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F- Veröffentlichungsreihe der Abteilung Öffentlichkeit und soziale Bewegungen des Forschungsschwerpunktes Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung FS III 96-102 Protest - öffentliche Meinung - Politik Friedhelm Neidhardt (Hg.) Berlin, September 1996 Vorab-Kopie Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB) Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin, Telefon: (030) 25 49 1-0

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F-

Veröffentlichungsreihe der Abteilung Öffentlichkeit und soziale Bewegungen des

Forschungsschwerpunktes Sozialer Wandel, Institutionen und Vermittlungsprozesse des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung

FS III 96-102

Protest - öffentliche Meinung - Politik

Friedhelm Neidhardt (Hg.)

Berlin, September 1996

Vorab-Kopie

Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung gGmbH (WZB)

Reichpietschufer 50, D-10785 Berlin,Telefon: (030) 25 49 1-0

Inhalt

Vorwort 1Friedhelm Neidhardt

Massenproteste und politische Entscheidungen in der Bundesrepublik 5Dieter Rucht

Asyl: Die Karriere eines politischen Konflikts 33Ruud Koopmans

Öffentliche Diskussion und politische Entscheidung.Der deutsche Abtreibungskonflikt 1970 - 1994 59Friedhelm Neidhardt

Soziale Positionierung und politische Kommunikationam Beispiel der öffentlichen Debatte über Abtreibung 89Jürgen Gerhards

Die Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem Dieter Fuchs und Barbara Pfetsch

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V o rw o rt

Das Forschungsprogramm der seit 1989 arbeitenden Abteilung ist mit den Gegenstandsbe­reichen „Öffentlichkeit und soziale Bewegungen“ auf komplexe Vermittlungsprozesse mo­

derner Demokratien bezogen. Mit der Erzeugung „öffentlicher Meinungen“ und „sozialer Proteste“ beeinflussen massenmedial gesteuerte Öffentlichkeiten und soziale Bewegungen an

den Peripherien des politischen Systems und im Vorfeld seiner zentralen Institutionen die konfliktreichen Prozesse, mit denen bestimmte Probleme als „soziale Probleme“ definiert und politisiert werden. Das Programm der Abteilung besteht darin, die Bedingungen, Strukturen und Abläufe dieses politischen „Agenda-Building“ zu erforschen und die Gesetzmäßigkeiten

zu bestimmen, unter denen zu bestimmten „Issues“ und in Richtung bestimmter Problemlö­sungen politischer Entscheidungsdruck „von unten“ entsteht und im politischen System verar­beitet wird. Der Erforschung dieses Zusammenhangs dienen Projekte, die in Mehrebenenan­sätzen Prozeß- und Akteursverflechtungen und deren Effekte auf „Problemkarrieren“ untersu­chen, deren institutionelle Bedingungen durch internationale Vergleiche bestimmbar machen

und durch Längsschnitterhebungen imstande sind, gezielt nach Entwicklungsverläufen und - bedingungen zu fragen.

Die folgende Sammlung von Artikeln, die in dem von Wolfgang van den Daele und Fried­helm Neidhardt herausgegebenen WZB-Jahrbuch 1996 unter dem Titel „Kommunikation und

Entscheidung“ veröffentlicht werden, informiert über methodische Ansätze und theoretische Fragestellungen der Abteilungsforschung. In allen vier Projekten, auf die sich die Beiträge beziehen, ist die Feldarbeit weitgehend abgeschlossen; mit den Auswertungen des außeror­dentlich komplexen Materials wurde begonnen. Die ersten Analysen, die nachfolgend vorge­legt werden, geben einen Einblick in den Beitrag, den die Abteilungsarbeit in mehreren For­schungsfeldern liefern kann und wird.

(1) Das Projekt „Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesrepu­blik“ (PRODAT), aus dem Dieter Rucht Daten über Massenproteste vorstellt, beruht auf einer Inhaltsanalyse von Pressenachrichten über Protestereignisse im Zeitraum von 1950 bis 1993. Für etwa 9.000 Protestereignisse liegen Informationen über Akteure, Protestthemen, Prozeß­merkmale, Zeiten und Orte vor. Erkennbar wird, daß Protestaktivitäten in der Bundesrepublik insgesamt zugenommen haben und daß dabei auch Zahl und Anteil gewaltförmiger Proteste (überwiegend sehr kleiner Gruppen) gestiegen sind.

Proteste sind dramatisierte Signale dafür, daß Bürger bestimmte Probleme, die sie als gra­vierend einschätzen, im politischen System nicht angemessen beachtet und bearbeitet finden. Mit ihnen wird versucht, die politische Agenda zu beeinflussen. Ob und unter welchen Bedin­gungen dies gelingt, ist eine empirische Frage, die weiterer Analysen bedarf. Aber schon die Befunde, die Dieter Rucht für den Fall von Massenprotesten präsentiert, weisen darauf hin,

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daß Proteste nur ein Element in einem komplexen Bedingungsfeld politischer Entscheidungs­prozesse darstellen und je nach wechselnden Konstellationen mehr oder weniger - und dabei durchaus mit der Möglichkeit konterproduktiver „back-lash“-Effekte - wirksam werden. Wel­che Faktoren dabei eine Rolle spielen, wird in zwei weiteren Abteilungsprojekten genauer un­

tersucht.

(2) Aus dem Projekt „Rechtsextremismus und ausländerfeindliche Gewalt im Kontext der Einwanderungspolitik in Deutschland 1990 - 1994“ stellt Ruud Koopmans Daten über Kon­fliktverläufe zum Problem der Asylbewerber vor. Mit einem komplexen Erhebungsansatz können die Interdependenzen zwischen verschiedenen Ebenen von Ereignissen, Kommunika­tionen und Entscheidungen belegt werden. Steigende Asylbewerberzahlen dienten politi­schen Instanzen und Parteien als Anlaß zu einer öffentlichen Debatte über Grundgesetzände­rungen, in der sich die entscheidenden Akteure über längere Zeit politisch blockierten. Erst die zunehmende Gewalttätigkeit gegen Asylbewerber erzeugte einen hinreichenden Parteien­konsens zugunsten restriktiverer Grundgesetzbestimmungen, in deren Folge dann sowohl die

Asylbewerberzahlen als auch die rechtsextremen Gewalttätigkeiten zurückgingen. In einem wahlstrategisch überformten „Asylantenkonflikt“, in dem die Betroffenen selber keine Stim­me besaßen, verstopfte Agitation die politischen Entscheidungsgänge bis zu einem Punkt, an dem die Gewalt die Rolle von Argumenten übernahm - am Ende auf Kosten der Opfer.

(3) Stellt der Asylbewerberkonflikt den Fall einer Problemkarriere dar, in der die Grenzen zivilisierter Auseinandersetzungen mit massiver Militanz weit überschritten wurde, so belegen

Friedhelm Neidhardt und Jürgen Gerhards in ihren beiden Beiträgen am Beispiel der deut­schen Abtreibungskontroverse Interaktionseffekte, die Vermittlungen zwischen den Konflikt­parteien möglich machten. Diszipliniert durch Urteile des Bundesverfassungsge-richts, gelang es den politischen Parteien in einem hochmoralisierten Wertekonflikt, Kompromißentschei­dungen im Parlament zu entwickeln, die zwar keine allseitige Zustimmung, wohl aber breite Akzeptanz fanden. Entscheidend dafür war neben allem sonstigen, daß die öffentliche Debatte - anders als im Vergleichsfall der USA - eine Entfundamentalisierung und Zivilisierung des Konflikts beförderte, was den politischen Parteien gleichermaßen aufgab wie ermöglichte, über die üblichen Lagerbildungen hinaus „intermediär“ zu wirken.

(4) Daß und in welcher Weise die politische Entscheidungsträger in Demokratien sich ihrer Möglichkeiten und Restriktionen durch laufende Beobachtung der öffentlichen Meinungsbil­dung vergewissern, zeigen Dieter Fuchs und Barbara Pfetsch mit den Daten einer deutschen Teilstudie des Projekts „Regierungskommunikation“ am Beispiel ausdifferenzierter Presseäm­ter und Öffentlichkeitsabteilungen im Regierungsapparat und in den Parlamentsfraktionen.

Aufgrund der Befragung von 38 Spitzenfiguren politischer „Öffentlichkeitsarbeit“ beschrei­ben sie die Professionalisierung der Aufmerksamkeit des „Regierungssystems“ in Richtung

auf Entwicklungen der „öffentlichen Meinung“, die gleichermaßen durch Demoskopie, also

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durch Meinungsumfragen, wie durch ständige Analysen der Mediennachrichten und -kom­

mentare erfaßt wird.

Auf diese Weise schließt sich der Kreislauf gesellschaftlicher Kommunikations- und politi­scher Entscheidungsprozesse mit einer variablen Interferenz von „bottom-up“- und „top- down“-Impulsen. Es bleibt die Aufgabe der Abteilung, durch die Bestimmung der Strukturen

und Selektivitäten dieses intermediären Kreislaufs die Bedingungen seines demokratischen Potentials und der integrativen Mechanismen zu erforschen, die zwischen „oben“ und „unten“

vermitteln.

Dabei wird auch weiterhin mit einem Projektdesign gearbeitet, das internationale Verglei­che und im Hinblick darauf internationale Projektkooperationen einschließt, um die Bedeu­tung institutioneller Faktoren politischer Vermittlungsprozesse prägnant fassen zu können. Die folgenden Beiträge bringen internationale Vergleiche noch nicht in die Analyse ein. Das wird in nachfolgenden Publikationen geschehen. Alle Projekte, über die berichtet wird, sind international vergleichend angelegt sind. In die Projekte „PRODAT“, „Öffentliche Mei­

nungsbildung im Abtreibungsstreit“ und „Regierungskommunikation“ sind nicht nur Deutschland, sondern systematisch vergleichbar auch die USA einbezogen; in das Projekt „Rechtsextreme und ausländerfeindliche Gewalt im Kontext der Einwanderungspolitik“ Großbritannien. Für das Jahr 1997 erwarten wir, daß uns auch die ausländischen Daten zur Verfügung stehen.

Friedhelm Neidhardt- September 1996 -

Massenproteste und politische Entscheidungen in der Bundesrepublik

Dieter Rucht

"Auf nach Bonn!" Diesem von den deutschen Gewerkschaften ausgegebenen Motto folgten am 17. Juni 1996 rund 350.000 Menschen, um gegen die von der Bundesregierung geplanten

Sparmaßnahmen im Arbeits- und Sozialbereich zu demonstrieren. Nach Angaben von Journa­listen handelte es sich um "die größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1945"1 oder gar um

die "größte Protestaktion in der Geschichte der Bundesrepublik". Während die Initiatoren den Protest als Beginn eines heißen Sommers interpretierten, zeigten sich Vertreter der Regierung unbeeindruckt: "Wir werden dem Druck der Straße nicht nachgeben." "Das interessiert mich nicht, wieviel Leute demonstrieren" (Wolfgang Schäuble). "Demonstranten schaffen keine Arbeitsplätze." "Bedenkenträger und Berufsnörgler habe ich genug gehört" (Helmut Kohl). Ähnlich hatten Regierungsmitglieder auf die großen Friedensdemonstrationen in der ersten

Hälfte der achtziger Jahre reagiert. Sind also selbst große Demonstrationen nichts weiter alsß

Schall und Rauch angesichts der "Arroganz der Macht"?Wohl kaum. Zum einen ist an die Wirkung der Massendemonstrationen zu erinnern, die im

Herbst 1989 in der DDR stattfanden. Zum anderen spricht gegen diese Annahme, daß sich unter den Hunderttausenden, die am 8. November 1992 an einer Berliner Demonstration ge­gen Ausländerfeindlichkeit teilnahmen, auch "die Mächtigen" befanden, darunter der Bundes­kanzler und der Bundespräsident sowie führende Repräsentanten der Oppositionsparteien, der Kirchen .und Gewerkschaften.4 In einer Erklärung im Vorfeld dieser Demonstration hatten

Vertreter der Bayerischen Staatsregierung geringschätzig von einer "Schaufensterveranstal­tung" gesprochen. Am 23. November 1995 waren es jedoch der Bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber und fast die gesamte CSU-Führungsriege einschließlich Theo Waigel, die sich an die Spitze einer Demonstration von über 25.000 Menschen in München stellten, um ihren Unwillen gegen das "Kruzifix-Urteil" des Bundesverfassungsgerichts kundzutun?

Was läßt sich aus diesen wenigen Schlaglichtern schließen? Zum ersten folgen nicht alle Proteste der schlichten Polarität von Regierten versus Regierenden. Unter bestimmten Um­ständen erscheint es selbst Regierenden opportun, sich in den Straßenprotest einzureihen. Zum zweiten ließe ein Blick auf die logistischen Voraussetzungen solcher Massenproteste erken­nen, daß es sich nicht um spontane Aktionen unorganisierter "Massen" handelt. Proteste die­ser Größenordnung bedürfen einer aufwendigen Vorbereitung, die im Regelfall nur durch Großorganisationen oder Zusammenschlüsse protesterfahrener Gruppen zu leisten ist. Ver­senden von Aufrufen, Bestellung von Sonderzügen, Auswahl der Redner, Aufbau der Tribüne und Anordnung der Lautsprecher wollen im voraus bedacht sein. So gesehen sind Massen allenfalls "Kulisse", nicht aber "Träger" von Protesten. Zum dritten lehrt die Tatsache immer

erneut stattfindender Massenproteste, daß diese den Protestträgern als ein nützliches und wir­kungsvolles Mittel der Politik gelten. Nichts spricht dafür, daß solche Proteste durch andere

Ausdrucksformen des Widerspruchs allmählich ersetzt würden.6 "Mit Protestbewegungen

mobilisieren sich bestimmte Publikumssegmente, die sich öffentlich nicht hinreichend vertre­ten fühlen ... Protestdemonstrationen erscheinen insofern als ein funktionales Äquivalent für die Pressekonferenzen jener Akteure, die sich im Kommunikationssystem Öffentlichkeit

schon etabliert haben" (Neidhardt 1994, S. 32).Die anhaltende Attraktivität des Massenprotests ergibt sich aus der Verbindung zweier

Momente. Das eine ist die bloße Form der massenhaften Zusammenkunft. Kollektive Identität

wird sinnlich erfahrbar. Mit Ausnahme einiger Formen, z. B. Unterschriftensammlungen, sind

Massenproteste physisch verkörperte - und nicht nur rhetorisch beschworene - Gemeinschaft. Das im Protest eingelöste und gleichzeitig auf die Zukunft gemünzte Versprechen lautet: Wir stehen zusammen, und wir tun es mit mehr als bloßen Worten. Das andere Moment ist der Inhalt des Protests: Wir alle stehen für oder gegen etwas Bestimmtes. Geschlossenheit und Entschlossenheit vieler ist die Botschaft des Massenprotests, in dem Anziehungskraft und Drohgebärde miteinander verschmelzen und dabei eine prekäre Balance zwischen "appeal and threat" (Turner 1969, S. 820) eingehen. Selbst wenn der Massenprotest beim Gegner nichts zu

erreichen vermag, so erfüllt er doch eine Funktion für Protestierende und Publikum, nämlich Masse sichtbar zu machen. So gesehen ist Massenprotest zumindest ein Mittel symbolischer Politik. Symbolische Politik ist jedoch zugleich eine mögliche Quelle von Macht. Das ergibt sich aus den Eigenheiten moderner Demokratien. Ihre Besonderheit besteht darin, daß proze- dural erzeugte und institutionell abgestützte Macht, die im politischen Entscheidungssystem konzentriert ist, nicht unabhängig von der Macht von Meinungen und speziell den Meinungen

der Massen ausgeübt werden kann.Um die Einflußnahme der Bürgerschaft auf Prozesse und konkrete Entscheidungen des

politischen Systems zu sichern, ist in westlichen Demokratien eine Vielzahl von Kanälen und Prozeduren vorgesehen. Zentral ist hierbei die politische Wahl. Durch sie selektiert und dele­

giert der demokratische Souverän eine bestimmte politische Führungsgruppe. Diese fällt in­nerhalb einer feststehenden Periode Entscheidungen, die von der Wählerschaft nicht im vor­aus oder allenfalls nur ungefähr kalkulierbar sind. Somit ist die Wahl nicht nur ein Instrument der Einflußnahme durch Wähler, sondern zugleich ein Mechanismus, mit dem politische Re­präsentanten die Wähler auf Distanz halten können.

Gerade weil die politische Wahl inhaltlich weitgehend unbestimmt ist und nur sehr einge­schränkt ein prospektives Votum über anstehende Sachfragen bilden kann, somit gleichsam einen Blankoscheck für künftige Entscheidungen der Gewählten darstellt (Offe 1980,

S. 31 f.), und weil zudem das Aufkommen mancher Entscheidungsmaterien und Entschei­dungsalternativen gar nicht vorherzusehen ist, ist die Bürgerschaft berechtigt und ihr politisch aktiver Teil darum bemüht, den laufenden Entscheidungsbetrieb zu beeinflussen. Das Hand­

lungsspektrum reicht von formalisierten Verfahren der Partizipation bis hin zum "unkonventionellen" Protest. Umgekehrt ist politischen Entscheidungsträgern daran gelegen, Stimmungen zu erkunden, mögliche Widerstände zu antizipieren und im Vorfeld von Ent­scheidungen öffentliche Meinung und Einstellungen der Bevölkerung zu beeinflussen. Dies

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deshalb, weil (a) Entscheidungen schwerlich gegen den starken Widerstand organisations- und konfliktfähiger Gruppen durchgesetzt werden können und (b) politische Führungsgruppen Anerkennung suchen und nicht zuletzt die Chancen ihrer Wiederwahl sichern wollen.

Dank dieser Mechanismen wechselseitiger Einflußnahme und Rückkoppelung verlaufen viele politische Entscheidungsprozesse weitgehend geräuschlos (von Beyme 1994) oder wer­den lediglich von einem Konzert von Stimmen begleitet, das in seiner Lautstärke und Zu­sammensetzung bereits im voraus kalkulierbar ist. Bei dieser "Routinepolitik überwiegt die Bestimmung der Agenda durch Parteien und Interessengruppen" (ebenda, S. 334). Zuweilen wird jedoch dieses Muster durchbrochen. Unerwartet avancieren politische Entscheidungen zu hochgradig kontroversen und mobilisierenden Konfliktgegenständen, welche die Bürgerschaft in Gestalt von Protestgruppen und -bewegungen auf die Barrikaden bringen.

Barrikadenkämpfe im Sinne einer direkten und gewaltsamen Konfrontation zwischen Bür­

gerschaft und Inhabern der Staatsgewalt sind In den heutigen westlichen Demokratien eine absolute Ausnahmeerscheinung. Es überwiegen stärker domestizierte Formen des kollektiven Protests, um die politische Agenda zu beeinflussen, um auf Entscheidungen im Vorfeld ein­

zuwirken, sie rückgängig zu machen oder ihre Durchsetzung zu verhindern. Zuweilen sind es nur symbolische Gesten des Widerspruchs, namentlich die Demonstration7; zuweilen werden die institutionell vorgesehenen Kanäle politischer Einflußnahme - etwa Einsprüche im Rah­men von Genehmigungsverfahren - extensiv genutzt; zuweilen sind es "direkte Aktionen" in

Gestalt selbstdisziplinierten zivilen Ungehorsams oder manifester Gewalt. Im Kern handelt es sich bei diesen Formen der Einflußnahme um die Ausübung "kommunikativer Macht ... im Modus der Belagerung", mit der auf die Prämissen der Entscheidungsprozesse "ohne Erobe­

rungsabsicht" eingewirkt werden soll (Habermas 1989, S. 475).Wie in vergleichbaren Ländern ist auch die Geschichte der Bundesrepublik von einer Viel­

zahl und Vielfalt von Protesten (Rucht 1989) markiert, mit denen Aufmerksamkeit erregt und

politische Entscheidungsträger unter Druck gesetzt werden sollen. In diesen Fällen wird eine anstehende bzw. bereits getroffene Entscheidung formell zuständiger Organe als derart ein­schneidend und in ihren möglichen Konsequenzen als bedrohlich bzw. unannehmbar empfun­

den, daß Gruppen der Bevölkerung Einspruch erheben. Aus ihrer Sicht handelt es sich um Entscheidungen, die nicht kommentar- und widerstandslos den gewählten politischen Reprä­sentanten überlassen bleiben dürfen. Mitunter spitzen sich die Auseinandersetzungen zu: De­

batten verdichten sich zu Konflikten, und aus manchen Konflikten werden "hot issues", die Massen von Bürgern mobilisieren und dann als "key events" (vgl. dazu Brosius/Eps 1995; Kepplinger/Habermeier 1995) die gesteigerte Aufmerksamkeit der Massenmedien finden. Bundespolitisch bedeutsame Konfliktgegenstände dieser Art waren z. B, die Wiederbewaff­nung der Bundesrepublik; die Bestrebungen, die Bundeswehr mit Atomwaffen auszustatten; die Notstandsgesetze; die Regelung der Abtreibung; der NATO-Doppelbeschluß; die Volks­zählung; die Asylgesetzgebung sowie die eingangs erwähnten Kürzungen sozialer Leistungen. Aber auch auf regionaler oder lokaler Ebene können politische Entscheidungen massiven und

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massenhaften Widerstand hervorrufen, wie es z. B. die Konflikte um technisch-industrielle Großprojekte lehren (Linse et al. 1988).

Unser in der Regel aus der Zeitungslektüre stammendes Wissen um solche Konflikte liefert lediglich Assoziationen, bruchstückhaftes Anschauungsmaterial. Aber auch die Sozialwissen­schaften haben sich solchen Konflikten bislang kaum oder allenfalls in einzelnen Fallstudien zugewandt (Halloran/Elliott/Murdock 1970; Schulz 1968; Burstein 1979; Burstein/Freuden­

berg 1978). Schlichte deskriptive Fragen zur Struktur von Massenprotesten und erst recht Kausalfragen zum Zusammenhang von Massenprotesten und politischen Entscheidungen sind damit unbeantwortet: Welchen Anteil haben Massenproteste am gesamten Protestgeschehen? Weisen sie, abgesehen von ihrem bloßen Umfang, besondere Merkmale etwa hinsichtlich der Themen, Formen und Träger auf? Welche Faktoren machen bestimmte politische Entschei­dungen zu "hot issue"-Entscheidungen? Gibt es einen erkennbaren direkten oder indirekten Einfluß des Protests auf den Ausgang der Entscheidungen? Wie wirken sich einmal getroffene Entscheidungen - seien sie positiv, negativ oder ambivalent im Sinne der Protestierenden - auf den weiteren Verlauf von Mobilisierungen aus?

Dieser Beitrag greift einige dieser Fragen auf, wird jedoch auf Kausalfragen keine schlüs­sigen Antworten bieten, sondern nur eine explorative Funktion erfüllen können. Im ersten Teil werden Überlegungen und Hypothesen zum Zusammenhang von Massenprotesten und politi­

schen Entscheidungen vorgestellt. Nach knappen Hinweisen auf die hier verwendete Daten­basis im zweiten Teil wird in einem dritten Schritt die Struktur von Großprotesten in der Bun­desrepublik im Aggregat, teilweise auch im Zeitverlauf, betrachtet und der Gesamtheit der

Proteste gegenübergestellt. Der vierte Teil widmet sich jener Teilmenge von Großprotesten, die als Massenproteste etikettiert werden. Hier stehen wiederum jene Proteste im Mittelpunkt, die proaktiv oder reaktiv auf politische Entscheidungen bezogen sind. Abschließend werden einige allgemeine Überlegungen zum Stellenwert von Massenprotesten präsentiert.

1. Überlegungen und Hypothesen zu Massenprotesten und politischen Entscheidungen

Begriffe wie Großprotest oder - noch deutlicher - Massenprotest wecken die Assoziation einer vielköpfigen Menschenmenge, die beispielsweise zu einer Demonstration an einem Ort zusammenkommt oder auf andere Weise, etwa in Form einer umfangreichen Unterschriften­

sammlung, politisch intervenieren will. Massenproteste können aber auch aus einer Vielzahl

kleiner Proteste bestehen, die - mehr oder weniger koordiniert - mit gleicher Zielsetzung bzw. aus gleichem Anlaß an vielen Orten stattfinden. Massenproteste manifestieren sich also nicht notwendigerweise in herausragenden Einzelprotesten. Im weiteren wird diese zweite und wohl eher seltene Möglichkeit vernachlässigt und ausschließlich auf Proteste ab einer bestimmten Größenordnung Bezug genommen. Hierbei werden der Eindeutigkeit halber zwei gängige Begriffe operational definiert. Als Großproteste gelten solche, die mehr als 10.000 Teilnehmer

mobilisieren. Eine Teilmenge von Großprotesten sind Massenproteste, definiert als Proteste

mit mehr als 100.000 Teilnehmern.Innerhalb der Gesamtheit aller tatsächlich stattfindenden Proteste spielen Groß- bzw. Mas­

senproteste aus mehreren Gründen eine besondere Rolle. Dies ergibt sich erstens daraus, daß diese Proteste nicht alltäglich sind und schon aufgrund ihrer schieren Größe aus der Menge aller Proteste für Organisatoren und Protestteilnehmer, aber auch für Passanten und Ord­

nungskräfte herausragen. Zweitens erregen Großproteste in besonderer Weise die Aufmerk­samkeit der Massenmedien. Forschungen von McCarthy/McPhail/Smith (1996) zu Protesten in Washington, D. C. haben gezeigt, daß mit steigenden Teilnehmerzahlen auch die Chance

zunimmt, daß Proteste in Massenmedien (Femsehnachrichten und Tageszeitungen) Erwäh­nung finden.8 Der Vergleich von Polizeidaten und Medienberichten zu Protesten lehrt, daß die große Fülle von Klein- und Kleinstprotesten von den untersuchten Medien9 ignoriert wird, während ab einer bestimmten Größenordnung praktisch alle Proteste die Aufmerksamkeit dieser Medien auf sich ziehen.10 Drittens ist anzunehmen, daß - ceteris paribus - mit der Grö­ße des Protests auch eine gesteigerte Medienaufmerksamkeit einhergeht, die sich in Aufma­chung, Plazierung und Länge der Berichte niederschlägt. Dies hat Folgen für die Wahrneh­mung des Publikums. Forschungen zur Medienrezeption weisen darauf hin, daß die Aufmerk­samkeit des Publikums weitgehend den Mustern der Medienaufmerksamkeit folgt. Auch

wenn vorerst unklar ist, ob die für Medien geltenden Nachrichtenwerte in gleicher Weise für das Publikum wirksam sind, so zeigt sich doch, daß die Aufmerksamkeit des Publikums überwiegend durch den medienbestimmten Präsentationswert von Informationen gesteuert

wird (Eilders 1996). Auch für Berichte über Proteste ist davon auszugehen, daß solche, die durch journalistische Mittel in besonderer Weise hervorgehoben sind, bevorzugt vom Publi­kum wahrgenommen und vermutlich auch am ehesten in dessen Gedächtnis haften werden. Viertens kann unterstellt werden, daß politische Entscheidungsträger als aufmerksame Rezi­pienten der Massenmedien nicht nur Großproteste eher als Kleinproteste registrieren, sondern Großproteste auch bei ihrer Meinungsbildung und Entscheidungsfindung eher in Rechnung stellen.

