich, dass die Zeugen der
zweiten Lesart weniger bedeutend sind als die der Ersten. Nicht zuletzt ändert
die Wortstellung den Sinn des ersten Satzes nicht, so dass meines Erachtens hier
klar die NTG-Variante zu bevorzugen ist.
Am Schluss von Vers 13 findet man eine weitere Ungleichmäßigkeit. Die NTG-
Lesart ™pet…mhsan aÙto‹j wird von 01 א, B 03, C 04, L 019, Δ 037, Ψ 044,
579, 892, 2427 pc (und wenige andere), c – Vetus Latina Colbertinus, k – Vetus
Latina Bobiensis (beides altlateinische Handschriften), darüber hinaus von
sahidischen Einzelhandschriften und der bohairischen Überlieferung bezeugt.
Dagegen setzen einige Zeugen anstelle des aÙto‹j eine Partizipialkonstruktion
und eine nähere Bestimmung dieser Leute, nämlich ™petimîn toˆj
prosferoàsin. Die Zeugen sind A02, D 05, W 032, Θ 038 (leicht abweichend),
ƒ1 und ƒ13 (ebenfalls leicht abweichend), der Mehrheitstext, altlateinische und
Vulgata-Handschriften, die syrische Überlieferung und Basilius Caesariensis.
Hierbei ist auffällig, dass die Zeugen, die die Variante zu Nestle präsentieren,
größtenteils dieselben sind, wie die zu Vers 13a Aufgelisteten. Da die Qualität
der Textzeugen ähnlich der Obigen ist, fällt auch meine Bewertung nach den
äußeren Kriterien genau wie im ersten Fall aus. Eine Entscheidung gegen die
zweite Lesart ist auch nach der Theorie der lectio brevior zu treffen, die besagt,
7
dass oftmals die kürzere Variante auch die Ältere ist. Wahrscheinlich ist toˆj
prosferoàsin nachträglich eingesetzt worden, um den Lesern deutlich zu
machen, an wen sich die Jünger wenden.
In Vers 13 halte ich den Nestle-Aland-Text für ursprünglicher als seine
Varianten.
Vers 14
Hier gibt es verschiedene Lesarten bei der Stelle kaˆ e„pen aÙto‹ς. Einige
Zeugen fügen dazu noch ™pitim»saς ein. Aus zwei Gründen kann man aber
davon ausgehen, dass die im Nestle-Aland-Text abgedruckte Version die
Ursprünglichere ist: Zum einen sind die Zeugen nicht sehr bedeutend: W 032, Q
038, ƒ1, ƒ13, 28 (11. Jh., Kat. 3), 565 (9. Jh., Kat. 3), 2542 (13. Jh., Kat. 3), pc,
Sinai-Syrer und eine Randlesart in der Bearbeitung des syrischen Textes durch
Thomas von Harkel. Zum anderen gilt bei Einfügungen jeglicher Art meist die
bereits erwähnte Faustregel lectio brevior.
Vers 15
Im textkritischen Apparat werden keine Varianten aufgeführt. Deshalb ist
wahrscheinlich zu diesem Vers keine erwähnenswerte alternative Lesart bekannt.
Vers 16
Hier sind zu einer Stelle drei verschiedene Lesarten aufgeführt. Der Vers endet
im NTG-Text mit kateulÒgei tiqeˆς t¦ς ce‹raς ™p' aÙt£. Darin folgt er den
Handschriften 01 א, B 03, C 04, L 019, Δ 037, Θ 038, Ψ 044, 579, 892, 1241,
1424 (leicht abgewandelt), 2427 und pc.
Eine Variante lautet ™tiqeˆ t¦ς ce‹raς ™p' aÙt£ kaˆ eÙlÒgei aÙt£. Sie scheint
eine leichte Glättung des NTG-Textes zu sein, da sie sicherlich weder dem
Prinzip der lectio difficilior, die besagt, dass die längere und ausführlichere
Textvariante die Ältere ist, noch dem der lectio brevior folgt. Des Weiteren
macht eine recht schwache Bezeugung durch D 05, W 032 (in leicht
abgewandelter Form), die altlateinischen Handschriften und die Harkel-
Bearbeitung des syrischen Textes deutlich, dass die Lesart nicht die
Ursprüngliche sein wird.
8
Die letzte Variante lautet tiqeˆς t¦ς ce‹raς ™p' aÙt¦ eÙlÒgei aÙt£. Auch
diese Lesart stellt wahrscheinlich eine Glättung dar. Durch das Vorziehen des
Partizips und vor allem durch die Wiederholung von aÙt¦ ist der Satz besser
lesbar und leichter verständlich. Die Bezeugung der Lesart ist auch deutlich
schwächer als die des NTG-Textes: Die Variante wird von A 02, ƒ1, ƒ13, dem
Mehrheitstext, Vetus Latina Aureus, Brixianus, Rehdigeranus und der Vulgata
bezeugt. Sowohl die Bezeugung als auch die lectio brevior und die lectio
difficilior sprechen in dem vorliegenden Fall wiederum für die bei Nestle-Aland
abgedruckte Variante.
Abschließend betrachtet ist dem NTG-Haupttext in allen Punkten zu folgen.
2.3 Übersetzung
Nachdem geklärt ist, dass der NTG-Haupttext Grundlage dieser Exegese sein
soll, gilt es nun, diesen Urtext ins Deutsche zu übersetzen5. Die Übersetzung
sollte sowohl möglichst nahe am griechischen Text bleiben als auch in einer
zeitgemäßen deutschen Sprache formuliert sein.
Vers 13
Vers 14
Vers 15
Vers 16
Und sie brachten Kindlein herzu, damit er sie berührte; die
Jünger aber drohten ihnen.
Als Jesus aber das sah, wurde er unwillig und sagte ihnen:
Lasst die Kindlein zu mir kommen und hindert sie nicht, denn
so Beschaffenen gehört das Reich Gottes.
Wahrlich, ich sage euch, wer auch immer das Reich Gottes
nicht gastlich aufnimmt wie ein Kind, wird nimmermehr in es
hineinkommen.
Und als er sie in die Arme nahm, segnete er eins ums andere,
indem er die Hände auf sie legte.
5 Als Hilfsmittel dienen hierbei das Wörterbuch zum Neuen Testament von Bauer/Aland und die Grammatik des neutestamentlichen Griechisch von Blass/Debrunner.
9
Die zum einen möglichst Urtext-nahe, zum anderen aber auch zeitgemäße
Übersetzung ist in einigen Punkten problematisch: An einigen Stellen sind dem
heutigen Christen die Worte der Lutherübersetzung im Ohr (z.B. „unwillig
werden“ für ¢ganaktšw), doch kann man die Lutherübersetzung kaum als
zeitgemäß erachten, so dass Alternativübersetzungen nötig sind.
Wenn man sich bemüht, nahe am griechischen Text zu bleiben, ist es notwendig,
auch die komplizierten Partizipialkonstruktionen so wortwörtlich wie möglich zu
übernehmen, auch wenn sich der deutsche Satzbau dadurch recht steif anhört wie
in Vers 16.
Das historische Präsens des Urtextes ist mit dem deutschen Imperfekt
wiedergegeben worden, da dieses historische Präsens mit seiner imperfekten
Bedeutung als typisch markinisch eingestuft wird6.
6 Vgl. Blass/Debrunner, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, S. 265.
10
3. Strukturanalyse
Nachdem es zunächst darum ging, die Perikope selbst festzulegen, soll nun ihre
Gliederung und Ausrichtung der Form nach erschlossen werden.
