ExtraBLA(tt) Nr. 3, Mai 2013

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Die Langsamkeit, mit der sich unsere Politik bewegt, ist sprichwörtlich und Luzern macht da keine Ausnahme. Der doppelte Abstimmungserfolg der Wohninitiative und der Industrie- strasse bewirkten aber schon einiges in der Stadt. Bleibt zu hoffen, dass die Initiativgegner während des partizi- pativen Prozesses zur Industriestrasse nicht in alte Denkmuster zurückfallen. Marcel Budmiger · Es brauchte mehre- re Anläufe, bis die Wohnraumpolitik endlich ganz oben auf der politischen Agenda der Stadt stand. Lieber wird in Luzern über Strassenmusikanten und Strassenstrich, Bierdosen auf dem Euro- paplatz oder neuerdings das korrekte Bereitstellen von Altpapier und Karton gestritten. Schnell wird ein Reglement verabschiedet, nur ändern tut sich dann oft doch nur wenig. Das Misstrauen in die Politik kommt ja nicht von un- gefähr. Konsequenterweise versenkten die Luzernerinnen und Luzerner im letzten Juni ein mutloses Reglement («über die Förderung des gemeinnüt- zigen Wohnungsbaus») und gaben der Wohn-Initiative von Mieterverband, SP und Grünen den Vorzug. Dass die Initiative gemäss Stadtrat und bürger- lichen Parteien unmöglich umzusetzen sei, interessierte die Stimmberechtigen wenig; manchmal braucht es Weckrufe aus der Bevölkerung. Würde sich nach Jahren des Stillstandes plötzlich etwas ändern in der Wohnpolitik? Die FDP fragte schon im Juni besorgt, ob die Zie- le der Gesamtplanung gefährdet seien. Schliesslich wolle man weiterhin inter- nationale Firmenhauptsitze und reiche Steuerzahler anlocken. Doch schon am 23. September folgte die nächste bittere Niederlage für die bürgerliche Mehr- heit in Stadtrat und Parlament. 12‘960 Stimmberechtigte sagten «Ja!» zur Initi- ative «Für eine lebendige Industriestras- se» und verhinderten so den Verkauf des Industriestrassen-Areals an die Zürcher Allreal. Statt dessen soll das Land im Baurecht an eine gemeinnützige Bauge- nossenschaft abgegeben werden. Städtische Gesamtplanung wird partizipativ Spätestens seit dem Abstimmungser- folg der IG Industriestrasse ist nun klar, dass die bisherige Wohnraum- und Bo- denpolitik, welche einseitig Büroräu- me fördern und die letzten städtischen Landreserven verkaufen wollte, künftig keine Mehrheit in der Stadtbevölkerung mehr finden wird. Dies mussten auch die bürgerlichen Parteien eingestehen. Die Gesamtplanung 2013–2017 wurde dahingehend geändert, dass Schlüssel- areale jetzt partizipativ weiterentwickelt werden sollen. Während der ehemalige Baudirektor seine Projekte möglichst rasch und möglichst ohne Einfluss- nahme des Parlaments durchgewunken wissen wollte, zählt die Stadt nun auf die Mitsprachemöglichkeiten der Di- rektbetroffenen und der Nachbarschaft. Dies macht Sinn, fehlte nach den zwei Abstimmungsschlappen doch offen- sichtlich der direkte Draht zur Bevöl- kerung. Der im Januar durchgeführte Zukunftsworkshop zur Erarbeitung der vollständig zu überarbeiteten Gesamt- planung 2014–2018 unter Einbezug der Zivilgesellschaft ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ob dies auch ohne die Industriestrassen-Initiative so statt- gefunden hätte? Umdenken bei der Bodenpolitik Die Abstimmung am 23. September war auch ein Plebiszit über die Bodenpolitik der Stadt. Soll weiterhin wertvoller Bo- den verhökert werden, damit die Stadt kurzfristig bessere Budgetzahlen auf- weist? Oder braucht ein Gemeinwesen nicht auch die Möglichkeit zur Einfluss- nahme auf eigenem Grund und Boden? Oft wurde darauf hingewiesen, dass die Stadt nur wenig Einfluss auf den Woh- nungsmarkt nehmen kann. Und je ge- ringer die Landreserven werden, desto geringer auch die Einflussmöglichkei- ten. So forderte selbst alt Baudirektor Kurt Bieder nach den Abstimmungen eine neue Immobilienpolitik. Auch Stadtpräsident und Finanzdirektor Ste- fan Roth sieht nach anfänglicher Skepsis die Vorteile einer Landabgabe im Bau- recht. Die Weichen sind gestellt, auch wenn hier der Tatbeweis noch fehlt. Dass das Parlament aber sein Veto gegen die vom Stadtrat geplante Verknüpfung der Altlastensanierung im Friedental mit dem Verkauf des Urnerhofs einlegte, lässt jedoch hoffen. Wohnen wird wichtiger Neben der Gesamtplanung ist die Bau- und Zonenordnung (BZO) das wichtigs- te Planungsinstrument auf städtischer Ebene. Nach jahrelangen Vorberei- tungsarbeiten behandelte im Januar das Parlament die BZO-Totalrevision. At- mete der Entwurf noch den Geist des alten Stadtrats, korrigierte das Parla- ment in entscheidenden Punkten. Die verbindlich festgelegten Mindestanteile an gemeinnützigem Wohnbau an der Industriestrasse, aber auch an anderen Gebieten, wäre vor den wohnpoliti- schen Abstimmungen noch undenkbar gewesen. Im ursprünglich geplanten Business-Distrikt an der Rösslimatt soll nun nicht nur gearbeitet, sondern auch gewohnt werden. Und bei der Nachfol- geregelung zum Wohnanteilplan suchte und fand die Stadt einen Kompromiss mit dem Mieterverband. Das Ender- gebnis der Beratungen, über welches am 9. Juni abgestimmt wird, ist sicher kein grosser Wurf. Ohne die beiden Abstimmungserfolge zur Wohn- und Industriestrassen-Initiative wäre der Fokus aber weiterhin auf Grossbetrie- ben und reichen Steuerzahlern gelegen. Wohnanliegen konnten sich nun besser durchsetzen. Gestärkt in den gemeinsamen Prozess Das Zusammenstehen von Kleingewer- be, der Kulturszene und Mieterinnen und Mietern hat sich gelohnt. Ein guter Draht zur Bevölkerung und kreative Aktion führten zu Abstimmungser- gebnissen, die Luzern nachhaltig ver- ändern werden. Nun gilt es gemeinsam den Druck aufrecht zu erhalten, dass es nicht bei den oben erwähnten zaghaf- ten Schritten bleibt. Die Initiativgeg- ner müssen einsehen, dass 61 Prozent der Bevölkerung ein lebendiges Quar- tier mit eigener Identität und günsti- gem Raum fürs Wohnen, für Kultur und Kleingewerbe höher gewichtet als kurzfristige Einnahmen oder einen maximalen Baurechtszins. Nur mit Zu- geständnissen beider Seiten kann der partizipative Prozess an der Industries- trasse zu einem Erfolg führen. Die zwei deutlichen Abstimmungserfolge stär- ken der IG Industriestrasse in diesem Prozess aber klar den Rücken. Marcel Budmiger ist SP-Grossstadtrat und Vorstandsmitglied des Mieterinnen- und Mieterverbands Luzern extra BLA tt Nr. dr3i Gratis · 10‘000 Exemplare Mai 2013 Initiativzeitung für Luzern · Herausgegeben von der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» BITTE VORMERKEN: TAG DER OFFENEN TÜR IN DER INDUSTRIESTRASSE, am 25. Mai, 11 bis 17 Uhr. Informationen: www.industriestrasse.ch Und sie bewegt sich doch! Ist die Luzerner Politik etwa aufgewacht? Durch die Annahme der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» im letzten September ist die einmali- ge Chance gegeben, an der Industrie- strasse ein innovatives Projekt, ein Leuchturmprojekt umzusetzen. Oder anders gesagt: Die Industriestrasse ist ein lebendiger, blühender Mikrokos- mos, seit Jahrzehnten – und die Mehrheit der Stadtbevölkerung spricht sich dafür aus, den Charakter dieses für Luzern bedeutungsvollen Quartieres zu erhalten. Die IG Industriestrasse war die treiben- de Kraft hinter der Initiative und dem Abstimmungskampf. In ihr haben sich Leute zusammengefunden, die teilwei- se seit Jahren an der Industriestrasse arbeiten, ein eigenes Geschäft auf- gebaut haben oder dort wohnen, mit ihren Partnern oder Familien, zum Beispiel an der Industriestrasse 9 in ei- ner Gross-WG. Sie erproben dort neue Wohnformen, büffeln für die Uni oder die Fachhochschule, schreiben Bücher, proben Musik für einen Auftritt, füh- ren Puppentheater auf, malen Bilder, betreiben ein Kleinhandwerk … Zur IG Industriestrasse gehören aber auch Leu- te, die nicht selbst in der Industriestras- se wohnen. Die an einer nachhaltigen Stadtentwicklung interessiert sind, an anderen Formen des Zusammenlebens, an ökologischen Zusammenhängen, an biologischer Landwirtschaft, an inno- vativen Wohnformen oder ganz einfach – teilweise auch aus einer Not heraus – an bezahlbarem Raum in der Stadt Luzern. Zum Wohnen, für ein Büro, ein Atelier oder als KleinhandwerkerIn für eine ei- gene Werkstatt. Die Initiative und ihre Umsetzung Die IG Industriestrasse will als zentra- les Ziel, dass der Volkswille umgesetzt und das Areal Industriestrasse nachhal- tig weiter entwickelt wird. Damit das ge- schieht und damit noch mehr Leute an der Industriestrasse leben können, setzt die IG Industriestrasse auf: Partizipative Planung – über die Industriestrasse hinaus Etappierte Weiterentwicklung Soziale Durchmischung Platz für Luzerner KMU Kultur für ein lebendiges Quartier Eine gelebte ökonomisch-ökolo- gische Gesellschaft Ein gestärktes Zusammenleben im Quartier Das alles sind Wünsche, für die es um- gesetzte oder besser gesagt bereits ge- baute gute Beispiele gibt. Wünsche und Bedürfnisse, welche die IG Industrie- strasse nicht erfunden, aber für die sie, nach intensiven Diskussionen mit «rau- chenden Köpfen» eigene Worte gefun- den hat, um für Sie, geschätzte Leserin und Leser des Extrablattes, folgenden Katalog zusammenzustellen: Eine partizipative (Stadt-)Planung Der Begriff partizipativ bedeutet «mit- wirkend», «durch Beteiligung bestimmt». Eine partizipative und sorgfältige Pla- nung einzelner Weiterentwicklungsschrit- te des Areals garantiert die Verankerung im Quartier und bei der Bevölkerung. Dabei wird das gesamte Schlüsselareal inklusive des ewl-Areals, des alten Hal- lenbads, des Feuerwehrdepots und des ehemaligen Zentralbahntrassees in die Entwicklung miteinbezogen. Jetzige oder künftige Nutzende des Geländes wer- den an der Planung beteiligt sein. Erstere sollen weiterhin Platz in der neuen Nut- zung finden. Sollte dies nicht möglich sein, wird aktiv nach einer Lösung für alle etablierten und ortsverbundenen Nutzer gesucht. Hohe Gebäudestandards auf den zu bebauenden Flächen, ein auto- armes Wohnen und gemeinschaftlich genutzte und halböffentliche Grünräume garantieren eine ökologische Siedlung. Flexible Gewerberäume für lokales Kleingewerbe, Kreativwirtschaft und KMU bringen zusätzliche Arbeitsplätze ins Quartier. Ebenso werden günstiger Wohnraum, innovative Wohnformen und generationsübergreifendes Woh- nen für eine Nachhaltigkeit in Bildung, Kultur und Lebensqualität sorgen. Weiterentwicklung in Etappen Nach den Grundsätzen der «Slow Archi- tecture», der wohlüberlegten und nicht übers Knie gebrochenen architektoni- schen Planung, wird die Industriestrasse sorgfältig und etappenweise weiter ent- wickelt. Der Fokus liegt zuerst auf den mittleren Parzellen mit niedriger Aus- nutzung. Erhaltenswerte und weiterhin nutzbare Gebäude an der Industrie- strasse werden in die Überbauung inte- griert, um die Identität des Quartiers zu wahren. Der abgeschöpfte Baurechts- zins wird auf diese kontinuierliche Weiterentwicklung Rücksicht nehmen. Das Ziel der Stadt ist dabei nicht der möglichst höchste Ertrag, sondern die Erstellung von preisgünstigem Wohn-, Gewerbe- und Kulturraum. Soziale Durchmischung Die Industriestrasse ist sozial durch- mischt und bietet im Stadtzentrum Wohnraum für alle. Für Familien und Alleinerziehende (Spielplätze und Kita) genauso wie für Senioren, Studenten. Durch Clusterwohnungen werden neue Wohnformen möglich, und die Spitex in der unmittelbaren Nachbarschaft er- möglicht es Betagten, in ihrem Quartier wohnen zu bleiben. Für eine möglichst flexible Raumgestaltung wird ein Teil der Räume in Form von dazu mietba- ren Jokerräumen freigehalten. Die da- bei entstehende lebendige kultur- und generationenübergreifende Durchmi- schung im Quartier (Inklusion) setzt soziale Synergien frei. Ein günstiger Baurechtszins, tiefe Ausbaustandards der Wohnungen und ein Sozialfonds sorgen für bezahlbare Mieten. Grosszü- gige gemeinschaftlich genutzte Räume sowie Belegungsvorschriften für die Wohnungen gewährleisten eine sehr zentral gelegene hohe Wohndichte. Platz für Luzerner KMU Durch die partizipative Ansiedlung des Gewerbes sind die Betriebe im Quartier verankert und bieten Interaktionsmög- Fortsetzung auf Seite 2 So bleibt die Industriestrasse lebendig Nach der Abstimmung werden die Ziele der Arbeit konkreter definiert Chaos im Blätterwald! Noch ein Extrablatt? Ein EXTRABLATT jagt das andere – auch die SVP verteilte im Winter lan- desweit zwei Zeitungen dieses Namens, fett und vierfarbig, doch zum Glück mit unverwechselbar weniger Inhalt; man konnte die «Sicherheit für alle» getrost gleich in die Wiederverwertung geben. Die beiden ersten Extrablätter der In- dustriestrassen-Initiative kursieren hin- gegen noch heute und bieten Durchblick, Fakten und lesenswerte Information zum wichtigen Stadtgeschehen. So soll es auch dieser dritten Ausgabe und den eventuellen weiteren Extrablättern er- gehen, die wir angesichts der «grossen» Konkurrenz allerdings umbenennen möchten. Denn für den Schmuck gilt, im Gegensatz zum Inhalt, «Weniger ist mehr!» Und genau deshalb heisst unser Extrablatt, das erste, das echte und das wichtigste Luzerner Extrablatt, ab heute EXTRABLA! Am 25. Mai live und in Farbe: Offene Türen an der Industriestrasse! Foto: G. Ammon

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Initiativzeiotung für Luzern. Herausgegeben von der IG Industriestrasse. Information und Diskussion zu den Themen Wohnen und Leben in Luzern, in Folge der Abstimmung vom 23. September 2012.

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Die Langsamkeit, mit der sich unsere Politik bewegt, ist sprichwörtlich und Luzern macht da keine Ausnahme. Der doppelte Abstimmungserfolg der Wohninitiative und der Industrie-strasse bewirkten aber schon einiges in der Stadt. Bleibt zu hoffen, dass die Initiativgegner während des partizi-pativen Prozesses zur Industriestrasse nicht in alte Denkmuster zurückfallen.

Marcel Budmiger · Es brauchte mehre-re Anläufe, bis die Wohnraumpolitik endlich ganz oben auf der politischen Agenda der Stadt stand. Lieber wird in Luzern über Strassenmusikanten und Strassenstrich, Bierdosen auf dem Euro- paplatz oder neuerdings das korrekte Bereitstellen von Altpapier und Karton gestritten. Schnell wird ein Reglement verabschiedet, nur ändern tut sich dann oft doch nur wenig. Das Misstrauen in die Politik kommt ja nicht von un-gefähr. Konsequenterweise versenkten die Luzernerinnen und Luzerner im letzten Juni ein mutloses Reglement («über die Förderung des gemeinnüt-zigen Wohnungsbaus») und gaben der Wohn-Initiative von Mieterverband, SP und Grünen den Vorzug. Dass die Initiative gemäss Stadtrat und bürger-lichen Parteien unmöglich umzusetzen sei, interessierte die Stimmberechtigen wenig; manchmal braucht es Weckrufe aus der Bevölkerung. Würde sich nach Jahren des Stillstandes plötzlich etwas ändern in der Wohnpolitik? Die FDP fragte schon im Juni besorgt, ob die Zie-le der Gesamtplanung gefährdet seien. Schliesslich wolle man weiterhin inter-nationale Firmenhauptsitze und reiche Steuerzahler anlocken. Doch schon am 23. September folgte die nächste bittere Niederlage für die bürgerliche Mehr-heit in Stadtrat und Parlament. 12‘960 Stimmberechtigte sagten «Ja!» zur Initi-ative «Für eine lebendige Industriestras-se» und verhinderten so den Verkauf des Industriestrassen-Areals an die Zürcher Allreal. Statt dessen soll das Land im Baurecht an eine gemeinnützige Bauge-nossenschaft abgegeben werden.