Ganz allgemein gilt, daß Proteste - im Unterschied zu individuellen Einstellungen, wie sie von der Meinungsforschung erfaßt werden - eine manifeste Handlungsbereitschaft eines poli­tisch wachen und aktiven Segments der Bevölkerung anzeigen. Diesem Segment kommt bei der Bildung und Präsentation öffentlicher Meinungen, und damit möglicherweise auch im laufenden Entscheidungsprozeß, eine im Verhältnis zur "schweigenden Mehrheit" überpro­portionale Bedeutung zu. Speziell Großproteste, zumal wenn sie sich explizit an politische Entscheidungsträger richten, sind somit ernst zu nehmende Signale für politische Eliten, daß

Unmut und Kritik über randständige Zirkel hinausgewachsen sind. Selbst wenn sich mit Großprotesten lediglich eine Bevölkerungsminderheit artikuliert, so handelt es sich doch um möglicherweise sehr organisations- und konfliktfähige Gruppen, deren Mißachtung durch die etablierte Politik den Protestierenden weiteren Zulauf aus der Masse bislang passiver Sympa­thisanten zu verschaffen droht. Wir können somit annehmen, daß Großproteste, die sich direkt

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auf anstehende oder getroffene Entscheidungen beziehen, gerade von den in der Sache unmit­telbar befaßten Entscheidungsträgern aufmerksam beobachtet werden, auch wenn ihre Bedeu­tung, wie das einleitende Beispiel zeigt, aus taktischen Gründen heruntergespielt werden soll­

te.Unter welchen Bedingungen Großproteste zustande kommen und tatsächlich eine relevante

Einflußgröße im politischen Entscheidungs- bzw. Implementationsprozeß darstellen, ist frei­lich bislang theoretisch nicht geklärt, geschweige denn systematisch empirisch untersucht worden. Wir können lediglich auf Basis von wenigen Literaturhinweisen und aufgrund eines allgemeineren Vorwissens einige Hypothesen formulieren, die sich anhand des vorliegenden Datenmaterials zumindest ansatzweise und partiell beantworten lassen.

1. Generell kann angenommen werden, daß Großproteste in erster Linie stattfmden, um ein bislang vernachlässigtes Thema auf die politische Agenda zu setzen oder um eine unmittelbar anstehende Entscheidung proaktiv zu beeinflussen. Da soziale Bewegungen am häufigsten als

Träger von Protesten auftreten und eine hohe Thematisierungskapazität, aber nur ein geringes Durchsetzungsvermögen aufweisen (Raschke 1985, S. 386), dürften Großproteste in Reaktion

auf eine bereits getroffene politische Entscheidung seltener Vorkommen. In dieser Situation sind die politischen Erfolgsaussichten und somit auch die Chancen geringer, große Men­

schenmengen zu mobilisieren.2. Vieles spricht dafür, daß die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens von Großprote­

sten unter anderem von der Art der Entscheidungsmaterien abhängt. Entsprechend den Argu­menten von Theoretikern rationaler Wahl (z. B. Olson 1965) ist generell davon auszugehen, daß Großproteste aufgrund der "free rider"-Problematik unwahrscheinlich sind, da mit stei­gender erwartbarer Größe des Protests auch der kalkulierte Nutzen der individuellen Beteili­gung sinkt (kritisch dazu z. B. Oliver 1984). Sofern jedoch Großproteste überhaupt zustande kommen, wäre dies nach den Theorien rationaler Wahl am ehesten dann der Fall, wenn mate­rielle bzw. existentielle Lebensbedingungen auf dem Spiel stehen. Zusätzlich ist zu vermuten, daß auch grundsätzliche politische Richtungs- und Rahmenfestlegungen, die eine Fülle weite­rer Einzelentscheidungen präformieren, eher mobilisierungskräftig wirken.11 Relativ unwahr­scheinlich sind dagegen Großproteste, in denen sich Menschen in advokatorischer Absicht zum Fürsprecher anderer Gruppen machen, die ihre Interessen nicht oder nur schwer vertreten können.

3. Unter dem Blickwinkel rationaler Wahl ist es auch wahrscheinlich, daß anstehende Ent­scheidungen, die nicht oder zumindest nur schwer reversibel sind, eher Großproteste auf sich ziehen als Entscheidungen, die im Prinzip jederzeit wieder abgeändert oder rückgängig ge­macht werden können. Irreversible Entscheidungen, die definitive Festlegungen für die eigene Zukunft oder sogar für die nachfolgender Generationen bedeuten, erhöhen den Druck, sich zu Wort zu melden, sofern die Entscheidung als problematisch wahrgenommen wird und/oder sich in besonderer Weise dazu eignet, moralische Empörung kundzutun.

4. Neben der Sachstruktur der Entscheidung haben die jeweiligen sozialen und politischen

Randbedingungen einen erheblichen, wenngleich nicht exklusiven Einfluß darauf, ob und in

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welchen Dimensionen und Formen Großproteste zustande kommen. Hier bieten neuere Kon­

zepte zur politischen Gelegenheitsstruktur bzw. gesellschaftlichen Kontextstruktur einige An­haltspunkte (Tarrow 1994; Rucht 1994; McAdam/McCarthy/Zald 1996). Zwar zielen diese Konzepte zumeist auf das Aggregat von Protestmobilisierung als einer abhängigen Variable, doch dürften die in diesem Zusammenhang genannten mobilisierungsfördernden Bedingungen auch und gerade für die Klasse von Großprotesten gelten. Demnach ist anzunehmen, daß auf politische Entscheidungen bezogene Großproteste eher dann Vorkommen, wenn (a) die politi­

schen Bntscheidungseliten in der Sache gespalten sind und damit die Chance besteht, einfluß­reiche Bündnispartner zu gewinnen, sowie (b), über die genuinen Protestgruppen hinausge­hend, sich breitere Allianzmöglichkeiten mit gesellschaftlichen Gruppen, etwa etablierten Verbänden, Kirchen und Parteien, eröffnen.

5. Die Frage, unter welchen Bedingungen Großproteste mehr oder weniger chancenreich sind, um politische Entscheidungen im Sinne der Protestierenden zu beeinflussen, ist aufgrund der Vielzahl ins Spiel kommender Variablen und zusätzlicher Meßprobleme nur äußerst schwer zu beantworten. Empirisch feststellbar ist allerdings, ob letztlich - und gleich aus wel­

chen Gründen - die Forderungen der Protestierenden ganz, teilweise oder nicht erfüllt wurden. In diesem Sinn ist beispielsweise die Aussage möglich, daß das Anliegen der Vertriebenen- verbände, die ehemaligen deutschen Ostgebiete wieder territorial einzugliedem, völlig ge­scheitert ist, während andererseits alle auf die Aufhebung der deutschen Teilung zielenden Proteste letztlich ihr Ziel erreicht haben. Ebenso kann festgestellt werden, daß Protesten gegen die bundesdeutschen Atomenergieprogramme erhebliche Teilerfolge beschieden waren. Da sich die Mehrzahl der Großproteste gegen etablierte Verhältnisse und zumeist machtgestützte

Interessen richtet, sind generell mehr Mißerfolge als Erfolge zu erwarten. Jedoch ist eine Zielerreichung dann wahrscheinlicher, wenn die Entscheidungseliten in der Sachfrage gespal­ten sind.

Vor der Untersuchung dieser Hypothesen anhand konkreter Massenproteste erscheint eszunächst angebracht, die zugrundeliegende Datenbasis kurz zu beschreiben sowie die Strukturvon Groß- und Massenprotesten mit der der Gesamtheit aller Proteste zu vergleichen.

2. Die Datenbasis

Die Grundlage der weiteren Untersuchung bildet eine umfangreiche Dokumentation zu

Protestereignissen in der Bundesrepublik, die im Rahmen des sogenannten Prodat-Projekts12 am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) erstellt wurde. Die Datenbank umfaßt derzeit 8.919 Protestereignisse13 für den Zeitraum von 1950 bis 1992 auf dem Terri­torium der Bundesrepublik und - seit 1.1.1989 - auf dem der (ehemaligen) DDR.14 Genutzt wird hierbei in erster Linie der auf einem elektronischen Speicher verfügbare Datensatz. Nach

einem Stichprobenverfahren15 wurden auf Basis eines standardisierten inhaltsanalytischen Instruments Informationen aus Berichten zu Protestereignissen aus den üllgemeinsn Teilen zweier bundesdeutscher Tageszeitungen erhoben (Frankfurter Rundschau und Süddeutsche

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Zeitung). Diese Informationen erlauben einen Strukturvergleich zwischen Groß- und Massen­protesten einerseits und der Gesamtheit aller erhobenen Proteste andererseits. Dabei ist zu beachten, daß die Zahl der erhobenen Protestereignisse nur eine Teilmenge aller in diesen Medien berichteten Proteste und erst recht aller tatsächlich stattgefundenen Proteste dar­

stellt.16Ein spezieller Bezug zu politischen Entscheidungen war in der Standardcodierung nicht

vorgesehen. Für die Zwecke dieses Beitrags wurde eine gezielte Nachcodierung von entschei­dungsbezogenen Informationen nur für die Teilmenge der Massenproteste vorgenommen.17 In Ergänzung zu den überwiegend quantitativen Daten wird fallweise auch auf die zugrundelie­

genden Zeitungsberichte zurückgegriffen. Die entsprechenden Ergebnisse werden in Teil 4

vorgestellt.

3. - Das Profil von Groß- und Massenprotesten in der Bundesrepublik

3.1 Die Struktur von Groß- und Massenprotesten im Aggregat

Mobilisierungsumfang-. Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Proteste nach Größenklassen. Hierbei erfolgt zusätzlich eine Aufschlüsselung für Proteste, die an Wochenenden und Werk­

tagen stattfanden. Dieser Aspekt ist wegen vorerst noch uneinheitlicher Stichproben (vgl.

Fußnote 15) bei der Erfassung von Protestereignissen bedeutsam, sofern Zeitreihen betrachtet werden.

Tabelle 1: Proteste nach Größenklassen: Werktag- und Wochenendproteste,1950-1992 (Prozentwerte)

Teilnehmer Wochenende Werktag Gesamtabsolut % absolut % absolut %

< 11 196 5,8 159 10,7 355 7,311 - 100 580 17,2 433 29,3 1.013 20,9101 - 1.000 1.113 33,1 440 29,7 1.553 32,11.001 - 10.000 1.049 31,2 286 19,3 1.335 27,610.001 - 100.000 364 10,8 136 9,2 500 10,3> 100.000 63 1,9 26 1,8 89 1,8

Summe 3.365 100 1.763 100 4.845 100

Fehlende Werte 2.311 40,7 1.480 54,4 4.074 45,7

Für die Gesamtheit aller Proteste zeigt sich, daß die mittleren Größenklassen am stärksten besetzt sind. In der Kategorie von 10.001 bis 100.000 Teilnehmern sind 500 Proteste (10,3 Prozent), in der Kategorie mit mehr als 100.000 Teilnehmern 89 Proteste (1,8 Prozent) vertre-

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ten. Eine Aufschlüsselung nach Wochenend- und Werktagen ist deswegen von Interesse, weil

man annehmen könnte, daß Großpröteste ganz überwiegend an Wochenenden stattfinden. Dies deshalb, weil die Organisatoren, etwa im Falle bundesweiter Protestdemonstrationen, lange Reisewege in Rechnung zu stellen haben. Der Vergleich zwischen Wochenend- und

Werktagprotesten für die beiden letzten Größenkategorien zeigt jedoch nur Sehr geringe Un­terschiede (10,8 versus 9,2 Prozent und 1,9 versus 1,8 Prozent). Mit Ausnahme von Zeitrei­henbetrachtungen wird deshalb im weiteren die vorläufig noch unvollständige Stichprobe un­

geachtet des Ereignistages zugrunde gelegt,Die Verteilung der Größenklassen von Protesten gibt noch keine Auskunft darüber, wie

viele Personen tatsächlich in Großprotesten mobilisiert wurden. In dieser Hinsicht zeigt sich ein enormes Übergewicht von Großprotesten (Tabelle 2). Obgleich ihr Anteil an der Zahl aller

Proteste mit 12,1 Prozent bescheiden ist, repräsentieren Großproteste 88,2 Prozent aller Pro­testteilnehmer. Die Betrachtung der Großproteste ist somit entsprechend der Zahl der Beteilig­ten im wesentlichen eine Betrachtung der Gesamtmobilisierung. Diese beläuft sich auf Basis der beschriebenen Suchstrategie und der unvollständigen Stichprobe auf knapp 50 Millionen

Protestteilnehmer.18 Selbst die Untergruppe der Proteste mit mehr als 100.000 Teilnehmern, die lediglich 1,8 Prozent aller Proteste ausmacht, stellt mit 56,6 Prozent mehr als die Hälfte aller Protestteilnehmer

Tabelle 2; Teilnehmer an Großprotesten und allen Protesten (in Tausend)

Massenproteste > 100.000

Teilnehmer

Großproteste*> 10.000

Teilnehmer

Alle Proteste

Absolut 28.181 43.952 49.812Anteil 56,6 % 88,2 % 100%

N 89 589 4.845

* Diese Kategorie endet nicht, wie es Tabelle 1 nahelegen könnte, bei 100.000 Teilnehmern, sondern ist nach oben hin offen. Sie schließt demnach Massenproteste ein.

Obgleich also Großproteste nach ihrem Mobilisierungsumfang nahezu mit der Gesamt­

mobilisierung identisch sind, ist doch anzunehmen, daß sie sich nach Themenfeldern, Akti­onsformen und Objekten der Kritik wesentlich von der Gesamtheit aller Proteste unterschei­den. So ist etwa zu vermuten, daß voraussetzungsvolle "high risk"-Aktionen eher eine Sache

kleiner, hoch motivierter Gruppen sind, während sich für Unterschriftensammlungen oder Kundgebungen durchaus eine große Zahl von Menschen gewinnen läßt. Im folgenden wird dem speziellen Profil von Großprotesten nachgegangen.

Protestthemen: Die Fülle konkreter Protestthemen und Anliegen wurde in neun großen Themenfeldern zusammengefaßt (Tabelle 3). Im Vergleich zur Gesamtheit aller Proteste zei­gen sich einige markante Abweichungen für die Großproteste und speziell für die Untergruppe

14

der Massenproteste. Großproteste beziehen sich überproportional auf die Bereiche Arbeit (Abweichung +3,6 Prozent) und Frieden (+2,8 Prozent), dagegen unterproportional auf die Bereiche Staatsorgane (-2,7 Prozent) und vor allem ideologische Streitfragen (-5,7 Prozent). Speziell für die Untergruppe der Massenproteste ist die Überrepräsentanz besonders markant

in den Themenfeldern benachteiligte Gruppen19 (+11,4 Prozent) und Bürgerrechte (+7,9 Pro­zent). Zeigte sich eine Überrepräsentation der Großproteste im Bereich Arbeit, so gilt das Ge­

genteil für die darin enthaltene Untergruppe der Massenproteste (-7,7 Prozent). Umgekehrt verhält es sich bei Umweltprotesten; hier sind Großprojekte leicht überproportional vertreten, während die Massenproteste unterrepräsentiert sind. Ideologische Grundsatzfragen bilden nur selten einen Anlaß für Großproteste. Offensichtlich bedarf es konkreter Auslöser bzw. thema­tischer Brennpunkte für Massenmobilisierungen. Im Gesamtbild bestätigt sich, daß Großpro­teste eine andere thematische Gewichtung als die Gesamtheit aller Proteste aufweisen. Das unterschiedliche Gewicht einzelner Protestthemen tritt bei der Unterkategorie der Massenpro­

teste am stärksten hervor.

Tabelle 3; Themenfelder von Großprotesten und allen Protesten (Prozentwerte)

Massenproteste>100.000

Großproteste>10.000

Alle Proteste

Frieden 20,0 17,2 14,4Staatsorgane 5,9 12,0 14,7Wohnen/Stadt 4,7 1,6 J,3Bildung/Soziales 5,9 6,4 4,9Umwelt 7,1 12,3 11,3Bürgerrechte 25,8 17,5 18,1Benachteiligte Gruppen 21,2 11,6 9,8Arbeit 8,2 19,5 15,9Ideologischer Streit 1,2 1,9 7,6

Summe 100 100 100

N 85 576 8.842

Protestformen: Die Verteilung der Großproteste nach relativ breit gefaßten Aktionstypen ist in Tabelle 4 wiedergegeben.20 Demnach konzentrieren sich Großproteste im wesentlichen

auf einen einzigen Aktionstypus, die Kategorie demonstrativer Aktionen (85,9 Prozent), wel­che bei allen Protesten weit schwächer vertreten sind (53,1 Prozent).21 Es folgt mit großem Abstand der Typus appellativer Aktionen (11,2 Prozent), der bei der Gesamtheit aller Proteste

und deutlicher noch bei den Massenprotesten stärker repräsentiert ist. Konfrontative und ge­waltförmige Aktionen haben bei Großprotesten nur einen Anteil von zusammen 2,2 Prozent; im Vergleich dazu beträgt ihr Anteil an allen Protesten mehr als das Zehnfache (24,2 Prozent). Massenproteste setzen sich zu drei Vierteln aus demonstrativen und zu einem Viertel aus ap­

15

pellativen Protesten zusammen; konfrontative und gewaltförmige Proteste fehlen hier völlig. Wir können somit festhalten, daß gemäßigte Aktionstypen, also gemeinhin als "friedlich" be­

zeichnete Aktionen, das Gesamtbild der Großproteste prägen. Die Untergruppe der Massen­

proteste besteht sogar ausschließlich aus gemäßigten Aktionstypen.

Tabelle 4: Aktionstypen von Großprotesten und allen Protesten (Prozentwerte)

Massenproteste>100.000

Großproteste>10.000

Alle Proteste

Appellativ 25,0 11,2 19,5Prozedural 0,0 0,7 3,2Demonstrativ 75,0 85,9 53.1Konfrontativ 0,0 2,0 13,9Leichte Gewalt 0,0 0,2 3,8Schwere Gewalt 0,0 0,0 6,5

Summe 100 100 100

N 88 587 8.748

Protestträger: Hinsichtlich der organisatorischen Trägerschaft von Protesten können drei Hauptgruppen unterschieden werden: (1) Initiativen und lose Netzwerke, (2) Verbände und Kirchen sowie (3) Parteien. Der aus Tabelle 5 ersichtliche Befund, daß bei Großprotesten die kumulierten Anteile der positiven Angaben für alle drei Trägertypen (133,1 Prozent) höher liegen als bei der Gesamtheit aller Proteste (114,2 Prozent), ist unter anderem Ausdruck einer umfangreicheren und vollständigeren Berichterstattung bei Großprotesten. Finden wir in die­sem Fall relativ häufig Angaben zu den organisatorischen Trägern des Protests, so gilt dies nicht in gleichem Umfang für die Vielzahl kleinerer Proteste. Aussagekräftiger ist somit der Vergleich der relativen Anteile einzelner Träger für die drei Protestkategorien (vgl. die Spal­

ten "Antworten"). Erwartungsgemäß nimmt mit steigender Teilnehmerzahl des Protests der Anteil informeller Organisationen als Träger von Protesten ab. Im Vergleich zu allen Prote­sten sind Initiativen/Netzwerke an Großprotesten und vor allem an Massenprotesten in gerin­gerem Maße beteiligt. Ein Grund dafür mag darin liegen, daß initiativförmige Gruppen gerin­gere Organisationskapazitäten aufweisen und teilweise außerstande sind, Großproteste durch­zuführen. Ein weiterer Grund könnte darin bestehen, daß Großorganisationen auch eher zu den bereits beschriebenen moderaten Protestformen tendieren, die ganz überwiegend das Bild

der Großproteste bestimmen. Dagegen neigen initiativförmige Gruppen eher zu dezentralen und häufig auch riskanteren Protestformen, für die sieh keine Massen gewinnen lassen. Auf der Linie dieser Überlegungen liegt auch der Befund, daß Parteien als Träger von Massenpro­

testen mit einem Anteil von 30,1 Prozent weitaus stärker in Erscheinung treten als bei allen Protesten (Anteil: 14jt Prozent). Insgesamt zeigt sich jedoch für alle drei Kategorien von Protesten eine starke Dominanz von Verbänden»

Tabelle 5: Organisatorische Träger von Großprotesten und allen Protesten (Prozentwerte)16

•Massenproteste

> 100.000 Teilnehmer

Großproteste > 10.000

Teilnehmer

Alle Proteste

Antw. Fälle Antw. Fälle Antw. Fälle

Initiativen/Netzwerke 23,2 31,5 27,7 36,9 29,1 33,2

Verbände 54,5 74,0 52,4 69,7 56,0 64,0Parteien 22,3 30,1 19,9 26,5 14,9 17,0

Summe % 100 135,6 100 133,1 100 114,2SummeAntworten 99 559 5.104

* Beispiel für die Lesart der ersten Zeile: ln 23,2 Prozent aller Antworten innerhalb der Kategorie der Mas­senproteste wurden Initiativen/Netzwerke als Träger genannt. Die Spalte "Fälle" enthält die kumulierten Pro­zentsätze, die aufgrund von Mehrfachnennungen von Trägertypen 100 Prozent übersteigen.

Tabelle 5 gibt keine Auskunft darüber, wie viele Organisationen jeweils als Träger von Protesten auftreten. Bezogen auf die Gesamtheit aller Proteste waren dies durchschnittlich 4,2 Organisationen pro Protest. Für die Kategorie der Großproteste beträgt der entsprechende Mittelwert 18,2; für die Untergruppe der Massenproteste liegt er bei der erstaunlichen Zahl

von 52,8 Organisationen. Dieser Wert ergibt sich vor allem aufgrund einiger weniger Ereig­nisse, an denen sich bis zu 2.200 Organisationen beteiligten.

Protestobjekte: Bevorzugtes Objekt von Großprotesten sind staatliche Institutionen und Repräsentanten, deren Anteil mit 84,1 Prozent weit über dem entsprechenden Anteil bei allen Protesten (66,4 Prozent) liegt.22 Stark unterrepräsentiert sind dagegen Wirtschaftsverbände und Firmen, die an allen Protesten mit 13,7 Prozent, an Großprotesten mit 9,3 Prozent und an Massenprotesten lediglich mit 1,4 Prozent als Adressat von Protesten auftauchen. Privatper­sonen, Objekt von 5,3 Prozent der Gesamtheit aller Proteste, bilden in nur 0,4 Prozent der Großproteste und in keinem einzigen Fall von Massenprotesten ein Protestobjekt. Bedenken wir zudem, daß das Gros aller Protestteilnehmer in Massenprotesten mobilisiert wird, so tritt die dominante Rolle von staatlichen Institutionen und Repräsentanten als Objekten von Pro­test noch deutlicher hervor.

3.2 Großproteste im Zeitverlauf

Zeitreihendaten sollen nachfolgend nur für den Mobilisierungsumfang (Zahl von Protesten und Protestteilnehmern) präsentiert werden. Für die Wochenendproteste, für die eine durchge­hende Zeitreihe von 1950 bis 1992 vorliegt, stellt Abbildung 1 die jährliche Zahl aller Proteste

und zusätzlich der Großproteste in einer Verlaufskurve dar. Unabhängig von einzelnen Kur­venausschlägen läßt sich für die Gesamtheit aller Wochenendproteste ein allmählicher An­

17

stieg konstatieren. Hinsichtlich der Großproteste ist rein optisch kein auffälliger Befund er­kennbar. Ihre durchschnittliche Zahl scheint lediglich ab 1980 erkennbar höher zu liegen als in vorangegangenen Perioden.

Abbildung 1: Protesthäufigkeit, 1950-1992

Eine nähere Betrachtung der einzelnen Jahreswerte, die der Abbildung 1 zugrunde liegen, offenbart jedoch markante Schwankungen mit einer Spannbreite von einem (im Jahr 1958) und 26 Großprotesten (1982). Hohe Werte werden zudem in den Jahren 1981 (25 Großprote­

ste), 1989 (23), 1985 (22) sowie 1955 und 1992 (je 21) erreicht.Eine Übersicht über die groben Entwicklungstrends von Großprotesten liefert eine Berech­

nung ihrer durchschnittlichen jährlichen Häufigkeit pro Dekade, wobei für die neunziger Jahre hervorzuheben ist, daß lediglich drei Jahre (1990-1992) in diese Rechnung eingingen. Für die fünfziger Jahre ergeben sich 9,4, die sechziger Jahre 4,6, die siebziger Jahre 7,0, die achtziger Jahre 16,8 und die frühen neunziger Jahre 16,3 Großproteste im Jahresdurchschnitt. Der ent­

sprechende Anteil der Großproteste an allen Protesten lag in den fünfziger Jahren mit 15,0

Prozent außergewöhnlich hoch und bewegte sich in der gesamten Folgezeit bei rund einem Drittel dieses Wertes.23

Die Entwicklung der Teilnehmerzahlen an allen Protesten und Großprotesten, die an Wo­chenenden stattfanden, ist in Abbildung 2 dargestellt. Bemerkenswert ist zum ersten der ex­trem unstetige Kurvenverlauf, der auch nicht annähernd dem der Zahl der Protestereignisse folgt (Abbildung 1). In beiden Kurven schlagen einige herausragende Massenproteste zu Bu­che (siehe Teil 4). Dagegen stellen die späten sechziger Jahre, die gemeinhin als Hochphase des außerparlamentarischen Protests erinnert werden, einen ausgesprochenen Tiefpunkt der Mobilisierung dar. Zum zweiten bestätigt sich der bereits im Aggregat festgestellte Befund, daß die Gesamtmobilisierung im wesentlichen von der Mobilisierung in Großprotesten be­stimmt ist. Die Differenzen beider Kurven sind noch am ehesten in Phasen relativ niedriger Mobilisierung erkennbar, und auch dies nur ab den späten sechziger Jahren.24 Dies dürfte auf Verschiebungen der dominanten Themen und Träger des Protests zurückzuführen sein. Wäh­rend die Mobilisierungskraft der Gewerkschaften und vor allem der Vertriebenenverbände

18

zurückgeht, gewinnen ab den späten sechziger Jahren die im Durchschnitt kleineren Proteste der Studentenbewegung und der nachfolgenden neuen sozialen Bewegungen ein stärkeres Gewicht (siehe auch unten).

Abbildung 2: Protestteilnehmer, 1950-1992

Analog zur zeitlichen Verteilung der Protestereignisse wurden auch Protestteilnehmer nach drei Protestkategorien und fünf Kalenderperioden aufgeschlüsselt, wobei wiederum aus Grün­

den der Vergleichbarkeit durchschnittliche Jahreswerte pro Periode ausgewiesen sind (Tabelle6). Es bestätigt sich der bereits zuvor gewonnene Eindruck, daß insbesondere die Mobilisie­rung in den fünfziger Jahren fast ganz, nämlich zu 93,7 Prozent, durch Großproteste erfolgte. In den siebziger Jahren dagegen war der Anteil der in Großprotesten mobilisierten Teilnehmer am kleinsten. Besonders gering war in diesem Jahrzehnt die Beteiligung der in Massenprote­sten mobilisierten Teilnehmer. Lag deren Anteil in allen übrigen Perioden bei über 50 Pro­zent, so betrug er in den siebziger Jahren nur 14,6 Prozent. In diesem Jahrzehnt, das ohnehin die insgesamt schwächste Mobilisierung im gesamten Betrachtungszeitraum aufwies, ging demnach die Mobilisierung überwiegend auf kleinere Proteste zurück.

19Tabelle 6: Jährliche Teilnehmerzahlen* pro Periode (in Tausend)

1950-1959 1960-1969 1970-1979 1980-1989 1990-1992

Massenproteste 465,6 298,9 46,1 950,4 652,1N = 62 (60,6 %) (61,4%) (14,6 %) (58,8 %) (51,4%)

Großproteste 720,5 433,8 232,9 1.411,6 1.007,5N = 427 (93,7 %) (89,2 %) (74,2 %) (87,4 %) (79,5 %)

Alle Proteste 768,7 486,5 313,9 1.615,3 1.267,8N = 3.365 (100 %) (100 %) (100%) (100%) (100 %)

* Nur Wochenendproteste. Die Werte in Klammern repräsentieren die Anteile der mobilisierten Protest­teilnehmer auf Basis des jeweiligen Jahrzehnts für die drei Protestkategorien.