3.1 Textlinguistische Betrachtungen
Im Bereich der Textlinguistik soll der Aufbau der Perikope näher analysiert
werden. Dazu untersucht man den Text zunächst bezüglich Kohärenz bzw.
Uneinheitlichkeit.
Es gibt in der vorliegenden Perikope nur einen Spannungsbogen. Dieser erstreckt
sich über den gesamten Text – gerade auch angesichts dessen Kürze. Als
Menschen die Kinder zu Jesus bringen und ihn um seinen Segen bitten, beginnt
der Spannungsbogen, führt über die Reaktion der Jünger und die Belehrung Jesu
hin zum eigentlichen Vollzug des Segens in Vers 16.
Anschließend untersucht die Textlinguistik tragende Begrifflichkeiten und
semantische Felder. Durch die Zugehörigkeit zweier Begriffe zu einem gleichen
semantischen Wortfeld entsteht zwischen den Textpartien, die sich um jene zwei
Begriffe herum befinden, eine Kohärenz.
Ein Wort, das sich durch die gesamte Perikope hindurchzieht und daher einen
hohen Stellenwert einnimmt, ist der Begriff t¦ paid…a, die Kinder, der auch
durch aÙt¦ in pronominalisierter Form genannt wird. Verbindet man dies mit
dem Verb ™nagkl…zomai, könnte man hierin bereits ein kleines semantisches
Feld sehen. Darüber hinaus fallen zwei weitere semantische Felder auf: Das der
Segnung und das der Streitereien und des Zorns. Der Bereich der
Segensübermittlung umfasst folgende Begriffe: ¤ptw (V. 13), t…qhmi t¦j
ce‹raj ™p' aÙt£ (V. 16) und kateulÒgei (V. 16). Allerdings fällt bei den
Versangaben ins Auge, dass der Textanfang und das Ende semantisch Bezug zur
Segnung nehmen, so dass hierbei Anfang und Schluss der Erzählung miteinander
verknüpft werden und so zwischen den beiden Textpartien eine Kohärenz
entsteht.
Unter das zweite Wortfeld des Streits und Zorns fallen die Begriffe ™pitim£w
(V. 13), ¢ganaktšw (V. 14) und kwlÚw (V. 14). Hier entsteht somit eine
11
Kohärenz zwischen den Versen 13 und 14. Als weiterer tragender Begriff ist
noch die basile…a toà qeoà zu nennen, die in engem Zusammenhang mit den
Verben dšcomai und e„sšrcomai steht und die Verse 14 und 15 miteinander
verbindet. Meiner Meinung nach wird durch diese semantische Verknüpfung den
beiden Versen ein recht großes Gewicht gegeben.
Durch diese genannten Begriffsfelder werden die einzelnen Verse des Textes
semantisch verknüpft, so dass der Text eine starke Einheit bildet und sich von
der vorangehenden und der nachfolgenden Perikope absetzt.
Aufschlussreich kann neben der Betrachtung der semantischen Felder auch die
der Basisoppositionen, also der konstitutiven Gegensatzpaare, sein, die in diesem
Text ebenfalls vorhanden sind. So wird das Verhalten der Jünger bzw. Jesu zu
den Kindern in Vers 13 mit dem Verb ™pitim£w und in Vers 16 mit dem
gegensätzlichen Verb ™nagkl…zomai wiedergegeben, was wiederum eine
Verknüpfung von Anfang und Schluss darstellt. Ein weiteres Gegensatzpaar
stellen die Verben ¢f…hmi und kwlÚw (beide Vers 14) dar, mit denen Jesus den
Jüngern sagt, was sie tun und was sie im Gegensatz dazu nicht tun sollen. Auch
Gegensätze können also Bindungen schaffen.
Zur Erfassung der Struktur eines Textes gehört auch die Betrachtung der
einzelnen Akteure und deren Verhalten zueinander. Zunächst stehen sich in Vers
13 das Volk bzw. die Kinder und die Jünger gegenüber. Dabei wollen die einen
zu Jesus vordringen, die anderen wollen genau dies verhindern. Die
gegensätzlichen Interessen werden zusätzlich durch die Partikel de verdeutlicht.
In Vers 14 tritt Jesus an die Stelle des Volkes. Er steht seinen Jüngern, deren
Auftreten ihm missfällt, gegenüber und weist sie zurecht. In Vers 16 tritt Jesus
schließlich den Kindern gegenüber, als er sie segnet.
Des Weiteren lässt sich an logischen Verknüpfungen wie Konjunktionen,
Zeitadverbien etc. oft die Struktur des Textes erschließen. Logische
Verknüpfungen schaffen meist einheitliche Zusammenhänge und lassen Brüche
innerhalb des Textes erkennen. Eine solche logische Verknüpfung befindet sich
gleich in Vers 13: „n¦. Durch die Konjunktion wird die Handlung, das
Herbeibringen der Kinder, mit ihrem Zweck verbunden. Das nächste Beispiel
folgt in Vers 14: gar. Hier wird Vorausgegangenes erläutert: Jesus gibt einen
Grund dafür an, dass die Kinder würdig sind, zu ihm gelassen zu werden. Eine
weitere Form der Verknüpfung ist die sogenannte einfache Verknüpfung mit
12
kaˆ. Diese kommt dreimal im Text vor. Am Anfang von Vers 13 leitet die
Partikel den Übergang zu einem neuen Erzählabschnitt ein. In Vers 14 wird eine
Art Gleichzeitigkeit hergestellt; es wird gewissermaßen vermittelt, dass Jesus in
seiner Aufgebrachtheit zu sprechen beginnt. Das letzte kaˆ in Vers 16 bildet den
Übergang zur Segensspendung und verbindet somit die wörtliche Rede mit dem
Fortgang der Handlung.
Interessant ist weiterhin auch die Betrachtung von sogenannten Pro-Formen7 und
Renominalisierungen. Unter Pro-Formen versteht Klaus Berger Wörter wie
Pronomen, sogenannte Pro-Adjektive8, etc., die zuvor genannte Namen,
Bezeichnungen und Ausdrücke ersetzen. Eine solche Ersetzung findet man
dreimal in V. 13: Jesus – aÙtù, die Kinder – aÙtîn und das Volk - aÙto‹j. In
Vers 14 werden die Jünger durch aÙto‹j ersetzt. Dies setzt sich fort mit m¾
kwlÚete aÙt£ (die Kinder), in Vers 15 mit aÙt»n für t»n basile…an und in
Vers 16 nochmals mit aÙt£ für die Kinder. Ferner wird durch die Verwendung
des bestimmten Artikels bei oƒ maqhtaˆ (V. 13), Ð 'Ihsoàj (V. 14) und t¦
paid…a (V. 14) und auch durch das Pro-Adjektiv toioÚtwn (V. 14) Bekanntheit
vorausgesetzt. Renominalisierungen gehen den umgekehrten Weg: Nach einer
Reihe von Pro-Formen taucht plötzlich wieder das bekannte Nomen auf. Dies
geschieht in Vers 14 in Form von Ð 'Ihsoàj und t¦ paid…a. Durch diese
Renominalisierungen soll wohl die besondere Aufmerksamkeit auf die Person
Jesu und die Gruppe der Kinder gerichtet werden, was dann noch die Wichtigkeit
der Aussage Jesu unterstreicht.