Städtische Gesamtplanung wird partizipativ

Spätestens seit dem Abstimmungser-folg der IG Industriestrasse ist nun klar, dass die bisherige Wohnraum- und Bo-denpolitik, welche einseitig Büroräu-me fördern und die letzten städtischen Landreserven verkaufen wollte, künftig keine Mehrheit in der Stadtbevölkerung mehr finden wird. Dies mussten auch die bürgerlichen Parteien eingestehen. Die Gesamtplanung 2013–2017 wurde dahingehend geändert, dass Schlüssel-areale jetzt partizipativ weiterentwickelt werden sollen. Während der ehemalige Baudirektor seine Projekte möglichst rasch und möglichst ohne Einfluss-nahme des Parlaments durchgewunken wissen wollte, zählt die Stadt nun auf die Mitsprachemöglichkeiten der Di-rektbetroffenen und der Nachbarschaft. Dies macht Sinn, fehlte nach den zwei Abstimmungsschlappen doch offen-sichtlich der direkte Draht zur Bevöl-kerung. Der im Januar durchgeführte Zukunftsworkshop zur Erarbeitung der vollständig zu überarbeiteten Gesamt-planung 2014–2018 unter Einbezug der Zivilgesellschaft ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ob dies auch ohne die Industriestrassen-Initiative so statt-gefunden hätte?

Umdenken bei der Bodenpolitik

Die Abstimmung am 23. September war auch ein Plebiszit über die Bodenpolitik der Stadt. Soll weiterhin wertvoller Bo-den verhökert werden, damit die Stadt kurzfristig bessere Budgetzahlen auf-weist? Oder braucht ein Gemeinwesen nicht auch die Möglichkeit zur Einfluss-nahme auf eigenem Grund und Boden? Oft wurde darauf hingewiesen, dass die Stadt nur wenig Einfluss auf den Woh-nungsmarkt nehmen kann. Und je ge-ringer die Landreserven werden, desto geringer auch die Einflussmöglichkei-ten. So forderte selbst alt Baudirektor Kurt Bieder nach den Abstimmungen eine neue Immobilienpolitik. Auch Stadtpräsident und Finanzdirektor Ste-fan Roth sieht nach anfänglicher Skepsis die Vorteile einer Landabgabe im Bau-recht. Die Weichen sind gestellt, auch wenn hier der Tatbeweis noch fehlt. Dass das Parlament aber sein Veto gegen die vom Stadtrat geplante Verknüpfung der Altlastensanierung im Friedental mit dem Verkauf des Urnerhofs einlegte, lässt jedoch hoffen.

Wohnen wird wichtiger Neben der Gesamtplanung ist die Bau- und Zonenordnung (BZO) das wichtigs-te Planungsinstrument auf städtischer Ebene. Nach jahrelangen Vorberei-tungsarbeiten behandelte im Januar das Parlament die BZO-Totalrevision. At-mete der Entwurf noch den Geist des alten Stadtrats, korrigierte das Parla-ment in entscheidenden Punkten. Die verbindlich festgelegten Mindestanteile an gemeinnützigem Wohnbau an der Industriestrasse, aber auch an anderen Gebieten, wäre vor den wohnpoliti-schen Abstimmungen noch undenkbar gewesen. Im ursprünglich geplanten Business-Distrikt an der Rösslimatt soll nun nicht nur gearbeitet, sondern auch gewohnt werden. Und bei der Nachfol-geregelung zum Wohnanteilplan suchte und fand die Stadt einen Kompromiss mit dem Mieterverband. Das Ender-gebnis der Beratungen, über welches am 9. Juni abgestimmt wird, ist sicher kein grosser Wurf. Ohne die beiden Abstimmungserfolge zur Wohn- und Industriestrassen-Initiative wäre der Fokus aber weiterhin auf Grossbetrie-ben und reichen Steuerzahlern gelegen. Wohnanliegen konnten sich nun besser durchsetzen.

Gestärkt in den gemeinsamen Prozess

Das Zusammenstehen von Kleingewer-be, der Kulturszene und Mieterinnen und Mietern hat sich gelohnt. Ein guter Draht zur Bevölkerung und kreative Aktion führten zu Abstimmungser-gebnissen, die Luzern nachhaltig ver-ändern werden. Nun gilt es gemeinsam den Druck aufrecht zu erhalten, dass es nicht bei den oben erwähnten zaghaf-ten Schritten bleibt. Die Initiativgeg-ner müssen einsehen, dass 61 Prozent der Bevölkerung ein lebendiges Quar-tier mit eigener Identität und günsti-gem Raum fürs Wohnen, für Kultur und Kleingewerbe höher gewichtet als kurzfristige Einnahmen oder einen maximalen Baurechtszins. Nur mit Zu-geständnissen beider Seiten kann der partizipative Prozess an der Industries-trasse zu einem Erfolg führen. Die zwei deutlichen Abstimmungserfolge stär-ken der IG Industriestrasse in diesem Prozess aber klar den Rücken.

Marcel Budmiger ist SP-Grossstadtrat und Vorstandsmitglied des Mieterinnen- und Mieterverbands Luzern

extraBLAttNr. dr3i Gratis · 10‘000 Exemplare

Mai 2013

Initiativzeitung für Luzern · Herausgegeben von der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse»

BITTE VORMERKEN: TAG DER OFFENEN TÜR IN DER INDUSTRIESTRASSE,am 25. Mai, 11 bis 17 Uhr. Informationen: www.industriestrasse.ch

Und sie bewegt sich doch!Ist die Luzerner Politik etwa aufgewacht?

Durch die Annahme der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» im letzten September ist die einmali-ge Chance gegeben, an der Industrie-strasse ein innovatives Projekt, ein Leuchturmprojekt umzusetzen. Oder anders gesagt: Die Industriestrasse ist ein lebendiger, blühender Mikrokos-mos, seit Jahrzehnten – und die Mehrheit der Stadtbevölkerung spricht sich dafür aus, den Charakter dieses für Luzern bedeutungsvollen Quartieres zu erhalten.

Die IG Industriestrasse war die treiben-de Kraft hinter der Initiative und dem Abstimmungskampf. In ihr haben sich Leute zusammengefunden, die teilwei-se seit Jahren an der Industriestrasse arbeiten, ein eigenes Geschäft auf-gebaut haben oder dort wohnen, mit ihren Partnern oder Familien, zum Beispiel an der Industriestrasse 9 in ei-ner Gross-WG. Sie erproben dort neue Wohnformen, büffeln für die Uni oder die Fachhochschule, schreiben Bücher, proben Musik für einen Auftritt, füh-ren Puppentheater auf, malen Bilder, betreiben ein Kleinhandwerk … Zur IG Industriestrasse gehören aber auch Leu-te, die nicht selbst in der Industriestras-se wohnen. Die an einer nachhaltigen Stadtentwicklung interessiert sind, an anderen Formen des Zusammenlebens, an ökologischen Zusammenhängen, an biologischer Landwirtschaft, an inno-vativen Wohnformen oder ganz einfach

– teilweise auch aus einer Not heraus – an bezahlbarem Raum in der Stadt Luzern. Zum Wohnen, für ein Büro, ein Atelier oder als KleinhandwerkerIn für eine ei-gene Werkstatt.

Die Initiative und ihre Umsetzung

Die IG Industriestrasse will als zentra-les Ziel, dass der Volkswille umgesetzt und das Areal Industriestrasse nachhal-tig weiter entwickelt wird. Damit das ge-schieht und damit noch mehr Leute an der Industriestrasse leben können, setzt die IG Industriestrasse auf:

• Partizipative Planung – über die Industriestrasse hinaus• Etappierte Weiterentwicklung• Soziale Durchmischung• Platz für Luzerner KMU• Kultur für ein lebendiges Quartier• Eine gelebte ökonomisch-ökolo- gische Gesellschaft • Ein gestärktes Zusammenleben im Quartier

Das alles sind Wünsche, für die es um-gesetzte oder besser gesagt bereits ge-baute gute Beispiele gibt. Wünsche und Bedürfnisse, welche die IG Industrie-strasse nicht erfunden, aber für die sie, nach intensiven Diskussionen mit «rau-chenden Köpfen» eigene Worte gefun-den hat, um für Sie, geschätzte Leserin und Leser des Extrablattes, folgenden Katalog zusammenzustellen:

Eine partizipative (Stadt-)Planung

Der Begriff partizipativ bedeutet «mit-wirkend», «durch Beteiligung bestimmt». Eine partizipative und sorgfältige Pla-nung einzelner Weiterentwicklungsschrit- te des Areals garantiert die Verankerung im Quartier und bei der Bevölkerung. Dabei wird das gesamte Schlüsselareal inklusive des ewl-Areals, des alten Hal-lenbads, des Feuerwehrdepots und des ehemaligen Zentralbahntrassees in die Entwicklung miteinbezogen. Jetzige oder künftige Nutzende des Geländes wer-den an der Planung beteiligt sein. Erstere sollen weiterhin Platz in der neuen Nut-zung finden. Sollte dies nicht möglich sein, wird aktiv nach einer Lösung für alle etablierten und ortsverbundenen Nutzer gesucht. Hohe Gebäudestandards auf den zu bebauenden Flächen, ein auto-armes Wohnen und gemeinschaftlich genutzte und halböffentliche Grünräume garantieren eine ökologische Siedlung. Flexible Gewerberäume für lokales Kleingewerbe, Kreativwirtschaft und KMU bringen zusätzliche Arbeitsplätze ins Quartier. Ebenso werden günstiger Wohnraum, innovative Wohnformen und generationsübergreifendes Woh-nen für eine Nachhaltigkeit in Bildung, Kultur und Lebensqualität sorgen.

Weiterentwicklung in Etappen

Nach den Grundsätzen der «Slow Archi-tecture», der wohlüberlegten und nicht übers Knie gebrochenen architektoni-schen Planung, wird die Industriestrasse sorgfältig und etappenweise weiter ent-wickelt. Der Fokus liegt zuerst auf den mittleren Parzellen mit niedriger Aus-nutzung. Erhaltenswerte und weiterhin nutzbare Gebäude an der Industrie-strasse werden in die Überbauung inte-griert, um die Identität des Quartiers zu wahren. Der abgeschöpfte Baurechts-zins wird auf diese kontinuierliche Weiterentwicklung Rücksicht nehmen. Das Ziel der Stadt ist dabei nicht der möglichst höchste Ertrag, sondern die Erstellung von preisgünstigem Wohn-, Gewerbe- und Kulturraum.

Soziale Durchmischung

Die Industriestrasse ist sozial durch-mischt und bietet im Stadtzentrum Wohnraum für alle. Für Familien und Alleinerziehende (Spielplätze und Kita) genauso wie für Senioren, Studenten. Durch Clusterwohnungen werden neue Wohnformen möglich, und die Spitex in der unmittelbaren Nachbarschaft er-möglicht es Betagten, in ihrem Quartier wohnen zu bleiben. Für eine möglichst flexible Raumgestaltung wird ein Teil der Räume in Form von dazu mietba-ren Jokerräumen freigehalten. Die da-bei entstehende lebendige kultur- und generationenübergreifende Durchmi-schung im Quartier (Inklusion) setzt soziale Synergien frei. Ein günstiger Baurechtszins, tiefe Ausbaustandards der Wohnungen und ein Sozialfonds sorgen für bezahlbare Mieten. Grosszü-gige gemeinschaftlich genutzte Räume sowie Belegungsvorschriften für die Wohnungen gewährleisten eine sehr zentral gelegene hohe Wohndichte.

Platz für Luzerner KMU

Durch die partizipative Ansiedlung des Gewerbes sind die Betriebe im Quartier verankert und bieten Interaktionsmög- Fortsetzung auf Seite 2

So bleibt die Industriestrasse lebendig Nach der Abstimmung werden die Ziele der Arbeit konkreter definiert

Chaos im Blätterwald!

Noch ein Extrablatt?

Ein EXTRABLATT jagt das andere – auch die SVP verteilte im Winter lan-desweit zwei Zeitungen dieses Namens, fett und vierfarbig, doch zum Glück mit unverwechselbar weniger Inhalt; man konnte die «Sicherheit für alle» getrost gleich in die Wiederverwertung geben.

Die beiden ersten Extrablätter der In-dustriestrassen-Initiative kursieren hin-gegen noch heute und bieten Durchblick,

Fakten und lesenswerte Information zum wichtigen Stadtgeschehen. So soll es auch dieser dritten Ausgabe und den eventuellen weiteren Extrablättern er-gehen, die wir angesichts der «grossen» Konkurrenz allerdings umbenennen möchten. Denn für den Schmuck gilt, im Gegensatz zum Inhalt, «Weniger ist mehr!» Und genau deshalb heisst unser Extrablatt, das erste, das echte und das wichtigste Luzerner Extrablatt, ab heute EXTRABLA! Am 25. Mai live und in Farbe: Offene Türen an der Industriestrasse! Foto: G. Ammon

Page 2: ExtraBLA(tt) Nr. 3, Mai 2013

EXTRABLA Nr. 3 / Mai 20132

Otti Gmür · Es geht mir um die Stadt, umfassend ihre Strukturen sozialer, wirtschaftlicher und rechtlicher Art, ihre politische Vitalität, ihr Ver-netztsein durch Mobilität in sich und mit der Landschaft und letztlich um ihre aus all diesen Faktoren entstehende räumliche Gestalt, durch die wir uns auf unseren täglichen Gängen und Fahrten bewegen. In einer Umfrage zur Zufriedenheit der Stadt-bewohner ergab die Frage zum Verkehr mit 64 Prozent die höchste Quote. Doch was ist damit gemeint? Die unklare Frage wies dem Ergebnis eine falsche Bedeutung zu. In der Stadt stellt sich die Frage nach der Gleichberechtigung der Verkehrsmittel. Hier hat nur jeder zweite Haushalt ein eigenes Auto. Das Angebot öffentlicher Transportmittel ist eine Notwendigkeit, auch als Folge privater Entschei-dungen zu einer ökonomischen und ökologischen Lebensart. Stadtraum hat aber einem allgemein verträglichen Verkehr zu dienen. Wobei die Warte-zeit der FussgängerInnen bei Ampelanlagen nicht weniger kostbar ist als die des eiligen Autofahrers. Und ältere Menschen brauchen mehr Zeit, um die breiteren Strassen zu überqueren. Der aktuellen Forderung nach räumlicher Verdichtung der Stadt, auch von Kantonspolitikern vorgebracht, stehen konkret immer bulligere, breitere Autos und der Anspruch vieler AutofahrerInnen auf freie Fahrt gegenüber. Der motorisierte Individualverkehr beansprucht eine Freiheit an sich; das hat sich so eingebürgert und wird so weiter gedacht.

Die Erarbeitung der neuen Bauzonenordnung für die Stadt erfolgte mit wenig öffentlicher Be-teiligung. Ob ihre zweite Auflage von diesem Frühjahr zum Ziel führt, ist noch unsicher. Mehr Beachtung fanden die städtischen Abstimmun-gen zur Planung an der Industriestrasse und zur Initiative gegen den Südzubringer. Der Erfolg der ersten bewirkte ein Umdenken und die knappe Ablehnung der zweiten ist ein deutlicher Hinweis

– auch an übergeordnete Planungen – auf ein ver-ändertes Mobilitätsverständnis vieler Stadtbe-wohner. Im «Stadtmagazin» Nr. 5/2012 der Stadt Lu-zern [Link siehe unten] fanden sich ausführliche Informationen zur Stadtentwicklung, erstmals mit einem Stadtplan mit dem Stadtteil Littau und einer Einladung der Stadtbewohner zu einem öf-fentlichen Forum am 25. und 26. Januar. Zudem wurden die höchst mangelhaften Informationen unserer Tageszeitung über Planungs- und Kultur-fragen durch kompetente Beiträge in der kleinen Architekturzeitschrift KARTON und im 041 Kul-turmagazin ergänzt. In letzterem wurde das Er-gebnis des grossen Architekturwettbewerbs der ABL mit über 250 Wohnungen im Himmelrich vorgestellt. Im KARTON waren Studentenarbeiten zum Umbau des ehemaligen Zentralbahntrassé zu sehen und die kantonale Denkmalpflegerin Cony Grünenfelder erläuterte nochmals die städ-tebauliche und architektonische Bedeutung des Gebäudes der Zentral- und Hochschulbibliothek. Stadtplanung bedingt kompetent und profes-sionell erarbeitete Grundlagen, aber diese müs-sen auch verständlich und offen kommuniziert werden. Bei der Mitsprache geht es weniger um

eine grosse Zahl Beteiligter als um ein breiteres Verständnis der die Stadt als Ganzes betreffenden Regelungen. Das Wohlbefinden des Einzelnen und der Gemeinschaft in der Stadt beruhen auf ausgewogenen Verhältnissen und nicht auf abso-luten Zahlen. Wie bei der Mobilität gelten sowohl in der privaten als auch in der öffentlichen Finanzwirt-schaft je sehr spezifische Interessen. Steuerwett-bewerb und unterschiedlichste Steuerbelastungen privater Einkommen und Unternehmenserträge im öffentlichen Bereich und die professionelle Suche nach Steuerersparnissen im privaten Leben entwickeln sich zu Hauptbeschäftigungen.