Wir können somit festhalten, daß Großproteste nach ihrer Zahl und Mobilisierungsleistung in den fünfziger Jahren ein besonders hohes Gewicht hatten, während für die siebziger Jahre

das Gegenteil zutrifft. Im gesamten Betrachtungszeitraum von 1950 bis 1992 ist somit kein durchgehender Trend zugunsten oder zu Lasten des Anteils von Groß- und Massenprotesten erkennbar. Während eine Studie zu Protesten in Washington von 1961 bis 1983 einen Trend zu immer größeren Protesten feststellt und diesen mit der wachsenden Stabilisierung und Pro- fessionalisierung der organisatorischen Träger in Verbindung bringt (Everett 1992), ist kein analoges Muster für die Bundesrepublik erkennbar.

4. Massenproteste und politische Entscheidungen

In diesem Abschnitt sollen die Massenproteste im Zeitraum von 1950 bis 1992 genauer betrachtet und hinsichtlich ihres Bezugs auf politische Entscheidungen diskutiert werden. Die konkreten Entstehungsbedingungen und politischen Wirkungen von Massenprotesten bleiben jedoch ausgeklammert.

1. Von den 89 Massenprotesten entfallen 81 auf die alte Bundesrepublik bzw. die alten Bundesländer und acht auf die DDR bzw. die neuen Bundesländer. Eine sinnvolle Aussage über die zeitliche Verteilung der Massenproteste ist nur für die Wochenendproteste möglich (N - 62), da für die Werktagproteste, wie schon betont, noch keine durchgehende Erhebung (Werktage jeder vierten Woche) vorliegt. Demnach Verteilen sich die Massenproteste an Wo­chenenden wie folgt: 1950-1959: 21; 1960-1969: 11; 1970-1979: 3; 1980-1989: 17; 1990­1992: 10.

Über die Hälfte, nämlich 49 der 89 Massenproteste, entfallen aufdie Kategorie bis 200.000

Teilnehmer, weitere 30 Proteste auf die Gruppe von 200.001 bis 500.000 Teilnehmern und zehn Proteste auf die letztgenannte Kategorie (davon drei mit über einer Million Teilneh­mern). Die mit Abstand größte Beteiligung erlangte eine Unterschriftensammlung ("Krefelder Appell") der Friedensbewegung in den frühen achtziger Jahren mit 4,7 Millionen Unterzeich­

20

nern. Es folgen zwei weitere Unterschriftenaktionen (für einen demokratisch verfaßten Bund deutscher Länder [1992] und für eine Schulreform in Nordrhein-Westfalen [1992]). Die größte Einzeldemonstration mit einer knappen Million Teilnehmern fand am 4. November 1989 in Ost-Berlin statt; sie richtete sich gegen den Führungsanspruch der SED und zielte auf die Erlangung/Ausweitung von Bürgerrechten in der DDR. Bemerkenswert ist auch die Größe der 1. Mai-Kundgebungen bis in die frühen sechziger Jahre. Hierbei wurden allein in West­Berlin mit 750.000 Teilnehmern (1960) bzw. 660.000 (1953) Teilnehmern Größenordnungen erreicht, die ein Vielfaches der größten Einzelkundgebungen darstellen, die zu gleichem An­laß in den nachfolgenden Perioden stattfanden. Diese Zahlen machen auch deutlich, daß die

eingangs erwähnten Superlative, die die Berichterstattung über die jüngste Demonstration gegen die Bonner Sparvorhaben prägten ("größte Gewerkschaftsdemonstration seit 1945", "größte Protestaktion in der Geschichte der Bundesrepublik"), nicht angemessen sind.

Was die ideologische Ausrichtung von Protestgruppen bzw. Protestanliegen angeht, so zeigt sich ein deutliches Übergewicht von 47 linksorientierten Protesten. Ilmen stehen 23

rechte Proteste und acht ideologisch heterogene bzw. nicht auf der Links-Rechts-Achse be­

stimmbare Proteste gegenüber (z. B. Forderungen der Kriegsheimkehrer). Berücksichtigt man jedoch, daß 22 von den 23 rechten Massenprotesten auf das Konto von Vertriebenenverbän- den gehen, kann jenseits dieser Besonderheit nicht von einer relevanten rechten Massenmobi­lisierung in der Bundesrepublik die Rede sein.

Aus den oben genannten Beispielen wird bereits im Ansatz die Heterogenität der themati­schen Schwerpunkte deutlich. Zum Teil spiegeln sich darin Konfliktstoffe, die auch die par­lamentarische Auseinandersetzung seit Bestehen der Bundesrepublik geprägt haben.

Zur Illustration werden nachfolgend für einige der 89 Massenproteste der Beginn des Pro­testereignisses, der zusätzlich zu allen speziellen Informationen von den Codierern notierte "Kurztitel" sowie - in Klammern - die Teilnehmerzahl aufgelistet:

27.7.1950: Einstündiger Warnstreik in Köln gegen die Preispolitik der Bundesregierung (180.000)

13.5.1951: Kundgebung für Rückkehr in die ehemals deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße sowie für gerechten Lastenausgleich von Mitgliedern der pommerschen Lands­mannschaft und Polen-Deutscher in Hannover (107.000)15.1.1955: Resolution der DGB-Landeskonferenz gegen Wiederaufrüstung der Bundesrepu­blik, gegen Ratifizierung der Pariser Verträge, für Ausschöpfung friedlicher Verhandlungs­möglichkeiten zwischen Ost und West in München und Beschluß eines Volksbegehrens (900.000)

18.6.1955: Internationales Kriegsheimkehrer-Treffen in Hannover für angemessene materielle und soziale Versorgung der Kriegsopfer (125.000)

2.10.1966: Volksbegehren zur Einführung der Briefwahl in Hessen für die Kommunal- und Landtagswahlen durch CDU und FDP (187.000)

16.3.1979: Bittschrift von Tierversuchsgegnern an das Bundesfamilienministerium in Bonn

und Autokorso gegen Versuche am lebenden Tier und gegen Chemiegesetzentwurf (160.000)

21

3.5.1981: Unterschriftensammlung fur die Einleitung eines Volksbegehrens gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens (220.765)14.11.1981 Demonstration in Wiesbaden gegen den Bau der Startbahn West des Frankfurter

Flughafens (105.000)13.12.1985: Sammlung und Übergabe von Klageanträgen gegen das Förderstufenabschlußge­

setz durch die "Bürgeraktion Freie Schulwahl" in Wiesbaden (180.000)15.5.1989: Petition "Remscheider Mahnung" der Friedensinitiative Remscheid an den Bun­

destag gegen Tiefflüge (165.000)6.11.1989: Demonstrationszug und Kundgebung von Bürgern in Dresden für demokratische Reformen, freie Wahlen, Reisefreiheit und Rücktritt der DDR-Regierung (231.500)14.11.1992: Sternmarsch mit Kundgebung in Bonn für den Erhalt der Asylgesetzgebung so­wie gegen Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus (165.000).

Im Zeitverlauf ergeben sich markante Verschiebungen der thematischen Schwerpunkte. In

den fünfziger und frühen sechziger Jahren dominieren Proteste, die sich an Folgen und Lasten des Krieges und an politischen Grundsatzentscheidungen entzünden (Vertriebene, Kriegsop­

fer, Kriegsheimkehrer, deutsche Teilung, Wiederbewaffnung). Die Studentenbewegung und

Neue Linke sind beim derzeitigen Stand der Codierung (es fehlen die Werktagproteste jeder vierten Woche von 1961-1978) mit keinem einzigen Massenprotest vertreten. Ab den späten siebziger Jahren schieben sich die Themen der neuen sozialen Bewegungen und insbesondere der Friedensbewegung in den Vordergrund. 1989/90 überwiegen die Massenproteste im Zei­chen der "Wende" in der DDR. Die acht Massenproteste in der zweiten Jahreshälfte 1992 richten sich ausschließlich gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit. Dagegen

mobilisierten alle rechtsradikalen Proteste der Jahre 1990 bis 1992 zusammengenommen nur wenige zehntausend Teilnehmer, wie an anderer Stelle vorgelegte Analysen zeigen (Koopmans/Rucht 1996; Rucht 1996). Proteste, die eine Verbesserung der Situation von Ar­beitnehmern zum Inhalt haben, streuen relativ gleichmäßig, wenngleich dünn über den gesam­ten Betrachtungszeitraum. Markante und hart umkämpfte Entscheidungen wie die Einführung der Notstandsgesetze oder die Reform des Abtreibungsrechts spiegeln sich nicht in den bis­

lang registrierten Massenprotesten.Bei der Betrachtung der organisatorischen Träger von Massenprotesten überrascht der Be­

fund, daß die Vertriebenenverbände mit 22 Protesten am stärksten vertreten sind. Es folgen die Gewerkschaften (17), (informelle) Bürgergruppen (16), Friedensgruppen/-verbände (11), breite Bündnisse diverser Gruppen (9), Kriegsopfer- und Heimkehrerverbände (6), Umwelt- schutzverbände/-gruppen (3) und sonstige Verbände (3). Kirchen und konservative Parteien sind mit je einem Massenprotest vertreten.

2. Mit Blick auf den Entscheidungsbezug von Massenprotesten wurde unter anderem eine Kategorisierung danach vorgenommen, ob die Proteste eine anstehende bzw. angekündigte politische Entscheidung beeinflussen wollen, ob sie auf eine bereits getroffene Entscheidung reagieren oder keinen direkten Entscheidungsbezug aufweisen, jedoch ein Thema oder Anlie­

22

gen zunächst auf die politische Agenda bringen und vielleicht auf diesem Wege erst entschei­dungsrelevant machen wollen.25

In der eingangs formulierten ersten Hypothese wird unterstellt, daß Großproteste vor allem stattfinden, um ein bislang vernachlässigtes Thema auf die politische Agenda zu setzen oder eine unmittelbar anstehende Entscheidung proaktiv zu beeinflussen. Eine agendabildende Absicht von Massenprotesten liegt in mehr als zwei Dritteln der Massenproteste vor (60 von 89 Fällen). Allerdings wird der zweite Teil der Hypothese nicht bestätigt. Von den 29 Mas­senprotesten, für die ein direkter Entscheidungsbezug festzustellen war, wurden weitaus mehr,

nämlich 21, in Reaktion auf politische Entscheidungen durchgeführt26, anstatt diese im Vor­feld zu beeinflussen (8 Fälle). Entscheidungsbezogene Massenproteste erweisen sich somit eher als nachträgliche Korrekturversuche und gelten den Beteiligten offenbar nicht als aus­sichtslos. Allerdings ist nicht auszuschließen, daß diesen Massenprotesten, die in Reaktion auf politische Entscheidungen stattfmden, eine vielleicht sogar große Zahl kleinerer Protestaktio­nen im Vorfeld der Entscheidung vorausgegangen ist. Gerade die im Entscheidungsergebnis sichtbar gewordene Erfolglosigkeit kleiner Aktionen könnte zu um so größeren Mobilisie­

rungsanstrengungen geführt haben.In der zweiten Hypothese wurde angenommen, daß Massenproteste am ehesten dann zu­

stande kommen, wenn grundlegende materielle bzw. existentielle Lebensbedingungen auf

dem Spiel stehen oder es um grundsätzliche politische Richtungs- und Rahmenfestlegungen geht. Dagegen wurden kaum Massenproteste erwartet, in denen sich Menschen zum Anwalt anderer machen. Um diese Hypothese zu prüfen, wurde zusätzlich zu den in Tabelle 3 aus­gewiesenen Themenfeldern eine formale Kategorisierung der Art des Anliegens von Massen­protesten vorgenommen. Wie Tabelle 7 zeigt, wird die Hypothese tendenziell bestätigt. Es dominieren Fragen der politischen und territorialen Ordnung mit einem Anteil von zusammen

rund zwei Dritteln. Das hohe Gewicht von territorialen Fragen ist ein spezifisch deutsches Phänomen, das mit der deutsch-deutschen Vereinigung seine Bedeutung verloren haben dürf­te. Advokatorische Proteste sind mit immerhin 13,5 Prozent vertreten und übertreffen damit bei weitem die Massenproteste gegen Infrastrukturprojekte und zur Erhaltung der natürlichen Umwelt. Im Gesamtbild zeigt sich, daß Massenproteste nicht überwiegend dann stattfinden, wenn es um individuelle Güter bzw. selektive Anreize geht. Dies steht im Widerspruch zu den eingangs erwähnten Annahmen zur Logik kollektiven Handelns. Damit schwer vereinbar ist auch - jenseits des jeweiligen Anliegens - die Tatsache, daß Massenproteste überhaupt in grö­

ßerer Zahl zustande kommen. Ganz offensichtlich werden in vielen Fällen die Kosten-Nutzen­Kalküle, die Theorien rationalen Handelns unterstellen, von anderen und stärkeren Motiven bzw. Anreizen überlagert. Anstatt auf die Teilnahme an einem ohnehin stattfindenden Groß­protest zu verzichten und die Rolle des "free rider" einzunehmen, scheint für viele Individuen gerade die Erwartung eines Groß- oder gar Massenprotests ein starkes Beteiligungsmotiv dar­zustellen - sei es, weil gerade in diesen Protesten besonders "triftige" oder "betroffen machen­de" Themen zur Geltung kommen; sei es, weil im sozialen Umfeld ein höherer Erwartungs­druck besteht, oder sei es, weil der Massenprotest einen besonderen Erlebniswert verspricht.

23

Die Tatsache, daß politische Entscheidungen von grundsätzlicher politischer Bedeutung zumeist auf höheren politischen Ebenen fallen, manifestiert sich in der Verteilung der 29 ent­scheidungsbezogenen Massenproteste. Zehn von ihnen betreffen Kompetenzen des Bundes und weitere zehn internationale Angelegenheiten (zum Teil wiederum unter Einschluß des Bundes). Acht Massenproteste berühren landespolitische Entscheidungen (einschließlich Stadtstaaten) und nur ein Protest betrifft ein lokales Problem.27

Tabelle 7: Art des Anliegens von Massenprotesten

Absolut Prozent

Politische Ordnung 31 34,8Territoriale Ordnung 29 32,6Ökonomische Verteilung 12 13,5Anwalt für andere 12 13,5Infrastruktur/Lebensqualität 5 5,6

Gesamt 89 100,0

Unterscheidet man - überwiegend quer zu den in Tabelle 7 ausgewiesenen Kategorien - nach dem sicherlich nicht immer trennscharfen Kriterium des erhofften Individual- und/oder Kollektivnutzens, so zeigt sich ein deutliches Übergewicht von Protestanliegen, in denen bei­

de Nutzarten untrennbar miteinander verbunden sind (50 von 89 Fällen). Typisch dafür sind etwa Forderungen der Vertriebenen nach Rückkehr in ihre Heimat, bei denen es meist nicht nur um immaterielle Werte, sondern auch um die Wiedergewinnung verlorener dinglicher Güter geht. Das Übergewicht von Massenprotesten, in denen sich individuelle und kollektive

Nutzenerwartungen verbinden, erscheint auch theoretisch plausibel. So bestehen einerseits selektive Anreize zum Protest und insofern die Wahrscheinlichkeit hoher Beteiligung; ande­rerseits erscheint der Protest zugunsten von Kollektivgütern als besonders legitim, was eben­falls seine Attraktivität erhöhen dürfte.

Die dritte Hypothese besagte, daß irreversible Entscheidungen eher Massenproteste auf sich ziehen als reversible Entscheidungen. Da die Verteilung von diesen Entscheidungstypen für alle Proteste unbekannt ist, kann die Hypothese nicht in striktem Sinne überprüft werden. Generell ist anzunehmen, daß es nur bei einem extrem kleinen Teil der Entscheidungen, die überhaupt Proteste (gleich welcher Größenordnung) auf sich ziehen, um irreversible Entschei­dungen geht. Von den 29 Massenprotesten, die direkt auf Entscheidungen abzielen, sind sechs Entscheidungen nicht oder nur äußerst schwer reversibel. Vermutlich ist dieser Anteil in Re­lation zum entsprechenden Anteil aller Proteste überproportional hoch. Sollte dies zutreffen, kann die in Frage stehende Hypothese eher als bestätigt denn als widerlegt gelten.

Mit der vierten Hypothese wurde angenommen, daß Massenproteste dann bevorzugt zu­stande kommen, wenn (a) bei getroffenen oder anstehenden Entscheidungen Meinungsver­schiedenheiten zwischen etablierten Entscheidungsträgem in Parlament und/oder Regierung

24

sichtbar sind und (b) wenn sich breitere Allianzen mit gesellschaftlichen Gruppen hersteilen lassen. Gemäßigte Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierung waren nur in einem, markante Differenzen in keinem der 29 entscheidungsbezogenen Massenproteste erkennbar. Allgemein sind Meinungsverschiedenheiten innerhalb des Parlaments weitaus häufiger und prononcierter als innerhalb der Regierung, was sich auch in den hier untersuchten Fällen zeigt. Von den 29 entscheidungsbezogenen Massenprotesten waren in zwei Fällen eine geschlossene Haltung, in neun Fällen schwache und in elf Fällen starke Meinungsverschiedenheiten inner­halb des Parlaments hinsichtlich des Protestthemas erkennbar. In den übrigen sieben Fällen fehlen entsprechende Angaben. Diese Zahlenbasis ist zu dürftig und erlaubt mangels Ver­gleichsmöglichkeiten mit anderen Größenklassen von Protesten keine Prüfung der erstgenann­

ten Annahme.Mit Blick auf die zweite Kondition der genannten Hypothese zeigte sich wie erwartet, daß

mit wachsender Größe des Protests auch die durchschnittliche Anzahl von beteiligten Grup­

pen und Organisationen zunimmt. Beeindruckend ist insbesondere der Sachverhalt, daß im Falle von Massenprotesten durchschnittlich zwölfmal so viele Gruppen/Organisationen betei­ligt sind wie bei der Gesamtheit aller Proteste. Spitzenwerte mit 2.200 bzw. 1.100 beteiligten Gruppen wurden im Rahmen großer Friedensdemonstrationen am 11. Oktober 1986 und am 10. Oktober 1981 erreicht. Flierbei ergab sich im Zeitverlauf ein eindeutiges Muster: Während frühe Massenproteste von relativ wenigen Organisationen bestritten wurden, stieg die Zahl der beteiligten Gruppen und Organisationen vor allem in den achtziger Jahren sprunghaft an.

Hierin spiegelt sich sowohl eine thematische als auch strukturelle Verschiebung der Massen­proteste. Die anfangs dominierenden Verbände von Vertriebenen, Heimkehrern und Kriegsop­fern weichen zunehmend den netzwerkartigen Mobilisierungsstrukturen der neuen sozialen Bewegungen, die ab den späten siebziger Jahren die Hauptakteure der Massenproteste bilden. So gesehen, bestätigt sich die angesprochene Hypothese um so klarer, je später die Massen­proteste auf der Zeitachse plaziert sind.

Zwar wurde wegen der sachstrukturellen Komplexität, aber auch der Restriktionen auf­grund kleiner Fallzahlen (nur acht Massenproteste im Vorfeld politischer Entscheidungen) auf

eine Untersuchung des kausalen Einflusses von Massenprotesten auf politische Entscheidun­gen verzichtet, doch mag es immerhin wissenswert sein, ob die Zielsetzung dieser Proteste - ungeachtet der möglichen Einflußfaktoren - letztendlich erfüllt wurde. Von den 77 Massen­protesten, für die eine solche Beurteilung vorgenommen werden konnte, wurden in 14 Fällen

die angestrebten Ziele uneingeschränkt erreicht (z. B. Forderungen nach deutsch-deutscher Vereinigung); in elf Fällen war eine überwiegende Zielerreichung, in zwölf Fällen eine unge­fähre Balance von Gewinnen und Verlusten, in acht Fällen eine überwiegende Zielverfehlung und in 32 Fällen ein völliger Mißerfolg (z. B. keine Rückgewinnung der ehemaligen deut­schen Ostgebiete) zu verzeichnen. Proteste sind also nicht immer vergeblich, wenngleich es scheint, als würde eine Zielerreichung zumeist erst aufgrund des Zusammenspiels von inten­siven Mobilisierungsanstrengungen und sonstigen, das Protestanliegen begünstigenden Um­ständen ermöglicht. Solche Bedingungen liegen beispielsweise dann vor, wenn sich eine Pro­

25

testform anbietet, von der eine erhebliche Blockadewirkung für die Politikimplementation

ausgehen kann (Volkszählungsboykott), wenn sich eine außerparlamentarische mit einer star­ken parlamentarischen Opposition verbündet (Atomenergie) oder wenn die Proteste auf ein institutionelles Machtvakuum treffen (Wende in der DDR).

5. Großproteste - Die Spitze des Eisbergs?

Aus deiS vorgestellten Daten wurde deutlich, daß Groß- bzw. Massenproteste nur einen

kleinen Teil aller in den Massenmedien berichteten Proteste repräsentieren. Und diese wieder­um sind nur ein sehr kleiner Teil der tatsächlich stattgefundenen Proteste. Haben wir uns somit auf einen Nebenschauplatz konzentriert?

Einleitend wurden mehrere Gründe dafür benannt, warum Groß- bzw. Massenprotesten ei­ne besondere Bedeutung in politischen Auseinandersetzungen zukommen kann. Diese Argu­mente werden durch den hier ausgewiesenen Befund verstärkt, daß in diesen relativ wenigen Protesten ein sehr hoher Anteil aller registrierten Protestteilnehmer mobilisiert wird. In dieser

Hinsicht sind also, anders als beim Eisberg, die Proportionen der sichtbaren und unsichtbaren

Teile des Objekts vertauscht. Die ansonsten hochselektiven Medien dokumentieren den weit­aus größten Teil der Gesamtmobilisierung. Weiterhin zeigte die Analyse, daß - wiederum im

Unterschied zum Eisberg - die sichtbaren und weniger sichtbaren Teile des Protests nicht nur ein ungleiches "Volumen", sondern auch eine unterschiedliche "Konsistenz" besitzen. Wir

können nicht von Merkmalen der Großproteste auf alle Proteste schließen. Von diesen unter­scheiden sich Großproteste nach Themen, Formen, Trägern und Objekten. Am bemerkenswer­testen ist hierbei wohl der Formaspekt. Bei Großprotesten kommen in aller Regel, bei Mas­senprotesten sogar ausschließlich, moderate Protestformen (vor allem Demonstrationen und Kundgebungen) zum Zuge. Konfrontative und gewaltförmige Aktionen beschränken sich ganz überwiegend auf kleinere Proteste.

Die Gretchenfrage, ob und unter welchen Bedingungen Groß- bzw. Massenproteste tat­sächlich einen politischen Einfluß haben und ob nicht stärker konfrontative, regelverletzende Proteste eher erfolgreich sind, wie dies etwa Gamson (1990) in seiner Studie von 53 "challenging groups" festgestellt hat, läßt sich im Rahmen dieses Beitrags nicht beantworten. Es zeigte sich, daß die Mehrzahl von Massenprotesten keinen unmittelbaren Entscheidungs­bezug aufweist, sondern vielmehr eine agendabildende Rolle beansprucht. Freilich geht es

insbesondere bei Massenprotesten in letzter Instanz nicht um öffentliche Präsenz, sondern - vermittelt über diese - um politische Einflußnahme. Finden wir bei der Gesamtheit der Prote­

ste noch einen signifikanten Anteil von nichtstaatlichen Adressaten bzw. Themen, so bilden staatliche Institutionen und Repräsentanten fast ausschließlich das Objekt von Massenprote­sten. Zugleich sind Massenproteste ein eindrucksvoller Beleg dafür, daß die formell vorgese­henen Kanäle und Prozeduren politischer Einflußnahme von vielen Bürgern und Bürgerinnen als nicht ausreichend erachtet werden. So gesehen, steckt bereits in der bloßen Form des Mas­senprotests eine politische Botschaft.

26

Jedoch sollte nicht übersehen werden, daß Massenproteste nicht allein auf Außenwirkung kalkuliert sind. Sie dienen auch der Selbstvergewisserung und Identitätsbildung von Gruppen, die sich mit der Inszenierung von Massenprotesten am glaubwürdigsten das Signum einer Bewegung zu verleihen suchen.28

Massenproteste sind in der Regel ein guter Indikator für die Vitalität und Attraktivität eines Themas und seiner Promotoren. Doch sind Vorbehalte angebracht. Gerade das Beispiel der Frauenbewegung zeigt die subversive Wirkung, die von kleinen und oftmals nicht auf der Straße stattfindenden Protestaktivitäten ausgehen kann. Um solche eher latent wirkenden Ein­flüsse zu verstehen, werden wir uns nicht mit dem Blick auf die großen, spektakulären Prote­

stereignisse begnügen können.Hat dieser Beitrag die weithin sichtbaren Teile des Protesteisbergs aus relativ großer Di­

stanz erkundet, so werden im weiteren gezieltere Vermessungsarbeiten und Tiefenbohrungen über und unter dem Wasserspiegel erforderlich sein, der durch die Medienaufmerksamkeit markiert wird. Erst dann kann sich zeigen, unter welchen Bedingungen Protest mehr darstellt als einen rasch verblassenden Platzhalter im Getümmel massenmedialer Nachrichten.

27

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29

Anmerkungen

1 Die tageszeitung vom 17.6.1996, S. 1.2 So die Schlagzeile der Süddeutschen Zeitung vom 17.6.1996, S. 1.3 Rolf Dietrich Schwartz in seinem Kommentar zur anstehenden Bonner Demonstration

(Frankfurter Rundschau vom 15.6.1996, S. 3).4 Ebenfalls teilnehmende linksradikale Gruppen bedachten mitmarschierende Politiker

mit Pfiffen und Schmähungen ("Heuchler"). Sie verwandelten die Abschlußkundgebung durch massive Störaktionen in ein Debakel, so daß Bewertungen des Gesamtereignisses durch

die nationale und internationale Presse höchst ambivalent ausfielen.5 Vgl. die tageszeitung vom 25.6.1995, S. 5.6 "Demonstrations [im weiten Sinne des Wortes und weitgehend synonym mit dem hier

verwendeten Begriff "Protestereignis", D. R.] ... are a particularly effective mode of political expression in an age of television for underprivileged groups, and for prodding stalemated bureaucracies into taking necessary actions. Indeed, demonstrations are becoming part of the daily routine of our democracy and its most distinctive mark" (Etzioni 1970, S. 1).

7 Zur Bedeutung bzw. Anatomie von Demonstrationen vgl. Etzioni (1970); Favre (1990)

und Warneken (1991).8 Zu den Einflußfaktoren auf die Berichterstattung über Protestereignisse vgl. auch

Danzger (1975); Snyder/Kelly (1977); Mueller (1995) und Hocke (1996).9 Dies sind in der Studie von McCarthy/McPhail/Smith (1996) die New York Times, die

Washington Post sowie die lokalen Nachrichtensendungen der Fernsehkanäle ABC, CBS und

NBC.10 Von den Protesten im Jahr 1982 wurden in einer Größenkategorie von einem bis 25

Teilnehmern lediglich 3,5 Prozent berichtet. Für die Kategorie von 10.001 bis 100.000 Teil­nehmer betrug die Berichtsquote 78 Prozent. Alle Proteste mit über 100.000 Teilnehmern

wurden berichtet.11 In eine ähnliche Richtung weisen Überlegungen Klaus von Beymes (1994, S. 322 f.).

Ausgehend von sechs Typen politischer Entscheidungen, erwartet er, daß vor allem prohibiti­ve (Einschränkung von bisherigen Rechten), extensive (Ausdehnung von bisherigen Rechten) und redistributive Entscheidungen (Umverteilung von Einkommen und Leistungen) die Mas­senmedien zu intensiver Beeinflussung der Öffentlichkeit herausfordem und von Konfronta­

tionen, etwa in Form von Demonstrationen, begleitet werden.12 Es handelt sich hierbei um ein überwiegend von der Deutschen Forschungsgemein­

schaft finanziertes Projekt mit dem Titel "Dokumentation und Analyse von Protestereignissen in der Bundesrepublik, 1950-1993".