Als Nächstes stellt sich die Frage nach dem Tempus, in dem bestimmte
Textpartien verfasst wurden. Denn gerade auch in der Abgrenzung von anderen
Passagen kann eine Stelle mit einheitlichem Tempus eine große Kohärenz
aufweisen. Die Perikope ist überwiegend im Aorist verfasst. Eine Ausnahme
bildet die Imperfektform prosšferon (V. 13). Man könnte hier vermuten, dass
häufig Kinder zu Jesus gebracht wurden, damit er sie segnete9, weil das
Imperfekt Aktiv oftmals für eine wiederkehrende bzw. eine lang andauernde
Handlung verwendet wird. Da aber diese Imperfektform in der Perikope die
einzige bleibt und fraglich ist, ob das Herantragen der Kinder eine sich
7 Berger, Exegese des Neuen Testaments, S. 15. 8 Bezeichnung nach Berger, ebd. 9 Vgl. Whittaker/Holtermann, Ianua Lingua Graecae C, S. 24.
13
wiederholende bzw. eine lang andauernde Handlung ist, sollte man ihr wohl in
diesem Zusammenhang keine allzu große Bedeutung beimessen. Möglicherweise
wollte man durch den Tempuswechsel lediglich eine Abgrenzung zu der
vorangehenden Erzählung schaffen, die ebenfalls im Aorist geschrieben ist. Eine
weitere Hypothese ist, dass die Aoristform von prosfšrw nicht geläufig war.
Die Aoristformen in der wörtlichen Rede (V. 15) stellen keine Ungewöhnlichkeit
dar. Der Unterschied zwischen dem Konjunktiv Präsens und dem Konjunktiv
Aorist ist nach Whittaker/Holtermann nur ein Unterschied zwischen andauernder
und einmaliger Handlung10, dšxhtai und e„sšlqh sind also präsentisch zu
verstehen. Ein wirklicher Bruch entsteht hingegen durch die Präsensform
kateulÒgei in Vers 16. Auf diese Weise wird der Vers von den
vorangegangenen Versen abgegrenzt, was den inhaltlichen Wechsel vom
lehrenden Jesus zum handelnden Jesus nur unterstreicht. Wie bereits in der
Übersetzung erwähnt, verwendet Markus dieses historische Präsens recht häufig.
Die Art der Erzählung ist während der ganzen Perikope sehr knapp gehalten. Vor
allem in Vers 13 wird nur das zum Verständnis Notwendigste gesagt. Im
Verhältnis dazu nehmen die belehrenden Worte Jesu in den Versen 14 und 15
einen deutlich breiteren Teil ein. Dies führt zu der Vermutung, dass genau diese
Verse 14 und 15 auch den inhaltlichen Schwerpunkt des Textes bilden sollen, da
der Segnungsvers (V. 16) ebenfalls wieder knapp geschildert ist.
Des Weiteren lohnt sich die Betrachtung von Wiederholungen im Text, die auch
eine verbindende Wirkung haben. Es werden vor allem die tragenden Begriffe
paid…on und basile…a toà qeoà wiederholt verwendet. Auffallend ist hierbei
eine wichtige Detailveränderung in der unterschiedlichen Verwendung von
paid…on, nämlich im Sinne von der Annahme des Kindes und im Sinne der
Annahme einer kindlichen Haltung, die in Verbindung mit æj steht.
Abschließend kann festgehalten werden, dass der Text in sich kohärent ist. Die
einzelnen Verse korrespondieren jeweils, der einzig erkennbare Bruch besteht im
bereits erläuterten Tempuswechsel in Vers 16. Nach der Ermittlung zahlreicher
semantischer Verzahnungen halte ich die folgende Gliederung für sinnvoll:
10 ebd., S. 81.
14
Vers 13 Exposition, Einführung in die Problematik
Verse 13 und 14 Belehrung durch Jesus, Kernaussage des Textes
Vers 16 Segnung, Schluss der Erzählung
3.2 Formkritik
Die Formkritik hat zum Ziel, die grundsätzliche Aussagerichtung eines Textes
von seiner Form und Gattung her zu erschließen. Dazu muss zunächst festgelegt
werden, wo im Text ein Schwerpunkt liegt, der die Hauptausrichtung angibt, in
die die Aussage tendiert.
Dieser Schwerpunkt ist bereits während der textlinguistischen Betrachtungen auf
die Verse 14 und 15 festgelegt worden, also auf die Rede Jesu. Zu Beginn von
Vers 14 wird vom Unwillen Jesu gesprochen, was eine grobe Aussagerichtung
des nun Folgenden bereits festlegt, denn mit einem Lob der Jünger ist nicht zu
rechnen. Es wird vielmehr hier schon klar, dass Jesus eine Verhaltensänderung
von den Jüngern fordern wird. Besondere Bedeutung kommt dem Vers 15 durch
die Amen-Einleitung zu, die grundsätzlich nur in Verbindung mit sehr
grundlegenden Aussagen Jesu verwendet wird.
Da die Verse 13 und 16 lediglich einen erzählenden Rahmen um die Jesusworte
bilden und somit nichts zur wesentlichen Aussage beitragen, können sie hier aus
der Untersuchung herausgenommen werden.
Durch die oben aufgeführten Merkmale wird eine erste Zuordnung möglich: Der
Text zählt eindeutig zur Gattung der Chrien. Berger definiert eine Chrie als
„veranlasste, doch die Situation tranzendierende Rede oder Handlung im Leben
einer bedeutenden Person“11. Jesus ist hier durch das Fehlverhalten seiner Jünger
zu seiner Rede veranlasst. Nimmt man Vers 16 in die Betrachtung mit hinein,
liegen sogar sowohl eine Rede als auch eine Handlung vor. In diesem Fall
spricht man von einer gemischten Chrie. Angesichts der Kürze der Rede kann
man diese Chrie auch als Apophtegma bezeichnen12. Betrachtet man nun einmal
die Erzählungen, die um die Perikope herum angeordnet sind, fällt auf, dass auch
11 Berger, Formgeschichte des Neuen Testaments, S. 82. 12 ebd.
15
dort solche veranlassten und belehrenden Reden Jesu vorliegen. Demnach ist Mk
10,13-16 Teil einer Chrienreihe.
Nach Berger handelt es sich bei Chrien nicht um eine alt-jüdisch-
alttestamentliche Gattung, sondern sie stammt aus der hellenistisch-griechischen
Kultur. Sie sind „rational und frei von Wundertaten“13 und werden vor allem bei
der Behandlung von gemeindeinternen Problemen verwendet14. Das ist auch hier
der Fall; es werden Themen wie Ehe, Kinder und Reichtum angesprochen.
Demnach geht es um Regeln für das Zusammenleben in der Gemeinde. Die
Einordnung in die Gattung Chrie reicht zur Erfassung der Aussagerichtung
jedoch nicht aus, denn solche Sammelgattungen können durchaus mehr als nur
eine Aussagerichtung haben.
Ein wichtiges Merkmal zur näheren Bestimmung der Textsorte ist die
Verwendung des Imperativs in Vers 14 (¥fete, m¾ kwlÚete). Die Rede
beinhaltet also Aufforderungen, die auch direkt im Anschluss begründet werden.
Danach folgt in Vers 15 die Belehrung, in der Jesus deutlich macht, dass nur
derjenige in das Reich Gottes gelangen kann, der es wie ein Kind empfängt.
Allerdings ist diese Aussage von solcher Tragweite, dass sie über eine einfache
Belehrung hinausgeht. Vielmehr handelt es sich um eine Warnung, in der
deutlich wird, dass es tiefgreifende Konsequenzen für die Angesprochenen haben
wird, sollten sie ihr Verhalten nicht ändern. Berger nennt dies ein „konditional
formuliertes Mahnwort“15. Die Beobachtung, dass hier zunächst eine
Aufforderung und schließlich auch ein Mahnwort vorliegen, lässt folgenden
Schluss zu: Die hier vorliegende Chrie hat beratenden, also symbuleutischen
Charakter.