Nochmals ist auf die Ungereimtheiten im Zu-sammenhang mit der längst fälligen Sanierung der ZHB hinzuweisen. Da wird von einem KKL-analogen Effekt schwadroniert, als ob nicht ge-rade der französische Stararchitekt Jean Nouvel mit dem an der Platzseite, Ecke Murbacherstrasse umgebauten Hotel gezeigt hätte, was dem Ort zu-träglich ist. Die Arbeit für fundierte Gutachten, der Wettbewerb unter ausgewiesenen Fachleuten, ein ausgereiftes und bewilligtes Projekt zur zeit-gemässen Umgestaltung der ZHB und im zweiten Anlauf auch noch die Studien für ein Gerichtsge-bäude in Horw oder Ebikon werden zur Maku-latur erklärt; ein bürokratischer Leerlauf wird entwickelt – ohne jede Verantwortlichkeit für die damit verursachten Kosten. Es ist Ueli Maurer, Bundesratpräsident dieses Jahres, der bemerkte, dass das Parlament sich zu sehr in Dinge einmi-sche, die Sache der Exekutive seien. Der Philosoph Emmanuel Kant – er lebte stets in der gleichen Stadt, machte seine täglichen Spa-ziergänge und war Gastgeber für viele anregende Gespräche – definierte Mündigkeit als Mut zu eigenem Denken. Kreativität entsteht weder auf einem privaten Geldhaufen noch auf der Basis ir-gendwelcher Versicherungen oder beliebiger Mo-bilität. Kreativität bedingt selbstverantwortliches Tun, basierend auf Mündigkeit und Bildung. Un-sere öffentlichen Gemeinschaften, die Gemeinde, der Staat und der Bund haben die Aufgabe, dafür die bestmöglichen Voraussetzungen zu schaffen. Auch dieses Tun – es ist mehr als Bürokratie – be-dingt Mut zu eigenem Denken, in der Verantwor-tung des Amtes. Eine gute Stadt erträgt etwas Ungereimtes. Auch hier kommt es auf das Verhältnis an, auf die Balance guter und unguter Wünsche und sinn-voller und sinnloser Ideen. Die Initiativen junger Menschen verweisen auf ein lebendigeres und of-feneres Denken. Das gibt mir eine Zuversicht, die ich auch anderen wünsche.

Der Architekt und Autor Otti Gmür, Jahrgang 1932, setzt sich leidenschaftlich und mit fundier-ter Erfahrung mit Themen des Städtebaus und der Architektur auseinander. Sein Werk verbindet das Planen, Bauen, Schreiben und Lehren mit sozia-lem Engagement. 2012 erhielt er den Kunst- und Kulturpreis der Stadt Luzern.

Das «Stadtmagazin» der Stadt Luzern ist im In-ternet unter ‹www.stadtluzern.ch/de/aktuelles/stadtmagazin› als PDF-Datei herunterzuladen.

Gereimtes und Ungereimtes Dichtung und Verdichtung …

ist ein Garant für ein aktives kulturelles Milieu, welches Luzern prägt. Diese ein-zigartige kulturstiftende Identität bleibt durch ein etappiertes Bauen der Indust-riestrassse erhalten und dient weiterhin als wichtige Grundlage für das Entste-hen vielfältiger und lebendiger kulturel-ler Leistungen.

Eine gelebte ökonomisch-ökologische Gesellschaft

Die zentrale Lage, eine gute Anbindung an den öffentlichen Verkehr sowie eine Fahrrad-Infrastruktur und Carsharing-Stationen ermöglichen ein autoarmes Wohnen und Arbeiten. Neben aktuellen Gebäudestandards bei Neubauten wer-den bei der Weiterentwicklung des Pro-jektes die Erkenntnisse zur «grauen Energie» – zur gesamten Energiebilanz von Materialien und Nutzungen – be-rücksichtigt und ein hoher Wert auf ökologische Suffizienz (das Bemühen um einen möglichst geringen Rohstoff- und Energieverbrauch) gelegt. Auf den Dächern wird neben einer möglichen Nutzung von Sonnenenergie eine hohe Biodiversität (Vielfalt von Lebensräu-men, Arten und Genen sowie ihr Zu-sammenspiel) durch Urban Gardening angestrebt. Auch Fassaden und einge-gliederte Bauten werden mit Bepflan-zungen versehen. Daneben unterstützt die Anbindung an die regionale Land-wirtschaft die Ziele einer 2000-Watt-

Gesellschaft. Diese sollen an der Indus-triestrasse nicht nur angestrebt, sondern auch tatsächlich gelebt werden können.

Ein gestärktes Zusammenleben im Quartier

Die Industriestrasse soll ein lebendiger Treffpunkt für die Bevölkerung der ganzen Stadt werden. Eine genossen-schaftlich geführte Quartierbeiz mit integriertem Veranstaltungsort ist für alle offen. Dieser Treffpunkt verschmilzt mit dem vielfältigen, bunten Mix aus Gewerbe, Kultur, Wohnen, Arbeit und Freizeit zu einem lebendigen Stadtteil. Die Industriestrasse wird ein Quartier der kurzen Wege. Interaktionsmöglich-keiten in Gemeinschaftsräumen (bei-spielsweise mit Bibliothek, Gemein-schaftsküche, Ludothek, Waschsalon, einer Velowerkstatt) stärken den nach-barschaftlichen Zusammenhalt und bieten auch einer breiten Öffentlichkeit neue, attraktive Begegnungsräume.

IG Industriestrasse

Fortsetzung von Seite 1

lichkeiten mit der Anwohnerschaft. Ein tiefer Ausbaustandard und flexibel ge-staltbare Räume sorgen hier ebenso für bezahlbare Mieten. Diese günstigen Ge-werberäume werden vor allem an lokales Kleinst- und Kleingewerbe, Jungfirmen und Genossenschaftsbetriebe vermietet. Die Nutzung von Raumsynergien inner-halb der Gewerberäume führt zu einem Austausch mit dem kulturellen Milieu und stärkt die lokale Kreativwirtschaft. Synergien zwischen Gewerbe-, Wohn- und Kulturräumen sind insbesondere in den Gemeinschaftsräumen (beispiels-weise für Vernissagen, Meetings) zu finden. Auch können für KMU im un-mittelbaren Umfeld interessierte Mitar-beiter und Nachwuchskräfte gefunden werden.

Kultur für ein lebendiges Quartier

Die kulturelle Nutzung prägt die heutige und zukünftige Identität der Industries-trasse. Unsere Stadt stellt mehr Kultur-quadratmeter für die «Kulturprodukti-on» frei. Darüber hinaus finden äusserst dringend benötigte Präsentations- und Proberäume für Kunst- und Kultur-schaffende Platz. Günstige Räume mit flexibler Struktur ermöglichen eine un-terschiedlichere Nutzung als verschie-den grosse Einzel- und Gemeinschafts-ateliers. Die heutige Zwischennutzung

Scherben bringen GlückMarcel Budmiger fragte Luzerns Stadträtin

undBaudirektorin Manuela Jost

Warum sagte die Luzerner Stimmbevölkerung so deutlich Ja zu einer Initiative, die von Stadtrat und Parlament zur Ablehnung empfohlen wurde?

Weil ein Grossteil der Stimmbevölkerung dort ge-meinnützigen Wohnraum will und der Ansicht ist, dass das Land nicht verkauft werden soll. Dass ein Bedürfnis nach preisgünstigem Wohnraum in der Stadt besteht, hat die Stimmbevölkerung letztes Jahr bereits an der Volksabstimmung «Für bezahl-baren Wohnraum» im Juni 2012 klar gesagt.

Wie verhindert die Stadt einen erneuten Scherben-haufen an der Industriestrasse?

Indem die Industriestrasse nun neu betrachtet wird. Der Stadtrat hat ein partizipatives Vorgehen in die Wege geleitet, in dem alle relevanten Akteu-re mit einbezogen werden. Ziel dieses Prozesses ist es, die gemeinsamen Anforderungen an eine Trä-gerschaft und an das Bauprojekt zu definieren. Die Hochschule Luzern begleitet diesen Prozess. Und: Scherben bringen in der Regel auch Glück!

Worin soll sich das neu aufzugleisende Projekt von den an der Urne abgelehnten Allreal-Plänen unter-scheiden?

Das Initiativbegehren besagt, dass das Areal In-dustriestrasse an einen gemeinnützigen Wohnbau-träger und im Baurecht abzugeben ist. Diese zwei Punkte sind für das neue Projekt verbindlich ein-zuhalten. Darin wird sich das neue Projekt grund-sätzlich vom Allreal-Projekt unterscheiden. Die weitere Ausgestaltung des Projektes ist Gegenstand des laufenden Prozesses.

Warum beschränkt sich der partizipative Prozess nur auf die Industriestrasse? Wäre unter Einbezug der angrenzenden Arealen (ewl, Feuerwehrdepot, Hallenbad etc.) nicht ein «lebendiger Steghof» an-zustreben?

Prioritär ist für mich nun die Umsetzung der In-itiative für eine lebendige Industriestrasse. Das Schlüsselareal Steghof setzt sich aus mehreren Teil-gebieten zusammen, die sich zu einem kleinen Teil in städtischem Eigentum, zum grössten Teil aber in Privateigentum befinden. Im Rahmen des Berichts und Antrages «Städtische Wohnraumpolitik II» wird der Stadtrat eine strategische Nutzungsaus-richtung des Steghofs vorschlagen. Diese stützt sich auf das städtebauliche Entwicklungskonzept Steg-hof von Andreas Rigert + Patrick Bisang aus dem Jahr 2010, auf die neuen Bau- und Zonenordnung und auf die angenommenen Initiativen «Für eine lebendige Industriestrasse» und «Für bezahlbaren Wohnraum». Das Areal soll zu einem modernen Arbeits- und Wohnquartier mit urbanem Charak-ter und einem ausgewogenen Nutzungsmix entwi-ckelt werden. Neben dem Thema «Wohnraum» soll auf dem Areal Steghof auch Platz für die Ansied-lung von Firmen geschaffen werden. Beim Areal Industriestrasse ist die strategische Ausrichtung durch die Initiative nun gegeben.

Genossenschaft GWI gegründet

Seit Ende Januar dieses Jahres ist die Stadt Luzern um eine Baugenossenschaft reicher. Die neu ge- gründete «Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Industriestrasse» (GWI) will – vorerst auf dem Areal Industriestrasse – günstigen Wohn-, Gewerbe- und Kulturraum fördern. Mit der Berücksichtigung – un-ter anderem – neuer Wohnformen und autoarmen Wohnens und der Vertragslandwirtschaft bringt die GWI frische Wohnideen nach Luzern. Denn die GWI, aus dem Umfeld der IG Industriestrasse entstanden, will keine gewöhnliche Baugenossenschaft sein. Gemäss Statuten strebt sie neben neuen Wohnformen auch die Erstellung von Räumen für Kleinstgewerbe und Kulturschaffende, gemeinschaftliche Einrichtun-gen, Selbstverwaltung durch Hausgemeinschaften und die Anbindung an die Vertragslandwirtschaft an. Damit ist sie einzigartig in Luzern; ihre Ideen sind andernorts aber bereits erfolgreich erprobt.

Rochade retour?Nach nur einem halben Jahr gab alt Baudirektor Kurt Bie-der seinen Rücktritt als Prä-sident der Kunstgesellschaft Luzern bekannt. Nach der Rochade mit seiner dortigen Vorgängerin, der amtieren-den Baudirektorin Manuela Jost, fragt sich nun halb Lu-zern, wie der Ämtertausch weitergeht. Übernimmt Bie-der nun Josts Yoga-Studio? Und welche Direktion strebt Kunstmuseums-Direktorin Fanni Fetzer an? Der gewon-nene Machtkampf gegen den Spitzenpolitiker ist jeden-falls eine gute Empfehlung auch für politische Würden.

Was bedeutet …

«Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft»bzw. «Gemeinnütziger Wohnbauträger»

In der Schweiz gibt es geschätzte 1500 Wohnbauge-nossenschaften, zu denen rund 160 000 Wohnun-gen (zwischen 5 und 9 Prozent des schweizerischen Wohnungsbestandes) gehören. Die Mietzinse der Wohnungen dieser Genossenschaften liegen pro Quadratmeter rund 15 Prozent unter dem Durch-schnitt aller Mietwohnungen (Zahlen aus der Volkszählung 2000). Der grösste Teil der Genos-senschaftswohnungen gehört sogenannten Mit-gliedergenossenschaften: Die Mieterinnen und Mieter sind Mitglieder der Genossenschaft. Gemeinnützige Wohnbaugenossen arbeiten nicht gewinnorientiert: Ihre Bauten sind dauerhaft der Spekulation entzogen und bei der Höhe der Miete gilt das Prinzip der Kostenmiete. Das heisst, Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaften ver-rechnen ihren Mieterinnen und Mietern nur den effektiven Aufwand, den sie beim Vermieten ha-ben. Sie bieten ihren MieterInnen noch andere Vorteile: Diese haben die Möglichkeit zur Partizi-pation: zur Mitsprache und Mitbestimmung oder sogar zur Mitarbeit in Gremien. Und sie geniessen einen sehr weit gehenden Kündigungsschutz. Zu-dem legen viele Genossenschaften Wert auf ein Ge-meinschaftsleben und sorgen für Anlässe, Freizeit-angebote oder soziale Dienstleistungen (wie zum Beispiel einen Solidaritätsfonds für MieterInnen mit wenig Einkommen). Städte können gemeinnützigen Wohnungsbau fördern: Mit der Abgabe von Land zu günstigen Konditionen (Verkauf oder im Baurecht), Vor-kaufsrechten bei Landverkäufen, der Beteiligung am Genossenschaftskapital oder mit zinsgünstigen Darlehen für die Restfinanzierung. M. Heinrich

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Häuserbau – ein Kinderspiel?Kinder malen, was sie wollen. Für uns!

Unser Malwettbewerb zum «Traumhaus» hat eini-ge wirklich traumhafte Ergebnisse hervorgebracht, die uns wieder einmal zeigten, wie schwer es doch ist, erwachsen zu sein. Warum bloss haben wir all das vergessen, wonach wir uns selbst einmal sehn-ten? Ein buntes Haus mit echtem Dach, schöne Fenster, oft eine Rutschbahn, versteckte Räume und geheimnisvolle Keller, schiefe Böden, eine Schaukel, ein Maserati und fliegende Fische – ei-gentlich ist doch alles ganz einfach! Vielleicht sollte jeder Bauherr vor der Projek-tierung einmal seine eigenen Kinder malen las-sen, wie das kommende Werk aussehen könnte. Altmodisch und konservativ wird kaum eines der Ergebnisse ausfallen, eher avantgardistisch und vi-sionär, und manche dieser Träume sind sicher ganz vernünftig, technisch machbar und von einem ur-sprünglichen Sinn für das Gute geprägt. Wir müs-sen nur genau hinsehen, jeden Tag aufs Neue. Bild: Anouk, August 2012

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EXTRABLANr. 3 / Mai 2013 3

In der Stadt Luzern herrscht Raum-knappheit: Steigende Mieten für Kultur und Gewerbe führen in der Innenstadt zu einem Verdrängungs-kampf. Die JUSO Stadt Luzern will mit ihrer Initiative «Zwischennutzung statt Baulücke» die Verschwendung von städtischem Boden stoppen.

Thomas Moser · Die Zwischennutzungs-Initiative sieht vor, dass leerstehende Gebäude und Räume für Zwischen-nutzungen zu Verwaltungskosten zur Verfügung gestellt werden. Dazu müs-sen die von dieser Regelung betroffenen Gebäude und Räume der Stadt gemeldet werden, welche anschliessend zwischen den BesitzerInnen und allfällig Interes-sierten vermittelt. Zudem verlangt die Initiative, dass Gebäude erst abgerissen werden, wenn das Neubauprojekt gesi-chert und bewilligt ist, denn von nicht nutzbaren Brachflächen profitiert nie-mand.

«Lozärn läbt!»

Grossartige Konzerte, Festivals mit in-ternationaler Ausstrahlung und immer neue Ideen aus der Kreativwirtschaft beweisen: Das kreative Potential in Lu-zern ist gross und es trägt einen wich-tigen Teil zur Lebendigkeit der Stadt bei. Mit ehrenamtlicher und leiden-schaftlicher Arbeit wurden und werden unzählige Projekte realisiert, trotz aku-ter Verdrängungsproblematik. Leider versäumte es die Politik bislang, dazu möglichst passende Rahmenbedingun-gen zu schaffen, und sie hat den grossen Beitrag der Kreativwirtschaft für die Attraktivität von Luzern noch zu wenig registriert. Dies hat zur Konsequenz, dass Luzern ein enormes Potential un-genützt lässt: Ideen sind da, doch fehlen die Räume zu derer Umsetzung. Es kann nicht sein, dass viele innovative Nut-zungsideen von städtischem Grund in Luzern keinen Platz finden, weil gleich-zeitig einige wenige mit ihrem Land auf hohe Profite und Renditen spekulieren. Genau da setzt die Zwischennutzungs-initiative an: Sie bietet eine Lösung für dieses Dilemma, und mit ihrer Umset-zung werden Freiräume geschaffen, wel-

che durch ihre kreative und innovative Nutzungen diese Stadt lebendig halten, ohne dass dies für jemanden eine Ein-schränkung bedeuten würde.