13 Ein Protestereignis ist definiert als eine kollektive, öffentliche Aktion nichtstaatlicher Träger, die Kritik oder Widerspruch zum Ausdruck bringt und mit der Formulierung eines gesellschaftlichen oder politischen Anliegens verbunden ist.

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14 Zum Projektdesign vgl. Rucht/Ohlemacher (1992). Zu den Codierregeln vgl. Rucht/Hocke/Ohlemacher (1992). Zu methodischen und technischen Einzelheiten des Projekts vgl. Rucht/Hocke/Oremus (1995) und Rucht/Neidhardt (1995).

15 Die angestrebte Stichprobe bezieht sich auf Protestereignisse an allen Wochenenden und zusätzlich an den Werktagen jeder vierten Woche. Während die Wochenendproteste für 1950 bis 1992 vollständig codiert sind (N= 5.676), wurden die Werktagproteste bislang nur für die Phasen von 1950 bis 1960 und von 1979 bis 1992 erhoben (N= 3.243).

16 Selektiv ist diese Datei, weil (1) Berichte aus bestimmten Teilen zweier bundesweiter Tageszeitungen zugrunde gelegt wurden (nur der allgemeine politische Teil ohne Regional­und Lokalteile und ohne die Ressorts Wirtschaft, Sport, Kultur usw.), (2) die Stichprobe sich nur auf 46 Prozent aller Ereignistage bezieht, (3) die Stichprobe vorerst unvollständig ist (vgl. Fußnote 15) und (4) pauschale Hinweise auf Proteste (z.B. "Druckerstreiks in vielen Städten

Norddeutschlands") nicht codiert wurden. Speziell zur Selektivität der in Prodat verwendeten bundesweiten Tageszeitungen im Vergleich zur Berichterstattung über Proteste in einer Lo­kalzeitung vgl. Hocke (1996).

17 Die Leitlinien dieser Codierung und die darauf basierenden einzelnen Entscheidungen können hier aus Platzgründen nicht dokumentiert werden. Angelika Costa führte - neben dem Autor - einen Teil dieser Codierarbeiten durch. Ihr sei hiermit für ihren konzentrierten Arbeit­seinsatz gedankt. Ebenso danke ich Andreas Dams für die Überprüfung der statistischen Aus­

wertungen.18 Hier gilt es zu berücksichtigen, daß für 45,7 Prozent aller erhobenen Protestereignisse

die Teilnehmerzahl unbekannt ist. Dabei handelt es sich jedoch überwiegend um kleinere

Proteste.19 Hierunter fallen unter anderem Frauen, Ausländer und Obdachlose.20 Appellative Formen umfassen im wesentlichen Unterschriftensammlungen, Petitionen,

Pressekonferenzen und Flugblattaktionen. Demonstrative Formen beinhalten Demonstrati­onsmärsche und Protestversammlungen, legale Streiks und legale Boykotte. Konfrontative Formen beziehen sich auf wilde Streiks, illegale Boykotte, Besetzungen, Blockaden, Verun­glimpfungen, Rempeleien, leichte Sachbeschädigungen und ähnliches. Gewaltförmige Aktio­nen enthalten schwere Sachbeschädigungen, Verletzungen von Personen, Totschlag und Mord.

21 Ein Blick auf hier nicht ausgewiesene einzelne konkrete Aktionsformen zeigt, daß bei den Großprotesten Kundgebungen (42,4 Prozent) und Märsche (36,9 Prozent) am stärksten und im Vergleich zu allen Protesten überproportional vertreten sind. (Die entsprechenden Anteile an allen Protesten betragen 18,8 und 22,6 Prozent.) Unterproportional sind dagegen die Anteile von Unterschriften/Petitionen (10,2 Prozent) und Streiks (6,9 Prozent); die ent­sprechenden Anteile dieser beiden Formen betragen bei allen Protesten 14,9 bzw. 11,9 Pro­zent.

22 Allerdings ist der entsprechende Anteil bei den Massenprotesten mit 68,5 Prozent nur geringfügig höher als bei allen Protesten. Proteste mit nicht näher bestimmbarem Objekt sind

31

bei den Massenprotesten mit 9 Prozent vertreten. Hier schlagen vor allem die Lichterketten zu Buche. Da sich diese ganz allgemein an die Öffentlichkeit richten, wurde hier kein konkretes Objekt des Protests codiert.

23 Dies sind 5,1 Prozent für die sechziger, 6,3 Prozent für die siebziger, 4,7 Prozent für die achtziger und 5,3 Prozent für die frühen neunziger Jahre.

24 Eine hier nicht vorgenommene rechnerische Extrapolation von Protesten mit bekann­ten Teilnehmerzahlen auf Proteste mit unbekannten Teilnehmerzahlen würde beide Kurven zwar etwas auseinanderziehen, aber den Generalbefund der überwiegenden Mobilisierung in Form von Großprotesten nicht in Frage stellen. Vgl. auch Fußnote 18.

25 Generell wird hier der Zusammenhang von Großprotesten und Entscheidungen in der Weise eingegrenzt, daß nach einem direkten Entscheidungsbezug gefragt wird. Dieser wird in der Regel durch einen relativ kurzen zeitlichen Abstand des Protests vor oder nach einer be­stimmten politischen Entscheidung und durch die ausdrückliche Thematisierung der Ent­scheidung im Protest angezeigt. Sofern sich Proteste jedoch gegen allgemeinere Strukturen oder Lebensbedingungen richten, die aus einer Fülle oft weit zurückreichender Einzelent­

scheidungen hervorgehen, wird kein Entscheidungsbezug codiert.

26 Hierunter ist auch ein Massenprotest gegen eine gerichtliche Entscheidung enthalten.27 Hierbei handelt es sich um eine Unterschriftensammlung in Stuttgart im Jahr 1982 für

die Beibehaltung längerer Ladenschlußzeiten.

28 Es ist kein Zufall, daß der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte auf der eingangs zitierten Bonner Demonstration euphorisch die Entstehung einer neuen sozialen Bewegung verkündete (vgl. die tageszeitung vom 17.6.1996, S. 1). Das ist auch ein wichtiges Signal nach innen, zumal bei einer Organisation, die ihren Bewegungscharakter weitgehend eingebüßt hat - ab­

lesbar etwa am Schicksal der 1. Mai-Demonstrationen, die von emphatischen Massenprote­sten zu eher dröge anmutenden und relativ schwach besuchten Ritualen degenerierten.

Asyl: Die Karriere eines politischen Konflikts

Ruud Koopmans

1. Einleitung

"Es kann ja wohl nicht die Philosophie einer von mir geführten Regierung sein, das Asyl­recht grundsätzlich einzuschränken ... Ich halte nichts von großen Wortschlachten in diesem Bereich" (zitiert in: Der Spiegel, 36/1986, S. 98). Mit diesen Worten beendete Bundeskanzler Helmut Kohl Anfang September 1986 eine kurze, aber heftige politische Debatte um die Än­

derung des Grundrechts auf Asyl, die im Sommer 1986 in den Medien für Schlagzeilen ge­sorgt hatte. Auslöser dafür war ein Anstieg der Zahl von - vor allem über Ost-Berlin eingerei­

sten - Asylbewerbern. Sechs Jahre später, im Dezember 1992, einigten sich CDU/CSU, FDP und SPD nach langem Drängen der Unionsparteien auf eine erhebliche Einschränkung genau dieses individuellen Grundrechts auf politisches Asyl, die im Mai 1993 vom Bundestag be­

schlossen wurde und am 1. Juli 1993 in Kraft trat.In diesem Beitrag soll der Versuch unternommen werden, die Frage zu beantworten, was

dazu geführt hat, daß eine Forderung, die im Jahre 1986 nicht einmal im konservativen Lager mehrheitsfähig war und nach kurzer Zeit wieder von der politischen Agenda verschwand, in

den frühen neunziger Jahren über einen längeren Zeitraum hinweg die politische Debatte do­minieren und schließlich mit Unterstützung nahezu des gesamten Bundestages durchgesetzt

werden konnte.Ein wichtiger Faktor war dabei sicherlich die - im Vergleich zu der Situation im Jahre 1986

- starke Zunahme der Asylbewerberzahlen in den neunziger Jahren. Während 1986 die (knappe) Überschreitung der 100.000-Marke von den Befürwortern einer Grundgesetzände­

rung als Signal gewertet wurde, konnten im Jahre 1992, auf dem Höhepunkt der Flüchtlings­welle, mehr als 400.000 Asylanträge registriert werden. Ein zweiter Unterschied bestand dar­

in, daß in den neunziger Jahren die Asyldebatte von einer in der Nachkriegsgeschichte noch

nicht dagewesenen Welle rechtsradikaler Gewalttaten begleitet wurde, die sich insbesondere gegen Asylbewerber richteten. Erste Anzeichen eines Anstiegs rechtsradikaler Gewaltakte waren zwar schon 1986 sichtbar (Der Spiegel, 35/1986, S. 58 f.), aber mit mehr als 2.600 rechtsradikalen Gewalttaten im Jahre 1992 hatte sich die Zahl gegenüber 1986 auf das Vier­zehnfache erhöht (Verfassungsschutzbericht 1992).

In der zu Beginn der neunziger Jahre geführten politischen Debatte lassen sich grob zwei Antworten auf die hier untersuchte Frage unterscheiden. Vor allem im konservativen Lager wurde die durch das Anwachsen der Asylbewerberzahlen verursachte Belastung für die Be­völkerung, die sich unter anderem in der Zunahme ausländerfeindlicher Gewalttaten sowie in Wahlerfolgen für rechtsradikale Parteien niedergeschlagen habe, hervorgehoben. Die politi­sche Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzes war aus dieser Sicht vor allem eine

34

Reaktion auf Besorgnisse in der Bevölkerung und auch ein Mittel, um dem Rechtsradikalis­mus den Boden zu entziehen und die Akzeptanz für legitime Asylbewerber wiederherzustel­len. Auf der linken Seite des politischen Spektrums dominierte dagegen eine genau entgegen­gesetzte Deutung. Entsprechend dieser Sicht waren es erst die politische Debatte und die Stigmatisierung von Asylbewerbern als "Scheinasylanten", die ausländerfeindliche Ressenti­

ments in der Bevölkerung schürten und rechtsradikalen Gruppierungen ein Thema erschlos­sen, das ihnen erlaubte, aus ihrem politischen Ghetto herauszukommen.

Mit der "Schuldfrage", die in diesen Deutungen eine prominente Rolle spielt, wird sich dieser Beitrag nicht befassen; wohl aber mit der Erklärungskraft zweier unterschiedlicher Mo­delle der typischen Karriere politischer Themen, die in den politischen Deutungen implizit, in der theoretischen Literatur zu sozialen Problemen1, Protestbewegungen2 und politischem "Agenda-Building"3 jedoch explizit vertreten werden. Aus unterschiedlicher Perspektive be­fassen sich die Theorien in diesen drei Bereichen mit der Frage, warum manche Tatsachen zu anerkannten sozialen Problemen, zu Auslösern massiver Protestwellen oder zu zentralen Themen auf der politischen Agenda werden, während andere, "objektiv" nicht unbedingt we­niger problematische oder entscheidungsbedürftige Tatsachen einen solchen Status nie errei­chen. Da die theoretischen Diskussionen in diesen drei Bereichen trotz der sehr ähnlichen Fragestellungen weitgehend nebeneinander verlaufen, fehlen bislang einheitliche Konzepte und Modelle, die über die spezifischen Aspekte sozialer Probleme, sozialer Bewegungen oder politischer Agenden hinaus zu einer allgemeinen Theorie gesellschaftlicher Themenkarrieren

gelangen. Dennoch lassen sich in jedem der drei Bereiche zwei theoretische Grundpositionen erkennen - hier vereinfachend mit den Begriffen "Bottom-up" und "Top-down" angedeutet -, die entweder die Rolle objektiver Problemlagen und daraus folgende Deprivationen und Inter­essenartikulationen bei bestimmten Bevölkerungsgruppen oder aber die Selektions- und De- fmitionsmacht gesellschaftlicher Eliten und Institutionen in den Mittelpunkt stellen.4

In dem "Bottom-up"-Modell gehen Impulse für die politische Agenda in erster Linie von den Bürgern aus, entweder direkt durch ihr Wahlverhalten bzw. durch Umfrageergebnisse oder indirekt durch die Mobilisierung von Interessengruppen und Protestbewegungen. Politi­sche Eliten nehmen in diesem Modell eine eher reagierende Rolle ein, indem sie die "von un­ten" herangetragenen Probleme und Wünsche verarbeiten, gegen andere politische Prioritäten abwägen und gegebenenfalls in Entscheidungen Umsetzern Erfolgt dies auf eine Art und Wei­se, die das Problem in der Wahrnehmung der betroffenen Bürger beseitigt oder zumindest

tragbar macht, dann verschwindet das Thema wieder von der öffentlichen Agenda.Das "Top-down"-Modell betont dagegen die Rolle politischer Eliten bei der Deutung und

Problematisierung von gesellschaftlichen Tatsachen als politische Issues. Manche Issues, vor allem jene, die innerhalb der politischen Elite unumstritten oder rein technischer Natur sind (bzw. als solche definiert werden), treten nie aus diesem kleinen Kreis heraus und münden in politische Entscheidungen, ohne daß es je zu einer öffentlichen Debatte kommt. In anderen

Fällen - und das Asylthema gehört sicherlich zu dieser Kategorie - führen solche Themen zu einer öffentlichen Auseinandersetzung zwischen Befürwortern unterschiedlicher Problemdeu­

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tungen und Lösungsvorschläge. Erst an diesem Punkt kommen in dieser Perspektive Protest­bewegungen ins Spiel. Gerade weil Protestbewegungen im Vergleich zu politischen Eliten nur über geringe Ressourcen verfügen und eine relative Außenseiterposition einnehmen, sind sie zumeist nicht in der Lage, eigenständig ein Issue auf die politische Agenda zu plazieren. Ein öffentlich ausgetragener Streit über ein Thema innerhalb der politischen Elite bietet Protest­bewegungen jedoch die Gelegenheit, ihre strukturellen Nachteile zeitweise zu überwinden und sich durch die Erzeugung öffentlicher Proteste als Akteure in die öffentliche Debatte einzu­

schalten. Das Zusammenspiel von Eliten- und Protestkommunikation kann dann schließlich politische Entscheidungen herbeiführen. Werden solche Entscheidungen von den wichtigsten

Akteuren der politischen Elite akzeptiert, verschwindet auch die günstige Gelegenheitsstruk­tur für Proteste, und das Thema kehrt zurück in eine Latenzphase. Abbildung 1 faßt die beiden idealtypischen Modelle graphisch zusammen.5

Abbildung 1: Zwei idealtypische Modelle von Problemkarrieren

Modell 1: "Bottom-up" Modell 2: "Top-down"

In der nachfolgenden Analyse wird versucht, die Tragfähigkeit dieser beiden Modelle des politischen Prozesses für die Erklärung der Karriere des Asylthemas in der ersten Hälfte der neunziger Jahre zu überprüfen. Es werden hierzu Daten benutzt, die im Rahmen des Projektes "Einwanderungspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus" gesammelt wurden.

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Die Daten wurden aus einer Inhaltsanalyse der Medienberichterstattung zwischen Januar 1990 und August 1994 über die öffentliche Debatte zu Fragen der Einwanderungspolitik sowie zu Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus gewonnen.6 Anders als bei den meisten kom­munikationswissenschaftlichen Medienanalysen (vgl. Rogers/Dearing 1988; Brosius/Esser 1995) steht hierbei nicht die Rolle der Medien selbst im Mittelpunkt, sondern die Medien werden, in der Tradition der Protestereignisforschung, als Quelle benutzt, um Flandlungen von Nicht-Medien-Akteuren zu erheben.7 Entsprechend ist die Analyseeinheit nicht der Bericht, sondern die einzelne berichtete Handlung, wobei der Begriff "Handlung" sowohl verbale Handlungen wie Aussagen, Losungen und Presseerklärungen, nicht-verbale Handlungen wie Demonstrationen oder Brandanschläge als auch politische Entscheidungen wie Regierungs­und Parteitagsbeschlüsse oder Gesetzesänderungen umfaßt.8

In Kombination mit den monatlichen Asylbewerberzahlen des Bundesamtes für die Aner­kennung ausländischer Flüchtlinge erlauben diese Daten eine Operationalisierung der ver­schiedenen Elemente der beiden theoretischen Modelle: Problemlage (Asylbewerberzahlen), öffentliche Debatte (Äußerungen zur Asylpolitik), Proteste (Gewalt gegen Asylbewerber) und

Entscheidungen (asylpolitische Beschlüsse). Im folgenden Abschnitt werden diese Elemente zuerst einzeln ausgewertet, um dann im dritten Abschnitt in ihrem Zusammenhang analysiert

zu werden.

2. Aspekte des Asylthemas: Problemlage, Debatte,Proteste und Entscheidungen

2.1 Steigende Einwanderungszahlen

Mit der Desintegration der kommunistischen Herrschaftssysteme in Osteuropa, der Locke­

rung der Grenzkontrollen und der Ausdehnung der Ausreisemöglichkeiten für die Bürger die­ser Länder stieg auch die Migration von Ost- nach Westeuropa Ende der achtziger Jahre dra­matisch an. Deutschland wurde in diesem Kontext zum bevorzugten Einwanderungsland für Osteuropäer. Wie Abbildung 2 zeigt, schlugen sich diese Entwicklungen ab 1988 zunächst in einem stark anwachsenden Zustrom deutschstämmiger Aussiedler, vor allem aus Polen, der Sowjetunion und Rumänien, nieder. Die im Grundgesetz verankerte Einwanderungsgarantie für Aussiedler bot vielen Osteuropäern, die sich in irgendeiner Form auf "Deutschstämmigkeit" berufen konnten, die Möglichkeit, dem wirtschaftlichen Kollaps des Ostblocks zu entfliehen, ohne einen Nachweis über ethnische Benachteiligung, Verbundenheit mit der deutschen Kultur oder sogar über die Beherrschung der deutschen Sprache erbringen zu müssen.

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Abbildung 2: Entwicklung der Aussiedler- und Asylbewerberzahlen, 1987-1994

Abbildung 3: Monatliche Entwicklung der Asylbewerberzahlen, 1990-1994

Diese generöse Regelung, bei deren Aufnahme in das Grundgesetz in erster Linie an Ver­triebene aus ehemals deutschen Ostgebieten gedacht worden war, blieb während der Zeit des Kalten Krieges unproblematisch, weil durch die Beschränkung der Ausreisemöglichkeiten nur sehr wenige Aussiedler nach Deutschland kamen. Die starke Zunahme der Aussiedlerzahlen Ende der achtziger Jahre führte aber zu einer neuen Situation, die der Anlaß war für die Ein­führung des am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen Gesetzes zur Regelung des Aufnahmeverfah­rens für Aussiedler (vgl. Bade 1992, S. 35). Diese Neuregelung beschränkte sich auf eine rei­ne Verfahrensänderung, die in der Praxis jedoch die Möglichkeit einer Festlegung von unge­

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fähren Jahresquoten zuließ; die betreffenden Grundgesetzartikel blieben dabei unverändert. Wie Abbildung 2 zeigt, war das Gesetz sehr erfolgreich: 1991 halbierte sich die Zahl der Aussiedler gegenüber dem Vorjahr und blieb seitdem fast konstant auf einem Niveau von et­

was mehr als 200.000 Personen pro Jahr.Parallel zur Stabilisierung der Aussiedlerzahlen stieg aber die Zahl der Asylbewerber rasch

an. Für die nachfolgende Diskussion ist es dabei wichtig festzuhalten, daß sich der Zustrom von Aussiedlern und Asylbewerbern innerhalb desselben Zeitraums ungefähr in der gleichen

Größenordnung bewegte: 1987 bis 1993 reisten 1,7 Millionen Aussiedler und 1,5 Millionen Asylbewerber nach Deutschland ein. Abbildung 3 verdeutlicht, daß die Entwicklung der Asylbewerberzahlen nicht kontinuierlich, sondern mit deutlichen Sprüngen - vor allem im Sommer 1991 und 1992 - verlief. Die Frage, ob das im Oktober 1991 beschlossene und im Juli 1992 in Kraft getretene Gesetz zur Beschleunigung der Asylverfahren Wirkung gezeigt hat, ist aufgrund der Asylbewerberzahlen schwer zu beantworten, da dieses Gesetz nicht in erster Linie auf eine zahlenmäßige Reduktion der Anträge, sondern auf deren schnellere Bear­beitung und eine raschere Abschiebung von abgelehnten Bewerbern zielte. Die mehr als dop­

pelt so hohe Zahl der Entscheidungen über Asylanträge von 514.000 in 1993 gegenüber 216.000 in 1992 könnte aber auf einen relativ großen Erfolg dieses Gesetzes hindeuten.9 Dar­über hinaus scheint die im Juli 1993 in Kraft getretene Grundgesetzänderung zu einer Stabili­sierung der Asylanträge auf einem deutlich niedrigeren Niveau geführt zu haben.

2.2 Einwanderungs- und Asyldebatte

In welchem Ausmaß wurden diese beiden Einwanderungswellen zum Thema öffentlicher

Auseinandersetzungen? Tabelle 1 zeigt die Verteilung der Gesamtzahl der die Einwande­rungspolitik betreffenden öffentlichen Äußerungen10, die in der Frankfurter Rundschau pu­

bliziert wurden, über vier Themenbereiche: allgemeine, nicht eine spezifische Gruppe von Einwanderern betreffende Äußerungen; Äußerungen zur Aussiedlerpolitik; Äußerungen zur

Politik gegenüber bereits in Deutschland lebenden Ausländern (ehemalige "Gastarbeiter" usw.) und schließlich Äußerungen zur Asylpolitik.

Tabelle 1: Einwanderungspolitische Äußerungen nach Thema

Einwanderung allgemein 7,3Aussiedlerpolitik 4,6Ausländerpolitik 14,3Asylpolitik 73,8

Insgesamt 100,0

Die Ergebnisse sind im Licht der oben diskutierten Einwanderungszahlen erstaunlich. Während nicht weniger als drei Viertel aller einwanderungspolitischen Aussagen die Asyl­

39

politik betrafen, brachte es die Aussiedlerfrage nicht einmal auf 5 Prozent. Das Aussied­

lerthema ist also ein deutliches Beispiel für eine an sich "problematische" Tatsache, die es aber nie zum Status eines wichtigen sozialen Problems gebracht hat.11 Das Thema hat sicher­lich die politische Agenda und, wie schon erwähnt, auch die Entscheidungsebene erreicht, aber all dies unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit. Versuche einer öffentlichen Problematisierung des Aussiedlerthemas sowie Forderungen zur Änderung der grundgesetzli­

chen Einwanderungsgarantie hat es, vor allem von seiten des saarländischen Ministerpräsiden­

ten Oskar Lafontaine (unter anderem im Herbst 1990 wie auch im Frühjahr 1996), vereinzelt gegeben. Diese scheiterten aber immer nach kurzer Zeit an einer breiten Ablehnungsfront, die sowohl die Konservativen als auch die linken Flügel der FDP, SPD und die Grünen umfaßte.

Eine andere Reaktion konnte im Hinblick auf das Asylthema festgestellt werden, bei dem sich die Fronten (anders als 1986) haargenau entlang den klassischen Konfliktlinien innerhalb und zwischen den Parteien entfalteten und das somit Politikern jeder Couleur die Möglichkeit zur Profilierung ihrer Positionen bot. Ob es sich nun um die klassischen Fehden zwischen CSU und FDP, Geißler und Schäuble, Regierung und Opposition, Schröder und Engholm,

SPD und Grünen handelte - alle konnten sich an dem Asylthema, und insbesondere an der Frage der Grundgesetzänderung, entladen.

Abbildung 4: Zahl der asylpolitischen Äußerungen, Januar 1990 bis August 1994

Die Entwicklung der Asyldebatte im Zeitverlauf (Abbildung 4) weist deutliche Parallelen zur Entwicklung der Asylbewerberzahlen auf. Im Vorlauf zu den Bundestagswahlen kam es im Herbst 1990 zu einer ersten Runde der Asyldebatte, wobei auch bereits die Forderung nach einer Änderung des Grundgesetzes eine wichtige Rolle spielte. Erwähnenswert ist, daß die

Asyldebatte von 1990, im Unterschied zu den späteren Diskussionswellen, nicht von den Uni­

onsparteien, sondern vom SPD-Kanzlerkandidaten Lafontaine initiiert wurde. Zu dieser Zeit stieß seine Forderung, das Grundgesetz zu ändern, noch auf starke Ablehnung bei der SPD­Linken, der FDP und sogar bei Teilen der CDU. Der Rückgang der Asylbewerberzahlen in

40

den letzten Monaten des Jahres 1990 tat ein weiteres, um das Asylthema vorerst wieder weit­gehend aus der Öffentlichkeit verschwinden zu lassen.

Im Sommer 1991 flammte die Debatte jedoch mit größerer Heftigkeit wieder auf. Diesmal

waren es CDU-Politiker, allen voran Innenminister Schäuble und CDU-Generalsekretär Rühe, die die Initiative ergriffen, obwohl sich auch dieses Mal Teile der SPD, vor allem im Bremer Wahlkampf, den Forderungen nach Einschränkungen des Asylrechts anschlossen (vgl. Stark 1994, S. 62 ff.). Angesichts der Uneinigkeit der Sozialdemokraten wurde von seiten der CDU die Asylproblematik diesmal explizit als Kampfthema gegen die SPD eingesetzt. So rief Vol­ker Rühe in einem auch in den Medien verbreiteten Schreiben vom 12. September 1991 alle Fraktionsvorsitzenden seiner Partei auf Landes- und Kommunalebene auf, "die Asylpolitik zum Thema zu machen und die SPD dort herauszufordern" (Funke 1993, S. 40 f) . Einen er­sten Höhepunkt erreichte die Asyldebatte im Oktober 1991, kurz nach den ausländerfeindli­

chen Ausschreitungen im sächsischen Hoyerswerda.Nach einem zweiten sprunghaften Anstieg der Asylbewerberzahlen (und, wie wir sehen

werden, ebenfalls der Gewalt gegen Asylbewerber) entfaltete sich im Herbst 1992 eine neue

Diskussionswelle, die im Dezember 1992 in den Kompromiß zwischen Union, SPD und FDP zur Änderung des Grundgesetzes mündete. Im Mai 1993, anläßlich der abschließenden Bun­destagsdebatte zu dieser Gesetzesänderung, kehrte das Asylthema noch einmal zurück, verlor

dann aber wieder stark an Bedeutung.

Tabelle 2: Asylpolitische Äußerungen nach Akteuren

Bundesregierung 9,3Länderregierungen 16,5Kommunen 3,7Bundestag/Bundesrat 3,0Landes- und Kommunalparlamente 1,3Gerichte 1,6V erwaltungsorgane 2,4Parteien: Bundesebene 22,7Parteien: Landesebene 7,6Parteien: Kommunalebene 1,4Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen 0,8Kirchen 4,6Ausländer (-Organisationen) 6,8Antirassistische und Menschenrechtsorganisationen 8,3Rechtsradikale Gruppierungen 0,9Sonstige 9,2

Insgesamt 100,0

Betrachten wir die in Tabelle 2 dargestellte Aufschlüsselung asylpolitischer Äußerungen

nach Akteuren, zeigt sich - den Erwartungen des "Top-down"-Modells entsprechend - deut­

lich, daß die öffentliche Auseinandersetzung um das Asylthema sehr deutlich von politischen

41

Eliten dominiert wurde: Mehr als 70 Prozent aller Äußerungen waren auf Vertreter staatlicher

Institutionen und politischer Parteien zurückzuführen. Innerhalb dieser Kategorie waren es vor allem die Bundesebenen der Parteien (23 Prozent), die Länderregierungen (17 Prozent) sowie die Bundesregierung (9 Prozent), die sich am stärksten in die Debatte einmischten.12 Nicht­staatliche Organisationen wie soziale Bewegungen und Interessengruppen waren noch am ehesten auf der Seite der Gegner einer Einschränkung des Asylrechts vertreten. So entfielen 7 Prozent aller Äußerungen auf Ausländervertreter und -Organisationen sowie 8 Prozent auf

Menschenrechts- und antirassistische Gruppen (wie Pro Asyl und Amnesty International). Erstaunlicherweise - und entgegen der Behauptung, daß von der durch die angestiegenen

Asylbewerberzahlen "überbelasteten" Bevölkerung ein Druck ausgehe - gab es kaum Forde­rungen "von unten" (z. B. in Form von Petitionen oder Demonstrationen) nach einer Ein­schränkung des Asylrechts; auch die Kommunen, die am stärksten mit der praktischen Umset­zung der Asylpolitik zu tun hatten, meldeten sich nur vereinzelt zu Wort.13 Bemerkenswert ist

schließlich, daß auch rechtsradikale Gruppierungen (einschließlich Parteien wie die Republi­kaner) sich nur sehr selten zum Asylthema äußerten.