3.3 Zwischenfazit
Aus dem Vorangegangenen ist deutlich geworden, wo die Schwerpunkte des
Textes liegen: Die beiden Worte Jesu machen den Kern der Perikope aus; sie
geben dem Text eine symbuleutische Tendenz. Die beiden anderen Verse geben
13 ebd., S. 84. 14 ebd., S. 86. 15 ebd., S. 91.
16
die Rahmenhandlung wieder, dienen aber auch der Verdeutlichung. Diese
Gliederung schlägt sich auch in einigen textlinguistischen Merkmalen nieder.
17
4. Analyse des innovativen Potentials
Nachdem der Text sprachlich analysiert worden ist, soll es nun darum gehen, die
Eigenheiten der Perikope im Vergleich mit anderen Texten herauszuarbeiten.
Dabei werden zunächst die Parallelüberlieferungen in Mt 19,13-15 und Lk
18,15-17 betrachtet, anschließend aber auch andere biblische und außerbiblische
Texte, die ebenfalls gewisse Traditionen der Kindersegnung behandeln.
4.1 Synoptischer Vergleich
Die Erzählung von der Segnung der Kinder befindet sich neben dem
Markusevangelium noch bei Matthäus (Mt 19,13-15) und bei Lukas (Lk 18,15-
17), also bei allen drei Synoptikern. Gemäß der Zwei-Quellen-Theorie kann man
mit relativ großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass der zu behandelnde Markustext
der Älteste ist und dass für die Texte des Matthäus- und Lukasevangeliums als
Überlieferungsquellen eine Form des Markustextes, die Logienquelle Q und
jeweils eigenes Sondergut verwendet wurden.
Schon beim ersten Lesen der Parallelstellen fällt auf, dass die Matthäus- und
Lukastexte gegenüber der markinischen Fassung jeweils einen Vers weniger
haben. Man kann die Parallelverse einander folgendermaßen zuordnen:
Mk 10 Mt 19 Lk 18
Vers 13 Vers 13 Vers 15
Vers 14 Vers 14 Vers 16
Vers 15 Vers 17
Vers 16 Vers 15
Bei Matthäus fehlt also die Belehrung über die Annahme des Reiches Gottes.
Diese tritt bei ihm allerdings an einer anderen Stelle auf, nämlich während der
Erzählung vom Rangstreit der Jünger in Mt 18,3. Der letzte Vers und damit die
eigentliche Segnung fehlt bei Lukas. Die Bedeutung dieser zwei Auslassungen
soll im Folgenden näher analysiert werden.
18
Der Ort der Handlung ist bei allen Synoptikern derselbe: Jesus befindet sich
zusammen mit seinen Jüngern auf dem Weg nach Jerusalem und lehrt das Volk,
das ihn begleitet. Allerdings ist der lukanische Reisebericht generell gesondert
anzusehen, da er im Evangelium einen wesentlich größeren Block darstellt als
die kurzen Schilderungen bei Matthäus und Markus.
Inhaltlich beginnen alle drei Synoptiker damit, dass zunächst Kinder zu Jesus
gebracht werden, die Jünger sie aber zurückweisen. Matthäus schildert hier etwas
breiter: Die Berührung der Kinder durch Jesus umschreibt er mit den Worten
„die Hände auf sie legen und beten“. Möglicherweise will er schon an der Stelle
die Perikope von anderen Heilungswundern, in denen die Kranken berührt
werden, abgrenzen. Außerdem redet er als einziger in einer passiven
Konstruktion vom Herbeibringen der Kinder, wodurch diejenigen, die die Kinder
zu Jesus brachten, ihm völlig unwichtig werden16. Lukas wiederum bezeichnet
die Kinder als t¦ bršfh, also als sehr kleine Kinder oder sogar Säuglinge. Dies
ist allerdings nur unwahrscheinlich so geschehen17, zumal Lukas im Folgenden
auch den Begriff t¦ paid…a verwendet. Der Rest des ersten Verses ist nahezu
gleich im Wortlaut überliefert. Lukas fügt lediglich ein „dÒntej vor der
unmittelbaren Reaktion der Jünger hinzu. Möglicherweise soll dies der besseren
Anschaulichkeit dienen.
Im zweiten Vers, der auch von allen Synoptikern überliefert worden ist, fällt auf,
dass sowohl Matthäus als auch Lukas nichts über den Unwillen Jesu sagen, der
aber bei Markus erwähnt wird. Eventuell erschien ihnen dieser recht menschliche
Zug als nicht angemessen18. Bei der Einleitung zur wörtlichen Rede ist
wiederum Lukas ausführlicher, indem er verdeutlicht, dass es die Kinder sind,
die Jesus mit seinen Worten zu sich ruft. Man kann verallgemeinernd sagen, dass
der lukanische Stil erzählerischer wirkt, während die Darstellungen von
Matthäus und Markus etwas rationeller wirken. Die wörtliche Rede an sich weist
nahezu Deckungsgleichheit auf, von der typisch matthäischen Formulierung
basile…a tîn oÙpanîn abgesehen, die aber nach Bauer/Aland mit dem
basile…a toà qeoà gleichzusetzen ist19.
16 Vgl. Vrijdaghs, Werden wie Kinder, S. 177. 17 Vgl. Lohmeyer, Das Evangelium des Markus, S. 203. 18 Vgl. Gnilka, Das Evangelium nach Markus, S. 80. 19 Bauer/Aland,
19
Erst beim dritten Vers ergeben sich erhebliche Differenzen. Diese Differenzen
betreffen weniger den Inhalt als vielmehr die Übernahme der Verse an sich.
Matthäus bringt, wie bereits erwähnt, eine Entsprechung von Mk 10,15 in einem
anderen Zusammenhang: Beim Rangstreit der Jünger (Mt 18,3). Gerade dieser
Vers ist Anlass zu Diskussionen, denn mit ihm folgt auf den wichtigen
Ausspruch Jesu in Mk 10,14 ein weiteres bedeutendes Wort. Laut Bultmann
könnte es sich hier um „ein ursprünglich freies Logion“ handeln, dass erst bei
einer späteren Redaktion „in das geschlossene Apophtegma 13.14.16 eingefügt
wurde“20. Dibelius dagegen vertritt die entgegengesetzte Meinung, dass „die
Szene sekundär um das Logion 15 herumkomponiert wurde“21. Nach Schmithals
bietet der Text keinen hinreichenden Grund für solche Analysen, da „das
‚solche’ (statt ‚sie’) in 14 das Logion 15 bereits deutlich vorbereitet“22. Dies mag