Chance (nicht nur) für die Wirtschaft

Die optimale Nutzung des Raumange-bots einer Stadt bietet allen Beteiligten nur Vorteile. JungunternehmerInnen bekommen die Möglichkeit, Projekte zu realisieren, die ansonsten nur mit hohem Kapitalaufwand umgesetzt wer-den können. Insbesondere bei neuarti-gen Geschäftsideen, deren Erfolg nicht von Beginn an feststeht, ist dies ein oftmals unüberwindbares Hindernis. Die Möglichkeit von unkomplizierten Zwischennutzungen stärkt dadurch den Wirtschaftsstandort Luzern. Die Zwi-schennutzungen selbst sind zwar ver-gänglich, doch die dort entstandenen Innovationen und Ideen bleiben uns erhalten. Zwischennutzungen bieten darüber hinaus auch eine grosse Chance für die städtebauliche Entwicklung von Luzern: Dass ein Quartier mehr davon hat, wenn es nicht von Baubrachen ver-unstaltet wird, sondern von kreativen NutzerInnen besiedelt wird, liegt auf der Hand. Wie an den Beispielen «Neubad» (Zwischennutzung des alten Hallen-bads Biregg) oder dem «La Fourmi» im ehemalige Hotel Anker gezeigt werden kann, führen Zwischennutzungen zu attraktiven Angeboten für Wohnraum, Kultur und Gewerbe. Zugleich bieten sie Obdach für Vereine, Institutionen und andere Gruppierungen. Zwischen-nutzungen fördern die Nutzungsdurch-mischung von Stadtteilen und schaffen Orte der Identität, Selbstverwirklichung und Innovation. Am 9. Juni – wenn über die Initiative abgestimmt wird – geht es darum, ein klares Zeichen für eine lebendige und gut durchmischte Stadt Luzern zu set-zen, die wieder vermehrt die Bevölke-rung und deren Anliegen ins Zentrum rückt.

Thomas Moser studiert Medizin, enga-giert sich bei der Juso Stadt Luzern und ist Präsident von «La résistance de la raison».

Zwischennutzungen: Jede Menge Möglichkeiten!

Zwischen Traum und Zwischenraum

Nach den Abstimmungen des letzten Jahres setzte zunächst das Erstaunen ein. Die Kurzsichtigen hatten eine Schlappe erlitten, doch aus Schaden kann man bekanntlich klug werden: Wer die Chancen der neuen Situation auf eine menschliche, moderne Stadt der Zukunft wahrnimmt, erkennt die vielfältigen Möglichkeiten der neuen Planungswege.

Peter Hammer · Die Abstimmung über die Industriestrasse hat – den Initiant-Innen sei Dank – in Luzern eine nicht nachhaltige Bodenpolitik und zugleich ein herkömmliches Planungsparadigma beerdigt. Diese Erfahrung machte man übrigens nicht nur in Luzern; auch in anderen Gemeinden und Städten sind in letzter Zeit Grossprojekte durch die Stimmbürgerschaft gestoppt worden, die architektonische Ästhetik und wirt-schaftliche Prosperität versprachen, aber letztlich wenig mit den Ansprüchen der lokalen Gesellschaft und der urbanen Zukunftsfähigkeit zu tun hatten. Hier wie dort muss man im Nachhinein kon-statieren, dass man dieses «Zurück zum Start» wohl hätte vermeiden können, wenn die Sache gleich mit einem zeitge-mässen Verständnis von Stadtentwick-lung angegangen worden wäre. Im Falle der Industriestrasse ist dies aus einer Stadtentwicklungsperspektive heraus nicht weiter schlimm: Die Über-gangssituation mit ihren Nischen für Kreative und GewerblerInnen bleibt halt noch ein bisschen länger bestehen. Ökonomisch gesehen ist es aber natür-lich ein Fiasko, denn abgesehen von den Kosten für den Investorenwettbewerb bleibt das Gebiet nun noch weitere Zeit unternutzt. Wie auch immer, die Sache ist gelau-fen und die jetzige Situation ist eine grosse Chance für Luzern: Für einen Urbanisierungsimpuls, für eine zu-kunftsfähige Lösung und schliesslich für ein neues Stadtplanungs- und Ent-wicklungsverständnis, das bei der In-dustriestrasse erprobt und bei weiteren Projekten fortgesetzt werden kann.

Die Urbanisierungschance

Im zentrumsnahen Gebiet der Indust-riestrasse besteht die Chance für eine echte Urbanisierung – verstanden als angemessene Dichte, verbunden mit ei-ner Vielfalt der Nutzungen, wobei be-zahlbarer Wohnraum selbstredend Pri-orität geniesst. Urbanität wird ja zumeist reduziert auf eine bestimmte Bauweise – nämlich gross und hoch. Viel wichtiger für ein städtisches Lebensgefühl ist aber die Interaktionsdichte. Das bedeutet für die Industriestrasse, dass für unterschied-liche Lebensstile, Lebens- und Arbeits-formen gebaut wird, dass es Platz hat für Ateliers, Werkstätten, Infrastrukturen für verschiedene Generationen und vor

allem für attraktive Erdgeschossnut-zungen mit Gastronomie- und Laden- nutzungen. Zentral sind auch halböf-fentliche und öffentliche Räume, die zu Begegnung einladen und vielfältig an-geeignet und genutzt werden können.

Die Chance auf eine zukunftsweisende Siedlung

Es ist an der Zeit, dass auch in Luzern nachhaltiges Bauen und Wohnen nicht nur diskutiert, sondern auch einmal modellhaft umgesetzt wird. Hierbei geht es nicht nur um Reduktion des Energieverbrauchs, sondern um ein ganzheitliches Verständnis von Nach-haltigkeit: ökologisch, ökonomisch und sozial. Dazu gibt es längst umfangrei-ches Wissen und Ansätze, die in ande-ren Städten umgesetzt werden. Beispiele sind etwa die Kalkbreite oder «Mehr als Wohnen» in Zürich. Bestandteile eines solchen Modells sind etwa: ein vielfälti-ges und flexibles Raumangebot für ver-schiedene Lebensabschnitte, Haushalts-formen und soziale Milieus sowie für Menschen mit besonderen Bedürfnis-sen, gemeinschaftliche und gemeinnüt-zige Nutzungen und Infrastrukturen, die das Quartierleben fördern, Grünflä-chen und Freiräume, Mobilitätskonzept ohne privaten motorisierten Individual-verkehr, Baubiologie, Plusenergiekon-zept und vieles andere mehr. Eine Ori-entierung an den Zielvorgaben der 2000-Watt-Gesellschaft und an ver-schiedenen existierenden Nachhaltig-keitsrichtlinien scheint mir hier sinn-voll und auch machbar.

Die Transformation

Ein Bestandteil von Urbanität ist die fortwährende Transformation. An der Industriestrasse muss nicht alles neu ge-baut werden, und vor allem muss nicht alles gleichzeitig gebaut werden. Statt einen auf dem Reissbrett konstruierten Plan in einer konzentrierten Massnah-me umzusetzen, geht es darum, den Wandel des Gebiets zyklisch zu gestal-ten und einen sinnvollen Rhythmus der Bautätigkeit zu definieren. Zugleich muss die Transformation der Umgebung mitbedacht werden. Sinnvoll wäre ein Dialog mit der ewl: Ist es denkbar, einen Teil ihres Lagerareals für neue Zwischennutzungen und zur Befruchtung dieses Gebiets zur Verfü-gung zu stellen, bis die zukünftige Nut-zung dieser Brache feststeht? Dies könn-te beispielsweise im Stil des Zürcher «Basislagers» mit Containern gesche-hen, dann könnte ein Teil der Kreativ-szene der Industriestrasse (und von an-derswo) während der Bauphase dort weiterwirken. Dieser Dialog ist auch deshalb wichtig, weil an diesem Ort zu gegebener Zeit die Urbanisierung fort-geschrieben werden kann und sie sich vielleicht in ferner Zukunft über die Gleise hinweg fortsetzt.

Die Chance der partizipativen Planung

Seit die englische Planungstheoretike-rin Patsy Healey Anfang der 90er Jahre den «communicative turn» in der Pla-nung beschrieben hat, hat sich im Be-reich der dialogischen Planungsverfah-ren weltweit viel getan. Healey wies als eine der ersten darauf hin, dass neue Be-teiligungsformen gewinnbringend in den Planungsprozess von Bau- und Raumplanungsvorhaben integriert wer-den können. Die Stadt Luzern war dies-bezüglich mit ihrer «offenen Quartier-planung» in den 80er Jahren schweizweit Pionierin, hat diesen Weg danach aber unverständlicherweise wieder verlassen und ist zur Expertenplanung zurückge-kehrt. Mit Partizipation in Planungs-prozessen kann ein Mehrwert geschaf-fen werden. Dabei geht es nicht nur um die Schaffung von Akzeptanz, Legitimi-tät und die Erhöhung der Wahrschein-lichkeit, politische und planerische Vor-haben in einem vernünftigen Zeitrah- men effizient und effektiv zu realisieren. Mit dem Einbezug der verschiedenen Anspruchsgruppen – jenen Menschen, die im jeweiligen Gebiet wohnen und arbeiten, Non-Profit-Organisationen, Firmen, Verbänden usw. – sollen Ent-scheide besser abgestützt und die Iden-tifikation der Bevölkerung mit ihrer Wohngemeinde gestärkt werden. Durch den gezielten Einbezug des Wissens der lokalen Bevölkerung und des Engage-ments der Direktbetroffenen können wir gemeinsam mit dem Wissen von Fach-leuten zu besseren und realitätsnäheren Problemlösungen gelangen.

Die Methode machts:Gutes muss nicht teuer sein.

Mittlerweile gibt es ein umfangreiches Wissen über zweckmässige Abläufe von partizipativen Prozessen. Interessant sind insbesondere jene Verfahren, welche die verschiedenen Anspruchsgruppen mit unterschiedlichen Instrumenten über die verschiedenen Planungsphasen hin-weg beteiligt, und zwar im Dialog mit Expertinnen und Experten aus Stadt-planung, Städtebau, Architektur, Land-schaftsarchitektur, Sozialwissenschaf-ten, Ressourcenplanung. Was auf Anhieb nach einem sehr aufwendigen Prozess tönt, kann je nach angewendeter Me-thode sehr zeitsparend durchgeführt werden: Das im angelsächsischen Raum oft angewendete Charrette-Verfahren beispielsweise ist nach einer Woche mit mehreren Feedback-Loops zwischen Bewohnerschaft und anderen NutzerIn-nen und Anspruchsgruppen, interdiszi-plinären ExpertInnen sowie Behörden abgeschlossen. Fazit: Die nach der Abstimmung ein-getretene neue Situation der Industrie-strasse ruft danach, hier und in ganz Luzern Wege zu beschreiten, welche die Zukunft im Dialog gestalten.

Mitbestimmung ist ein Gewinn für alleLuzern lernt!

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Das perfekte Quartier, entworfen von Liv Noeleen Winiker.

Was bedeutet …

«2000-Watt-Gesellschaft»

Die 2000-Watt-Gesellschaft ist ein ener-giepolitisches Modell, das die Eidgenös-sische Technische Hochschule Zürich (ETHZ) im Rahmen des Programms «Novatlantis» in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelte. Dieses Model bedeutet für den Einzel-nen: Jeder Mensch sollte seinen Energie-bedarf auf 2000 Watt Dauerleistung re-duzieren, was einem Energieverbrauch von 48 Kilowattstunden pro Tag ent-spricht. Egal ist, in welcher Form sie oder er diese Energie braucht. Egal, ob jemand kocht, duscht, heizt, Radio hört, am Computer spielt, Kleider oder Le-bensmittel kauft oder im Auto oder im Zug zwischen Arbeitsplatz und Wohn-ort pendelt. Heute wird in der Schweiz im Durchschnitt cirka 6500 Watt Dau-erleistung pro Kopf nachgefragt (in ver-schiedenen Entwicklungsländern liegt dieser Wert bei einigen 100 Watt). Da-von entfällt etwa ein Drittel auf unsere

Mobilität – zum Pendeln oder für Rei-sen, ein weiteres Drittel auf das Heizen und ein Drittel auf die Infrastruktur in unseren Städten und Dörfern. Dazu kann man aber auch alles zählen, was wir konsumieren (Essen Kultur, Klei-dung …). Sollen die Ziele der 2000-Watt-Gesellschaft erreicht wer-den – und nur so verträgt die Erde un-ser aller Konsumverhalten, sagt eine weit verbreitete Meinung –, dürfen wir nur noch ein Drittel der heute ver-brauchten Energie nutzen. Indem wir beispielsweise neue Energiespartechni-ken und sparsamere Arbeitsabläufe entwickeln, unsere Häuser besser iso-lieren und darauf achten, was wir wie konsumieren. Auch bei Ferienreisen: Wer nämlich einmal im Jahr mit dem Flugzeug auf die Malediven fliegt, hat seine Jahres-Energiekonto (nach Mass-stab der 2000Watt-Gesellschaft) bereits aufgebraucht! M. Heinrich

Ein Haus im Grünen, von Chiara Visona

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EXTRABLA Nr. 3 / Mai 20134

Das Zusammenleben und das Wohnen beschäf-tigen die Menschen seit jeher ganz besonders intensiv. Die aktuellen Debatten über den Wohn-raum in der Stadt Luzern stehen in einer Tradi- tion, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Die Luzerner Wohnbaugenossenschaften eta- blierten sich in den letzten gut hundert Jahren als wichtige Stimmen dieser Diskussionen.

Unwürdiges Wohnen am Ende des 19. Jahrhunderts

Sandro Frefel · Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Wohnsituation für viele Luzernerinnen und Luzerner miserabel. Zum einen konnte die bauliche Stadtentwicklung nicht mit der wirt-schaftlichen und gesellschaftlichen mithalten. Die Fremdenindustrie florierte, die Zuwanderung von Arbeitskräften war in jenen Jahren enorm. Allein zwischen 1888 und 1900 stieg die Bevölkerungs-zahl um 44 Prozent von 20 000 auf 29 000 Personen. Im April 1889 lag die Leerwohnungsziffer bei 0,6 Prozent (2011: 1,21 Prozent). Die 26 freien Woh-nungen waren jedoch durchwegs komfortabel und überstiegen die bescheidenen finanziellen Mittel der Handwerker, Arbeiter und Angestellten. Zu-dem waren viele Wohnungen überbelegt und in ei-nem schlechtem Zustand. Eine 1897 durchgeführte Wohnungsenquête brachte düstere Zustände ans Tageslicht. Im Untergrundquartier war fast ein Sechstel der Wohnräume feucht, nur 17 Prozent aller Toiletten verfügten über eine Wasserspülung. Fünfmal mehr Menschen starben dort an Lungen-tuberkulose als im nobleren Hofquartier.

Wohnungskrise nach dem Ersten Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg führte in Luzern nicht nur zu einer wirtschaftlichen Krise des Tourismus und zu verschärften sozialen Problemen durch die steigende Arbeitslosigkeit, sondern auch zu einem völligen Erliegen der Bautätigkeit. 1916 bis 1918 wurden praktisch keine neuen Wohnhäuser ge-baut. Gemäss behördlichen Berechnungen fehlten 1920 fast 700 Wohnungen. Im gleichen Jahr stan-den 289 Wohnungsgesuchen lediglich 10 Angebote gegenüber. Um das drängende Problem obdachlo-ser Familien zu entschärfen, richtete der Stadtrat in leerstehenden Wohnhäusern und Hotels Not-wohnungen ein, etwa im früheren Hotel Helvetia an der Waldstätterstrasse 9. 1921 verfügte die Stadt über insgesamt 84 Notwohnungen, wovon 79 be-legt waren. Erst 1930, als sich der Wohnungsmarkt weitgehend entspannt hatte, konnten die letzten Notwohnungen aufgehoben werden.

Reaktion auf die Krise

Der Stadtrat dachte schon in den 1890er-Jahren über Möglichkeiten zur Verbesserung des Woh-nungsangebotes nach. Kein Projekt wurde jedoch realisiert. Vorstösse gingen auch von Seiten der Sozialdemokratischen Partei (SP) ein. Der Stadt-rat stellte sich jedoch auf den Standpunkt, dass vor allem Wohnungen für die Arbeiter der Industrie-betriebe in den angrenzenden Gemeinden fehlen. Der Bau von Wohnungen sei deshalb primär Auf-gabe dieser Gemeinden und der dort beheimateten Unternehmen. Ebenso lehnten der Stadtrat und die Stimmbürger 1920 eine SP-Initiative für den Bau von gemeindeeigenen Wohnungen ab. Der Stadt-rat attestierte zwar dem Anliegen eine Berechti-gung, weil die Wohnungsnot «notorisch» gross sei. Er schlug jedoch in einem Gegenvorschlag vor, den privaten und den genossenschaftlichen Wohnungsbau finanziell zu unterstützen, was die Stimmbürger deutlich gut hiessen.