2.3 Rechtsradikale Gewalt und Gewalt gegen Asylbewerber

Die vorangegangene Behauptung, daß sich das rechtsradikale Spektrum in seinen Äuße­

rungen eher zurückgehalten hätte, muß allerdings qualifiziert werden, da rechtsradikale und

ausländerfeindliche Gruppierungen sich zwar nicht verbal, dafür aber sehr massiv durch Ge­walttaten in die öffentliche Kommunikation einschalteten. Wie Tabelle 3 zeigt, waren Asyl­bewerber und ihre Wohnheime mit 43 Prozent das bevorzugte Objekt rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Übergriffe.

Tabelle 3: Objekte rechtsradikaler und ausländerfeindlicher Gewalttaten

Aussiedler 1,6Ausländer 25,6Asylbewerber 42,9Jüdische Objekte (Friedhöfe usw.) 3,3Linke 7,3Politiker und Behörden 1,3Polizei 1,9Willkürliche Objekte (Autos, willkürliche Personen usw.) 10,8Sonstige 5,4

Insgesamt 100,1

Diese Konzentration auf Asylbewerber als Objekte von Gewalt war allerdings im Zeitver­lauf nicht konstant. Im Jahre 1990 waren Asylbewerber (7 Prozent) ebenso wie andere Aus­ländergruppen (10 Prozent) auch für die radikale Rechte noch weitgehend ein Non-Issue. Ihre Gewalt richtete sich vielmehr hauptsächlich gegen die radikale Linke (26 Prozent) und gegen

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willkürliche oder sonstige Objekte (33 Prozent) wie Diskothekenbesucher und Sowjetsolda­ten. Diese Verteilung änderte sich erst ab der zweiten Hälfte des Jahres 1991 schlagartig: Zwi­schen Juli 1991 und Dezember 1992 richteten sich 58 Prozent aller Gewaltakte gegen Asyl­bewerber (23 Prozent gegen sonstige Ausländer). Mit dem Verschwinden des Asylthemas aus der öffentlichen Debatte nahm auch seine Bedeutung für das rechtsradikale Lager wieder ab; 1994 richteten sich nur noch 22 Prozent der Gewalttaten gegen Asylbewerber. Diese Ergeb­

nisse deuten also nicht auf eine initiierende Rolle rechtsradikaler Gruppierungen für die The- matisierung des Asylproblems hin. Es hat eher den Anschein, als wäre die öffentliche Asylde­batte für das rechtsradikale Lager ein "gefundenes Fressen" gewesen, das ihr ein neues und medienwirksames Mobilisierungsfeld erschloß.

Auf die Bedeutung der öffentlichen Debatte für die Zielsetzung rechtsradikaler Gewalt verweist auch die sehr geringe Zahl von Gewalttaten, die sich gegen Aussiedler richteten. Wie schon erwähnt, handelte es sich bei den beiden Einwanderergruppen um vergleichbare Grö­ßenordnungen. Außerdem stammen beide Gruppen weitgehend aus den gleichen Ländern und sprechen die gleichen Sprachen.14 Ferner wurden beide Gruppen zuerst in Sammellagern und -heimen untergebracht. Dennoch waren Asylbewerber nicht nur lömal so oft Thema der öf­fentlichen Debatte, sondern auch 25mal so häufig von rechtsradikaler Gewalt betroffen wie Aussiedler.15

Abbildung 5: Anzahl der Gewalttaten gegen Asylbewerber, Januar 1990 bis August 1994

1 3 5 7 9 11 i 3 5 7 9 11 1 3 5 7 9 11 1 3 5 7 9 11 1 3 5 7 I 1990 I 1991 I 1992 I 1993 I 1994 I

Die relative Bedeutungslosigkeit des Asylthemas für die radikale Rechte bis August 1991 zeigt sich noch einmal deutlich, wenn man die monatliche Entwicklung der Zahl der Gewalt­taten gegen Asylbewerber betrachtet (Abbildung 5).16 Eine erste Welle der Gewalt, ausgelöst durch die Ereignisse in Hoyerswerda, zeichnet sich ab September 1991 ab. Die zweite Welle,

ein Jahr später, ist ebenfalls mit einem Schlüsselereignis, diesmal den Krawallen in Rostock, verbunden. Ein letztes Aufflackern von Gewalt gegen Asylbewerber ist schließlich im Mai und Juni 1993 zu verzeichnen.

43

2.4 Asylpolitische Entscheidungen

Stärker noch als die öffentliche Debatte konzentrierten sich die einwanderungspolitischen Entscheidungen von Staatsorganen und Parteien mit einem Anteil von 84 Prozent auf die Asylproblematik. Bei der in Abbildung 6 gezeigten Entwicklung der asylpolitischen Ent­scheidungen im Zeitverlauf zeigt sich wieder das bereits bekannte Bild.

Abbildung 6: Zahl der asylpolitischen Entscheidungen, Januar 1990 bis August 1994

Während der ersten kleineren Welle im Spätsommer 1990 wurden keine weitreichenden Beschlüsse gefaßt; Hauptthema der Entscheidungen waren Abschiebestopps oder deren Auf­hebung. Die größere Entscheidungswelle im Herbst 1991 betraf vor allem Entscheidungen im

Hinblick auf das zwischen Bund und Ländern verhandelte Asylverfahrenbeschleunigungsge­setz. In der dritten Welle, die für die letzten Monate des Jahres 1992 festgestellt werden konnte, stand der Asylkompromiß zur Änderung des Grundgesetzes, der von zahlreichen Ent­

scheidungen von Parteigremien auf Bundes- und Landesebene begleitet wurde, zwischen den großen Parteien im Mittelpunkt. Schließlich kam es im Frühling und Sommer 1993 anläßlich des Bundestagsbeschlusses und des Inkrafttretens des geänderten Grundgesetzartikels zu einer Reihe von Entscheidungen.

Tabelle 4: Asylpolitische Entscheidungen nach Akteuren (Staatsorgane, Parteien)

44

Bundesregierung 12,8Länderregierungen 37,4Kommunen 7,6Bundestag/B undesrat 1,4Landes- und Kommunalparlamente 0,9Gerichte 17,5V erwaltungsorganeParteien: Bundesebene 9,5Parteien: Landesebene 6,6Parteien: Kommunalebene 2,8

Insgesamt 99,8

Tabelle 4 gibt eine Übersicht über die Beteiligung verschiedener Staatsorgane und Parteie­

benen an asylpolitischen Entscheidungen. Am vielleicht auffälligsten ist dabei die unterge­ordnete Rolle der Legislative im Entscheidungsprozeß. Die meisten Entscheidungen wurden

von Länderregierungen getroffen bzw. zwischen der Bundesregierung und den Ländern oder

den Parteien ausgehandelt. Die Parlamente kamen nur ins Spiel, um bereits getroffene Ent­scheidungen formell zu bekräftigen. Darüber hinaus waren im Entscheidungsprozeß auch die Gerichte von besonderer Bedeutung, vor allem dann, wenn es darum ging, präzisere Regeln

für die Implementation von Entscheidungen festzulegen. So kam es im Juli und August 1993 zu einer Serie von Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsentscheidungen, in denen es um die Möglichkeiten und Grenzen bei der Implementation des neuen Grundgesetzartikels ging.

3. Ursachen und Wirkungen bei der Entfaltung des Asylproblems

Die oben präsentierten Daten deuten zwar stellenweise auf die Möglichkeit einer bestimm­ten kausalen Interpretation hin, können uns aber nicht mehr als impressionistische Einblicke in die Kausalbeziehungen zwischen den einzelnen Elementen der Karriere des Asylproblems bieten. Auch ein optischer Vergleich der in den Abbildungen wiedergegebenen Entwick­

lungsverläufe von Asylbewerberzahlen, Asyldebatte, Gewalt gegen Asylbewerber und asyl­politischen Entscheidungen hilft uns nicht viel weiter. Daß diese Elemente dennoch eng mit­einander verbunden sind, wird allein schon aus den großen Ähnlichkeiten der Kurvenverläufe

klar; über die Richtung der Beziehungen, die relative Bedeutung der einzelnen Variablen und damit über unsere Ausgangsfrage nach der Erklärungskraft der beiden theoretischen Modelle lassen sich jedoch keine verläßlichen Aussagen machen.

Um diese Fragen zu beantworten, wurden die Daten mit Hilfe einer Serie von multivariaten OLS-Regressionen analysiert. Dabei wurde jeweils eine der vier Variablen zum Zeitpunkt t = 0 als abhängige und die anderen drei Variablen mit einer zeitlichen Rückverschiebung als erklärende Variablen genommen. Aufgrund einer Inspektion der Kreuzkorrelationsfunktionen

45

für die verschiedenen Variablenpaare wurden für die Debatte und die Gewalt jeweils die Vormonatswerte (lag = -1) und für die Asylbewerberzahlen die zwei Monate zurückliegenden Werte (lag = -2) in die Analysen einbezogen.17 Die Asylbewerberzahlen wurden darüber hin­aus zeitlich differenziert, um Trendeffekte, die die Kausalbeziehungen mit anderen Variablen

verzerren können, auszuschließen. Außerdem ergaben sich für die Differenzen stärkere Kreuzkorrelationen als für die absoluten Zahlen. Im Klartext heißt dies, daß die Koeffizienten für Asylbewerberzahlen den Effekt der Zunahme (oder Abnahme) der für den vorletzten Mo­nat ermittelten Asylbewerberzahlen wiedergeben. Bei den anderen Variablen müssen die

Koeffizienten als Effekt des absoluten Niveaus der betreffenden Variable im Vormonat gele­

sen werden.18Bei Zeitreihenanalysen muß außerdem immer berücksichtigt werden, daß die zeitliche

Entwicklung vieler gesellschaftlicher Phänomene von einer mehr oder weniger starken Eigen­dynamik gekennzeichnet ist. So führen Stellungnahmen zu einem politischen Issue oft zu Spi­ralen von gegenseitigen Reaktionen, Entscheidungen zu Gegenentscheidungen anderer Akteu­re und Gewaltakte zu Nachahmungstaten. Um diese Eigendynamik zu kontrollieren, wurde in jeder Gleichung auch der Vormonatswert der abhängigen Variable aufgenommen. Die Werte

dieser Koeffizienten geben also das Ausmaß an, in dem die zeitliche Entwicklung einer Va­riable auf ihre Eigendynamik zurückzuftihren ist.19

Schließlich wurden aus theoretischen Gründen nur diejenigen Äußerungen und Entschei­

dungen in die Analyse einbezogen, die auf eine restriktivere Asylpolitik zielten (oder in dieser Hinsicht ambivalent waren). Falls es z. B. einen Effekt der Gewalt auf die Debatte geben wür­de, wäre es plausibel, daß dieser Effekt vor allem zu einer Zunahme von Äußerungen führen

würde, die auf eine restriktivere Asylpolitik zielen. Umgekehrt ist ein Effekt von negativen Äußerungen über Asylbewerber auf die Gewalt plausibler als ein Effekt von positiven Äuße­

rungen.20

Tabelle 5: Multivariate Regressionsanalyse der monatlichen Entwicklung der verschiede­nen Aspekte der Karriere des Asylproblems (BETA-Koeffizienten; Januar 1990 bis August 1994; N = 56)

46

Erklärende Variablen

Abhängige VariablenGewalt Debatte Entschei­

dungenAsyl­

bewerber­zahlen

Gewalt t = -l 4g*** .41** 61 ** * n.s.Debatte t = -1 .31* n.s. n.s. n.s.Entscheidungen t = -1 -.35** n.s. n.s. -.57**Asylbewerberzahlen t = -1 - - - n.s.A <;ylbe werberzahlen t = -2 35*** .28* n.s. -R .47 .50 .56 .13

* = p < .1 0 ;* * = p < .05; *** = p < .01; n.s. = nicht signifikant.

Tabelle 5 zeigt die Ergebnisse der Analysen. Von den vier Variablen ist nur die Gewalt ge­gen Asylbewerber von einer starken Eigendynamik, die nicht auf den Einfluß anderer Varia­blen zurückzuführen ist, gekennzeichnet. Dies stimmt überein mit den Befunden anderer Stu­dien, die auf die Bedeutung von Nachahmungstaten - vor allem nach Schlüsselereignissen wie den Krawallen in Hoyerswerda und Rostock - hingewiesen haben (Brosius/Esser 1995). Als zweitstärkster Faktor trägt die Entwicklung der Asylbewerberzahlen zur Erklärung der Gewal­tentwicklung bei. Interessant ist darüber hinaus der negative Effekt, den restriktive asylpoliti­

sche Entscheidungen auf diese Gewaltentwicklung ausüben. Obwohl in der öffentlichen Dis­kussion oft anders behauptet, hat es also den Anschein, daß solche Entscheidungen der Gewalt keinen weiteren Auftrieb gegeben, sondern vielmehr den Gewalttätern den Wind aus den Se­geln genommen haben. Schließlich gibt es noch einen - allerdings nicht sehr starken - Effekt der politischen Debatte auf die Gewalt. Die Kombination der Effekte für die Debatte und für Entscheidungen deutet darauf hin, daß gerade die politische Handlungsblockade, die lange Zeit mit der Diskussion um eine Grundgesetzänderung verbunden war, gravierende Auswir­kungen auf die Entwicklung der Gewalt gehabt haben mag. Die Befunde lassen darauf schlie­

ßen, daß - hätte die Debatte schnell zu entsprechenden Entscheidungen geführt - die beiden Effekte einander mehr oder weniger aufgehoben hätten und dadurch auch der Gewalt gegen Asylbewerber früher Grenzen gesetzt worden wären.

Die Kausalstruktur, mit der die Entwicklung der Asyldebatte erklärt werden kann, ist we­niger kompliziert. Auch hier gibt es zunächst einen Effekt der konkreten Problemlage, der sich in Form eines Anstiegs der Asylbewerberzahlen ausdrückt. Stärker als durch die Pro­blemlage wurde die Intensität der politischen Forderungen nach einer restriktiveren Asylpoli­tik aber von der Entwicklung der Gewalt diktiert. Obwohl selbst verbal kaum an der Debatte beteiligt, ist es einer kleinen Minderheit von Gewalttätern also weitgehend gelungen, die poli­tische Agenda zu beeinflussen.21

47

Diese für das Funktionieren der Demokratie nicht gerade positive Schlußfolgerung wird noch durch die Tatsache unterstrichen, daß restriktive Entscheidungen in der Asylpolitik in einem noch viel stärkeren Maß von der Entwicklung der Gewalt beeinflußt wurden. Von der aktuellen Problemlage geht kein signifikanter Einfluß auf den Entscheidungsprozeß aus. Noch bemerkenswerter ist, daß es ebenfalls keinen Effekt der Debatte auf den zeitlichen Verlauf des Entscheidungsprozesses gibt. Den rechtsradikalen Gewalttätern ist es also nicht nur gelungen, die politische Debatte zu beeinflussen; sie waren sogar erfolgreicher als etablierte politische Akteure, wenn es auf eine Einflußnahme auf den Entscheidungsprozeß ankam. Schließlich zeigt der negative Effekt von restriktiven Entscheidungen auf die Zahl der Asylanträge, daß - wie oben schon vermutet wurde - die ergriffenen Maßnahmen zur Begrenzung der Asylbe­

werberzahlen auch tatsächlich Wirkung gezeigt haben.Im Licht der beiden in der Einleitung skizzierten idealtypischen Modelle von Problemkar­

rieren lassen sich diese Befunde am ehesten als eine Bestätigung des "Bottom-up"-Modells deuten. Proteste in Gestalt von Gewalttaten gegen Asylbewerber haben nicht nur einen starken Einfluß auf die politische Agenda ausgeübt, sondern darüber hinaus auch direkt den Entschei­

dungsprozeß beeinflußt. Neben diesem dominanten Trend gibt es aber auch Befunde, die eher

zum "Top-down"-Modell gehören. Die Auswirkung der Debatte auf die Gewaltentwicklung ist zwar schwächer als der umgekehrte Effekt, deutet aber trotzdem darauf hin, daß die rechts­radikale Gewalt gegen Asylbewerber sich nicht ganz von alleine entwickelt hat, sondern von einer günstigen Gelegenheitsstruktur in Form einer Problematisierung des Asylthemas durch die etablierte Politik stimuliert wurde. Ein zweites Element, das eher dem "Top-down"- Modell entspricht, ist die negative Rückwirkung asylpolitischer Entscheidungen auf die Ent­wicklung der Gewalt. Anders als es in den beiden idealtypischen Modellen hypothetisiert wurde, haben restriktive Entscheidungen nicht nur indirekt, über eine Besserung der Problem­lage, sondern auch direkt zu einer Abnahme der Protestintensität geführt. Die Perzeption, daß

"etwas getan wird", um ein Problem in den Griff zu bekommen, hat also einen mindestens ebenso großen demobilisierenden Effekt wie die tatsächliche Abnahme der Problemintensität.

Gerade die Doppeldeutigkeit der Ergebnisse im Hinblick auf die Kausalbeziehungen zwi­schen der politischen Debatte und den gewalttätigen Protesten macht eine klare Aussage zu­gunsten des einen oder anderen theoretischen Modells schwierig. Bei der bisherigen Analyse wurde aber davon ausgegangen, daß sich die Kausalstruktur im Verlauf der Entfaltung des Asylthemas nicht geändert hat. Ob diese Annahme gerechtfertigt ist, läßt sich jedoch bezwei­

feln. Studien über die Entfaltung sozialer Bewegungen haben z. B. gezeigt, daß durch politi­sche Eliten geschaffene Gelegenheitsstrukturen vor allem in der Entstehungsphase von Pro­testwellen von entscheidender Relevanz sind. Haben Protestakteure sich aber erst einmal den Durchbruch verschafft, dann entfaltet sich eine Dynamik von Reaktionen und Gegenreaktio­nen, in der auch starke Effekte in die umgekehrte Richtung, von Protesten auf das politische System, gehen (Koopmans 1993; Tarrow 1994). Für Problemkarrieren wäre ein ähnlicher Verlauf denkbar, bei dem politische Eliten zunächst die entscheidende Rolle beim Übergang eines Problems von einem latenten zu einem manifesten Issue auf der politischen Agenda

48

spielen, in späteren Phasen der Entwicklung des Themas dann aber die Initiative mit mobili­sierten Protestakteuren teilen oder sogar an diese abgeben müssen. Auf ein solches Phasen­modell wird für den hier untersuchten Fall auch durch die Ergebnisse einer früheren Analyse der Zusammenhänge zwischen der Asyldebatte und rechtsradikaler Gewalt hingedeutet (Koopmans 1995, S. 28). Das gleiche gilt für die bereits oben erwähnte Tatsache, daß das Asylthema erst relativ spät vom rechtsradikalen Lager aufgegriffen wurde.

Um die Hypothese eines solchen Phasenmodells zu überprüfen, wurden die Regressionsa­nalysen für zwei Zeiträume getrennt durchgeführt. Als Schnittpunkt zwischen der Entste- hungs- und der manifesten Phase des Asylthemas wurden die Ereignisse vom 17. bis 22. Sep­tember 1991 in Hoyerswerda genommen, in deren Folge die Asyldebatte und die Gewalt ge­gen Asylbewerber zu den dominanten Themen in der deutschen Politik und in den Medien wurden (vgl. Abbildungen 4 und 5). Dies wird auch durch die Ergebnisse von Bevölkerungs­umfragen bestätigt. Politbarometer-Daten zeigen, daß in Westdeutschland die Zahl der Be­fragten, die das Asylthema als "das gegenwärtig wichtigste Problem in Deutschland" betrach­teten, innerhalb kurzer Zeit von winzigen 1,6 Prozent im Juni 1991 auf 42 Prozent im Oktober anstieg; damit war das Asylthema zum wichtigsten Problem für die Westdeutschen geworden

und blieb es auch mehr als ein Jahr lang.22

Abbildung 7: Kausale Beziehungen in der Karriere des Asylproblems bis Hoyerswerda

Anmerkungen:BETA-Koeffizienten Januar 1990 bis September 1991 (* p < .10, *• p < .05, ” • p <.01); alle Variablen als abhängige Variable t = 0; als unabhängige Variable t = -1, außer Asylbcwerberzahlen t = -2.

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Abbildung 8: Kausale Beziehungen in der Karriere des Asylproblems nach Hoyerswerda

Anmerkungen:BETA-Kosffizienten Oktober 1991 bis August 1994 (* p < .10, ** p < .05, *** p < 01); alle Variablen als abhängige Variable t = 0; als unabhängige Variable t = -1, außer Asylbewerberzahlen t = -2.

Die Abbildungen 7 und 8 stellen die Ergebnisse der Analysen für die beiden Zeiträume graphisch dar.23 Den Erwartungen entsprechend zeigt sich, daß die politische Elite eine zen­trale Rolle in der Enstehungsphase des Asylproblems gespielt hat. Die politische Debatte übte in dieser Phase einen sehr starken Effekt auf die Gewaltentwicklung aus. Da es, wie Abbil­

dung 5 zeigt, vor August 1991 nur vereinzelt Gewalttaten gegen Asylbewerber gegeben hat, ist dieser Effekt vor allem auf die Entwicklungen im Sommer 1991, die mit den Krawallen in Hoyerswerda ihren Höhepunkt erreichten, zurückzuführen. Daß die politische Elite die öf­fentliche Debatte bis zu diesem Zeitpunkt noch weitgehend im Griff hatte, zeigt sich auch daran, daß die Asyldebatte als einziger Faktor einen starken Einfluß auf den Entscheidungs­prozeß ausübte. Sehr bemerkenswert ist weiter, daß in dieser Phase nur ein sehr schwacher (und nicht signifikanter) Einfluß von den Asylbewerberzahlen auf die Debatte und die Gewalt ausging. Dieser Befund bestärkt die in der Literatur über soziale Probleme vertretene kon­struktivistische Perspektive, die betont, daß soziale Probleme weitgehend im diskursiven Pro­zeß generiert werden und manchmal nur marginal auf die Entwicklung "objektiver" Problem­lagen zurückzuführen sind.24 Schließlich finden wir auch in der Entstehungsphase bereits die negative Rückwirkung restriktiver asylpolitischer Entscheidungen auf das Gewaltniveau. Da

50

es in diesem Zeitraum noch keinen Effekt der Entscheidungen auf die Asylbewerberzahlen gab, verweist dies noch einmal auf die große Bedeutung von Entscheidungen als symbolische

Lösung eines Problems.Der Effekt von Entscheidungen auf die Gewalt ändert sich - sowohl was ihre Richtung als

auch ihre Stärke anbelangt - im Zeitraum nach Hoyerswerda nicht. Hinsichtlich der anderen Kausalbeziehungen ändern sich die Befunde aber von einem konstruktivistischen "Top- down"-Muster im ersten Zeitraum zu einem dem "Bottom-up"-Modell weitgehend entspre­chenden Muster im zweiten Zeitraum. Jetzt finden wir deutliche Effekte der Asylbewerberzah­

len auf die Debatte und die Gewalt. Diese stärker gewordene kausale Bedeutung der Asylbe­werberzahlen ist wahrscheinlich nicht nur auf einen wirklichen Anstieg der mit der Zustrom von Asylbewerbern verbundenen Probleme zurückzuführen. Mindestens ebenso wichtig mag

gewesen sein, daß mit dem explosionsartigen Anstieg der Gewalt und der Eskalation der Asyldebatte das Problem einfach deutlicher sichtbar gemacht wurde (oder von den meisten Bürgern sogar erst als "Problem" erkannt wurde). Zu dieser größeren Sichtbarkeit trug weiter bei, daß die monatliche Veröffentlichung des neuesten Standes der Zahl von Asylanträgen zu

einem festen und oft prominent plazierten Element der Medienberichterstattung wurde.Mit einer Ausnahme spiegeln die Befunde für den zweiten Zeitraum auch weiter die Er­

gebnisse für die Gesamtperiode. Diese Ausnahme betrifft die Wirkung der Debatte auf die Gewalt, die im zweiten Zeitraum keinen signifikanten Wert mehr erreicht. Nach Hoyerswerda wurde der weitere Verlauf des Asylproblems also kaum mehr von der politischen Debatte, sondern weitgehend von der Gewaltentwicklung determiniert. Nur über klare Entscheidungen, für die Gewaltwellen übrigens wieder den entscheidenden Anstoß geben mußten, konnten die politischen Eliten der durch die Gewalt angetriebenen Eskalationsdynamik entgegenwirken.25

4. Schluß

Mit den Ergebnissen der verschiedenen Analysen läßt sich jetzt die am Anfang erhobene Frage nach der Erklärungskraft der beiden Modelle des Karriereverlaufs von politischen The­men für den untersuchten Fall zusammenfassend beantworten.26 Die Auswertung der einzel­nen Variablen ergab mehrere Hinweise, die mit dem "Top-down"-Modell, das die Rolle poli­tischer Eliten in der Generierung und Definition von sozialen Problemen betont, überein­stimmten. So waren soziale Bewegungen und Interessengruppen, vor allem auf seiten der Be­fürworter von Asylrechtseinschränkungen, kaum in die öffentliche Debatte involviert. Statt dessen wurde die Debatte durch politische Eliten, allen voran die Bundes- und Länderregie­rungen sowie die Bundesparteien, dominiert. Die Behauptung, daß mit den Forderungen zur Einschränkung des Asylrechts auf einen starken Druck aus der Bevölkerung und den Kom­munen reagiert wurde, läßt sich empirisch nicht bestätigen. Auch die rechtsradikale Gewalt richtete sich erst zu einem relativ späten Zeitpunkt, als das Thema schon längst von Politikern aufgegriffen worden war, auf die Asylbewerber.

51

Ein weiterer Hinweis, der die Definitionsmacht politischer Eliten zeigt, ergab sich aus dem Vergleich der Karrieren des Aussiedler- und des Asylthemas. Obwohl beide Einwanderungs­wellen quantitativ und qualitativ genauso "problematisch" waren, wurden die Aussiedler nie

zu einem bedeutsamen Streitpunkt. Ganz anders als beim Asylthema wurde das Aussiedler- (non-)Issue unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit mit einer unspektakulären (aber

wirksamen) Verfahrensänderung unter Kontrolle gebracht. Dementsprechend waren die Aus­siedler auch nur in einem sehr geringen Maße von rechtsradikaler Gewalt betroffen.