zwar durchaus stimmen, dennoch fällt auf, dass die Verse 13, 14 und 16
durchaus auch alleine stehen könnten, ohne einen Zusammenhang zu zerstören,
was umgekehrt für 13, 15 und 16 sicherlich nicht gilt. Des Weiteren stehen die
Verse 14 und 15 in einer gewissen Spannung, da das Reich Gottes zum einen den
Kindern, zum anderen aber auch den Erwachsenen, die sich wie Kinder
verhalten, zugesprochen wird. Daher scheint es schlüssig, dass dieses Logion
ursprünglich nicht in diesem Zusammenhang stand, sondern von Markus oder
bereits in seiner Vorlage dort eingefügt wurde. Eventuell war Matthäus das
bewusst, weswegen er das Logion in den Rangstreit der Jünger einbettet. Da der
Vers im Wortlaut bei Markus und Lukas absolut identisch ist, kann man davon
ausgehen, dass der Markustext hier als Vorlage für Lukas gedient hat
Umso verwunderlicher erscheint es vor diesem Hintergrund, dass Lukas den
Schlussvers Mk 10,16 ersatzlos streicht. Im Matthäustext wurde der Vers
verkürzt und als Überleitung zur nächsten Erzählung genutzt, indem festgehalten
wird, dass Jesus weiterzog. Diese Verkürzung kann allerdings daher rühren, dass
Matthäus schon in seiner Exposition eine umfangreiche Schilderung der
Erwartungen der Leute von Jesus formuliert und deswegen den eigentlichen
Segnungsvollzug nur noch beiläufig erwähnt. Die Frage nach dem Grund für die
Auslassung des Verses bei Lukas lässt sich schwieriger klären. Möglicherweise
20 Schmithals, Das Evangelium nach Markus , S. 442f. 21 Ebd., S. 443. 22 Ebd.
20
erachtete er den Schlussvers für die eigentliche Aussage des Textes als
nebensächlich. Lukas legt den Hauptakzent auf das Amen-Wort. Demnach geht
es ihm eventuell nicht darum, was Jesus im Anschluss an seine Worte mit den
Kindern tat.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Matthäus und Lukas den
Markusstoff recht unterschiedlich behandeln, was zur Folge hat, dass auch ihre
Schwerpunkte und Intentionen sich vom Markustext unterscheiden. Es drängt
sich der Schluss auf, dass Markus zwei Motive in der Perikope verarbeitet hat,
während die beiden anderen Evangelisten in den Parallelstellen jeweils nur ein
Motiv vordergründig und das jeweils andere nur am Rande behandeln. Die
beiden Motive lassen sich mit „Kinder und das Reich Gottes“ und „kindliche
Haltung als Einlassbedingung in das Reich Gottes“ titulieren. Da Matthäus schon
in seiner Erzählung vom Rangstreit der Jünger das Motiv der kindlichen Haltung
als Einlassbedingung aufgegriffen hat, geht er hier vor allem darauf ein, dass
Kinder vom Heilsgut nicht ausgeschlossen werden dürfen. Lukas hingegen folgt
bis auf einige Abwandlungen und das Weglassen des Schlussverses der
markinischen Fassung mit dem Amen-Wort und setzt damit seinen Schwerpunkt
auf die Notwendigkeit einer kindlichen Haltung in Bezug auf die Annahme des
Reiches Gottes.
Auf die Frage nach dem Proprium der Markusperikope lässt sich festhalten, dass
hier zwei Motive und somit zwei Textelemente verwoben worden sind, die
möglicherweise ursprünglich unabhängig voneinander überliefert und nur bei
Markus in dieser Art verknüpft wurden. Diese Hypothese wird man aber nicht
mit letzter Sicherheit belegen können.
4.2 Vergleich mit Texten aus dem Johannes- und Thomasevangelium
Zusätzlich zum synoptischen Vergleich lassen sich Mk 10,13-16 noch zwei
weitere Überlieferungen zur Thematik der Kindersegnung zuordnen: Zum einen
wird der Stoff im Johannesevangelium aufgegriffen, zum anderen im
apokryphen Thomasevangelium. Im Johannesevangelium handelt es sich um
zwei Verse (Joh 3,3.5) im Rahmen der Erzählung von Jesus und Nikodemus, die
sowohl in griechischen als auch deutschen Synopsen neben Mk 10,13-16parr zu
21
finden sind. Im Thomasevangelium handelt es sich um das Logion 22. Die
beiden Texte sind allerdings zu weit von der markinischen Fassung entfernt, als
dass man sie in einem Zusammenhang mit den beiden Synoptikern Matthäus und
Lukas nennen könnte.
Um die Voraussetzungen zum Eingang in das Reich Gottes geht es in den
Johannesversen. Jesus nennt in Vers 3 als Bedingung eine Neugeburt und
definiert diese in Vers 5 genauer, denn sein Gesprächspartner stellt die
berechtigte Frage, wie alte Menschen neu geboren werden könnten. Wer ins
Reich Gottes gelangen wolle, müsse neu geboren werden, und zwar aus Wasser
und Geist. Dass sich dies allerdings aus Mk 10,15 erklären ließe, wie häufig
angenommen wird, bleibt unschlüssig, denn bei Johannes wird ja nicht die
Annahme von kindlichem Verhalten gefordert wie bei Markus, sondern eine
tatsächliche Wiedergeburt, so dass der Mensch also de facto ein Kind wird. Es
geht hierbei eben nicht um eine Art Umkehr des Menschen wie in der
Kindersegnung oder auch im Rangstreit der Jünger, sondern um „eine Tat Gottes
am Menschen“23. Statt dessen lässt sich Vers 5 als eine Anspielung auf die Taufe
deuten. In die johanneische Theologie passt eine Zeugung aus dem Geist, die
sich in der Taufe wiederfindet, durchaus hinein, allerdings ist damit klar, dass
das Thema nicht mit dem Markustext übereinstimmt, denn diesen als
Tauferzählung zu interpretieren, würde die eigentliche Aussage des Textes
verdecken.
Im Logion 22 des Thomasevangeliums werden Kinder zwar explizit genannt,
aber sie werden weder zu Jesus gebracht noch berührt er sie. Vielmehr sieht er in
Gegenwart seiner Jünger kleine Säuglinge, die gestillt werden. Das ist für ihn
Anlass zu einer Aussage über das Reich Gottes, in das Menschen eingehen,
denen diese Säuglinge gleichen. Die Jünger missverstehen diesen Satz und
fragen zurück, ob man in das Reich Gottes eingeht, indem man klein ist. Jesus
erklärt daraufhin gewissermaßen die Aufhebung aller Gegensätze zur
Einlassbedingung, so z.B. in Vers 4 „wenn ihr das Innere wie das Äußere macht
und das Äußere wie das Innere“. Dabei erwähnt er auch die Aufhebung von
Männlichkeit und Weiblichkeit. Nach M. Fieger gleichen die Säuglinge denen,
die diese Bedingungen erfüllen, weil sie „jenseits von leiblichen Leidenschaften“
23 Schnackenburg, Das Johannesevangelium, zu 3,3.
22
und „der anfänglichen Einheit noch nahe“ sind.24 Parallelen zur Markusperikope
kann man in Bezug auf die Rolle der Jünger sehen, die Jesus hier zwar nicht
durch Fehlverhalten, aber durch ein Missverständnis zu seiner Belehrung
veranlassen. Die genannten Eigenschaften, die Kinder auszeichnen, scheinen
nicht den markinischen Vorstellungen von kindlichem Verhalten zu entsprechen,
zumal es sich bei Markus definitiv nicht um Säuglinge handelt. Der thematische
Schwerpunkt liegt bei Thomas auf den Einlassbedingungen ins Reich Gottes und
nicht wie bei Matthäus auf den Kindern. Also greift das Logion 22 – ebenso wie
Johannes 3,3.5 - nur einen Aspekt des Markustextes auf – wenn auch nicht in zu
vergleichender Art und Weise.
Abschließend bleibt festzuhalten, dass zur Ermittlung des Propriums der
Markusperikope wohl nur die beiden Synoptiker Lukas und Matthäus von
größerer Bedeutung sind. Zu den unter 4.1 genannten Erkenntnissen tragen
weder der Vergleich mit dem Johannesevangelium noch der mit dem Thomastext
Wesentliches bei, da ein direkter Vergleich mit Mk 10,13-16 doch nur sehr grob
möglich ist.
4.3 Traditionsgeschichte und religionsgeschichtlicher Vergleich
Wurden beim synoptischen Vergleich noch die direkten Parallelstellen bei den
Evangelisten betrachtet, so wird nun der Bogen etwas weiter gespannt: Es
werden Texte untersucht, die wichtige Elemente der Kindersegnung enthalten,
aber keine wirklichen Parallelüberlieferungen darstellen.