Die Geschichte des genossenschaftlichen Bauens in der Stadt LuzernGemeinschaft und Identität in der Stadt: Der Wunsch ist alt; es gibt zahlreiche historische Anregungen für Lösungen heutiger Fragen

Links unten: Standardküche der ABL mit Gasherd in der Siedlung Himmelrich, 1928 Mitte oben: Zugang zur Dorfsiedlung der Eisenbahner Baugenossenschaft, 1922Mitte: Neubauten der Gemeinnützigen Baugenossenschaft auf der Friedberghöhe, 1922 Mitte unten: Die Wohnkolonie Wartegg der Holzbaugenossenschaft kurz nach dem Bezug, 1947Rechts unten: Enge Wohnverhältnisse in einem Hinterhof der Rössligasse, 1910 Quelle aller Bilder: Stadtarchiv Luzern

Sandro Frefel arbeitete bis vor kurzer Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Luzerner Stadtarchiv. Heute ist er im Landesarchiv Kanton Appenzell Innerrhoden tätig. Er ist Co-Autor eines Buches über den genossenschaftlichen Wohnungsbau in der Stadt Luzern:Sandro Frefel, Otti Gmür, René Regenass: «Genossenschaftlicher Wohnungsbau in der Stadt Luzern» Publikationen des Stadtarchivs Luzern; Luzern im Wandel der Zeiten, Neue Folge Bd. 11, Luzern 2008. Das Buch ist im Luzerner Stadtarchiv erhältlich (32.– Sfr); Bestellungen: [email protected] oder telefonisch unter 041 208 73 80.

Beginn des genossenschaftlichen Wohnungsbaus

Der Volksentscheid löste in Luzern einen beachtli-chen Bauschub aus. Zwischen 1921 und 1929 ent-standen fast 1700 neue Wohnungen, was einem Plus von 16 Prozent gegenüber dem Wohnungsbestand von 1920 entsprach. Die Mehrheit der Wohnungen waren von Baugenossenschaften erstellt worden, die nach den ersten Anfängen durch die Eisenbah-ner Baugenossenschaft (EBG) auf dem Geissenstein 1910 eine wahre Gründungswelle erlebten: Bei-spielsweise wurde 1920 die Gemeinnützige Bauge-nossenschaft gegründet, die auf der Friedberghöhe 36 Einfamilienhäuser mit grosszügigen Gartenflä-chen realisierte, und ab 1924 begann die Allgemei-ne Baugenossenschaft Luzern (ABL) mit dem Bau der Siedlung Himmelrich, den ersten ihrer mittler-weile über 1700 Wohnungen auf Stadtboden.

Regeln für das genossenschaftliche Zusammenleben

Damals wie heute musste das Zusammenleben innerhalb der Genossenschaften organisiert und geregelt werden. Hausordnungen legten früher das Anfeuern des Waschkessels oder das wöchentliche Wichsen der Holztreppen fest, heute fordern sie etwa Zimmerlautstärke für Fernseh- und Radioapparate. Und schon in den Anfängen der Baugenossenschaf-ten ging es bei Konflikten zwischen Mietern meist um Kinderlärm und Reinlichkeit. Die ABL er-mahnten ihre Mieter 1929: «Auf alle Fälle kann bei einem entsprechenden erzieherischen Einwirken auf die Kinder unnützer Lärm auf ein erträgliches Mass gemindert werden, namentlich dann, wenn es sich um die Geltendmachung des Anspruchs-rechtes auf den Gebrauch der Schaukel handelt.»

Die Genossenschaft als Gemeinschaftserlebnis

Wohl stärker als heute versuchten die Genossen-schaften früher das Zusammenleben ihrer Bewohner zu gestalten. Beispielsweise feierte die ABL ihr 35- Jahr-Jubiläum 1959 mit einem Ausflug für die Kin-der und Jugendlichen in den Tierpark Goldau. Auch die jüngste Generation sollte für die Genossen-schaftsidee begeistert werden. Auf dem Geissenstein betrieb die EBG eine eigene Bibliothek und der Frauenverein veranstaltete zu Weihnachten Aus-stellungen mit selbstgefertigte n Geschenken, die an Bedürftige verteilt wurden. Der 1920 gegründete und ursprünglich polysportiv orientierte Sportclub Obergeissenstein (SC OG) bot und bietet vielen Ju-gendlichen der EBG-Siedlung und der später daran angrenzenden Quartiere eine sportliche Heimat.

Genossenschaften prägen die Stadt

Luzern entwickelte sich in den vergangenen 100 Jahren zu einer Genossenschaftsstadt: Rund 14 Prozent der Wohnungen unterliegen aktuell einem gemeinnützigen Zweck, was Luzern hinter Biel, Zürich und Thun auf den vierten Platz der Schwei-zer Städte bringt. Die Bedeutung der Genossen-schaften für ein wohnliches Luzern zeigt sich auch optisch. Quartiere wie Elfenau, Himmelrich oder Studhalden sind nicht irgendwie gebaut, sondern folgen einem grösseren Plan, einer übergeordne-ten Idee. Sie haben einen ganz eigenen Charakter und fallen durch helle und gepflegte Hauszugänge, Gärten und begrünte Umgebungen und Innenhöfe auf. Zugleich nehmen die Genossenschaften ver-antwortungsbewusst an der weiteren städtbauli-chen Entwicklung Luzerns teil, etwa bei der Reali-sierung der TribschenStadt oder bei den laufenden oder anstehenden Erneuerungen auf Geissenstein oder im Himmelrich.

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EXTRABLANr. 3 / Mai 2013 5

Seit Januar diesen Jahres gibt es in Luzern die «Gemeinnützige Wohnbaugenossenschaft Industriestrasse GWI». Das Extrablatt sprach mit Pascal Hofer, dem Präsidenten der GWI, über Luzerns jüngste Wohnbaugenossenschaft.

Pascal Hofer, was hat die IG Industriestrasse dazu bewogen, die GWI zu gründen? Wir möchten an der Industriestrasse unser ers-tes, visionäres Projekt als Genossenschaft umsetzen, und zwar in der Rolle als Bauträgerin! Doch der Reihe nach: Nach dem Abstimmungssieg letzten September realisierten wir, an welchem Punkt wir angekommen waren. Wie viel wir erreicht hatten und was wir noch erreichen, wenn wir uns selber mit einer Wohnbaugenossenschaft darum küm-mern, wie die Industriestrasse in Zukunft aus-sehen wird. Zudem wollen wir mit unserer Ge-nossenschaft einen Beitrag zu einer nachhaltigen Stadtentwicklung leisten. Nicht nur auf politischer, sondern auch auf gesellschaftlicher Ebene. Unsere Absicht ist, beispielsweise das Zusammenleben in der Stadt zu fördern, weil wir keine weitere Finken-stadt wollen.

Was verstehen Sie unter einer «Finkenstadt»? Ein Quartier, in dem das Leben nicht stattfin-det, in dem nicht gearbeitet wird. Ein Quartier, ein Stadtteil, in dem die BewohnerInnen nach der Ar-beit nach Hause kommen, vielleicht noch schnell in den Fernseher gucken oder gleich schlafen gehen. Eine Finkenstadt ist für mich zudem ein Ort, in dem es keine kulturelle Angebote gibt.

Wer ist Mitglied der GWI? Zur GWI gehören Personen verschiedenen Al-ters und mit unterschiedlicher Herkunft, die durch den Abstimmungskampf, über die IG Industrie-strasse oder aus Interesse an einer nachhaltigen Stadtentwicklung zusammengefunden haben. Diejenigen, die sich in der GWI engagieren, wol-len eine authentischere Form des Zusammenlebens oder mit einfachen Worten ausgedrückt: Sie wollen dort, wo sie wohnen, das Leben spüren – es riechen.

Welches sind die zentralen Ideen oder Ziele der GWI? Wir wollen in Etappen bauen und ein Projekt realisieren, das eine soziale Durchmischung und ein Nebeneinander von preisgünstigen Wohnun-gen, Gewerbe- und Kulturräumen möglich macht. Weiter wollen wir eine autoarme Siedlung: Wer in

unserer Siedlung wohnt, darf nicht auf ein Auto an-gewiesen sein. Die Industriestrasse ist gut mit dem Öffentlichen Verkehr erreichbar. Später kommt die Langsamverkehrsachse auf den ehemaligen Geleisen der ZB, der Zentralbahn dazu und viel-leicht – etwas visionär gedacht – in der Nähe eine zusätzliche Haltestelle der ZB. Weiter ist uns eine Anbindung an ökologische, regionale Agrarbe-triebe wichtig und wir möchten so bauen, dass es jeder Mieterin und jedem Mieter möglich ist, mit persönlichem Handeln die Ziele einer 2000-Watt-Gesellschaft zu erreichen.

Bitte erklären Sie, wie das etappierte Bauen vor sich gehen soll? Uns ist ein schrittweises Vorgehen wichtig. Zu-nächst soll auf den Brachflächen gebaut und gleich-zeitig sollen die Häuser an der Industriestrasse 9, 15 und 17 stehen gelassen werden – damit die Iden-tität der Industriestrasse erhalten bleibt. Wir wol-len, dass erst zu einem späteren Zeitpunkt bauliche Ergänzungen und Erneuerungen umgesetzt wer-den.

Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit der Stadt Luzern? Mit Manuela Jost steht eine Person an der Spit-ze der städtischen Baudirektion, die offen für neue Ideen ist. Manuela Jost und anderen städtischen VertreterInnen ist zu verdanken, dass in einem partizipativen Verfahren, geleitet von der Hoch-schule Luzern, die Rahmenbedingungen für das weitere Vorgehen an der Industriestrasse erarbei-tet werden. Diese Offenheit und den Weitblick der Stadt begrüssen wir ebenso wie den Umstand, dass neben der Stadt und uns zahlreiche weitere Inter-essengruppen an diesem partizipativen Verfahren teilnehmen.

Weshalb würde in ihren Augen ein Projekt der GWI die Stadt Luzern bereichern? Unser visionäres Projekt krempelt eine gängi-ge Stadtentwicklung – im Fachjargon spricht man auch von «Gentrifikation» – um. Anstatt Verdrän-gung und Aufwertung heissen unsere Zauberwör-ter Inklusion und Identität. Das kleine Handwerk und Kunstschaffende finden wieder Platz in der Stadt. Unsere Siedlung ist heterogen aufgebaut und die BewohnerInnen sind sich ihres Konsum-verhaltens bewusst. Wir fördern die Vertragsland-wirtschaft und setzen damit einen städtebaulichen Massstab. Wir fördern den sozialen Austausch un-ter den MieterInnen durch Gemeinschaftsräume.

Auf stadteigenem Boden wohnen …Ein Gespräch mit dem Präsidenten der GWI

Wohnwerk Luzern in Kriens auf der Zielgeraden

Ein weiteres Genossenschaftsprojekt stellt sich vor

Die Stiftung Abendrot und der Verein Wohn-werk Luzern haben vom Gemeinderat Kriens den Zuschlag für den Kauf des Teiggi-Grund-stücks bekommen. Der Kaufvertrag wird unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Einwoh-nerrat und die stimmberechtigten Krienserin-nen und Krienser abgeschlossen.

Benno Zgraggen · Der politische Prozess endet mit der Volksabstimmung über die gesamte Zentrums-planung in Kriens am 9. Februar 2014. Damit der Verein Wohnwerk Luzern gemeinsam mit der Stif-tung Abendrot die gemeinsame Projektentwick-lungsarbeit vorantreiben kann, wird der Kauf-vertrag voraussichtlich bereits im Sommer 2013 abgeschlossen. Bei einem positiven Abstimmungs-resultat an der Volksabstimmung soll bereits im Herbst 2014 die Eingabe der Baubewilligung erfol-gen. Der Baubeginn ist im Sommer 2015 geplant. Läuft alles wie vorgesehen, kann das Teiggi-Areal durch die zu gründende Baugenossenschaft Wohn-werk Luzern im Frühling 2017 bezogen werden.

Die nächsten Schritte

Um die Chancen in diesem Prozess zu erhöhen, wird der Verein Wohnwerk Luzern am 19. Juni 2013 eine Genossenschaft gründen und parallel das Projekt weiterentwickeln. Zudem wird Wohnwerk Luzern mit der Gemeinde Kriens und der Stiftung Abendrot einen Vorschlag für eine Zwischennut-zung des Teiggi-Areals ab 31. 7. 2013 bis zum Bau-beginn ausarbeiten.

Wohnwerk auch in der Teiggi

Die ursprüngliche Wohnwerk-Philosophie wird auch beim Teiggi-Areal umgesetzt werden können. Sie sieht unterschiedliche Wohnformen für ver-schiedene soziale Schichten, verschiedene Genera-tionen und Menschen vor: Wohnungen mit 2,5 bis 5,5 Zimmern, Clusterwohnungen, Lofts, Ateliers,

Kunst- und Kulturräume, Gewerbe- und Dienst-leistungsräume. Gemeinschaftsflächen bieten den künftigen Bewohnerinnen und Bewohnern zudem Raum für die Umsetzung eigener Projekte. Die Idee ist, dass im Wohnwerk Teiggi auch produziert und gestaltet wird. In den Erdgeschossen sind deshalb entsprechende Atelier- und Werkstatträume vor-gesehen.

Bei Interesse an einer Mitgliedschaft an der Ge-nossenschaft oder an einer Zwischennutzung von Teiggi-Räumlichkeiten freut sich der Verein Wohn-werk Luzern (www.wohnwerk.ch) auf Ihre E-Mail unter: [email protected].

Fotos: wohnwerk luzern franziska kolb

Die Luzerner Stimmbevölkerung hat ein deut- liches Signal ausgesendet: Die Industriestrasse soll im Baurecht an einen gemeinnützigen Wohnbauträger vergeben werden. Jetzt stellt sich die Frage, was genau dort gebaut werden soll. Ein Blick über den Stadtrand zeigt, dass es viele Beispiele innovativer Wohnformen gibt.

Stefanie Wyss · Wenn man sich nach Vorbildern für eine Überbauung an der Industriestrasse unschaut, fällt der Blick auch auf die Genossenschaftssied-lung «Kalkbreite» in der Stadt Zürich. Seit Januar 2012 wird auf dem Kalkbreite-Areal im Zürcher Kreis 4 an einer Genossenschaftssiedlung gebaut, die für rund 250 Personen Wohnraum bieten soll. Im Sinne einer guten Durchmischung sind auch Gewerbe- sowie Kulturräume wie beispielsweise ein Hotel oder ein Kino geplant. Schon vor über dreissig Jahren forderte eine Stadtzürcher Initiative, dass die Kalkbreite, die der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) gehört hatte, dem genossenschaftlichen Wohnen zur Verfügung ge-stellt werden sollte. Die VBZ wollte allerdings das Areal nicht aufgeben und die Forderung der Initia-tive blieb unerfüllt. Nachdem das Projekt versan-dete, reichten zwei Gemeinderäte im Jahr 2003 eine Motion ein, die verlangte, dass auf dem Kalkbreite-Areal eine Überbauung realisiert werden sollte. Es folgte ein rund dreijähriger Rechtsstreit, der jede Massnahme wiederum verzögerte.

Verein Kalkbreite gegründet

2006 nahmen die QuartierbewohnerInnen die Realisierung der neuen Überbauung selbst in die Hand. Sie veranstalteten zusammen mit Fachleu-ten den Workshop «Stadt.Labor» und erarbeiteten ein Konzeptpapier. Am 9. März 2006 wurde der Verein Kalkbreite gegründet. Dieser hat zum Bei-spiel bezüglich der Mitsprache der BewohnerInnen vorbildliche Strukturen und funktioniert ähnlich wie ein Parlament. Das Zürcher Vorgehen könnte auch in der Stadt Luzern Schule machen. Anstatt dass eine kleine Gruppe aus der Verwaltung ein Konzept verabschiedet, wäre es auch möglich, mit-tels eines partizipativen Verfahrens herauszufin-den, welche Visionen die QuartierbewohnerInnen der Industriestrassse und Umgebung haben. 2007 erhielt der Verein Kalkbreite das Baurecht, obwohl er vorher noch nie eine Siedlung realisiert hatte. Dieses Beispiel zeigt, dass für die Genossen-schaft Industriestrasse die Möglichkeit durchaus bestünde – zum Beispiel zusammen mit anderen Genossenschaften –, den Zuschlag für das Bau-recht der Industriestrasse zu erhalten. Das SiegerInnenprojekt der Kalkbreite sieht 85 neue Genossenschaftswohnungen und Gewerbe-flächen von rund 4000 m2 vor; das Verhältnis von Gewerbe und Wohnen beträgt 40 zu 60 Prozent. Herzstück der Siedlung ist die öffentliche Terrasse.

Viele Räume gemeinsam genützt

In der Kalkbreite-Siedlung wird viel Wert auf ge-meinsame Nutzungen gelegt. Hier eine Auswahl: Es gibt Gemeinschaftsküchen, eine Gartenküche, eine Sauna, einen Hobby-, einen Musik-, einen Kühl-, einen Veloraum, eine Cafeteria, einen Waschsalon, einen Spielplatz sowie Dachgärten. Durch diese Gemeinschaftsräume ist es möglich, dass der indi-viduelle Wohnraumbedarf 35 m2 nicht übersteigt.