Entgegen diesen Hinweisen brachte eine erste multivariate Analyse nur geringe Unterstüt­zung für das "Top-down"-Modell. Der starke Effekt der Gewalt auf die politische Debatte deutete eher auf eine Problemgenerierung von unten hin. Eine getrennte Analyse für den Zeit­raum bis September 1991, in dem das Asylproblem zu einem zentralen politischen Issue her­anwuchs, zeigte aber, daß in dieser Periode die von der politischen Elite geführte Debatte in der Tat eine initiierende Rolle spielte und eine starke Wirkung auf die Gewaltentwicklung

ausübte. Außerdem zeigte sich hier, daß die Karriere des Asylproblems in der Anfangsphase nicht signifikant mit der realen Entwicklung der Asylbewerberzahlen zusammenhing, was mit

der in der jüngsten Literatur vertretenen These eines hohen Maßes an Konstruiertheit moder­ner sozialer Probleme übereinstimmt.27

Nach den Ereignissen in Hoyerswerda wurde die weitere Entwicklung der Karriere des

Asylthemas aber in einem bedauerlich hohen Ausmaß vom Rhythmus der Gewalttaten einer kleinen rechtsradikalen Minderheit diktiert. Nicht nur folgte die politische Debatte jetzt den Gewalttaten; in überraschend starkem Maße wurde auch der Entscheidungsprozeß von der Entwicklung der Gewalt beeinflußt. Wie die Ergebnisse zeigten, konnten die politischen Eli­

ten nur durch Entscheidungen, die die Rechte von Asylbewerbern einschränkten, die Eskalati­onsspirale von Debatte und Gewalt durchbrechen.28 Da solche Entscheidungen aber lange auf sich warten ließen und zugleich der problematische Charakter der Asylfrage in der Debatte immer wieder betont wurde, waren für einen längeren Zeitraum optimale Bedingungen für eine Mobilisierung der radikalen Rechten um das Asylthema gegeben.

Abschließend muß betont werden, daß daraus nicht gefolgert werden kann, die politische Debatte sei eine hinreichende Ursache für die Gewalt gegen Asylbewerber gewesen. Auch vor

dem Sommer von 1991 war die radikale Rechte schon im Aufmarsch, nur hatte sie das Asylthema noch nicht für sich "entdeckt". Ihre Gewalt blieb statt dessen weitgehend auf ri­tuelle Auseinandersetzungen mit der autonomen Szene beschränkt oder entbehrte sogar jeder politischen Stoßrichtung und äußerte sich als Jugend- oder Fußballrandale. Für die Welle der Gewalt gegen Asylbewerber und Ausländer war wahrscheinlich beides notwendig: eine be­reits mobilisierungsfähige rechte Jugendsubkultur, die noch auf der Suche nach einem me­dienwirksamen Thema war, das mit einer gewissen Sympathie in der Politik und der Bevölke­rung rechnen konnte, und eine polarisierte politische Debatte zwischen kompromißunfahigen Kontrahenten, die der radikalen Rechten ein solches Thema verschaffte.

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Anmerkungen

1 Beispielsweise Gusfield (1981), Schneider (1985) und Hilgartner/Bosk (1988).2 Beispielsweise Tilly (1978), McAdam/McCarthy/Zald (1988) und Tarrow (1994).3 Beispielsweise Crenson (1971), Cobb/Elder (1983), Kingdon (1984) und Riker (1993).

Als verwandte theoretische Perspektiven wären zudem die "Agenda-Setting"-Forschung in den Kommunikationswissenschaften zu erwähnen, die sich vor allem auf die Rolle der Medi­en bei der Definition von gesellschaftlichen Themen konzentriert (vgl. Rogers/Dearing 1988; Pfetsch 1986), sowie die politikwissenschaftliche "Responsivitätsforschung", die sich auf die "folgende" oder "führende" Rolle des Handelns politischer Eliten in bezug auf die Bevölke­rungsmeinung richtet (vgl. Brettschneider 1995).

4 Diese Zweiteilung entspricht den theoretischen Gegensätzen zwischen "Objektivismus" und "Konstruktivismus" in der Literatur zu sozialen Problemen, zwischen "relativer Deprivation" und "politischen Gelegenheitsstrukturen" in der Bewegungsforschung sowie zwischen "Pluralismus" und "Elitismus" in der politikwissenschaftlichen Literatur.

5 In den beiden Modellen sowie in der nachfolgenden empirischen Analyse mußte al­lerdings eine potentiell wichtige Variable - und zwar die Bevölkerungsmeinung - außer acht

gelassen werden, da für sie hinsichtlich des untersuchten Zeitraums keine durchgehenden Zeitreihen vorliegen. Am ehesten käme hier die im Politbarometer gestellte Frage nach dem "gegenwärtig wichtigsten Problem in Deutschland" in Betracht. Bei dieser Frage ist aber un­klar, inwieweit sie die persönliche Problemwahrnehmung der Befragten erfaßt oder lediglich

deren Wahrnehmung der öffentlichen Debatte. Im übrigen liegen für Ostdeutschland für den Zeitraum bis September 1991 keine Daten zu dieser Frage vor. Auch die Reihen für West­deutschland weisen leider an entscheidenden Stellen Lücken auf. So wurden gerade im Juli 1991 und im August 1992 keine Politbarometer durchgeführt. In beiden Fällen handelt es sich aber um entscheidende Monate, wenn es darum geht, die Rolle der Bevölkerungsmeinung im Karriereverlauf des Asylproblems zu analysieren.

6 Für diesen Beitrag wurden nur die bereits vorliegenden, aus der Frankfurter Rund­schau erhobenen Daten benutzt. Zur Zeit läuft die zweite Phase der Datensammlung, die sich auf Lokalzeitungen für den Zeitraum Juli bis Oktober 1991 (eine - wie aus den im folgenden präsentierten Ergebnissen hervorgeht - entscheidende Phase im Aufstieg des Asylthemas)

konzentriert. Die Frankfurter Rundschau wurde gewählt, weil sie im Vergleich zu anderen bundesweiten Tageszeitungen relativ umfassend über die Themen Rechtsextremismus und Einwanderungspolitik berichtet. Im übrigen geht aus einer Studie von Brosius und Esser (1995, S. 123-125) hervor, daß zwischen verschiedenen Printmedien und Fernsehkanälen, trotz sehr unterschiedlicher Berichterstattungsintensitäten, hohe Korrelationen in bezug auf die zeitliche Streuung der Berichterstattung über Rechtsextremismus und Einwanderungspoli­tik bestehen. Das gleiche zeigt ein erster Vergleich zwischen der Frankfurter Rundschau und

verschiedenen Lokalzeitungen in dem Zeitraum Juli bis Oktober 1991. Dies rechtfertigt die Wahl einer - quantitativ und qualitativ - verhältnismäßig reichhaltigen Quelle wie die Frank­

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furter Rundschau, die - auf jeden Fall für die zeitliche Entwicklung der Berichterstattung, die bei der hier präsentierten Analyse zentral ist - als Indikator für eine breitere Öffentlichkeit

betrachtet werden kann.7 Dementsprechend wurde die "eigene Meinung" der Zeitung, wie sie in Kommentaren

und Bewertungen von Journalisten in anderen Berichten - z. B. Reportagen - zu finden ist,

außer acht gelassen. Inwieweit auch die Intensität und Ausrichtung der faktischen Berichter­stattung von einer eigenen "Medienagenda" beeinflußt wird, ist schwer zu sagen. Die Tatsa­che, daß in der Berichterstattung der linksliberalen Frankfurter Rundschau, die in ihren Kom­mentaren deutlich gegen eine Einschränkung des Asylrechts Stellung nahm, Forderungen nach einer Asylrechtseinschränkung genauso oft vorkamen wie Forderungen zur Beibehaltung des bestehenden Asylrechts (19 bzw. 20 Prozent aller Aussagen) und daß Regierungsparteien ebenso häufig zu Wort kamen wie Oppositionsvertreter (29 bzw. 31 Prozent aller Aussagen),

scheint aber nicht in diese Richtung zu deuten.8 Genauere Angaben zur Definition und Abgrenzung der Analyseeinheit sowie zur De­

finition und zu den Ausprägungen der unterschiedlichen Variablen sind in dem Codebuch

"Rechtsextreme Gewalt im Kontext", das auf Anfrage beim Autor zu erhalten ist, festgelegt

worden.9 Bemerkenswert ist, daß es nach meinem Wissen keine (veröffentlichte) Statistik zur

Abwanderung von Asylbewerbern gibt, während die Zahl der Neuanträge genau gemessen

und über monatliche Pressemitteilungen in den Medien verbreitet wird.10 Die Kategorie "Äußerungen" umfaßt sowohl verbale Aussagen als auch verbale Kom­

ponenten (Losungen, Reden, Transparente, Schmierereien) nicht-verbaler Handlungen wie

Demonstrationen. Entscheidungen von staatlichen Institutionen einschließlich politischer Parteien wurden ausgeschlossen und werden unten gesondert ausgewertet.

11 In Analogie zu Crensons (1971) Plädoyer für die systematische Einbeziehung von

"non-deci sions" in die Analyse von Entscheidungsprozessen scheint es angebracht, daß auch die Literatur zu Themenkarrieren und politischen Agenden sich stärker mit "non-issues", wie z. B. der Aussiedlerproblematik, befaßt: "The most significant fact about these non-decisions is that many - perhaps most - of them have something to do with the distribution of power. They are not politically random oversights but instances of politically enforced neglect" (ebenda, S. 184). Diese Schlußfolgerung Crensons dürfte auch für die Nicht- Problematisierung von "Nicht-Themen" zutreffen.

12 Eine ähnliche Dominanz staatlicher und parteipolitischer Akteure geht aus einer Ana­lyse der Asylberichterstattung von sechs Tageszeitungen in den Septembermonaten 1990 bis 1993 hervor (Hömberg/Schlemmer 1995, S. 16).

13 Natürlich könnte ein Grund dafür sein, daß die Frankfurter Rundschau sich als bun­desweite Zeitung in überdurchschnittlichem Maße auf Akteure in der bundespolitischen Arena konzentriert. Erste Ergebnisse einer Analyse der Berichterstattung von drei Lokalzeitungen in den neuen Bundesländern für den Zeitraum Juli bis Oktober 1991 zeigen aber, daß auch in lokalen Medien keine Spur einer signifikanten Problematisierung des Asylthemas auf Kom­

munalebene zu finden ist. Im Gegenteil: Der Prozentsatz asylpolitischer Äußerungen, die auf

kommunalpolitische Akteure zurückzuführen sind, ist in den Lokalzeitungen sogar noch etwas niedriger als in der Frankfurter Rundschau.

14 Der konstruierte Charakter der "deutschen" ethnischen Zugehörigkeit der Aussiedler zeigt sich schon darin, daß die deutschen Sprachschulen mit Aussiedlern überfüllt sind. Im Jahre 1990 besuchten zwei Drittel der Aussiedler aus der Sowjetunion und 90 Prozent derje­nigen aus Polen Kurse zum Erlernen der deutschen Sprache (Scheuch 1991, S. 177).

15 Die stark unterschiedlichen Reaktionen auf Aussiedler und Asylbewerber hängen si­cherlich damit zusammen, daß die Aussiedler gesetzlich als Teil der deutschen politischen und

"völkischen" Gemeinschaft gelten, weshalb die Begrenzung ihrer Zahlen auch mit einer ge­wissen Sensibilität betrieben werden muß; darüber hinaus sind sie als potentielle Opfer des rechtsradikalen, "nationalen" Lagers problematischer als Asylbewerber. Diese gesetzlich ver­ankerten Statusunterschiede zwischen Aussiedlern und Asylbewerbern sind aber nicht "gegeben", sondern Ergebnis und Gegenstand von Definitionsprozessen, Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen. Wie die verschiedenen Änderungen der Kriterien für die Anerkennung

des Aussiedlerstatus und auch die Änderung des Asylgrundgesetzartikels zeigen, können In­

klusions- und Exklusionsregeln unterschiedlich ausgelegt und Grundrechte verändert werden.16 Obwohl die gesammelten Mediendaten weniger als 10 Prozent der vom Bundesamt für

Verfassungsschutz gezählten Gewalttaten enthalten, ist die Korrelation auf Monatsbasis (für rechtsradikale Gewalt insgesamt) zwischen den beiden Datensätzen besonders hoch (.88). Da die Daten des Verfassungsschutzes keine Aufschlüsselung nach Objekten erlauben, wurden

hier die Mediendaten benutzt.17 Daß sich der Anstieg der Asylbewerberzahlen erst mit einer gewissen Zeitverzögerung

auf die anderen Variablen auswirkt, läßt sich theoretisch dadurch begründen, daß er für die meisten Bürger und Politiker nicht direkt sichtbar ist. Erst mit der Veröffentlichung des neue­

sten Standes der Asylanträge, die den tatsächlichen Zahlen immer um einen Monat hinterher­läuft, entstehen soziale und politische Tatsachen, die zu Einstellungs- und Verhaltensänderun­gen führen können.

18 Gleichzeitige Effekte (lag = 0) wurden in den Analysen nicht berücksichtigt. In man­chen Fällen (am stärksten bei den Beziehungen zwischen der Gewalt und der Debatte) drück­ten diese die zeitverschobenen Effekte völlig weg. Da gleichzeitige Effekte keine kausalen Interpretationen zulassen, wurden nur zeitverschobene Effekte in die Modelle aufgenommen.

19 Vorhergehende ARIMA-Analysen der inneren Variablenstruktur zeigten, daß die Rei­hen entweder bereits stationär waren (Entscheidungen und differenzierte Asylbewerberzahlen) oder durch eine Autoregression erster Ordnung (AR1) gekennzeichnet waren (Debatte und

Gewalt). Die Aufnahme von Vormonatszahlen in die Gleichungen ist also eine angemessene Modellierung der Eigendynamik der Reihen.

20 Diese Annahme wurde durch parallele, hier nicht wiedergegebene Analysen, in die alle asylpolitischen Äußerungen und Entscheidungen einbezogen wurden, bestätigt. Die

Richtung der Effekte bei diesen Analysen unterschied sich zwar nicht von den rapportierten

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Analysen; die Effekte waren aber deutlich schwächer und fielen in manchen Fällen unter die

Signifikanzgrenze.21 Auf den reagierenden Charakter des asylpolitischen Entscheidungsprozesses hat auch

Stark (1994, S. 102) hingewiesen.22 Für Ostdeutschland sind die Zahlen weniger dramatisch, da hier die Arbeitslosigkeit

Thema Nummer eins blieb.23 Die Abbildungen sind als vereinfachte graphische Darstellung der Ergebnisse einer

Reihe von unabhängigen Regressionsgleichungen wie in Tabelle 5 zu lesen. Es handelt sich hierbei also nicht um rekursive Pfadmodelle, da wegen der Benutzung von zeitverschobenen Werten als unabhängige Variablen keine Variable sowohl als abhängige wie auch als unab­hängige Variable auftritt. Außerdem sind autoregressive Effekte in den Abbildungen nicht

wiedergegeben worden.24 Auch die Annahme eines Schwellenwertmodells statt eines linearen Effekts der Asyl­

bewerberzahlen - wobei dann irgendwann in 1991 eine kritische Grenze überschritten worden sein soll - scheint hier nicht sehr plausibel, "denn die Zahl der Asylbewerber stieg zwischen 1990 und 1991 lediglich von rund 193.000 auf 253.000, während im Verlauf der achtziger Jahre die Zunahme von 20.000 auf 193.000 Asylbewerber weitgehend folgenlos geblieben

war" (Alber 1995, S. 51).25 Durch die Aufteilung in zwei Zeiträume (21 bzw. 35 Monate) wurde natürlich auch die

Fallzahl der Analysen ziemlich klein. Um zu kontrollieren, ob hierdurch keine Zufallsartefak­te entstanden sind, wurde die Analyse für beide Zeiträume auch auf Wochenbasis durchge­führt. Dabei mußte allerdings auf die Einbeziehung der Asylbewerberzahlen, die nur monat­lich verfügbar sind, verzichtet werden. Auch hier finden wir im ersten Zeitraum einen starken Effekt der Debatte auf die Gewalt. Im zweiten Zeitraum ist der Effekt - anders als bei den Monatsdaten - noch signifikant, aber viel schwächer; außerdem wird er durch einen zweimal

so starken Effekt in der entgegengesetzten Richtung überlagert. Auch die Wirkung der Gewalt auf die Entscheidungen finden wir auf Wochenbasis in beiden Zeiträumen, aber den Monats­daten entsprechend stärker in der Periode nach Hoyerswerda. Deutlich schwächer als bei den Monatsdaten fallt aber die negative Rückwirkung der Entscheidungen auf die Gewalt aus.

Dabei ist bedeutsam, daß dieser Effekt sich erst mit einer relativ großen Zeitverzögerung (maximale Werte ergeben sich bei Zeitverzögerungen von sechs bis acht Wochen) bemerkbar macht. Die anderen Effekte sind direkter und dadurch auf Wochenbasis leichter modellierbar. Am direktesten ist der Effekt der Debatte auf die Gewalt, der schon nach einer Woche seine maximale Wirkung entfaltet. Dies ist sicherlich darauf zurückzuführen, daß die meisten Ge­waltakte relativ spontan, d. h. ohne längerfristige Planung begangen wurden (Willems et al. 1993, S. 138). Der umgekehrte Effekt - von der Gewalt auf die Debatte - zeigt seine maximale Wirkung bei einer Zeitverzögerung von zwei Wochen.

26 Ob die Befunde für den Verlauf der Karriere des Asylproblems generalisierbar sind, ist eine Frage, die hier nicht beantwortet werden kann. In der Literatur ist in dieser Hinsicht vor allem der Unterschied zwischen "obtrusive issues" - Themen, mit denen die meisten Bürger

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direkt konfrontiert werden (z. B. Inflation) - und "nonobtrusive issues" - Themen, wie die Asylproblematik, von denen die meisten Bürger nur indirekt, über die Massenmedien vermit­

telt, erfahren - betont worden (Zucker 1978). Der Karriereverlauf des Asylthemas dürfte vor allem für die Kategorie von "nonobtrusive issues" repräsentativ sein, da gerade für solche Themen eher ein dem "Top-down"-Modell entsprechender Effekt der politischen Debatte auf

die Einstellungen und das Verhalten von Bürgern zu erwarten ist.27 Alber (1995, S. 64) gelangt zu der ähnlichen Schlußfolgerung, daß der "Kern des Pro­

blems weniger in der Quantität der Zuwanderung als in der Qualität der politischen Reaktio­

nen darauf' zu sehen ist.28 Auch von Gamson (1990) wurde bereits gezeigt, daß Gewaltanwendung die Erfolg­

schancen sozialer Bewegungen erhöhen kann.

Öffentliche Diskussion und politische Entscheidung. Der deutsche Abtreibungskonflikt 1970 - 1994'

Friedhelm Neidhardi

In den vergangenen Jahrzehnten hat die Idee deliberativer Demokratie in wachsendem Ma­ße theoretische Aufmerksamkeit gefunden. Sie beschreibt die Vorstellung einer demokrati­schen Gesellschaft als "an association whose affairs are governed by the public deliberation of

its members" (Cohen 1989, S. 17). Zentrale Bedeutung wird dabei dem Funktionieren von Öffentlichkeit beigemessen, verstanden als "eine Sphäre öffentlicher, ungezwungener Mei- nungs- und Willensbildung der Mitglieder einer demokratischen politischen Gemeinschaft über die Regelung der öffentlichen Angelegenheiten" (Peters 1994, S. 45; vgl. Habermas 1989; 1990; 1992). Angenommen wird, daß die Bürger nicht mit festgelegten Präferenzen und fertigen Meinungen politisch werden, sondern daß sich ihre Präferenzen und Meinungen erst

unter dem Einfluß öffentlicher Kommunikation in dem Maße bilden, in dem diese den Bedin­gungen eines offenen und freien Diskurses genügt (Manin 1987). Dieser Diskurs zwinge alle Teilnehmer, nicht nur zu behaupten und zu fordern, sondern Behauptungen und Forderungen auch zu begründen und dabei, soll die Zustimmung der anderen erreicht werden, so zu argu­

mentieren, daß individuelle Präferenzen als kollektive Interessen akzeptierbar werden (Miller 1992, S. 61 f.). Auf diese Weise entstehe die Chance, "to arrive at a rationally motivated con­sensus" (Cohen 1989, S. 23), zumindest aber - so die schwächere Hypothese - "to win the ap­proval o f the majority" (Manin 1987, S. 359). Nur dieser, sei es vollständige, sei es majoritäre

Konsensus der Bürger sichere den politischen Entscheidungen über öffentliche Angelegenhei­ten Legitimität.

Den emphatischen Ansprüchen dieses Konzepts begegnet die Skepsis derer, die Öffent­

lichkeit unter den Bedingungen moderner Massenkommunikation eher als bloßen "Spiegel" disparater Überzeugungen und Interessen (Luhmann 1990, S. 181 f ; vgl. Marcinkowski 1993,

S. 46-70) wahrnehmen und ihr nicht Zutrauen, Diskurse zu erzeugen, aus denen so etwas wie "öffentliche Meinung" als Ausdruck kollektiver Konsensbildung hervorgehen kann; schon vor Jahrzehnten hat Walter Lippmann diese Vorstellung von öffentlicher Meinung als "Phantom" verspottet (Lippmann 1925, S. 13-62). Die Demokratiefunktionen von Öffentlichkeit ver­

schwinden dann nicht unbedingt, aber sie geraten eher in den Rang einer Art Demoskopie: Es kommt aus öffentlicher Meinungsbildung nicht mehr heraus, als durch die diversen Überzeu-

gungs- und Interessenvertreter hineingebricht worden ist; immerhin kann es sich lohnen, auch das zu beobachten.

Die Spannung zwischen diesen beiden Positionen ist bislang kaum zum Gegenstand empi­rischer Forschung geworden (Kriesi 1994). Die "öffentliche M einungsforschung der Demo­skopie begnügte sich mit der statistischen Aggregation individueller Einstellungen und ver­paßte damit die Analyse der Formen und Ergebnisse ihrer mehr oder weniger öffentlichen

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Kommunikation; die Medienforschung spezialisierte sich, sofern sie politikwissenschaftlich interessiert war, auf Teilaspekte "politischer Kommunikation" (z.B. Wahlkämpfe). Ein Grund für die demokratietheoretische Abstinenz der empirischen Forschung wird in der Abstrakti­onshöhe der kontroversen Theoriepositionen zu suchen sein. Auch Deliberationstheorien ha­ben ihren "Idealtypus" demokratischer Öffentlichkeit so sehr im allgemeinen belassen, daß sie

den Anschluß empirischer Forschung eher versperrt als eingeladen haben; erst kürzlich hat

Bernhard Peters begonnen, eine Brücke zu schlagen (Peters 1994).Der folgende Beitrag nimmt Fragen auf, die sich bei der Prüfung der Geltung deliberativer

Demokratietheorien ergeben. Es wird mit dem Material einer Fallstudie versucht, Informatio­

nen über jene Bedingungen zu geben, unter denen einige Grundannahmen des deliberativen Demokratiemodells gelten oder aber nicht gelten. Die Absicht ist, die sozialwissenschaftliche Diskussion aus der Sterilität abstrakter Entweder/oder-Positionen in die Richtung theoretisch differenzierterer und empirisch verbindlicherer Analysen zu lenken. Dabei stehen folgende

Fragen im Mittelpunkt der Analyse:- Unter welchen Bedingungen lassen sich öffentliche Diskussionen über politische Entschei­

dungen überhaupt erwarten? Und wer beteiligt sich daran?- Unter welchen Bedingungen ist damit zu rechnen, daß öffentliche Diskussionen die delibe­

rative Qualität von "Diskursen" erreichen? Und an welchen Merkmalen läßt sich dies er­kennen?

, - Unter welchen Bedingungen ergibt sich aus öffentlichen Diskussionen, insoweit ihnen die ’ Merkmale von Diskursen mehr oder weniger eignen, eine "öffentliche Meinung", die,

wenn nicht vollständigen Konsensus, so doch eine eindeutige Mehrheitsmeinung repräsen­tiert? Und was ergibt sich für den politischen Prozeß, wenn diese nicht zustande kommt?

- Unter welchen Bedingungen läßt sich erwarten, daß das Ergebnis öffentlicher Diskussionen - sei es Konsens, sei es Nicht-Konsens - tatsächlich einen Einfluß auf politische Entschei­dungen ausübt? Und was sichert umgekehrt, daß diese Entscheidungen in der Öffentlich­

keit Akzeptanz finden?

1. Ein Fallbeispiel: Politische Entscheidungen zum Abtreibungskonflikt

Ein Fallbeispiel wird nicht ermöglichen, verallgemeinerbare Zusammenhänge von Öffent­

lichkeit und Politik empirisch valide und zuverlässig zu behaupten. Auch ein einziger Fall stellt für die Prüfung theoretisch postulierter Zusammenhänge aber einen Testfall dar, der im Hinblick auf die Bedingungen ihrer Geltung instruktiv sein kann. Ich benutze dazu im folgen­den (ähnlich wie Gerhards in diesem Band) Material einer deutsch-amerikanischen Ver­gleichsstudie über Strukturen und Prozesse öffentlicher Meinungsbildung, die in der WZB- Abteilung "Öffentlichkeit und soziale Bewegung" in Kooperation mit amerikanischen Kolle­gen durchgeführt wurde.1 In diesem komparativ angelegten Längsschnittprojekt wurden so­

wohl die in den Jahren 1970 bis 1994 geführten und über die Presse wahrnehmbaren öffentli­

chen Debatten über Abtreibungsregelungen als auch das hinter ihnen stehende Akteursfeld als

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Beobachtungsgegenstand gewählt; es folgt insofern einem Mehrebenenansatz. Für die folgen­

den Ausführungen ist bestimmend, daß "öffentliche Meinung" mit unseren Daten nicht wie üblich als statistisches Aggregat demoskopisch erhobener individueller Meinungen, sondern

als "Konsonanz öffentlicher Meinungsäußerungen" begriffen und über die Inhaltsanalyse von medial vermittelten Sprecheräußerungen gemessen wird (zur Begründung siehe Neidhardt 1994a, S. 25-27; vgl. dazu auch den Beitrag von Fuchs/ Pfetsch in diesem Band).

Aus dem umfangreichen Material der Studie werden an dieser Stelle nur einige thematisch

einschlägige Daten aus Inhaltsanalysen der deutschen Tageszeitungen "Frankfurter Allgemei­ne" (FAZ) und "Süddeutsche Zeitung" (SZ) vorgestellt. Ein umfassender Bericht über die deutschen Befunde, in dem auch die Daten der Akteurserhebung sowie aus der Inhaltsanalyse das im folgenden noch nicht analysierte Material über die im Abtreibungsstreit argumentativ eingesetzten "idea elements" vorgestellt werden (vgl. dazu Gerhards in diesem Band), wird gegenwärtig vorbereitet. Die deutsch-amerikanischen Vergleichsanalysen, die den Blick für die institutionellen und kulturellen Besonderheiten der Vorgänge in beiden Ländern schärfen können, werden ab 1997 publiziert.

Der Abtreibungskonflikt gehörte über mehrere Jahrzehnte sowohl in den USA als auch in der Bundesrepublik Deutschland zu den zentralen innenpolitischen Auseinandersetzungen (vgl. Rucht 1994, S. 368-403). Seine Besonderheiten ergaben sich daraus, daß gesetzliche Entscheidungen über einen Wertekonflikt angestrebt wurden, in dem sich einander widerspre­chende moralische Positionen gegenüberstanden (v'gl auch Döbert in diesem Band). Der "Schutz des ungeborenen Lebens" kollidiert mit dem "Selbstbestimmungsrecht der Frau" in Situationen, in denen Abtreibung von einer Schwangeren erwogen und veranlaßt wird. Zu­mindest jene Frauen, die das Recht der Entscheidung in diesen Fällen für sich reklamieren, konnten nicht einverstanden sein mit den restriktiven Verbotsregeln des § 218 StGB, der in­dividuellen Entscheidungen wenig Spielraum ließ. Unabhängig davon sprachen angesichts einer illegalen Abtreibungspraxis großen Stils auch rechtspolitische Erwägungen für das Neu­bedenken einer Norm, deren massenhafte Verletzung offenkundig weder einzudämmen noch zu sanktionieren möglich war. Eine weitreichende Kriminalisierung ging mit strafrechtlicher Folgenlosigkeit einher, ein rechtspolitisch unguter Zustand. Deshalb zielten dann auch nicht nur feministische Frauengruppen, sondern ebenso Strafrechtsexperten mit ihren Reformvor­schlägen auf eine Liberalisierung der Strafrechtsbestimmungen.