Um solche Texte, die einen gewissen Vergleich mit der zu behandelnden
Perikope zulassen, ausfindig zu machen, müssen zunächst Schlüsselbegriffe, die
im Text ein besonderes Gewicht besitzen, herausgefiltert werden. Erst wenn
diese festgelegt sind, ist eine sinnvolle Konkordanzarbeit möglich.
Bei der vorliegenden Perikope handelt es sich natürlich um die Begriffe t¦
paid…a und basile…a toà qeoà, die auch schon beim synoptischen Vergleich
eine wichtige Rolle gespielt haben.
24 Fieger, Das Thomasevangelium, S.100.
23
Der Begriff t¦ paid…a soll hier natürlich nicht in der Art verwendet werden,
dass ganz allgemein untersucht wird, in welchen Texten Kinder überhaupt
vorkommen, sondern es gilt, Erzählungen zu finden, in denen Kinder eine
ähnliche Rolle spielen wie in Mk 10,13-16. Ein Blick auf noch heute erhaltene
Quellen zeigt, dass gerade Kindersegnungen in der neutestamentlichen Zeit
nichts Ungewöhnliches waren. Es war durchaus üblich, einen Rabbi in der
Weise, wie es in Mk 10,13 geschildert ist, aufzusuchen. Ebenso traten Kinder
vor ihren Vater oder Schüler vor ihren Lehrer, um einen Segen zu empfangen.
Am Sabbat erfolgte eine Handauflegung durch den Hausvater, damit so der
Segen übermittelt würde. Die biblische Quellenlage bietet hier zwar keine
wirklichen Anhaltspunkte, aber der Kommentar aus Talmud und Midrasch von
Strack/Billerbeck gibt eine Hilfe zum Matthäusevangelium. So heißt es dort
(Berakh 28b): „Als Rabban Jochanan b. Zakkai (gest. um 80) erkrankt war,
gingen seine Schüler zu ihm, um ihn zu besuchen […] Sie sprachen zu ihm:
Unser Lehrer, segne uns […] !“ und (Siddur Sephath Emeth, Rödelheim 1886,
S.44): „Der Minhag (=Brauch) ist, am Sabbat und Festtag [vor der
Abendmahlzeit] seine Kinder [unter Handauflegung] zu segnen, wobei man zu
den Söhnen spricht: Es mache dich Gott wie Ephraim und Manasse (Gen 48,20)
und zu den Töchtern: Es mache dich Gott wie Sara, Rebekka, Rahel und Lea!“
Darüber hinaus spielten Kinder in der neutestamentlichen Zeit allerdings keine
allzu große Rolle. Der Begriff wird im Neuen Testament meist nur im
übertragenen Sinn gebraucht und es sind nicht wirklich Kinder gemeint25. So
sind bei der Speisung der Fünftausend (Mk 6,34-44) die Kinder ausdrücklich
nicht zu den Fünftausend gezählt worden. Weiterhin nimmt Paulus Kinder zwar
als Vorbilder, „wenn es um Böses geht“ (1Kor 14,20), stellt sie aber im gleichen
Vers auch als unverständig dar. Oft geht es im Zusammenhang mit Kindern um
Erziehung und Gehorsam, wie in Kol 3,20, wo Kinder aufgefordert werden, „den
Eltern in allen Dingen gehorsam“ zu sein. Allgemein gesehen geht es bei den
hellenistischen Autoren des 1. und 2. nachchristlichen Jahrhunderts primär um
Erziehung. Im rabbinischen Judentum dagegen ist das vorwiegende Thema die
Hinführung der Kinder zur Tora26. Es lässt sich festhalten, dass Kinder in
damaliger Zeit nicht besonders hochgeschätzt wurden und eher am Rande der
25 Vgl. Lindemann, Die Kinder und die Gottesherrschaft, S. 77. 26 Vgl. ebd., S. 82.88.
24
Gesellschaft angesiedelt waren. Möglicherweise lässt sich daraus die abweisende
Haltung der Jünger in Mk 10,13 erklären; andererseits war es ja, wie bereits
erwähnt, üblich, Kinder zu segnen, was die Begründung der Ablehnung
widerlegt.
Das Verhalten Jesu steht nun in völligem Kontrast zu den genannten Ansichten
über Kinder. Er segnet sie nicht nur, sondern spricht ausgerechnet ihnen das
Reich Gottes zu und macht sie auf diese Weise sogar zu Vorbildern für
Erwachsene, die in das Reich Gottes gelangen wollen. Diese Erzählung muss
großes Erstaunen bei der Leserschaft ausgelöst haben, denn eine solche
Aufwertung des Kindes und des Kindlichen war außergewöhnlich. Schließlich
umarmt Jesus die Kinder auch noch, was das „Wortgeschehen
versinnbildlicht“27. Eine Umarmung von Kindern findet sich über diese Perikope
hinaus nur noch einmal im Neuen Testament, in Mk 9,36, was auch ein Zeichen
für die Einzigartigkeit dieser Begebenheit ist.
Der zweite zu untersuchende Begriff des „Reiches Gottes“ soll hier vor allem im
Zusammenhang mit den Einlassbedingungen behandelt werden. Material gibt es
zuhauf: Das Reich Gottes ist eines der Hauptthemen der Evangelien. Oft handelt
es sich um Worte Jesu, in denen er klarstellt, dass eine bestimmte Gruppe von
Leuten keine Möglichkeit haben wird, in das Reich Gottes Eingang zu finden. So
spricht Jesus beispielsweise in der Erzählung vom reichen Jüngling (Mk
10,24b.25), die sich in allen synoptischen Evangelien direkt an die Segnung der
Kinder anschließt: „Liebe Kinder, wie schwer ist’s, ins Reich Gottes zu
kommen! Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein
Reicher ins Reich Gottes komme.“ Im Gleichnis von den ungleichen Söhnen
belehrt Jesus die Jünger mit einem überraschenden Vergleich (Mt 21,31b):
„Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes
als ihr.“ Ähnliche Passagen finden sich in den Evangelien an vielen Stellen, doch
sie kommen auch in den Briefen des Paulus vor. Der Apostel formuliert in Gal
5,21 mit sehr deutlichen Worten: „Neid, Saufen, Fressen und dergleichen. Davon
habe ich euch vorausgesagt und sage nochmals voraus: die solches tun, werden
das Reich Gottes nicht erben.“
27 Lachmann, TRE Kind, S. 157
25
Abschließend bleibt festzuhalten, dass die Segnung der Kinder sich als Lehrwort
über den Eingang in das Reich Gottes gut in eine ganze Reihe solcher Worte
einordnet, in denen vermittelt wird, dass es beinahe unmöglich ist, ins Reich
Gottes zu gelangen. Andererseits ist die Perikope einzigartig, da sie – durch die
Art der Darstellung der Kinder und die Herausstellung derer positiven
Eigenschaften, die sie zum Empfang des Reiches Gottes befähigen – Eigenarten
besitzt, die sich sonst nirgendwo finden lassen.
4.4 Zwischenfazit
Nach der Analyse des innovativen Potentials lässt sich zusammenfassend sagen,
dass die Perikope de facto sehr Innovatives bietet. Sie stellt eine völlig andere
Sicht des Kindes dar, als dies zur Verfassungszeit üblich war. Jesus spricht den
Kindern, die noch gar nicht zur Gesetzeserfüllung befähigt sind und somit auch
noch nichts geleistet haben, die Teilhabe am Heilsgut zu. Er setzt völlig neue
Maßstäbe, denn zuvor war die Ansicht verbreitet, dass gerade die
Gesetzeserfüllung eine unabdingbare Voraussetzung sei, um überhaupt die
Möglichkeit zu haben, das Reich Gottes zu empfangen. Diese Punkte gelten
sowohl für den Markustext als auch für dessen Parallelstellen.