Was bei den Wohnungen besonders hervorzuheben ist, sind die «Wohnjoker». Das sind Einzelzimmer, die für eine begrenzte Zeit dazu gemietet werden können. Es wird auch ein «Arbeitsjoker» zur Ver-fügung gestellt. In der Kalkbreite sind drei Cluster mit je neun bis zwölf Kleinwohnungen geplant. Der Gemeinschaftsraum des Clusters dient als Ort des Austauschs und des Aufenthalts. Die Cluster verei-nen sowohl die Vorteile einer Wohngemeinschaft als auch einer eigenen Wohnung; der Kontakt zu anderen BewohnerInnen ist einfach herzustellen, die eigenen WG-Zimmer bieten aber genügend Rückzugsraum. Selbstverständlich wird die Kalkbreite als 2000-Watt-Siedlung konzipiert. Damit die Sied-lungsbewohnerInnen auch wirklich nicht mehr als 2000 Watt verbrauchen, wurde die Gruppe «leicht leben» gegründet, die das Thema der Suffizienz be-arbeitet und die BewohnerInnen berät. Zukünftige MieterInnen der Kalbreite-Siedlung dürfen kein Auto besitzen oder dauernd benutzen. Die Bewoh-nerInnen müssen daher eine Auto-Verzichtserklä-rung unterzeichnen. Auch die Arbeitenden des Ge-werbeteils dürfen nicht mit ihrem Auto zur Arbeit fahren.

Anderes Wohnen ist möglich

Das Beispiel Kalkbreite zeigt, dass ein anderes Wohnen möglich ist. Was aber braucht es, damit an der Industriestrasse so etwas wie eine Kalkbrei-te entstehen könnte? Wichtig ist, dass die Gruppe, die sich rund um die Industriestrasse gebildet hat, nun am gleichen Strick zieht und sich für ein Pro-jekt wie beispielsweise die Kalkbreite ausspricht. Die Stadtverwaltung muss sich daraufhin auf ein solches Projekt einlassen und von der Vorstellung einer 08/15-Siedlung à la Tribschenstadt wegkom-men. Die Vergabe des Baurechts und die Wettbe-werbsausschreibung müssen zugunsten von sol-chen Ideen formuliert werden.

Partizipativen Prozess gestartet

Ein wichtiger Schritt in diese Richtung: Im Früh-jahr 2013 lancierte die Stadt Luzern einen partizi-pativen Prozess, der die Interessen von Nachbarn, Quartiervereinen, Baugenossenschaften, Parteien sowie Kultur- und Wirtschaftsorganisationen do-kumentieren soll. Eine der Voraussetzungen dafür, dass an der Industriestrasse ein Leuchtturm-Pro-jekt mit Wirkung in der Stadt Luzern und darüber hinaus entstehen kann. Die Chance, welche diese Überbauung bietet, dürfen wir nicht verpassen!

Stefanie Wyss ist Grossstadträtin der Jungen Grü-nen. Weitere Informationen zum Projekt im Inter-net unter ‹www.kalkbreite.net›.

Damit Luzern wirklich gewinnt!Es lohnt ein Blick über den Tellerrand

Was bedeutet …

«Clusterwohnung»

Eine Clusterwohnung (engl. Cluster: Traube, Schwarm) und eine WG-Wohnung haben einiges gemeinsam: Jede Bewohnerin, jeder Bewohner hat ein eigenes Zimmer; die Küche und vielleicht ande-re Räume gehören allen. Anders als in einer WG-Wohnung verfügt in einer Clusterwohnung aber jedes Zimmer über Bad und Kochnische. Und die Fläche eines solchen Zimmers ist meistens grosszü-gig bemessen. Gedacht sind Clusterwohnungen für Menschen, die zwar gerne selbstständig wohnen und ihre Privatsphäre schätzen, aber gleichzeitig das Leben in einer Gemeinschaft pflegen und mit-tragen möchten. Vor allem Baugenossenschaften haben sich früh mit der Idee der Clusterwohnung auseinanderge-setzt und diese in Bauprojekten verwirklicht oder sind in diesen Tagen dabei, dies zu tun: In Zürich sind es zum Beispiel das «Kraftwerk1» (beim Hei-zenholz), die Baugenossenschaft «Mehr als Woh-nen» (Hunziker-Areal in Leutschenbach) und die Genossenschaft Kalkbreite. In deren aktuellem Bau (in diesem Jahr bezugsbereit) gibt es insgesamt drei Cluster mit je 9 bis 12 Kleinwohnungen von 27 bis 50 m2 Wohnfläche. Jede dieser Kleinwohnun-gen kann dank Bad und Kochgelegenheit autonom funktionieren. Und zu jedem Cluster gehört ein Gemeinschaftraum, das Kernstück des Clusters, den die BewohnerInnen gemeinsam nutzen und über die Wohnungsmiete finanzieren. M. Heinrich

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EXTRABLA Nr. 3 / Mai 20136

Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau zahlt sich aus, nicht nur für die Mieter. Sie entlastet auch das Gemeinwesen in finanzieller und sozialer Hinsicht und trägt zum sozialen Frieden bei. Darum muss ihr Anteil am Wohnraum unbedingt erhalten und weiterent-wickelt werden.

Bruno Koch · Der gemeinnützige Woh-nungsbau boomt – erfreulicherweise auch in der Stadt Luzern. Die beiden vom Stimmvolk angenommenen Initia-tiven haben dieses an sich schon über Jahrzehnte erfolgreiche «Geschäftsmo-dell» in der breiten Öffentlichkeit zum Thema gemacht. Dabei sind es neben gemeinnützigen Stiftungen, Vereinen oder Aktiengesellschaften vor allem die gemeinnützig tätigen Wohnbaugenos-senschaften, welche für bezahlbaren Wohnraum stehen. Die Mechanismen im Immobilien-markt, in dem in erster Linie Geld ver-dient werden soll, sind klar. Im schlimmsten aller Fälle geht es um den ungezügelten Handel mit Land und Lie-genschaften. Es geht aber auch um über-teuerte Eigentumswohnungen oder ex-orbitante Mietzinsen für Objekte an (vermeintlich) exklusiven Lagen. Auch die Wohnungen auf dem breiten, oder auch «normalen» Mietwohnungsmarkt werden immer teurer. Preistreiber ist hierbei in erster Linie der vor allem in städtischen Lagen immer weniger wer-dende Platz.

Verzicht auf spekualtive Gewinne

Was machen die Wohnbaugenossen-schaften anders? Denn deren Mietzin-sen sind im Durchschnitt 15 bis 20 Pro-zent tiefer als auf dem Markt üblich. Vor allem der Verzicht auf spekulative Ge-winne und übersetzte Preise sowie die nachhaltige Bewirtschaftung ihrer Be-stände führen mittel- und langfristig zu den sogenannt tragbaren Mietzinsen. Im Übrigen sind es die Statuten der Ge-nossenschaften – kantonal und vom Bundesamt für Wohnungswesen über-prüft –, die deren Verhalten regeln und ihnen die Gemeinnützigkeit attestieren. Und es sind nicht, wie vielfach ver-mutet wird, die «teuren» Wohnungen, welche durch Quersubventionen inner-halb der Genossenschaft günstiges Wohnen ermöglichen. Baut eine Wohn-baugenossenschaft heute neu, tut sie dies zu marktüblichen Kosten. Achtet sie dabei auf Qualität – denn sie will ja ihre Bauten möglichst lange in ihrem Besitz halten –, kann es sogar sein, dass

das eine oder andere Bauteil etwas mehr kostet. Oder dass sie den Auftrag für eine Arbeitsgattung auch mal nicht dem günstigsten oder gar billigsten Bewerber in Auftrag gibt, sondern dem, mit dem sie die besten Erfahrungen gemacht hat. Die Folge sind dann Mietzinsen, welche bei der Erstvermietung durchaus dem «normalen» Markt entsprechen. Das führt dann vereinzelt zu Diskussionen, ob diese Mieten überhaupt noch ge-meinnützig, zahlbar oder gar sozialver-träglich seien.

Mieten nach einigen Jahren deutlich günstiger

Im ersten Moment mag es aussehen, als ob diese Kritik gerechtfertigt sei. Doch das Nicht-Abschöpfen von Dividenden und Gewinnen, das stetige Investieren in die Liegenschaften, die damit ver-bundene Werterhaltung oder gar -ver-mehrung, letztlich der seriöse Umgang mit dem genossenschaftlichen Eigen-tum führen dazu, dass bereits nach eini-gen Jahren die Mieten im Vergleich zum Umfeld deutlich günstiger werden. Dazu trägt auch das Modell der Kosten-miete bei, welches nur die effektiven Ausgaben inklusive den notwendigen Abschreibungen und Rückstellungen für spätere Erneuerungen weiterbelas-tet. Beispiele für diese Entwicklungen gibt es unzählige; aktuell seien die 2006 bezogene Neubausiedlung Tribschen-Stadt der abl mit durchschnittlich 1800 Franken Mietzins für die Norm-Vier-zimmerwohnung genannt, oder die bei-den umfassend erneuerten Siedlungen Himmelrich 1 und 2, mit Mietzinsen zwischen 1300 und 1500 Franken für vier Zimmer. Dass die abl noch günsti-gere Wohnungen in ihrem Angebot hat, sei hier einfach erwähnt.

Hoch hinaus trotz fairer MietenGemeinnützigkeit gewinnt im Markt

2:0 statt EigengoalEin Leserbrief, der uns freute. Auch wenn er nicht an das

extrabla gerichtet war. (Schreiben Sie uns mal!)

Zum Beispiel Himmelrich 3

Die 1931 bis 1934 erbaute Siedlung mit 235 Wohnungen und einigen Geschäfts-lokalitäten wird voraussichtlich ab 2015 Ersatzneubauten weichen müssen. Star-ke Senkungen bei zwei Häuserzeilen, verursacht durch den Einbau von unter-irdischen Autoeinstellhallen, haben letztlich zu diesem Entscheid geführt. Richtig ist, dass damit Bausubstanz vernichtet wird, welche es «noch einige Jahre getan hätte». Richtig und wichtig ist aber auch, dass nun die Möglichkeit besteht, durch massvolle Verdichtung an attraktivster städtischer Lage noch mehr gemeinnützigen Wohnraum er- stellen zu können. Zudem werden Woh-nungen entstehen, die jedem Alter ge-recht werden; der Ökologie wird in bedeutendem Mass Rechnung getragen, das soziale Umfeld und die Gemein-schaft werden gefördert, die Aussenräu-me aufgewertet usw. Die abl rechnet mit Baukosten um die 120 Millionen Franken. Die heute noch bestehenden Bauten entsprechen einem Landpreis von etwas unter 1000 Franken pro Quadratmeter. Müsste die abl dieses Land heute erwerben, wäre dies an dieser Lage unter 3000 Franken nicht möglich. Die Ersparnis – oder die gebildeten Reserven – über all die Jahr-zehnte betragen bei rund 14 000 Quad-ratmeter also ungefähr 28 Millionen Franken. Oder ungefähr 400 bis 500 Franken Mietzins pro Wohnung und Monat in der neu erstellten Siedlung. So lässt sich auch der Zielwert von nicht mehr als 2000 Franken für eine Vier-zimmerwohnung erreichen. Gemein-nützigkeit zahlt sich aus!

Bruno Koch ist Geschäftsleiter der abl (allgemeine baugenossenschaft luzern).

Lebendige Wohnquartiere sind wie Biotope inmitten einer manchmal unwirtlichen Umgebung. Für ihre Bewohner zu sorgen verlangt Fein- gefühl, Geduld, das richtige Mass an Energie und auch Zurückhaltung. Aber ohne diese Arbeit geht es nicht.

Peter Zumbühl · Die Quartierarbeit setzt sich vor Ort für mehr Lebensqua-lität ein. Durch Projekte und Angebote aktiviert und unterstützt sie Kinder, Jugendliche und ihre Familien für eine aktive Freizeitgestaltung und beteiligt sie an Gestaltungsprozessen in ihrem Lebensraum. Sie nimmt ihre Bedürfnis-se und Ideen auf und setzt diese zusam-men mit ihnen um. Dies kann man nicht vom Stadthaus aus tun. Die Quartierar-beit ist vor Ort präsent und deshalb auch eher selten im Büro. Diese Büros gaben im Zusammenhang mit den Sparplänen der Stadt viel zu reden. Mit der neuen Schaufenstergestaltung wurde zwar im Quartier ein Zeichen gesetzt, nur konn-te der Inhalt der Arbeit zu wenig erklärt werden. Seit 2007 betreibt die Stadt den Standort Hubelmatt, Moosmatt und Säli. Das Büro ist in 2011 vom Neuweg 20 an die Moosmattstrasse 26 gezügelt. Ein sichtbarer Standort! Die grossen Fenster ermöglichen den Blick ins Inne-re des Quartierbüros. Regula Hurschler – die Quartierarbeiterin – winkt wie-derholt vorbeigehenden Kindern und ruft Grüsse hinaus. Die Türe steht an milden Tagen offen. Treffen und Ge-spräche mit Kindern und Jugendlichen sind ein Teil der Arbeit der Quartier-arbeiterinnen und Quartierarbeiter. Regelmässige Klassenbesuche in den Schulen, Aktionen auf Pausenplät-zen, verschiedene Projekte und Aktio-nen im Quartier sowie Informations-, Vermittlungs-, Koordinations- und

Vernetzungsarbeiten gehören ebenso dazu. Die Quartierbüroleiterin hat auch Kontakt zu Erwachsenen, wenn sie ihre Fäden spinnt und im Hintergrund in-formiert, organisiert und vernetzt. Mit dem erweiterten Auftrag ab 2012 kann die Quartierarbeit diese Vernetzungen allen zur Verfügung stellen, die sich im Quartier engagieren wollen. Seien dies Quartiervereine, Institutionen und Ge-nossenschaften, die sich für ein lebendi-ges Quartier einsetzen. Die Quartierar-beit kann vermitteln und Zugänge zur Verwaltung vereinfachen.

Aktive Quartierkräfte haben Vorstel-lungen, wie sich das Quartier entwickeln soll: Ob ein vielseitiges Quartierleben oder eine Verbesserung der Infrastruk-tur (Strassen, Gewerbe, Entsorgung) – all dies trägt zur Lebensqualität bei. Die Quartierarbeit vernetzt Ideenträger, informiert über Vorgehen der Stadtver-waltung und berät im Aufbau von Pro-jekten. Wir legen dabei grossen Wert auf Beteiligung aller relevanter Gruppen, auf zugängliche Infrastruktur und Bün-delung von Ressourcen. In der Stadt sind bis heute sechs sol-che Standorte eingerichtet. Der letzte wird im nächsten Sommer im Tribschen / Langensand aufgebaut. Hierzu wird dann auch die Region um die Indust-riestrasse gehören. Jedoch ist es egal, wo man sich meldet. Wir sind sowieso vor Ort mit den Leuten unterwegs. So sind wir heute schon mit einigen Quar-tierkräften in Kontakt und bereiten den Standort vor. Es sind im Tribschen / Langensand doch einige Veränderun-gen am Start, die von kreativen Kräften gepusht werden. Da können wir mit dem Blick für Kinder und Jugendliche sicher auch etwas beitragen.

Peter Zumbühl ist Leiter der städtischen Quartierarbeit.

Eine Firma für allesWas machen eigentlich Quartierbüros?

Mit dem Ergebnis zur Initiative für eine lebendige Industriestrasse hat die Linke ganz sicher kein Eigentor geschossen, wie dies ein Artikel der Neuen LZ et-was reisserisch suggeriert. Mit über 61 Prozent Zustimmung zur Initiative hat die Linke zusammen mit der Luzer-ner Bevölkerung das 2:0 für zahlbaren Wohnraum erzielt. Und dies gegen den Stadtrat und alle bürgerlichen Parteien, welche schon die Wohninitiative von Mieterverband, SP und Grünen be-kämpft hatten. In dieser Deutlichkeit bringt das Resultat eine Abkehr der bis-herigen Wohn- und Bodenpolitik, wel-che vor allem gut betuchte Steuerzahler und internationale Firmenholdings an-locken wollte. Gemäss dieser Strategie hätte eher ein dubioser Rohstoffhänd-

ler als ein fortschrittliches Unterneh-men wie Mobility den Zuschlag an der Industriestrasse bekommen. Für den laufenden partizipativen Prozess zur Weiterentwicklung des Areals bleibt zu hoffen, dass die Initiativgegner ihre Lehren gezogen haben. Denn nur wenn sie mithelfen, die berechtigten Anliegen bezüglich Wohnen, Kultur und Klein-gewerbe an der Industriestrasse umzu-setzen, gehen letztlich alle als Gewinner vom Platz.Leserbrief von Claudio Soldati an die Neue Luzerner Zeitung (Mitte April ’13).