In der Tat kam es, zuerst in den siebziger Jahren, zu Gesetzesänderungen. Im April 1974 beschloß der Bundestag mit knapper Mehrheit die sogenannte "Fristenregelung", die Frauen in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft unter bestimmten Bedingungen das Recht zur "Letztentscheidung" zusprach. Diese Regelung wurde vom Bundesverfassungsgericht im Februar 1975 als verfassungswidrig beurteilt mit der Folge, daß vom Bundestag im Mai 1976 ein gegenüber dem alten § 218 erweitertes Indikationenmodell verabschiedet wurde. Abtrei­bung sollte danach innerhalb der ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft straffrei bleiben, falls Sachverständige nach einem festgelegten Verfahren eine medizinische, eugenische, ethi­sche oder - nun zusätzlich - soziale Indikation feststellten. Diese Regelung hatte Bestand, bis

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nach der Vereinigung beider deutschen Staaten die sehr liberale Fassung des "Fristenmodells'' der DDR mit dem bundesdeutschen "Indikationenmodell" kollidierte. Es galt nun, eine ge­samtdeutsche Regelung zu erreichen. Im Juni 1992 verabschiedete der Bundestag eine einge­schränkte Fristenlösung, die im Mai 1993 vom Bundesverfassungsgericht in Teilen wiederum als verfassungswidrig verworfen wurde. Der Gesetzgeber folgte den Auflagen des Gerichts, Beratungsregelungen "zielorientierter" zugunsten des "Schutzes ungeborenen Lebens" vorzu­schreiben und die Krankenkassenfinanzierung legaler Schwangerschaftsunterbrechungen zu­rückzunehmen. Er verabschiedete im Juni 1995 das gegenwärtig geltende Recht, das einen gewissen Druck, nicht abzutreiben, auf die Schwangere ausübt, ihr aber die Letztentscheidung überantwortet. Ihre Entscheidung für eine Abtreibung gilt als unrecht, bleibt aber bei Einhal­tung vorgeschriebener Verfahrensregeln in den ersten zwölf Wochen der Schwangerschaft

straffrei.Für die folgende Analyse bleibt festzuhalten: (a) Es gab, zuerst in den Jahren 1974-1976,

dann in den Jahren 1992-1995, politische Entscheidungen über das Abtreibungsrecht, (b) Die­se Entscheidungen folgten einer vorsichtigen Liberalisierungstendenz, die vom obersten Ge­richt zwar eingeschränkt, aber nicht gestoppt wurde, (c) Die festgeschriebenen Gesetzesbe­stimmungen verkörpern keine reinen Regelungstypen. Mit der Handhabung von Ausnahme-,

Kosten- und Beratungsregelungen wird der Weg von einem restriktiven zu einem erweiterten Indikationenmodell und von diesem zu einem konditionierten Fristenmodell kompromißhaft

abgedämpft.Eine erste Frage stellt sich nun: Ging den politischen Entscheidungen zur Abtreibungsfrage

überhaupt eine öffentliche Diskussion voraus - dies eine notwendige, allerdings nicht hinrei­chende Bedingung dafür, daß Deliberation im Sinne von "Diskurs" stattfinden und dieser in der Folge als Einflußgröße auf politische Entscheidungen wirksam werden konnte?

2. "Up and down" - Entscheidungstermine und Diskussionswellen

Klaus von Beyme hat in einer noch unveröffentlichten Studie zeigen können, daß ein gro­ßer Teil der etwa 150 Schlüsselentscheidungen des Bundestags nicht oder kaum von öffentli­cher Resonanz begleitet war. Dies trifft für die Abtreibungsgesetzgebung der siebziger und neunziger Jahre nicht zu. Bei unserer Inhaltsanalyse von FAZ und SZ wurden für den 25jährigen Erhebungszeitraum von 1970 bis 1994 unter anderem 1.860 Artikel mit Themen des Abtreibungskonflikts codiert. In diesen Artikeln wurden insgesamt 7.394 Äußerungen

öffentlich engagierter Akteure zur Abtreibungsfrage festgestellt. Auch wenn Daten über ande­re "issues" öffentlicher Diskussionen nicht verfügbar sind, läßt sich doch festhalten, daß es über einen längeren Zeitraum hin zum Thema Abtreibung eine beachtliche Fokussierung öf­

fentlicher Aufmerksamkeit gab. Eine große Zahl von Sprechern hat sich zu Wort gemeldet: Personen, Gruppen, Organisationen. Damit erscheint eine erste Bedingung dafür erfüllt, daß

sich Interdependenzen zwischen öffentlicher Diskussion und politischer Entscheidung ent­wickeln konnten. Die Öffentlichkeit war mobilisiert.

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Fragt man nach den Gründen für die gewiß überdurchschnittliche und darüber hinaus un­üblich dauerhafte öffentliche Aufmerksamkeit in Sachen Abtreibung, so bieten Theorien von "news values” (Gältung/Ruge 1965; Gans 1979) und "Naehriehtenfaktoren" (Schulz 1976; Staab 1990) einige Erklärungsangebote. Obwohl es in der öffentlichen Diskussion zunehmend

weniger ''news'' gab, konnte das Thema anhaltendes Interesse einerseits deshalb auf sich len­ken, weil es im Unterschied zu einer Fülle von sonstigen Politikthemen lebensweltlich nah und insofern "obtrusive" ist. Sein Zusammenhang mit Sexualität und ihren Folgen sorgt für

allgemeine und unmittelbare Betroffenheiten. Hinzu kommt andererseits, daß es moralische Fundamentalkonflikte auslöste, die der sozialen Auseinandersetzung von "pro life" versus

"pro choice" eine medienstrategisch interessante Spamiung verliehen. Dies um so mehr-, als zu den Folgen der restriktiven Gesetzgebung, die der geltende § 218 StGB fixierte, eine offen­kundig massive Abtreibungskriminalität gehörte, die von der Justiz nicht beherrschbar war.

Im Hintergrund auch wenig öffentlichkeitswirksamer Aushandlungen von Gesetzesdetails

Standen Geschichten von Gewissensnöten, Kurpfuschern, spektakulären Selbstoffenbarungen, Mordanklagen - also ein dramatischer Stoff, der auch von den Medien über längere Zeit hin

brisant zu halten war (Hilgartner/Bosk 1988, S. 61 f.; ähnlich bei ihrer Erklärung der ameri­kanischen Drogendebatte Sharp 1995, S. 102 ff). Fehlt dergleichen - und dies trifft offen­kundig für viele Themen der politischen Agenda zu (vgl. dazu Downs 1972; auch Funkhouser 1973) -, scheitert Deliberation in einer medienbestimmten Öffentlichkeit schon am mangeln­

den Nachrichtenwert des Themas. Diskurse müssen nicht nur wichtig, sondern auch interes­sant sein, um öffentliche Beteiligung mehr als kurzfristig auszulösen. Die Chancen für die Dauerdeliberation zentraler öffentlicher Angelegenheiten sind insofern begrenzt. Unser Fall­beispiel erscheint nicht als repräsentativ. Die Geltung unserer Befunde ist deshalb auch nur beschränkt verallgemeinerbar. Immerhin bietet dieses Beispiel den Aufweis von Möglichkei­ten, die von anderen als deliberativen Demokratietheorien wenn nicht ausgeschlossen, so doch

vernachlässigt werden. Es gibt unserer Analyse insofern auch die Chance, Formen, Ergebnisse und Effekte öffentlicher Diskussion genauer zu verfolgen.

Nicht nur das Ausmaß öffentlicher Resonanz, sondern auch deren zeitliche Entwicklung kann für die weitere Analyse unseres Fallbeispiels aufschlußreich sein. Nimmt man die Jah­reszahl von Zeitungsartikeln und Sprecheräußerungen als einen Indikator für die Intensität öffentlicher Diskussion, so zeigt Abbildung 1 eine deutliche Synchronisierung öffentlicher Diskussions- und politischer Entscheidungsprozesse. Zwei "issue-attention cycles" (Downs 1972) in den Jahren 1970-1977 und 1986-1994 kulminieren ungefähr im Zeitraum der primä­ren parlamentarischen Entscheidungsphasen 1973/74 und 1991/92, genauer: etwas vor den verbindlichen Entscheidungen zu Zeitpunkten, an denen Koalitionen und Oppositionen for­miert und die Argumentationsmöglichkeiten ausgereizt erschienen. Mehrere Beobachtungen über diesen Diskussionsverlauf geben Anregungen für erste Hypothesenbildungen und einige Folgefragen.

Abbildung 1: Anzahl von Artikeln und Sprecheräußerungen in FAZ und SZ in den Jahren 1970-1994

(a) Den politischen Entscheidungen der Jahre 1973/74 und 1991/92 ging eine mehrjährige, sich überdies deutlich steigernde öffentliche Diskussion des Entscheidungsgegenstandes vor­aus. Dies erscheint als eine Voraussetzung dafür, daß eine weitere Bedingung eines deliberati- ven Demokratiemodells erfüllt sein könnte: Die Mehrheitsentscheidung des Gesetzgebers

konnte in Kenntnis sowohl der Gegengründe ihrer Positionen als auch der Zahl und sozialen Qualität ihrer Opponenten erfolgen. Ist dies richtig, dann wäre eine notwendige Bedingung für ein zentrales Entscheidungskriterium von Deliberationstheoretikern erfüllt: "The decision re­sults from a process in which the minority point of view was also taken into consideration. Although the decision does not conform to all points of view, it is the result of the confronta­tion between them" (Manin 1987, S. 359).

Ob diese Folgerung im vorliegenden Fall berechtigt ist, läßt sich allerdings erst entschei­den, wenn zusätzliche Fragen geprüft sind: Ist es richtig anzunehmen, daß eine Pluralität von

Sprechern unterschiedlicher Lager mit unterschiedlichen Positionen zu Wort kam? Ist es rich­tig anzunehmen, daß die Mehrheitsentscheidungen der Politik dem Übergewicht der Präferen­

zen entsprachen, die öffentlich geäußert wurden? Ich werde weiter unten Antworten auf diese Fragen versuchen.

(b) Der nach den Entscheidungsphasen der Politik einsetzende bzw. sich fortsetzende Ab­schwung öffentlicher Aufmerksamkeit, gebremst noch durch Interventionen des Bundesver­

fassungsgerichts und durch die von ihm veranlaßte Korrekturarbeit des Parlaments, könnte ein Hinweis darauf sein, daß die Gesetzesentscheidungen in der Tat den dominierenden Tenden­zen öffentlicher Meinungsbildung entsprachen. Hätten sie ihnen eklatant widersprochen, so müßten Protestreaktionen eher für eine Belebung als für einen Verfall der öffentlichen Reso­nanz gesorgt haben. Dagegen ließe sich freilich einwenden, daß rationale Akteure ihren Wi­derstand gegen mißliebige Entscheidungen möglicherweise aufgeben, wenn sie schon vorher

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vergeblich viel unternommen haben, um diese zu verhindern, und nun davon ausgehen, daß weiterer Widerstand unwirksam bliebe. Eine legislative Entscheidung beschränkt, sobald sie

getroffen ist, die Chancen der Opposition - zumal dann, wenn sie nach dem zweiten Anlauf auch von den letztinstanzlichen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gedeckt ist.

Da uns kein Material von vergleichbaren Kontrollfällen zur Verfügung steht, läßt sich die Triftigkeit dieser Überlegungen nicht überprüfen. Die eigenen Daten erlauben allerdings, für den Abtreibungsfall zuverlässiger zu bestimmen, welche Bedeutung den Auf- und Abschwün­

gen öffentlicher Diskussion zukommen kann.

3. Meinungen zu Entscheidungen

In den Inhaltsanalysen der beiden überregionalen Zeitungen FAZ und SZ wurde nicht nur ermittelt, daß in dem Zeitraum von 1970 bis 1994 insgesamt 7.394 Äußerungen von Akteuren zur Abtreibungsfrage publiziert wurden. Für 1.744, also für 23,9 Prozent dieser Äußerungen

konnte darüber hinaus festgestellt werden, für oder gegen welches der diskutierten gesetzli­chen Regelungsmodelle Stellung bezogen wurde. Die unterschiedlichen Varianten, auf die dabei Bezug genommen wurde, lassen sich grob folgenden Grundmodellen zuordnen: (1) ge­nerelle Strafbarkeit der Abtreibung, (2) Indikationenregelung, (3) Fristenregelung und (4) ge­nerelle Straffreiheit. Die Modelle (1) und (2) lassen sich als "eher konservative", die Modelle (3) und (4) als "eher liberale" Grundpositionen deuten. Sie unterscheiden sich dadurch, daß in

einem Fall die Letztentscheidung über Fortsetzung oder Unterbrechung von Schwangerschaft den betroffenen Frauen vorenthalten, im anderen Falle zugebilligt wird.

Prüft man in der Datenanalyse zunächst, welche Regelungsoptionen auf der Agenda öf­fentlicher Diskussionen standen und damit - sei es zustimmend, sei es ablehnend - allgemeine Aufmerksamkeit fanden, so läßt sich Tabelle 1 entnehmen, (a) daß sowohl konservative als auch liberale Positionen, darunter auch deren Radikalvarianten, nämlich die Forderungen nach "genereller Strafbarkeit" oder aber "genereller Straffreiheit", Gegenstand öffentlicher Ausein­andersetzungen waren.

Tabelle 1: Beiträge von Sprechern zu gesetzlichen Regelungsmodellenin der Abtreibungsdiskussion (in Prozent)

Regelungsmodelle 1970-1994Welle I

1970-1977Welle II

1987-1994

1. Generelle Strafbarkeit 4,1 7,8 1,12. Indikationenmodell 39,0 38,6 35,73. Fristenmodell 53,2 51,3 58,44. Generelle Straffreiheit 3,8 2,3 4,8

N = 1.744 651 1.007

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Insofern läßt sich mutmaßen, daß für ein relativ breites Spektrum von Optionen Für und Wider ausgetauscht wurden (vgl. dazu Tabelle 2), der "Argumentationsraum" zur Abtrei­bungsfrage deshalb wohl auch relativ vollständig besetzt war. Erst wenn unsere Datenauswer­tung auch das umfangreiche Material über die in der Diskussion vertretenen "idea elements" analysierbar gemacht hat, werden wir in der Lage sein, sowohl die argumentative Reichweite der Auseinandersetzung als auch deren Entwicklung im Diskussionsverlauf bestimmen zu

können. Schon aus den Daten der Tabelle 1 geht allerdings (b) hervor, daß sich die öffentliche

Diskussion der Abtreibungsfrage etwas stärker und zunehmend mehr auf liberale als auf kon­servative Positionen bezog. Verständlich wird dies dadurch, daß es in der ganzen Debatte um eine Liberalisierung von Gesetzesbestimmungen ging, die von Teilen der Bevölkerung als zu restriktiv empfunden wurden. Wahrscheinlich entspricht es einem allgemeinen Muster, daß jene Argumente im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen, die auf eine Revision des Status

quo zielen.Für die Begründung dieser Interpretation ist es allerdings nicht hinreichend, sich auf die

Analyse von Agendadaten zu beschränken. Man muß wissen, welche Positionen zu den The­men vertreten werden, über die öffentliche Diskussion stattfindet, um entscheiden zu können, was ihr Agendarang bedeutet, ln der inhaltsanalytischen Erhebung wurden deshalb die Beiträ­ge der über die Presse öffentlich werdenden Sprecher nach einer Dreierskala klassifiziert. Be­wertungen des angesprochenen Regelungsmodells konnten dabei als "negativ", "ambivalent" oder "positiv" identifiziert werden. Die Befunde erscheinen in mehrfacher Hinsicht als in­struktiv.

Tabelle 2 informiert über die Bewertungen gesetzlicher Regelungsmodelle unabhängig vom konkreten Regelungsbezug ihrer Äußerungen, also pauschal. Zweierlei ist auch für die

Geltungsansprüche deliberativer Demokratietheorien informativ. Geht man davon aus, daß der Abtreibungsstreit sich auf ein moralisches Dilemma bezieht, in dem zwei Grundrechte, näm­

lich das Recht auf (ungeborenes) Leben und das Selbstbestimmungsrecht (schwangerer Frau­en), aufeinanderstoßen, dann mag es überraschen, daß nur 5,7 Prozent der 1.741 klassifizier­baren Beiträge zu Regelungsmodellen des Abtreibungsstreits als "ambivalent", definiert als "sowohl pro als auch contra", eingestuft wurden. Eine Vermittelbarkeit von "Entweder/oder"- Positionen drückt sich in Form von differenzierenden "Einerseits/andererseits"-Abwägungen in der öffentlichen Rhetorik kaum aus. Dies könnte einerseits an den advokatischen Strategien der Akteure liegen, die sich öffentlich äußern. Andererseits wird sicher das allgemeine Muster massenmedialer Berichterstattung für den Verlust differenzierender Zwischentöne verant­wortlich sein. Hans-Jürgen Weiß konnte eine "Polarisierung des Konflikts", nämlich "seine Reduktion auf einfache Gegensätze", als medienerzeugt in einer Studie nachweisen, in der er

unabhängig voneinander einerseits Pressemitteilungen und sonstige Statements der am Kon­flikt Beteiligten, andererseits die massenmediale Darstellung dieser Äußerungen miteinander verglich (Weiß 1989, S. 487).3 Es entspricht der "Nachrichtenwert"-Logik massenmedialer

Berichterstattung, daß ein binäres Konfliktschema von "dafür" versus "dagegen" konstruiert

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wird, mit dem die vorhandenen Differenzen zu einem aufmerksamkeitserregenden Kampf­muster stilisiert werden (Neidhardt 1994b, S. 44-47).

Insoweit sich diese Tendenz durchsetzt, verliert die öffentliche Diskussion an diskursiver Qualität. Sie wirkt für den Fortgang der Debatten dann auch eher konfliktsteigernd als kon­fliktlösend. Von Öffentlichkeit läßt sich in dieser Hinsicht deshalb kaum erwarten, daß sie zu kompromißhaften Entscheidungsbildungen direkt beitragen kann. Sie klärt vielmehr die Fronten und informiert die Akteure, die entscheiden müssen, über Art und Ausmaß der Ent­scheidungskosten. Die Konfliktbearbeitung mit dem Ziel, Entscheidungen vorzubereiten, fin­det offensichtlich weniger in der Öffentlichkeit als in den geschlossenen Verhandlungsräumen

der Politik statt.

Tabelle 2: Bewertungen gesetzlicher Regelungsmodelle im Abtreibungsstreit,1970-1994 (in Prozent)

Stellungnahmen 1970-1994Welle I

1970-1977Welle II

1987-1994

Negativ 62,7 62,0 62,8Ambivalent 5,7 7,7 4,8Positiv 32,5 30,2 32,4

N = 1.741 649 1.006

Dafür spricht auch ein weiterer Befund (vgl. Tabelle 2). Faßt man die veröffentlichten Stellungnahmen zu den diversen Regelungsmodellen zusammen, so zeigt sich, daß nur 32,5 Prozent der Äußerungen Zustimmung? hingegen 62,7 Prozent Ableimung ausdrücken. Diese

Anteile variieren in und zwischen den beiden Diskussionswellen im übrigen kaum. Der öf­fentliche Disput über die Abtreibungsfrage bestand durchgängig vor allem in der Verneinung der Optionen ihrer Regelung. Insofern erscheint Öffentlichkeit hier als "kritische Öffentlich­

keit". Sie ist vor allem eine Arena des Protests.Diese Tendenz wird noch deutlicher in den 1.004 Äußerungen, in denen Akteure, die als

Sprecher in die Öffentlichkeit traten, andere Akteure des Abtreibungsstreits direkt ansprachen

und bewerteten. Nur in 13,3 Prozent dieser Fälle fand eine positive Etikettierung, dagegen in 84,8 Prozent der Fälle eine negative Beurteilung statt (vgl. Tabelle 3). Die Repräsentation sozialer Beziehungen besitzt in massenmedialen Darstellungen einen "bias" zugunsten der Markierung von Gegnerschaften. Sachliche Zustimmung und soziale Unterstützung bleiben eher randständig. Der Beobachter der massenmedial vermittelten Diskussionen vernimmt vor allem den Streit der Kontrahenten.

Tabelle 3: Beurteilungen anderer Akteure durch Sprecherim Abtreibungsstreit (in Prozent)

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Beurteilungen 1970-1994Welle I

1970-1977Welle II

1987-1994

Sehr negativ 4,9 8,6 3,7Negativ 78,7 75,9 83,0Ambivalent 1,9 3,4 0,5Positiv 13,1 12,1 12,6Sehr positiv 0,1 0,0 0,2

N = 1.018 232 564

Wieder werden die Tendenzen, die in unserem Material deutlich werden, mit den nachrich­tenwertbestimmten Selektionsvorlieben der Massenmedien zu tun haben. "Negativismus" (Galtung/Ruge 1965, S. 69 f.) ist ein Mittel, um auf dem Publikumsmarkt Aufmerksamkeit zu erringen. Zusätzlich wird aber auch eine Rolle spielen, daß bei den Akteuren des Konflikts

eine asymmetrische Mobilisierbarkeit ihrer Attitüden in der Weise gegeben ist, daß Zustim­mung eher beruhigt und Dissens eher aktiviert. Die Neigung zu öffentlicher Akklamation wird in freien Demokratien geringer motiviert sein als der Hang zu öffentlichem Widerspruch. Hinzu kommt ein funktionales Argument: Öffentlichkeit steht nicht unter einem Entschei­

dungsdruck, muß also nicht produktiv werden, und der Konsensusbedarf ist entsprechend ge­ring. Wie auch immer erklärbar, feststellbar ist zumindest für unseren Fall, daß Bedingungen für die Entwicklung jener Konsonanzen, mit denen sich "öffentliche Meinung" als mächtige kollektive Größe darstellt, kaum gegeben waren (allgemeiner dazu: Neidhardt 1994a, S. 25­

27). Sichtbar werden vor allem Dissens und Gegnerschaft.Unter diesen Bedingungen stellt sich die Frage, in welcher Weise öffentliche Meinungsbil­

dung für politische Entscheidungsprozesse überhaupt relevant werden kann. Tabelle 4 zeigt, daß in keiner Phase konservative oder liberale Positionen, zwischen denen zu entscheiden war, mehrheitlich vertreten waren. Durchweg existierte ein deutlicher Überhang an Ableh­nung. Keine der politischen Entscheidungsoptionen erwies sich in der Öffentlichkeit als auch

nur annähernd mehrheitsfähig. Die Vorstellung Joshua Cohens von einem demokratischen Staat als "an association whose affairs are governed by the public deliberation of its members"

(Cohen 1989, S. 17) wird also schon dadurch entwertet, daß in massenmedial vermittelten Öffentlichkeiten moderner Demokratien nicht nur die Aussichten auf einen "consensus", son­

dern - das schwächere Postulat - sogar die Chancen, "to win the approval of the majority" (Manin 1987, S. 359), zumindest im Falle von Wertkonflikten strukturell nicht gewährleistet sind; dies auch dann nicht, wenn Deliberation - wie im vorliegenden Fall - Zeit hat, sich zu entfalten, und ein "issue" über Jahrzehnte hin mit einem hohen Aufwand an Für und Wider diskutiert wird.

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Tabelle 4: Meinungsverteilung zu eher konservativen undeher liberalen Regelungsmodellen (in Prozent)

Bewertungen 1970-1994Welle I

1970-1977Welle II

1987-1994

Zu eher konservativen Modellen:- negativ 64,2 61,6 66,2- ambivalent 7,6 9,9 7,0- positiv 28,1 28,4 26,8

N = 750 302 370

Zu eher liberalen Modellen:- negativ 61,6 62,5 60,8- ambivalent 4,2 5,8 3,5- positiv 34,2 31,7 35,7

N = 991 347 636

Ist mit Befunden dieser Art die Idee deliberativer Demokratie gescheitert? Nach den An­sprüchen ihrer Theoretiker hätte es im Falle der deutschen Abtreibungskontroverse weder in den siebziger noch in den neunziger Jahren eine Legitimität für politische Entscheidungen gegeben. Entsprechend ihren Maßstäben entwickelte sich aus der öffentlichen Diskussion für die Politik eine Entscheidungsfalle: Gleichzeitig mit zunehmendem Entscheidungsdruck sta­bilisierte sich der Widerstand gegen alle Entscheidungsoptionen. Hätte der Gesetzgeber unter diesen Bedingungen keine Gesetze machen dürfen? Fehlt nun den Gesetzen, die er doch be­schloß, demokratische Legitimität?

4. Entscheidbarkeitskriterien und Kompromißbedingungen

Deliberationstheoretiker könnten gegen diese Einreden geltend machen, daß die Stabilität des Dissenses im Falle der Abtreibungsdiskussion ein Ergebnis der defizienten Diskursquali­tät dieser Diskussion darstellt. Dafür lassen sich auch Evidenzen beibringen; ich selber habe die Entweder/oder-Tendenz massenmedialer Konfliktdarstellung schon als Indiz für ihre Re- flexivitätsmängel gedeutet. Diese entsprechen allerdings strukturellen Gesetzmäßigkeiten mo­derner Massenkommunikation, verweisen also auf einen Umstand, der aus den Ansprüchen einer allgemein gedachten Theorie auch dann nicht ausgeklammert werden dürfte, wenn diese Theorie sich als "normative" begreift. Begnügt sie sich mit der Feststellung eigener Irrele­vanz, wenn ihre Postulate an einer zentralen Stelle ihrer Argumentation nicht einlösbar er­scheinen? Daß diese zumindest in unserem Falle auch außerhalb der massenmedialen Grobstrukturen von Kommunikation nicht einlösbar waren, zeigt sich am Beispiel des Bun­desverfassungsgerichts, dessen exzeptionelle Abwägungsexpertise (vgl. Döbert in diesem Band) nicht ausreichte, in den eigenen Reihen Konsens herzustellen, so daß Minderheitenvo­ten entstanden.

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Auf der Suche nach Auswegen aus den Schwierigkeiten der Theorie lassen sich zwei Op­tionen veranschlagen. Der Analyse würden sich produktivere Bewertungsmöglichkeiten deli- berativer Prozesse erstens dann eröffnen, wenn die Legitimitätsmaßstäbe von "Konsensus" über "Mehrheitszustimmung" hinaus auf ein Prinzip relativen Konsenses zurückgezogen wür­den, dessen Ausprägung auch unter die absolute Mehrheitsgrenze sinken kann, solange sie die Zustimmung zu anderen Alternativen übertrifft. In Lagen, in denen die Diskursergebnisse denen des Abtreibungskonflikts ähnlich sind, erscheint dies im Rahmen der Argumentations­linien deliberativer Demokratietheorien als der einzige Weg, um zu vermeiden, daß entweder die Politik mit rigiden Legitimitätsansprüchen auf Entscheidungstabus verpflichtet und auf diese Weise paralysiert wird oder aber durch den Verzicht auf solche Ansprüche auf Kriterien

umgestellt werden muß, die die Bindung politischer Entscheidungen an öffentliche Mei­nungsbildung aufgeben. Aus dem Rahmen deliberativer Theorien führt hinaus, wenn man zweitens jene Bindung politischer Entscheidungen an öffentliche Meinungsbildung in Frage stellt, die die Politik auf den Vollzug öffentlicher Mehrheitspositionen festlegt. Eine pragma­tische Lockerung des Bindungspostulats könnte darin bestehen, die Politik nicht auf die Ab­bildung öffentlicher Meinungsverhältnisse zu verpflichten, wohl aber auf die argumentative Auseinandersetzung mit den Gründen und Gegengründen, die in der öffentlichen Kommuni­kation Gewicht erlangt haben. Dieser Relativierung dürfte die Metapher entsprechen, mit der sich Habermas (1989, S. 475) die Beziehung von Kommunikation und Entscheidung offenbar vorstellt: Öffentlichkeit besäße im Hinblick auf Politik "Belagerungs'Tunktionen "ohne Er­

oberungsabsicht". Sie präjudiziert also nicht, erzeugt aber einen Reflexionsdruck, der die machtbestimmten Mechanismen organisierter Politikvollzüge irritiert und anreichert. Für die Einrichtung solcher Differenzierungen zwischen Öffentlichkeit und Politik sprechen sowohl

speziell öffentlichkeitstheoretische als auch allgemein differenzierungstheoretische Argumen­te: (a) Einerseits erscheint es nicht zwingend, Politik auf die Übernahme öffentlicher Über­

einstimmungen - ob groß oder klein - zu verpflichten, wenn der Modus öffentlicher Kommu­

nikation schon infolge der hochselektiven Aufmerksamkeitsregeln der Massenmedien die idealisierten Qualitäten von Diskursen mit Sicherheit nicht erreicht, (b) Auch wenn er diese Qualitäten erreichen würde, müßte der Diskurs andererseits im Hinblick auf jene Gesichts­punkte unvollständig bleiben, die erst mit dem Entscheidungszwang ausdifferenzierter Poli­tikinstanzen aufkommen und die zu vernachlässigen der Qualität von Politik abträglich sein müßte.