Was die vorliegende Perikope wiederum von den synoptischen Parallelstellen
unterscheidet, ist die Tatsache, dass hier sowohl der Zuspruch des Reiches
Gottes an die Kinder als auch deren Vorbildfunktion gleichermaßen
hervorgehoben werden.
26
5. Die Frage nach der Wirkabsicht
In diesem Kapitel soll nun schließlich die konkrete Aussage des Textes erfasst
werden. Es geht im Folgenden darum, die „Theologie“ des Autors und auch die
Antworten, die der Text auf historische Probleme gibt, herauszuarbeiten. Die
bereits gewonnenen Erkenntnisse spielen dabei natürlich eine große Rolle.
5.1 Kompositions- und Redaktionskritik
Dieser Teil der Exegese betrachtet zunächst die Stellung des Textes im gesamten
Evangelium. Es gilt also herauszufinden, in welcher Reihenfolge die
unterschiedlichen Erzählungen im Evangelium angeordnet sind und warum dies
so gemacht wurde. Auf diese Weise kommt dem Gesamtkontext, in den die
Perikope eingebettet ist, eine große Bedeutung zu. Im zweiten Schritt soll der
theologische „rote Faden“ des Autors herausgearbeitet werden, wodurch dann
auch auf die Gemeindesituation des Evangelisten geschlossen werden kann.
Wie bei allen Synoptikern ist die Erzählung der Segnung der Kinder auch bei
Markus in den größeren Erzählabschnitt von Jesu Weg nach Jerusalem, also in
das Kapitel Mk 10, eingebettet. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass
Jesus hier fast ausschließlich über die richtige Art der Nachfolge lehrt, während
er, die Jünger und weitere Menschen, die ihm zuhören, sich auf dem Weg
befinden. Die Leute lernen also etwas über Nachfolge, während sie Jesus bereits
nachfolgen. Auf diese Weise sind die in Kapitel 10 positionierten drei
Erzählungen miteinander verbunden.
Sie bilden auch eine thematische Einheit: Es liegt die Themenfolge Ehe-Kinder-
Besitz vor. Die Erzählungen sind alle ethischer Art. Es drängt sich der Eindruck
auf, dass der Evangelist „durch die Zusammenstellung dieser drei Perikopen so
etwas wie eine kleine christliche Sittenlehre schaffen“28 wollte. Es geht hier um
häusliche und familiäre Probleme. Was Markus seinen Adressaten mit Hilfe der
Jesusworte übermitteln will, sind Regeln für das Zusammenleben in der
Gemeinde. Diese Regeln bekommen besonders dadurch einen Sinn, dass auch
28 Krause (Hrsg.), Die Kinder im Evangelium, S. 16.
27
vom Lohn der Nachfolge (Mk 10,28-31) die Rede ist. Es wird weiterhin deutlich,
auf welches Ziel mit der Beachtung dieser Regeln hingearbeitet werden soll: Auf
die Teilhabe am eschatologischen Heilsgut in Form des Einganges in das Reich
Gottes. Durch den Begriff basile…a (Mk 9, 1.47) und die Lehre von der
Nachfolge (Mk 8,34-9,1) wird auch eine Verbindung zu den vorangehenden
Passagen, die noch in die Galiläa-Periode fallen, hergestellt.
Matthäus folgt mit seiner Komposition nahezu der Anordnung des Markus,
während bei Lukas die Perikope in einem anderen Kontext steht. Da sie hier
hinter das Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner gelegt wurde, steht sie im
Zusammenhang mit den Themen Selbsterhöhung und Selbsterniedrigung (Lk
18,14b). Die Kindersegnung wird somit zu einer Art Anwendung des
Gleichnisses, denn wer sich selbst erhöht, ist sicherlich keinem Kind
vergleichbar und wird folglich nicht ins Reich Gottes eingehen können. Bei
Lukas spielen weiterhin die Kinder eine kleinere Rolle als das Reich Gottes,
anders als bei Markus und Matthäus, wie schon im synoptischen Vergleich
festgestellt wurde.
Aus der Tatsache, dass Markus hier die Kinder derart am Herzen liegen, könnte
man folgern, dass deren Stellung in der Gemeinde vielleicht umstritten war.
Mit großer Wahrscheinlichkeit geht die Positionierung der Perikope zwischen
die Erzählungen von der Ehescheidung und von der Gefahr des Reichtums auf
eine Redaktion des Markus zurück. Die Passage beginnt recht abrupt, und
dadurch, dass in Mk 10,13 zunächst kein Subjekt genannt wird, wären bei einem
direkten Anschluss an die Verse 10-12 die Jünger diejenigen, die die Kinder
herbeitrugen. Ebenso beruht wahrscheinlich, wie bereits erwähnt, die Beifügung
von V. 15, der ursprünglich wohl nicht in diesem Kontext stand, auf einer
redaktionellen Arbeit. Des Weiteren ist von Bedeutung, dass Markus als einziger
vom Unwillen Jesu schreibt, wobei er mit ¢ganaktšw ein Wort verwendet, dass
laut der anderen neutestamentlichen Texte völlig ungebräuchlich war. Dies alles
sind Indizien dafür, dass Markus hier dringend zu einem Gemeindeproblem
Stellung beziehen wollte. Es hat den Anschein, als habe er ihm vorliegendes
Material stark redaktionell bearbeitet, um über die Lehre Jesu Christi selbst eine
Art Lehre an die Gemeinde vermitteln zu können. Offenbar hielt er eine
Teilnahme des Kindes am Gemeindeleben für sehr wichtig. Diese nachhaltige
28
Forderung nach einer Aufwertung der Kinder bewirkte möglicherweise auch,
dass er zusätzlich V. 15 in diesen Rahmen stellte.
5.2 Soziologische Fragen
In diesem Kapitel sollen nun die sozio-politischen Gegebenheiten und
historischen Problemstellungen, auf die der Text antwortet, in den Blick gerückt
werden.
Im Bereich der Formkritik wurde bereits festgestellt, dass die Tatsache, dass es
sich bei diesem Text um eine Chrie handelt, impliziert, dass hier vorwiegend
gemeindeinterne Probleme zur Sprache kommen. Einige wichtige Punkte wurden
bereits genannt. Der Text handelt von Kindern. Aus anderen neutestamentlichen
Texten und anderen antiken Erzählungen weiß man, dass Kinder zu einer
sozialen Randgruppe zählten. Der Verfasser des Markusevangeliums setzt aber
im Gegensatz zur allgemeinen Haltung gegenüber Kindern eben jene in den
Mittelpunkt der Worte Jesu und dessen Handlung. Die Frage, ob Kinder zum
einen am Gemeindeleben, zum anderen aber auch am eschatologischen Heilsgut
teilhaben können, wird klar bejaht. Markus rückt die Kinder vom Rand in die
Mitte, was bereits in Mk 9,36 verdeutlicht wird: „Und er nahm ein Kind, stellt es
mitten unter sie“. Er nimmt also den die Kinder aufnehmenden Jesus als Vorbild
für einen Umgang mit Kindern, den er sich auch für seine Adressaten-Gemeinde
wünscht, wobei man allerdings keinesfalls Jesus eine Verhimmelung des Kindes
zuschreiben darf. Er hat vielmehr eine realistische Sicht des Kindes (Vgl. Mt
11,16f.).