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EXTRABLANr. 3 / Mai 2013 7

Eine ExtrawurstKolumne von Rahel Grunder

«Hast du eine geräucherte Wurst im Rucksack?», fragt meine Sitznachba-rin ihre Kollegin naserümpfend im Zug von Luzern nach Lenzburg. Erst, nachdem diese mit «Nein» antwortet, wird mir bewusst, dass mit der Räu-cherwurst wohl ich gemeint bin. Diese graumelierte Dame Ende Fünfzig muss einen sehr ausgeprägten Geruchsinn haben. Obwohl ich frisch geduscht bin, riechen meine Kleider nach Holz und Rauch. Ich lebe seit einem halben Jahr im Bauwagen, den ich mit einem Holz-ofen heize. Während sich die beiden Frauen weiter über den intensiven Geruch im Abteil empören, beisse ich mir auf die Zunge, um keine Bemerkung fallen zu lassen. Mir gefällt die Rolle als anonyme Teilnehmerin in diesem Schauspiel, das mich total kalt lässt und dennoch be-trifft. Chanel, Dove und all die anderen Parfüms sind überhaupt nicht meine Welt. Lieber rieche ich nach Rauch als nach künstlichen Duftstoffen. Dabei beginne ich mich zu fragen, woher dieser Sauberkeitsfimmel eigent-lich kommt? Einmal mehr stimmen mich gewisse gesellschaftliche Phäno-mene nachdenklich: Ist es wirklich so ein Problem, dass jemand wie ich in einem der reichsten Länder der Welt auf gewissen Luxus – auf Parfüms, auf eine teure Mietwohnung, auf allerlei mehr – verzichtet? Warum wird einem dessen Konsum ständig aufgedrängt? Für mein nächstes Umfeld ist das, was ich nicht brauche, eine Lebensgrund-lage und sie fragen sich, wie man es schafft, ohne diese dennoch bequem zu leben. Sie können sich nicht vorstellen, auf 15 m2 Fläche den ganzen Haushalt unterzubringen. Komfortabel ist meine Lebenslage eigentlich nicht, und den-noch empfinde ich sie als Lebensqua-lität. Wenn ich nach Hause komme, muss erst Holz gehackt und eingefeuert werden, dann kann ich meine Arte-Sendung via Internet schauen. So ein Luxus! Fast eine Alphüttenromantik. Für solche «Erlebnisferien» legen eini-ge Menschen viel Geld auf den Tisch – wenn es jemand verlangt. Ich muss vor mich hinschmunzeln … Hochdorf; ich steige aus. Das Abteil hinter mir duftet kostbar nach Rauch und harzigem Holz.

Wie es in einer Gross-WG eben ist – in der Küche is(s)t man nicht allein. Das ist auch gut so. Ich treffe mich spontan an einem Sonntagnachmittag mit Justo Derungs zum Interview an der Industriestrasse 9 in Luzern. Pascal Hofer ist dazugestossen, und nun führen wir das Interview zu dritt. Ich will mehr über die Gross- WG erfahren.

Von Rahel Grunder

Wie lebt es sich hier in dieser Gross-WG? P: Es lebt sich gut. Allem voran ist es abwechslungsreich. Was ich schön finde ist, dass oft gekocht wird. Und dann wird auch geschaut, dass alle zum Essen kommen. Und dass alle dabei sind. Es ist sehr familiär. R: Das führt uns bereits zum Begriff des «Kollektiven». P: Kollektiv, hm ja, also eigentlich schauen wir einfach ein wenig zueinan-der und denken auch an die anderen. Aber es gibt auch die andere Seite, dass man mal gar keine Lust hat auf dieses Gemeinschaftliche. Und dann macht man halt mal eine kalte Platte oder ver-drückt für sich ein Mayobrötchen. J: Was eigentlich das Schöne ist an der Gross-WG, ist dass jeder und jede ein Multiplikator, eine Multiplikatorin ist und wieder neue Leute ins Haus bringt. Man sitzt zusammen am Tisch und isst und diskutiert und es ist anders, nicht so oberflächlich wie an einer Party zum Beispiel. Ich denke unser Küchen-tisch hat eine sehr verbindende Rolle zwischen Menschen. Und wie wärs, wenn dieses Haus nun für andere Zwecke als für eine Gross-WG genutzt werden würde? Könntet ihr euch vorstellen in dieser Gruppe an einen an-deren Ort weiterzuziehen? Oder könntet ihr euch auch vorstellen, dass sich der Charakter des Hauses verändert und auch Büros und Ateliers in dieses Haus kommen? P: Ich persönlich würde nicht wol-len, dass unsere Küche Büro, Aufent-haltsraum und Wohnraum zugleich ist. Da müsste für mich eine Differenzie-rung stattfinden. J: Meine Meinung ist, um eine Paro-le in die Diskussion zu bringen: «Die Häuser denen, die drin wohnen!» Damit meine ich: Man kann den vorhandenen Platz im Raum bestimmt noch besser nutzen. Aber ich denke, wenn in diesem Haus niemand mehr wohnt, dann wird es unpersönlich. Dann fehlt dem Haus die Seele, denn das Haus lebt schluss-endlich mit den Leuten, die drin woh-nen. Und da wir sehr unterschiedliche Lebensentwürfe haben innerhalb dieser WG und viel Zeit zuhause verbringen, wird dieses Haus halt auch intensiv ge-nutzt und belebt. Das würde wegfallen, wenn das Haus nur noch für Büros, Konzerte und Ateliers zur Verfügung stehen würde. Gibt es denn auch Kontroversen in euren unterschiedlichen Lebensentwür-fen? P: Ja natürlich, auch viele Diskussio-nen. Zum Beispiel Justo: Er ist einer, der viel Zeit in der Küche verbringt und das finde ich eigentlich auch cool, weil wenn Justo zuhause ist, dann ist es in der Kü-che warm und wenn Justo nicht zuhause ist, dann ist es in der Küche kalt, weil dann niemand in der Küche heizt. Und das löst auch Diskussionen über Holz-verbrauch und Kosten aus. P: Wenn du Tags durch an diesem Haus vorbeiläufst, so sieht das schon recht düster aus mit der verwaschenen Fassade. Und wenn du im Haus drin bist, ist es total anders: Es ist wow, gros-se helle Räume. Das finde ich recht spannend. Und ich denke das würde auch verloren gehen, wenn die WG nicht mehr existieren würde. Darum geht’s ja auch: Man sieht von aussen nicht, welche Energie in diesem Haus steckt, wenn man nur die Fassade anschaut. J: Ich denke, das Haus hat sich in letzter Zeit auch sehr geöffnet. Durch die neuen Leute, durch die Kampagne und die Debatte um günstigen Wohn-raum. Das war früher nicht so. Und da wir mehrere Leute sind im Haus, konn-ten wir uns gegenseitig motivieren und dieses «feu sacre» entfachen für den Ab-

«Diese Nachbarschaftlichkeit ist eine interessante Sache!» Ein Küchengespräch in der Industriestrasse 9 ist meist lang und pausenlos. Und genauso drucken wir es …

stimmungskampf. Das hat uns schon sehr geholfen. Wir sind so als homogene Gruppe, als Industriestrasse 9, aufgetre-ten, obwohl wir das ja überhaupt nicht sind. R: Es hat auch eine Vernetzung in-nerhalb der Strasse stattgefunden. Du hast mir vor einem Jahr erzählt, du wünschst dir ein besserer Austausch mit den NachbarInnen. Nun findet dies statt. J: Ja diese Nachbarschaftlichkeit oder wie man das nennen mag, ist eine interessante Sache. Wir von der Indust-riestrasse 9 beschäftigen uns momentan mit dem Projekt «Neustart Schweiz». Dieses Projekt ist ein Vorbild von uns. Da geht es auch darum, dass man einen guten Umgang und einen Austausch mit seiner Nachbarschaft hat. Für mich hat diese Strasse schon sehr an Qualität gewonnen, seit wir unsere Nachbar-schaften so intensiv pflegen und ge-meinsame Themen besprechen. Gestern zum Beispiel bin ich mit Michi und Vera im Bireggwald spazieren gegangen. Un-terwegs sind wir beim Heinz vorbei ge-laufen und haben gedacht: Jetzt gehen wir doch bei Heinz einen Kaffee trin-ken. Heinz war irgendwas am werkeln, wir laufen in seine Werkstatt und sagen: «Hei Heinz, wir hätten gerne einen Kaf-fee!» Er sagt: «Ja gut, ich nehm auch gleich einen.» Genau das find ich toll. Es ist viel in Bewegung gekommen: Durch neue Leute, durch mehr Austausch und auch durch den gemeinsamen Abstim-mungskampf, den wir gewonnen haben. Es ist offener geworden und neugieriger. J: Ich denke manchmal, dieses ver-schlossene, private Wohnen, das nicht zuviel preisgeben wollen, das in Luzern vorherrscht ist schon auch geprägt durch den konservativen, katholischen Charakter von Luzern. P: Also ich denke es kommt aber schon auch auf den Typ Mensch drauf an, mit dem du zusammenlebst. Man kann das schon nicht so generalisieren. Und wenn eine neue Person in eine Gruppe kommt, ist es auch ausschlagge-bend, wie viel Energie diese Person in die Gemeinschaft bringt, um Dinge zu verändern. J: Ich denke, das Potential dieses Hauses ist noch nicht ausgeschöpft. Man kann noch vieles daraus machen. Das ist auch spannend wenn Leute zum ersten Mal das Haus betreten und sagen: «Hey, mega cool, aber da kann man noch viel machen.» J: Wir sind momentan auch dran, im Haus zu räumen und zum Beispiel den Platz im Estrich besser zu nutzen. Ich bin der Meinung, dass es in diesem Haus noch für mehr Leute Platz hat. P: Eine Idee wäre auch, Zimmer temporär für zum Beispiel Austausch-studierende zu vermieten. Dies findet in letzter Zeit bereits vermehrt statt, was ich super finde. J: Ich finde so Langzeitgäste und Be-such immer sehr bereichernd. Es ist aber dann auch sehr wichtig, wenn so viele Menschen zusammen leben, dass man gut miteinander kommunziert. Dies könnten wir bestimmt noch optimieren. Wenn jemand etwas stört, so ist es mega wichtig, dass man kommt und dies sagt. Ich bin auch ein ziemlicher Chaot. Ich komme da rein, werfe meinen Rucksack aufs Sofa und dann bin ich wirklich auch darauf angewiesen, dass jemand kommt und sagt: «Hey Justo, räum mal deine Sachen weg.» J: Das ist auch so etwas, wo ich den-ke in der Schweiz wird zuwenig mitein-ander geredet... P: … Ja, also so kannst du das nicht sagen, das ist doch nicht nur in der Schweiz so! J: Ja doch, ich bin der Meinung, in der Schweiz wird tendenziell zuwenig miteinander diskutiert. P: Vielleicht sind wir einfach zu we-nig emotional. Vielleicht sollten wir uns mehr «apäägen». J: Also ich finde, da sind zum Teil schon genug Emotionen drin. Das Kommunizieren innerhalb der WG hat an der Industriestrasse 9 ja zwei Ebenen. Einerseits gibt es Gespräche übers Zusammenleben, andererseits habt ihr immer wieder Diskussionen darüber, wie ihr euch gegenüber der Öffentlichkeit im Kontext der Abstimmung positioniert. Dies ist im Prinzip eine gute Übungsfläche.

J: Schade finde ich halt, dass man erst auf die Hinterbeine steht, wenn et-was bedroht ist. Das finde ich ein Man-ko. Das ist nicht nur hier so, sondern auch an anderen Orten wie zum Beispiel in der Binz in Zürich. Ich finde, man sollte diese Orte unbedingt antizipieren und schauen, dass es nicht so weit kommt. Und ich denke, die kulturelle Arbeit der verschiedenen engagierten Perso-nen des Hauses hat eine Öffnung gegen Aussen bewirkt, was sehr wichtig war für unseren Abstimmungskampf. Die Leute kennen uns und die Identität des Hauses repräsentiert sich auch durch die Bewohnerinnen und Bewohner. Diese Leute verkörpern das Haus und das ist sehr wichtig. Was bedeutet für dich der Begriff «Heimat»? J: Das ist das Schöne hier: Wenn ich längere Zeit im Ausland oder unterwegs war und hierher komme, so fühle ich mich wirklich zuhause. Man wird von verschiedenen Leuten warm empfangen und sie haben Freude, dass man wieder zuhause ist. Das tut gut. Da fällt mir ein: Pasqualie, ich habe dich heute ja noch gar nicht begrüsst. Hey, schön bist du da! (stehen auf und umarmen sich) P: … Hey du, ja! J: Das sind kleine Nuancen und da-durch, dass ich erzählen kann von dem was ich unterwegs erlebt habe, kann ich die Dinge auch für mich verarbeiten. Zum Beispiel letzthin hatte ich ein Vor-stellungsgespräch und die Frau hat ge-sagt, ich müsse mich bis am nächsten Tag entscheiden. Ich habe ihr darauf ge-antwortet: „Schau, ich muss nachhause, für mich laufen gehen und in der WG darüber sprechen und die Situation ana-lysieren.“ Das hat mir extrem geholfen. Also ich habe da dann abgesagt. Das ist natürlich auch nicht bei jeder Person gleich, aber für mich ist der Austausch sehr bereichernd. Wie letzthin, da habe ich fast meine ganze Musikdatenbank auf dem Computer verloren. Und Fips hat sich mit mir zwei Abende während fast viereinhalb Stunden an den Compi gesetzt. Ich habe zu Fips gesagt: «Hey, also Fips, jetzt hast du dir aber was ver-dient. Wie viel kostet das?» Und er hat gesagt: «Schau, für Freunde ist das na-türlich gratis.» Das hat mich extrem be-rührt. P: Heimat verbinde ich schon auch mit sich wohlfühlen an einem Ort und das empfinde ich hier sehr stark. J: Ich denke auch durch den Ab-stimmungskampf haben wir uns schon auch etwas zusammengerauft und ge-gen Aussen dieses Gemeinsame zeleb-riert. Und durch das ist die ganze Iden-tifikation als Gemeinschaft noch stärker geworden. P: Man kann auch nicht von allen Bewohnern das gleiche Engagement er-warten. J: Ich muss einfach wieder Mal beto-nen, dass es für mich an ein Wunder grenzt, dass wir dies alles so durgezogen haben. Ich weiss noch, das war im No-vember vor einem Jahr. Ich kam vom Radio LoRa nachhause und This kam auf der Strasse auf mich zu und sagte zu mir: «Hey komm, wir müssen um die Industriestrasse kämpfen!» Und ich habe gedacht, hey ich kenne dich nicht und äh … Ich hatte wahrscheinlich grad nicht so eine gute Sendung und war et-was irritiert. Er hat dann seine Adresse in den Briefkasten gelegt und so hat das ganze begonnen. Und nun, nicht mal ein Jahr später haben wir die Abstim-mung gewonnen! J: Und schlussendlich waren es we-nige Leute, die das ganze aufgegleist ha-ben. P: Wir haben aber einen riesigen Support gekriegt! Das ist nicht zu ver-gessen. Das ist auch normal: In der Kerngruppe sind wenige und es helfen sehr viele mit. Die ganze Kulturszene Luzern hat sich extrem für uns einge-setzt. P: Es war eigentlich klar: Wir hatten ein gemeinsames Ziel die Industriest-rasse zu retten und dieses Ziel war ein-fach da. Nun wird es komplexer, was man nun aus diesem erreichten Ziel macht. J: Ich habe bei mir gemerkt, dass ich nach der Abstimmung so eine Art Kater

hatte. Ich habe mich plötzlich gefragt: Und jetzt? Ich war fast ein bisschen ori-entierungslos. Es war super, hat Pasqua-le das Ganze wieder etwas angekurbelt mit dem Übernehmen der Sitzungslei-tung. Mir liegt mehr das Animatori-sche, Leute überzeugen und für eine Idee zu gewinnen, als das Konzepten. J: Nun ist es an der Zeit, in einer Haussitzung klar die Wünsche der ein-zelnen Personen im Bezug aufs Haus zu äussern. Für mich ist es jeweils schwie-rig, bei Projekten wo ich nicht von An-fang an dabei war, mich einzubringen. Ich denke für einige vom Haus ist es deshalb auch jetzt eine schwierige Situa-tion Fuss zu fassen. Gerade in einer Pha-se, wo es zwar sehr spannend ist, wos aber mehr um Konzepte geht und die Prozesse langsam ablaufen. Es ist Kno-chenarbeit. Wie äussert sich «Freiraum» an der Industriestrasse 9? P: Der ist klar vorhanden. Man kann zum Beispiel so laut Musik hören wie man will im Zimmer und es stört nie-manden. Und Freiraum ist auch, Räu-me umgestalten zu können. Das wird auch in Zukunft ein aktuelles Thema bleiben in diesem Haus. Es geht auch darum, neue Räume zu schaffen. J: Freiraum für mich ist auch ein-fach im Garten ein Feuer machen zu können und dies mitten in der Stadt. Das habe ich bisher wirklich noch nie so erlebt. Das war schon immer mein Traum. Und das Feuer ist ausserdem ein verbindendes Element … J: Manchmal spüre ich einen Druck von aussen: Ihr habt die Abstimmung geschafft, nun ist hier noch der letzte grosse Freiraum in Luzern, nun macht etwas Gescheites daraus und macht et-was für uns. Da frage ich mich manch-mal schon: Können wir jetzt diese Er-wartungen wirklich erfüllen? P: Nun gut, die Industriestrasse ist das eine und die Industriestrasse 9 ist etwas anderes. J: Die meisten Leute, die ich kenne und die ich auf der Strasse treffe verbin-den die Industriestrasse mit der Indust-riestrasse 9. J: Ich glaube es ist total wichtig ge-wesen für den Abstimmungskampf, dass die ganze Strasse involviert war und nicht nur die Industriestrasse 9. Die ganzen KMUler, die Architekten, Künst-ler und auch Konservative auf so kleiner Fläche; ich glaube wir hätten das alles alleine nicht geschafft. J: Die ganze Begrifflichkeit rund um den Terminus «Freiraum» ist durch den Abstimmungskampf für mich ein-fach viel breiter geworden. Lange habe ich «Freiraum» als links-alternative Ge-schichte angeschaut. Und jetzt sehe ich: dieser und jener will auch Freiraum und sein Freiraum, den er hat gestaltet er aus und sogar ebenfalls innerhalb von Kul-tur. Da muss ich sagen: Freiraum ist mehr als nur links-alternativ und anar-chistisch. Es ist viel mehr! Und da ist gerade in einer klein provinzieller Stadt wie Luzern die Chance vorhanden, dass man übers eigene Gärtli hinwegschaut und sich connected mit anderen Men-schen. Also für mich ist es eine extreme Horizonterweiterung. Ich habe neue Freundschaften geschlossen. Es ist ein neues Beziehungsnetz entstanden. P: Es ist auch spannend, dass man sich auch auf einer persönlichen Ebene beginnt auszutauschen und nicht nur über den Stand der Industriestrasse. J: Ich denke, Luzern muss sich noch mehr mit Freiraum-Orten von anderen Städten auseinandersetzen und vernet-zen. Da ist ein extremes Wissen vorhan-den, das nicht genutzt wird. Da hatten wir während dem Abstimmungskampf das Privileg, dass Leute zu uns gekom-men sind, die viel wissen. J: Ich bin der Typ Mensch, der im Freiraum drin immer noch den Frei-raum sucht. P: Es ist schon so, dass durch die In-itiative das Haus bekannt wurde und man öfters gefragt wird: Du, wie geht’s jetzt weiter? Was macht ihr nun? Das ist jeweils etwas schwierig so schnell zu be-antworten, da wir genau solche Fragen an Sitzungen ausführlich diskutieren. Und manchmal würde ich gerne mehr erzählen können. Wir haben ein kon-kretes Ziel, aber wie soll dieses gestaltet werden, damit es fassbar wird?