Des Weiteren bezieht der Text Position zu den Bedingungen, die erfüllt werden
müssen, um in das Reich Gottes zu gelangen, und über die offenbar Unklarheit
herrschte. Zuvor war man immer der Ansicht gewesen, gewissenhaft die Gesetze
einhalten und auch gewisse Verdienste vorweisen zu müssen. Doch nun wird
klargestellt, dass es auf etwas völlig anderes ankommt, nämlich wie ein Kind zu
werden, das mit leeren Händen dasteht und das dann gerade ohne jeden
Verdienst vom Vater angenommen wird.
29
5.3 Wirkungsgeschichte
Wie bereits in der Einleitung erwähnt, ist die Perikope seit dem Mittelalter stark
mit der Frage der Kindertaufe verknüpft. So benutzte beispielsweise „Calvin […]
die Erzählung nachdrücklich als Argument für die Kindertaufe gegen die
Auffassung der Wiedertäufer, die diese ablehnten, weil die Kinder das in der
Taufe angedeutete Geheimnis noch nicht fassen könnten“29. Allerdings lässt sich
am Text selber keine Andeutung über eine Kindertaufe finden.
So bleibt fraglich, ob der Verfasser des Markusevangeliums Position zur
Kindertaufe beziehen wollte. Als Indiz dafür, dass es so sein könnte, wurde
häufig die Verwendung des Begriffs kwlÚein, also „hindern“, angesehen, weil in
der Formelsprache der urchristlichen Praxis gefragt wurde, ob etwas hindere,
einen Taufbewerber zuzulassen.
Generell lässt sich festhalten, dass die Kindertaufe vom Text her nicht gefordert
wird. Andererseits lässt der Text zu, dass eine Bezugnahme auf die Kindertaufe
„möglich ist, ja sich anbietet, wenn dogmatische – oder liturgische – Gründe
vorliegen“30.
29 Gnilka, Das Evangelium nach Markus, S. 82. 30 Krause (Hrsg.), Die Kinder im Evangelium, S. 50.
30
6. Ergebnissicherung und Fazit
Da nun alle exegetischen Arbeitsschritte durchlaufen sind, kann an dieser Stelle
Bilanz gezogen werde.
Der Schwerpunkt, in dem die wesentliche Aussage des Textes gemacht wird,
liegt auf zwei Worten Jesu, die – das haben der synoptische Vergleich und auch
die Kompositions- und Redaktionskritik gezeigt – ursprünglich nicht
nebeneinander standen und deren Verbindung entweder der Redaktion des
Markus zufällt oder bereits in dessen Vorlage vorgenommen wurde. Die
Formkritik hat gezeigt, dass es sich bei der Kindersegnung um eine veranlasste
Rede Jesu, also um eine Chrie bzw. ein Apophthegma handelt, welches
symbuleutischen Charakter hat. Jesus berät die Jünger und das Volk in Form
einer Mahnrede, einer Belehrung.
Der Verfasser will dem Text offenbar großes Gewicht verleihen, was die doch
recht starke redaktionelle Arbeit zeigt. In einer Reihe von Gemeinde- und
Familienregeln klärt er unter anderem auch die Stellung der Kinder, über die
möglicherweise in der markinischen Gemeinde Unklarheit herrschte. Zumindest
aber lässt sich vermuten, dass dem Verfasser der bisherige Umgang mit Kindern
nicht gefiel und dass er in einer Zeit, in der das Kind nicht viel wert war, selbiges
ins Gemeindeleben integrieren wollte. Er verbindet dies mit einem Wort Jesu
über den Einlass in das Reich Gottes, welches hier gut positioniert ist, da bereits
im vorangehenden Vers vom Reich Gottes die Rede ist, was wie eine
Vorbereitung wirkt. Hier wird klargestellt, dass nur derjenige das
eschatologische Heilsgut empfangen und in das Reich Gottes eingehen kann, der
mit leeren Händen und ohne jedwede Erwartungen vor Gott steht, der keinerlei
Verdienst vorzuweisen hat, der vollkommen auf das Empfangen angewiesen ist
und diesbezüglich auf den Vater vertraut.
Meine eigenen Vorstellungen vor der Aufnahme der Arbeit, die in der Einleitung
geschildert wurden, gingen also durchaus in die richtige Richtung, wenngleich
letztlich noch etwas mehr hinter dem Text steckt. Ganz klar festhalten muss man
allerdings, dass der Text in seiner Auslegungsgeschichte oft missdeutet wurde.
Hier geht es zum einen keineswegs darum, Kinder als unschuldige, sündlose
Wesen darzustellen, sondern völlig andere Eigenschaften des Kindes, die
genannt wurden, stehen im Vordergrund. Zum anderen ist der Text auch keine
31
Aufforderung zur Kindertaufe. Vielmehr war er für Luther ein „Hinweis auf die
Kindertaufe. Zur Ableitung konnte ihm die Perikope nicht dienen“31.
In heutiger Sicht ist die Stellung des Kindes sicherlich eine völlig andere. Die
Aussage, die hier bezüglich der Kinder gemacht wird, ist wohl nur im
historischen Kontext zu verstehen. Allerdings bringt der Text, wenn er vom
Reich Gottes spricht, eine christliche Grundhaltung zum Ausdruck: Gott ist für
alle Menschen, auch für Kinder, Mensch geworden, ist für alle Menschen
gestorben und auferstanden und hat somit allen Menschen den Weg ins Reich
Gottes ermöglicht. Damit ist der Text auch in unserer Gegenwart interessant.
31 Krause (Hrsg.), Die Kinder im Evangelium, S. 51.
32
7. Literaturverzeichnis
7.1 Quellen und Hilfsmittel
Aland, Kurt; u.a. (Hrsg.): Novum Testamentum Graece. Stuttgart 271998.
Aland, Kurt (Hrsg.): Synopsis Quattuor Evangeliorum. Stuttgart 151996.
Aland, Kurt; Aland, Barbara: Der Text des Neuen Testaments. Stuttgart 21989.
Aland, Kurt; Aland, Barbara (Hrsg.): Bauer, Walter: Griechisch-deutsches
Wörterbuch zu den Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen
Literatur. Berlin; New York 61988.
Berger, Klaus: Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur
Auslegung. Heidelberg 1977.
Berger, Klaus: Formgeschichte des Neuen Testaments. Heidelberg 1984.
Bibel von A-Z. Wortkonkordanz zur Lutherbibel nach der revidierten Fassung
von 1984. Stuttgart 21994.
Blass, Friedrich; Debrunner, Albert: Grammatik des neutestamentlichen
Griechisch. Göttingen 161984.
Egger, Wilhelm: Methodenlehre zum Neuen Testament. Einführung in
linguistische und historisch-kritische Methoden. Freiburg im Breisgau 51999.
Evangelische Kirche in Deutschland (Hrsg.): Die Bibel nach der Übersetzung
Martin Luthers. Stuttgart 1985.
Große Konkordanz zur Lutherbibel. Stuttgart 2001.
Rienecker, Fritz: Sprachlicher Schlüssel zum Griechischen Neuen Testament
nach der Ausgabe von D.Eberhard Nestle. Gießen 201997.
Vretska, Karl (Hrsg.): Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch von
Wilhelm Gemoll. Wien 91997.
Whittaker, Molly; Holtermann, Horst: Ianua Lingua Graecae C, Göttingen 21978.
7.2 Kommentare und Aufsätze
Aland, Kurt: Taufe und Kindertaufe. 40 Sätze zur Aussage des Neuen
Testaments und dem historischen Befund, zur modernen Debatte darüber und
33
den Folgerungen daraus für die kirchliche Praxis – zugleich eine
Auseinandersetzung mit Karl Barths Lehre von der Taufe. Gütersloh 1971.
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