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EXTRABLA Nr. 3 / Mai 20138

Impressum

Extrablatt ist eine Zeitschrift der Initiative «Ja zu einer lebendigen Industriestrasse» und informiert über die Thematik der Abstimmung vom 23. 9. 2012. Extrablatt Nr. 3 erscheint zum 1. Mai 2013.

Redaktion und Produktion: IG IndustriestrasseIndustriestrasse 17, 6005 Luzernwww.luzerngewinnt.ch Mail: [email protected]

Die Artikel geben die Meinung der jeweiligen AutorInnen wieder.

© der Texte und Bilder bei den AutorInnen, FotografInnen und IllustratorInnen. Nachdruck nur mit ausdrücklicher Genehmigung.© IG Industriestrasse, Luzern 2013

Druck: Ropress Genossenschaft, Zürich (www.ropress.ch)

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Das extrabla: ein freies Medium

für freie KöpfeSagen Sie uns, was Sie denken!

Es war nie einfacher als heute, eine Zeitung zu machen. Und zugleich machen es uns diese Möglichkeiten ziemlich schwer: Wie sollen wir in der Papierflut, die immer bunter und leerer wird, und in den überquellenden Blog-Welten sinnvoll informieren? Wer liest es und hat es überhaupt irgend eine Wirkung?

Die beiden ersten Ausgaben des Luzerner Extra-blattes im Sommer 2012 hatten ein klares Ziel: Es galt, mit einer vermutlich nicht zu gewinnenden Abstimmung mit wehenden Fahnen unterzugehen und vorher noch einmal das reichhaltige und ein-zig richtige Argumentarium der Initiative ausführ-lich und gut gelaunt darzustellen. Nun, das mit dem Untergang hat nicht geklappt … Weshalb gibt es im Frühjahr des Folgejahres ein weiteres extrabla(tt), da doch einige zielführenden Prozesse angelaufen sind und ein «Wahlkampf» zur Zeit nicht erforderlich scheint? Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zum einen möchten wir Sie, die gezielt mit dieser Zeitung versorgten, aber auch alle «zufälig» belieferten Leserinnen und Leser über die momentanen Diskussionen auf dem Lau-fenden halten. Zum anderen möchten wir uns selbst disziplinieren, unsere Informationspflicht zu erfüllen, denn mit dem Abstimmungsergebnis haben wir von Ihnen auch eine Art Auftrag erhal-

Benno Grefe, 7 Jahre alt, hat in seinem Bild für unseren Malwettbewerb ziemlich detaillierte Vorstellungen vom «verdichteten Wohnen» der zukünftigen Stadtplanung: Nutz- und Freiräume, wo immer es geht.

Ping Pong nach BehördenartMarlon Heinrich wills mal wissen …

Zufall? Kalkül? Weiss die linke Hand nicht, was die rechte tut? Oder einfach ein Lapsus? Auf die Frage an eine kantonale und eine städtische Behörde, mit der ich mich nach dem denkmal-pflegerischen Status des Hauses Industriestras-se 9 erkundigte, erhielt ich folgende (leicht gekürzte) Antworten. Schmunzeln erwünscht.

Lieber Marlon, das Lager- und Fabrikationsgebäude an der In-dustriestrasse 9 ist nicht im kantonalen Denkmal-verzeichnis eingetragen und steht somit nicht un-ter Schutz. Es ist auch nicht geplant dieses Gebäude unter Schutz zu stellen. Das Objekt wird im provisorischen Bauinven-tar lediglich als «erhaltenswert» eingestuft. Im Gegensatz zu den als «schützenswert» eingestuften Objekten liegen die «erhaltenswerten» Objekte in der Zuständigkeit der Gemeinde. Zuständig für die Fragen der Denkmalpflege der Stadt ist Frau The-resia Gürtler Berger. Für weitere Fragen stehe ich dir gerne zur Verfügung. Herzliche Grüsse, [Cony Grünenfelder, Kanto-nale Denkmalpflegerin, Kanton Luzern, Bildungs- und Kulturdepartement]

Antwort von Theresia Gürtler Berger (Zur Erinnerung: An Frau Gürtler Berger wandte ich mich auf Empfehlung von kantonaler Stelle):

Sehr geehrter Herr Heinrich, das Gebäude Industriestrasse 9 ist im proviso-rischen Bauinventar der Stadt Luzern erfasst und dort als erhaltenswert eingestuft. Es ist nicht ge-schützt, generell nimmt und regelt die Kantonale Denkmalpflege die Unterschutzstellungen. Mir liegen keine Informationen zu einer Unterschutz-stellung vor. Freundliche Grüsse, [Th. Gürtler Berger, Res-sortleiterin Denkmalpflege und Kulturgüter-schutz, Stadt Luzern, Städtebau]

Als ich den Garten des Hauses an der Industrie-strasse 9 durch das Gartentor zum ersten Mal betrat, war mir, als öffnete sich mir eine Tür zu einer Oase und das mitten in der Stadt. Kaum im Haus, wurde daraus ein Irrgarten, ein Laby- rinth, welches mich Treppen hoch und wieder herunter führte und durch tausend Türen in unterschiedlichste Räume ein- und wieder aus- treten liessen. Eine richtige Wunderkammer schien mir das Haus zu sein, voller Menschen und Geschichten, ein Sammelsurium.

Michael Greppi · Elf Jahre sind vergangen, seit ich mich verwundert und verwirrt durchs ehemalige Käselager führen liess und schliesslich in jenen zwei nebeneinanderliegenden Räumen landete, die mir jahrelang als Atelier und später auch als Wohn-zimmer dienen sollten. So, wie sich das Haus heute seinen staunenden Besucherinnen und Besuchern zeigt, wurde es nicht gebaut. Mittlerweile fehlen Wände und an-dere wurden hoch gezogen, es wurden Durchgänge geschlossen und neue geöffnet. Wie ein lebendiger Organismus veränderte sich sein Innenleben über die Jahre und mit den wechselnden Bewohnern und ihren Ansprüchen. Ich selber habe an diesem Wandel fleissig mitgewirkt. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn es in der Stadt Luzern ein ganzes Quartier gäbe, mit Menschen wie uns, in lauter Häusern wie das unsrige. Als eine andere Welt stelle ich mir das vor. Als bunter Lebensraum ohne normierten Takt, wie er vielerorts üblich ist: Am Morgen verlassen die meisten Menschen fast zeitgleich ihr Wohnhaus und kehren erst abends, ebenso fast zeitgleich, da-hin zurück.

Pulsierendes Leben im eigenen Rhythmus

Nicht so in unserem Haus. Das Leben pulsiert hier fast 24 Stunden lang in einem eigenen Rhythmus, der nicht nur vom Diktat der Arbeitswelt bestimmt ist. Sondern immer wieder anderen Gesetzen folgt. Den ganzen Tag lang ist ein Kommen und Gehen, ein Aufstehen und Schlafengehen. Manche ziehen es vor, in der Nacht ihren Beschäftigungen nach-zugehen und in den Tag hinein zu schlafen, wäh-rend andere schon seit den frühen Morgenstunden auf dem Luzerner Markt stehen und Fische oder Gemüse verkaufen. Einige gehen noch zur Schule oder an die Uni, verdienen ihr Geld in Zürich oder anderswo oder sie sind gerade weit, weit weg, in ei-nem anderen Land unterwegs und ihren Träumen auf der Spur. Fast alle von uns gehen nicht immer einer ge-regelten Arbeit nach. Einige, weil sie Mütter oder Väter sind und zu ihren Kindern schauen oder weil sie gar keine Arbeit haben finden können. Ich selber habe immer wieder freie Tage und Wochen, manchmal gar Monate zwischen Arbeitseinsätzen im Museum, im Hirschpark oder auf einem Bau-ernhof. In diesen Zwischenzeiten gehe ich – wie viele andere im Haus auch – meiner eigentlichen Berufung nach, die sich in meinem Fall immer noch am besten mit dem ebenso viel- wie nichts-sagenden Wort ‹Künstler› beschreiben lässt. Wenn

ich als solcher tätig bin, verschiebt sich mein Le-bensrhythmus automatisch in die Nacht hinein. Weil es mir schwerfällt, nachts das Schreiben oder Zeichnen sein zu lassen und es immer später und später wird, bis ich zu Bett gehe. So passiert es nicht selten, dass ich am Frühstücken bin, wenn der eine oder andere von der Arbeit kommt, um sein Mittagessen einzunehmen. Gehe ich selber ei-ner Lohnarbeit nach, passiert mir gelegentlich das Gleiche.

Die Küche als Dreh- und Angelpunkt

Die Küche ist das eigentliche Zentrum der gros-sen WG; in dieser treffen sich die Bewohnerinnen und Bewohner. Im Winter ist es dort meistens ge-heizt, man kann sich wunderbar aufwärmen, sich verpflegen, für sich und andere kochen, vor allem abends, wenn wir uns am ehesten alle gemeinsam zum Essen treffen. Trotz der unterschiedlichen Ta-gesstrukturen kaufen alle ein und was da ist, steht allen zur Verfügung und das funktioniert sehr gut.Am grossen Tisch in der Küche laufen alle Fäden zusammen. Wer ein Anliegen hat oder etwas mit-teilen möchte, sagt es beim Essen in die Runde oder schreibt es ins WG-Buch, das meistens auf dem Tisch liegt. An einer der Wände in der Küche hängen Dut-zende von Flyern und Plakate, die für die verschie-densten Anlässe werben. Fast immer arbeitet bei diesen Anlässen jemand aus dem näheren oder weiteren Umfeld unseres Hauses mit. Oder jemand organisiert diese sogar selber. Bei den vielen Mitbewohnerinnen und Mitbe-wohnern an der Industriestrassse 9 tauchen auch viele Gäste auf, die zum Kaffee bleiben, zum Essen oder über Nacht. Manche sind von weither ange-reist und bleiben im Gästezimmer für ein paar Wo-chen. Ehemalige Bewohnerinnen und Bewohner kommen gerne wieder und Freunde ebenso und auch Freunde von diesen. Schon oft ist es mir pas-siert, dass ich in die Küche kam und dort jeman-den antraf, den ich nicht kannte. Oder ich kam von einer Reise zurück und jemand sass da, sah mich verdutzt an und fragte, wer ich sei und was ich hier suche. Solche Überraschungen mag ich sehr!

Der Garten löst die Küche ab

Im Sommer, vor allem bei gutem Wetter, löst der Garten neben dem Haus die Küche als zentralen Treffpunkt ab und es wird dort Kaffee getrunken, gefrühstückt und zu Mittag gegessen. Kinder spie-len, es wird gearbeitet, Wäsche zum Trocknen auf-gehängt oder gelesen. Ich liebe es, mich nach der Arbeit in der Hängematte zu erholen und in den Abendhimmel zu schauen. In der Dämmerung flattern gelegentlich Fledermäuse zwischen den Bäumen hindurch. Abends wird unter den Ahorn-bäumen im Garten oft am Feuer grilliert oder zu-sammen an einem grossen Tisch gegessen. In unserem Garten brennt manchmal auch im Winter ein Feuer. Die Menschen von der Indus-triestrasse sitzen dann gerne nahe beisammen, wärmen sich an den Flammen, diskutieren aktu-elle Themen, plaudern über den vergangenen Tag, lachen gemeinsam über irgendetwas oder schauen schweigend ins Feuer.

Viele Spuren, handfeste und feine

Seit ich an der Industriestrasse 9 lebe, habe ich in verschiedenen Zimmern gewohnt und in sämtli-chen Zimmern wohnt jemand anders als noch zu Beginn. Einige blieben dem Haus über zwanzig Jahre lang verbunden, anderen wurde es bereits nach ein paar Monaten zu viel. In den Jahren, seit ich hier wohne, herrschte reges Kommen und Ge-hen und nahezu alle, die hier lebten, hinterliessen Spuren. Viele von ihnen sehr handfeste in Form von tausend Dingen, die im inzwischen sehr vollen Estrich ihren Platz gefunden haben. Manche hin-terliessen aber einfach nur feine Erinnerungen in unseren Köpfen und Herzen. Manchmal – eher selten, ich gebe es zu – pas-siert es sogar in diesem grossen Haus, dass man ganz alleine ist. Kaum hat man sich jedoch mit der ungewohnten Stille angefreundet, ist das Haus wieder voll, und das erst recht, wenn eine Band im Keller zum Konzert aufspielt. Meistens sind es al-lerdings eher stillere Klänge von probenden Bands, die abends zu mir ins Zimmer und durchs ganze Gebäude schweben. Auch viele Kinderstimmen hallen durch die Räume, besonders im Winter, wenn das Figuren-theater drei Mal in der Woche zu Vorstellungen lädt. Diese Stimmen dringen leicht durch die Wän-de und Decken. Weil ein grosser Teil der Wohnung direkt über dem Aufführungsraum des Figuren-theaters liegt, gehen wir während den Vorstellun-gen auf ganz leisen Sohlen.

Ein Zuhause wie keines davor

Das Haus Industriestrasse 9 beherbergt hinter sei-ner unscheinbar grauen und von Wind und Wetter, Zeit und Staub gezeichneten Fassade ein buntes Le-ben. Es ist eine Freude, hier zu wohnen. Hier leben Menschen zusammen. Wie eine grosse Familie, die sich wandelt, sich ständig vergrössert.Dieses besondere Haus ist für mich ein Zuhause geworden, wie es noch kein Haus davor war. Ich wünsche mir sehr, dass auch in Zukunft an der Industriestrasse Häuser stehen, in denen sich das Leben nicht nach irgendwelchen Normen richtet, sondern nach den Bedürfnissen seiner Bewohne-rinnen und Bewohner. Nicht Anpassung soll im Vordergrund stehen, sondern Entfaltung einer Individualität, welche in einem grösseren sozialen Zusammenhang gelebt wird, als nur in eigenen vier Wänden. Es geht hier um persönliche Freiheit und darum, die Möglichkeit zu haben, seinen eigenen Lebens- und Wohnraum mit anderen Menschen zusammen zu gestalten und zu verändern. Für viele ist das ist nur möglich, wenn der Miet-zins für die Wohnung günstig und der Wohnraum flexibel ist. Zu unserem grossen Glück ist genau das an der Industriestrasse 9 seit über dreissig Jahren der Fall. An dieser Stelle sei auch einmal der städti-schen Liegenschaftsverwaltung gedankt!

Michael Greppi ist Künstler und Museumstechni-ker, Landwirt und Tierpfleger, leidenschaftlicher Träumer und Denker und lebt und arbeitet seit Ende 2001 an der Industriestrasse 9.

Das Haus, dem niemals langweilig wirdVom Leben in der Oase Industriestrasse 9

ten. Nämlich den, an einem innovativen partizipa-tiven Prozess teilzunehmen und diesen öffentlich und nachhaltig zu vermitteln. Da dies in den be-kannten Kaufmedien mangels Mut und Interesse an zukunftsorientierten und unkommerziellen Themen nicht möglich ist, probieren wir mit dem extrabla(tt) eine Stadtzeitung aus, die sich aus-

schliesslich auf die Themen zukünftigen Woh-nens und Lebens konzentriert. Das Blatt soll gratis bleiben und unregelmässig erscheinen, jedoch ab der Nr. 4 in möglichst geringem Masse Inserate einholen, um die Produktionskosten zu decken. Wir freuen uns über Ihre Meinung und Unterstüt-zung. Unser Bla, extra für Sie: Bitte lesen Sie uns.