Akzeptiert man eine der beiden skizzierten Revisionsstrategien deliberationstheoretischer Argumentation, so erlauben unsere Befunde einige Interpretationen, die im Abtreibungskon­flikt sowohl der Rationalität politischer Entscheidungsfindung als auch der Legitimierbarkeit ihrer Resultate bessere Chancen einräumen. Schon der Blick auf Tabelle 4 zeigt, daß den zwei kleinen Liberalisierungsschritten, die (moderiert durch Urteile des Bundesverfassungsge­richts) der Deutsche Bundestag beschloß, ein kleiner, aber doch deutlicher Überhang an rela­tiver Liberalisierungstendenz der öffentlichen Meinung entsprach - eine Tendenz, die zwi­schen den beiden Diskussionswellen der Jahre 1970/77 und 1987/94 noch zunahm. Der Wi­

derstand gegen konservative Positionen war etwas stärker ausgeprägt als gegen liberale Posi­

tionen.Festzuhalten bleibt freilich auch die geringe Größe dieser Differenzen. Dieser Sachverhalt

verstärkte den Druck auf die politischen Entscheidungsträger, Kompromißebenen zu suchen, auf denen Liberalisierungsschritte eingeschränkt, Reformen also dosiert werden konnten (eine

Strategie, die - siehe unten - tatsächlich auch genutzt wurde). Entscheidend ist im Hinblick darauf, daß sich aus der Wahrnehmung öffentlicher Meinungsbildungsprozesse Indizien für

Spielräume politischer Kompromißbildung ableiten ließen. Zwei Beobachtungen sind dafür einschlägig.

Zum einen zeigt bereits Tabelle 1, daß in der deutschen Debatte die Auseinandersetzung über die Radikalmodelle konservativer und liberaler Regelungspräferenzen kaum eine Rolle spielte; nur 4,1 Prozent aller Beiträge zu Regelungsmodellen bezogen sich auf die Forderung nach genereller Strafbarkeit, nur 3,8 Prozent auf die Forderung nach genereller Straffreiheit -

und nur einer kleiner Anteil von diesen Beiträgen drückte Zustimmung aus. Die weit über­

wiegende Mehrheit aller Zustimmungen bezog sich von Anfang an und in der Folge zuneh­mend auf Regelungsmodelle, mit denen sowieso schon Kompromißlösungen akzeptiert wur­den: im Falle von Indikationenregelungen die medizinisch, eugenisch, ethisch und dann auch

sozial definierten Ausnahmen vom Abtreibungsverbot, im Falle von Fristenregelungen zeitli­che Begrenzungen des Abtreibungsrechts. Die deutsche Kontroverse stellt sich so, vergleicht man sie z. B. mit der amerikanischen, als weitgehend entfundamentalisiert dar.

Zum anderen belegt Tabelle 3, daß die Auseinandersetzungen zwischen den Akteuren des Abtreibungsstreits zwar weit überwiegend kritisch geführt wurden, daß dabei aber despektier­liche oder gar denunziatorische Polemik gegen Personen, Gruppen oder Institutionen relativ selten aufkam; nur 4,9 Prozent der 1.004 nachweisbaren Etikettierungen anderer Akteure wurden als "sehr negativ" codiert. Daß sich dieser Anteil zwischen den beiden Diskussions­wellen der Perioden 1970/77 und 1987/94 von 8,6 auf 3,7 Prozent verringerte, spricht sogar für eine zunehmende Entgiftung der mit der Abtreibungsproblematik verbundenen Konflikte.

Es läßt sich also nicht nur im öffentlichen Meinungsspektrum eine Entfundamentalisierung der kontroversen Positionen, sondern in der Konfliktführung auch eine Zivilisierung der Aus­

einandersetzung registrieren. Im Laufe der Debatte sind insofern die Bedingungen für Kom­

promißbildungen nicht nur stabil geblieben, sondern eher noch gestiegen. Der mehrheitliche Widerstand sowohl gegen konservative als auch - etwas schwächer - gegen liberale Lösungen

des Konflikts bleibt erhalten, aber er erscheint nicht als völlig unvermittelbar. Mit Blick dar­auf gewinnt die weiter oben entwickelte Vermutung eine gewisse Bestätigung, daß der sich fortsetzende Rückgang der öffentlichen Debatte nach den beiden Entscheidungsphasen des Gesetzgebers (vgl. Abbildung 1) als ein Indiz für wenn nicht Akzeptanz, so doch Tolerierung der legislativen Bestimmungen gedeutet werden darf. Diese Bestimmungen konnten, Wie auch immer getroffen, nicht auf mehrheitliche Zustimmung rechnen, Ihre Inhalte wurden aber poli­tisch offenkundig so entschieden, daß der verbreitete Dissens nicht in Empörung und nachfol­gend in massenhafte Proteste umschlug. Daß diese Reaktion in einer Gesellschaft, die die

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Möglichkeit von Protest nicht unterdrückt, ausblieb, sollte mit zu rigiden Zustimmungsan­sprüchen an öffentliche Meinungsbildung nicht unterschätzt werden.

5. Akteure und Akteurskonstellationen

Bedenkt man, daß es in den Auseinandersetzungen über Abtreibungsregelungen um die politische Regulierung eines Wertekonflikts ging und daß dabei moralisch nicht vermittelbare Positionen aufeinanderstießen, dann erscheint die deutsche Entwicklung der Konfliktverarbei­

tung als außerordentlich. Daß ganz andere Entwicklungen möglich gewesen wären, demon­striert die hohe Militanz der amerikanischen Abtreibungskontroverse. Wir werden in unserem Vergleichsprojekt, sobald die amerikanischen Daten verfügbar sind, systematisch prüfen kön­nen, welche Bedingungen in den Jahren 1970 bis 1994 den Ausschlag für den sehr unter­schiedlichen Verlauf deutscher und amerikanischer Abtreibungskonflikte gaben. Schon jetzt aber lassen sich plausible Hypothesen über die Besonderheiten der deutschen Entwicklung aus unseren eigenen Daten ermitteln.

Was in der Öffentlichkeit wahrnehmbar wird, stammt von Sprechern, deren sozialer Status

und Zusammenhang für die Art und die Entwicklung von Themen und Meinungen bestim­mend sind (vgl. dazu ausführlich Gerhards in diesem Band). Die Tendenzen öffentlicher Mei­

nungsbildung lassen sich ohne Kenntnis der sozialen Infrastruktur ihrer Produzenten nicht erklären. Wer mit welcher Prominenz und Reputation auftritt, aus welchen "Lagern" er stammt, welche Allianzen er vertritt, gegen welche Konkurrenten er seine Beiträge plaziert, welche Strategien ihm in diesen Konstellationen zur Verfügung stehen - all dies ist für eine soziologische Analyse sowohl öffentlicher Kommunikationen als auch politischer Entschei­dungen ein wichtiger Rohstoff. Er ist im Hinblick auf Grundfragestellungen unseres Beitrags auch deshalb wichtig, weil die hier zur Diskussion stehende Idee deliberativer Demokratie nicht nur impliziert, daß über öffentliche Angelegenheiten in hinreichendem Maße öffentliche Diskussionen stattfinden, sondern daß dabei mit einer Pluralität von Akteuren eine möglichst vielfältige Beteiligung der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppen und Meinungslager durchgesetzt wird. Nur dies gewährleistet einerseits die Chance auf die sachliche Vollständig­keit der Argumentationen und andererseits die Wahrscheinlichkeit einer sozial repräsentativen Vertretung der vorhandenen Überzeugungen und Interessen. Die darauf hin zu behandelnde

Frage lautet also: In welchem Maße artikulierte sich in der öffentlichen Abtreibungskontro­verse eine breite Vielfalt von Sprechern der verschiedensten Ebenen und Lager - und wer wa­ren diese Akteure?

Tabelle 5 zeigt, daß die politischen Parteien die herausragenden Akteure öffentlicher Aus­einandersetzungen über Abtreibungsregelungen waren. Dies trifft vor allem für die CDU/CSU (27,5 Prozent), weniger deutlich, aber doch überdurchschnittlich auch für SPD (15,9 Prozent) und FDP (12,0 Prozent) zu. Dieser, zumindest im Vergleich zu den USA, spezifisch deutsche Ausdruck parteienstaatlicher Politikverfassung markiert - siehe unten - die entscheidende Verbindungslinie zwischen Öffentlichkeit und Politik. Er liefert allerdings auch Anhaltspunk­

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te für den vor allem von Jürgen Habermas systematisierten Argwohn gegen eine "vermachtete Öffentlichkeit", die den "zivilgesellschaftlichen" Akteuren gleichsam die Luft abdrückt (Habermas 1992, S. 429-467).

Tabelle 5: Akteure der öffentlichen Abtreibungsdiskussion mit dem Anteilihrer Beiträge zu gesetzlichen Regelungsmodellen (in Prozent)

Akteursklassen 1970-1994 Welle I 1970-1977

Welle II 1987-1994

1. Gesellschaftliche Gruppen 33,6 49,2 25,2und Organisationen

2. Politische Parteien 59,5 38,0 70,43. Legislative/Exekutive 2,1 1,7 2,44. Judikative 4,8 11,1 2,1

N = 2.734 829 1.717

In der Tat ließen sich einige Daten aus unserer Erhebung in diese Richtung interpretieren. Zwar ist in unserem Material vor allem die katholische Kirche als Hauptproponent konserva­tiver Positionen mit 196 (= 7,2 Prozent) aller 2.734 protokollierten Äußerungen (evangelische

Kirche: 2,8 Prozent) deutlich nachweisbar, aber überraschend erscheint die sehr geringe Re­präsentation der sozialen Bewegungen und Bürgerinitiativen (1,5 Prozent), von denen aus anderen Quellen bekannt ist, daß sie in der Abtreibungsfrage mit Gruppierungen sowohl der Frauen- als auch der Lebensschutzbewegung stark aktiv waren (Rucht 1994, S. 368-403). Dem widersprechen unsere Daten nun allerdings insofern nicht, als sie nicht Äußerungen und

Aktionen, sondern deren öffentliche Resonanz in überregionalen Zeitungen, also in der natio­nalen Öffentlichkeit, abbilden. Daß die stark dezentralisierten "pro choice"- und "pro iife”-

Bewegungen mit einer Fülle lokaler und regionaler Initiativen unter anderem auf die Parteien eingewirkt und in diesen eine erhebliche Rolle gespielt haben, läßt sich an der Art innerpar­teilicher Diskussionen und Kontroversen auch in unserem Material nachweisen (siehe unten). Dafür sorgten einerseits vor allem die "pro-choice"-Gruppen emanzipierter Frauen und ande­

rerseits die "pro-life"-Gruppen gläubiger Katholiken - die einen stärker in der SPD und FDP, die anderen stärker in der CDU/CSU.

Im übrigen zeigen unsere Detailergebnisse, daß sich auch Interessenverbände (4,3 Prozent - darunter besonders die berufsständischen Organisationen der Mediziner und Juristen, kaum dagegen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände) sowie die Wissenschaften (4,2 Prozent - darunter vor allem Mediziner und Juristen) in die öffentliche Debatte eingemischt haben - und in einem außergewöhnlichen Maße auch die Medien (11,8 Prozent). Wir können dies mit un­serem Material zwar nicht flächendeckend und repräsentativ, wohl aber für zwei Tageszeitun­gen belegen, die zu den politischen Meinungsfiihrern unter den Massenmedien gehören: die Frankfurter Allgemeine (6,1 Prozent) und die Süddeutsche Zeitung (5,7 Prozent), die wir in­haltsanalytisch bearbeitet haben. Journalisten haben sich jenseits ihrer reinen Chronistenarbeit

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mit eigenen Beiträgen sehr stark eingeschaltet und dem Gesamtthema Abtreibung (also nicht nur den Modellen ihrer Regelung) im Untersuchungszeitraum 1970 - 1994 insgesamt 315 Kommentare und Leitartikel gewidmet (FAZ: 182; SZ: 133). Der "zivilgesellschaftliche" Ak­teur, der sich mit eigener Stimme am massivsten in die öffentlichen Meinungsbildungen ein­mischte, bestand aus Journalisten als professionellen Beobachtern gesellschaftlicher und poli­tischer Entwicklungen. Es wird einer anderen Studie Vorbehalten sein, die Art ihres Beitrags

durch eine Inhaltsanalyse der Leitartikel und Kommentare genauer zu bestimmen. Die jetzt vorliegenden Daten über die beiden Zeitungen erlauben aber schon zwei Feststellungen, die auf einen differenzierenden Beitrag der beiden einflußreichen Medien zum speziellen Thema politischer Regelungsmodelle schließen lassen. Dies trifft insofern zu, als sie zwar deutlich unterschiedliche Vorlieben zu konservativen und liberalen Positionen ausdrückten, die FAZ zugunsten konservativer, die SZ zugunsten liberaler; in beiden Fällen war aber die Zahl kriti­scher Äußerungen zu der von ihrer eigenen "Redaktionslinie" bevorzugten Grundposition noch größer als die der zustimmenden. Die Medien bildeten insofern keinen einheitlichen Meinungsblock, sondern repräsentierten durchaus eine relativ große Bandbreite unterschiedli­

cher Positionen und Argumente.Gleichermaßen differenzierend dürften die breit abwägenden Urteile des Bundesverfas­

sungsgerichts (BVerfG) gewirkt haben (vgl. Döbert in diesem Band), die in der Öffentlichkeit

in einem beachtlichen Maße Gehör fanden. Ihre Hauptfunktion wird allerdings wohl darin bestanden haben, dem Abtreibungsdiskurs verbindliche Grenzen zu setzen, jenseits derer zu streiten sich politisch nicht lohnt. Sie haben den Spielraum verfügbarer Optionen "letztinstanzlich" festgelegt. Für die eher konservative Art seiner Grenzsetzungen ist das BVerfG. in den öffentlichen Auseinandersetzungen kritisiert worden. 43 von 54 Stellungnah­men zum Akteur BVerfG, also 79,6 Prozent, besitzen einen kritischen Gehalt. Aber es ver­wundert angesichts der einschneidenden Wirkung seiner Urteile, daß die negativen Etikettie­rungen sogar mit diesem Prozentsatz noch etwas unterdurchschnittlich liegen (Gesamtanteil von Akteursverurteilungen: 83,6 Prozent; vgl. Tabelle 3) und im übrigen in keinem Fall die Radikalität von "sehr negativ" erreichten. Das vergleichsweise hohe öffentliche Prestige des Bundesverfassungsgerichts, verbunden mit einem Bürgervertrauen, das das zu allen anderen öffentlichen Institutionen übertrifft (Walz 1996, S. 77-79), hat die Grenzsetzungen des ober­sten Gerichts zwar nicht unumstritten, aber offensichtlich hinnehmbar gemacht. Wäre es an­

ders gewesen, hätte nicht nur der Anteil der negativen Urteile, sondern auch deren Aggressivi­tät gegenüber dem Gericht höher liegen müssen.

Bilanziert man die Ergebnisse über das Partizipationsspektrum in der Abtreibungsdiskussi­on, so bleibt einerseits festzuhalten, daß eine Vielzahl von Sprechern unterschiedlicher Ebe­nen und Lager öffentlich vertreten war - dies um so mehr, als hinter den Namen von Parteien, Verbänden, Organisationen und Bewegungen, auf die hin die jeweiligen Sprecher in unserer Analyse aggregiert wurden, eine große Fülle von Personen, Untergruppen und Zirkeln steht. Es erscheint insoweit berechtigt anzunehmen, daß eine der zentralen Bedingungen des delibe- rativen Demokratiemodells in unserem besonderen Fall im wesentlichen erfüllt war. Aller-

75

dings ist andererseits auffällig, daß den politischen Parteien (anders als in den USA) eine überragend dominierende Rolle in der öffentlichen Meinungsbildung zukam. Die Frage ent­

steht: Indiziert das starke Gewicht der politischen Parteien (und die ihm korrespondierende

Randstellung der durchaus aktiven sozialen Bewegungen) in der deutschen Abtreibungsdis­kussion eine problematische Einschränkung freier Meinungsbildung? Welche Effekte lassen

sich der mächtigen Rolle der Parteien zurechnen?

6. Intermediäre Funktionen der Parteien

"Wir können", so Jürgen Habermas (1989, S. 472), "zwischen der kommunikativ erzeugten und der administrativ verwendeten Macht unterscheiden. In der politischen Öffentlichkeit

begegnen und durchkreuzen sich dann zwei gegenläufige Prozesse: die kommunikative Er­zeugung legitimer Macht ... und jene Legitimationsbeschaffung durch das politische System, mit der die administrative Macht reflexiv wird. Wie sich beide Prozesse - die spontane Mei­nungsbildung in autonomen Öffentlichkeiten und die organisierte Beschaffung von Massen­

loyalität - durchdringen, und wer wen überwältigt, ist eine empirische Frage." Haben im vor­liegenden Fall die Parteien als hochintegrierte Elemente des legislativen und exekutiven Zen­trums des politischen Systems die "freien Assoziationen", die den Kern der "zivilgesellschaftlichen Infrastruktur einer durch Massenmedien beherrschten Öffentlichkeit"

bilden (Habermas 1992, S. 431), "überwältigt"?Obwohl die politischen Parteien in der Abtreibungsdebatte zunehmend ein starkes Über­

gewicht erlangten, sprechen die Befunde unserer Erhebung gegen diese Vermutung. Schon Tabelle 6 liefert einige instruktive Hinweise. Abgesehen davon, daß sich die eher konservati­ve Attitüde der legislativen und administrativen Zentren der Politik nur mit verschwindend geringen Fallzahlen (nicht selten aus Bayern) in der Öffentlichkeit erkennbar macht, zeigen

sowohl das Aggregat der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen als auch das der politischen Parteien einen leichten "bias" zugunsten liberaler Positionen. Es spricht in unse­rem Material also nichts für die Annahme, die insgesamt massive Einmischung politischer Akteure hätte eine grobe Verzerrung der Meinungsbilder hervorgerufen, die der Beobachter öffentlicher Meinungsbildung wahmehmen kann. Allerdings weisen die Daten der Tabelle 6 auch auf Unterschiede zwischen den Akteursklassen hin, die auf die besondere Funktion poli­tischer Parteien schließen lassen. Tabelle 7 gibt dazu mehrere Informationen.

Tabelle 6: Meinungsverteilung zu konservativen und liberalen Regelungsmodellenbei gesellschaftlichen Gruppen (GG), politischen Parteien (PP) und Legislative/Exekutive (LE), 1970-1994 (in Prozent)

76

Bewertungen GG PP LE

Zu konservativen Modellen:- negativ 75,3 56,6 27,2- ambivalent 11,3 5,1 0,0- positiv 13,4 38,4 72,7

N = 320 396 11

Zu liberalen Modellen:- negativ 74,7 55,4 40,0- ambivalent 5,4 3,7 5,0- positiv 19,9 40,9 55,0

N = 296 624 20

Das Gesamtbild der Daten, die Tabelle 7 ausweist, spricht für die intermediären Funktio­nen der politischen Parteien; ihre Werte liegen durchgängig zwischen denen gesellschaftlicher Gruppen und Organisationen einerseits sowie denen der politischen Entscheidungszentren andererseits. Sie folgen dabei einem generellen Muster: Je näher eine Akteursklasse dem Ort autoritativer Willensbildung ist, um so mehr erfüllt ihre Meinungsbildung die Voraussetzun­gen für die Entscheidungsfähigkeit eines Konflikts: Die Ambivalenzen treten zurück, und die

bloße Kritik an Entscheidungsalternativen verliert in der Argumentation an Gewicht zugun­sten der Vertretung von Optionen eigener Wahl. Gleichzeitig schrumpft das Spektrum ent­

scheidungsfähiger Optionen dadurch, daß die extremen Randpositionen aus den Entschei­dungsentwürfen mehr und mehr ausscheiden. Damit geht einher, daß sich der Anteil rabiater Polemik gegen Null entwickelt; sie wird nun überflüssig. Parteien vermitteln also eine Ten­denz, mit der sich freie Meinungsbildung mit den Selektionsbedingungen verbindlicher Wil­lensbildung verbindet. Der Meinungsbildungsprozeß verliert auf diese Weise die Offenheit für radikale Varianten; er gewinnt dabei an Geschlossenheit und Entschiedenheit. Die Vermitt­lung beider heuristischen Systeme ist das Problem von Demokratien, die gleichzeitig offen

und entscheidungsfähig sein wollen. Parteien stellen in unserem Falle die Institutionalisierung darauf bezogener Vermittlungsstrukturen dar.

Tabelle 7: Positionen zu Regelungsmodellen bei gesellschaftlichen Gruppen (GG), politi­schen Parteien (PP) und Legislative/Exekutive (LE), 1970-1994 (in Prozent)

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Positionen GG PP LE

Zustimmungen 16,6 39,9 61,3Ambivalente Beiträge1 8,4 4,2 3,2Ablehnungen1 75,0 55,9 35,5Zustimmung zu Radikalmodellen2 22,6 9,1 0,0

Sehr negative Ettikettierungen anderer Akteure 5,8 4,7 0,0

1 N = Gesamtzahl der Beiträge der jeweiligen Akteure.2 N = Gesamtzahl der zustimmenden Beiträge der jeweiligen Akteure.3 N = Gesamtzahl der Beurteilungen anderer Akteure durch die Sprechergruppen.

Ob Parteien im vorliegenden Falle als Vermittlungsstrukturen tatsächlich funktioniert ha­ben, ist allerdings nicht allein daran ablesbar, daß sie in der öffentlichen Meinungsbildung offenkundig disziplinierend gewirkt und dabei für deren Anschluß an die Pragmatik politi­scher Willensbildung gesorgt haben. Die andere Seite ihrer Aufgabe liegt darin, daß sie in diese Willensbildung Überzeugungen und Argumente der gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen hineintragen, denen sie in der Arena der Öffentlichkeit begegnet sind, und auf

diese Weise die demokratische Legitimität politischer Entscheidungen erhöhen.

Wir können diese Prozesse mit unseren Daten nicht direkt abbilden, wohl aber zeigen, daß die Dynamik öffentlicher Meinungsbildung auch die Strukturen des Parteiensystems offen­sichtlich erfaßt und infiltriert hat. Die Tabellen 8 und 9 geben Hinweise darauf, welche Irrita­tionen eine mobilisierte Öffentlichkeit bei den ansonsten gut organisierten politischen

Machtblöcken ausgelöst hat.

Tabelle 8: Meinungsverteilung zu konservativen und liberalen Regelungsmodellen bei den politischen Parteien(Spaltenprozente [S %] und Zeilenprozente [Z %])

Meinungsverteilung zu konservativen Positionen Meinungsverteilung zu liberalen Modellen

Parteien

+

s % Z %

?

s % Z % S % Z % N

+

S % Z %

?

S% Z % S % Z % N

CDU/CSU

55,0

40,6

60,0

5,9

48,6

53,5 202

11,8

9,7

45,8

3,7

75,2

86,6 298

SPD

32,8

40,6

20,0

5,9

26,6

53,5 112

38,6

65,1

25,0

4,1

13,1

30,8 146

FDP

12,0

25,4

10,0

2,8

23,0

71,8 71

38,2

75,8

16,7

3,2

7,6

21,0 124

Grüne

(0,0)

(0,0)

(10,0)

(40,0)

(1,4)

(60,0) 5

9,3

60,5

8,3

5,3

3,8

34,2 38

PDS

(0,0)

(0,0)

(0,0)

(0,0)

(0,5)

(100) 1

(2,0)

(71,4)

(4,2)

(14,3)

(0,3)

(14,3) 7

N = 149 20 222 321 246 24 343 613

79

Das verwirrende Bild, das Tabelle 8 bietet, demonstriert die komplexen Konstellationen, die im Parteiensystem zur Abtreibungsfrage vorhanden waren. Erkennbar werden nun aber auch advokatorische Positionen und zwischenparteiliche Allianzpotentiale. Einerseits wird deutlich, daß von den drei Parteien, die im Gesamtzeitraum aktiv waren, die meisten Stimmen zugunsten konservativer Positionen von der CDU/CSU kamen (55,0 Prozent) und daß SPD

(38,6 Prozent) plus FDP (38,2 Prozent) die Hauptträger gesetzlicher Liberalisierungen waren. Besonders auffällig ist nun aber das Ausmaß von "dissenting votes" innerhalb der Parteien. War die FDP am geschlossensten auf Liberalisierungskurs, so zeigt sich schon bei der SPD

ein erhebliches Maß an Spaltungen. Mehr als ein Drittel der 144 Zustimmungen, die von Per­sonen oder Gruppen dieser Partei abgegeben wurden, entfielen auf konservative Positionen, und von den 146 Stimmen, die aus dieser Partei zu liberalen Positionen geäußert wurden, war fast ein Drittel ablehnend. In einem besonderen Dilemma stellte sich die CDU/CSU dar. Zwar fiel sie durch eine sehr häufige Ablehnung liberaler Positionen (86,6 Prozent) auf, gleichzeitig überwogen aber auch die kritischen gegenüber den zustimmenden Äußerungen zu den Varian­

ten des konservativen Modells (53,5 versus 41,0 Prozent). Die Mehrheitslinie der Partei erfuhr

öffentlich von den eigenen Gruppen und Mitgliedern keine mehrheitliche Akzeptanz.Die Spannungen, die dadurch in dieser Partei ausgelöst wurden sind, wie Tabelle 9 zeigt,

auch öffentlich sichtbar geworden. Nicht nur zog die CDU/CSU zwei Drittel aller Angriffe insgesamt auf sich, stand also im Zentrum der Kontroversen, Erstaunlicher ist, daß sich genau die Hälfte der Angriffe, die aus dieser Partei kamen, auf Personen und Gruppen der eigenen Partei bezog. Erkennbar werden auf diese Weise innerparteiliche Konfliktlinien, die sich ei­

nerseits zwischen CDU und CSU, andererseits (in der zweiten Diskussionswelle) zwischen ost- und westdeutschen Mitgliedern der CDU ausgeprägt hatten.

Tabelle 9: Kritische Äußerungen von Parteien über Parteienin der öffentlichen Abtreibungsdiskussion, 1970-1994 (Zeilenprozente)

Adressaten

Sprecher CDU/CSU SPD FDP Grüne N

CDU/CSU 50,0 19,5 29,7 0,8 100 118SPD 80,2 6,6 13,2 - 100 121FDP 68,8 11,3 13,8 6,2 100 80Grüne 63,6 27,3 9,1 - 100 12

N = 218 43 63 7 331

Erkennbar werden in unserem Material also nicht nur die starke Besetzung des öffentlichen Meinungskampfes durch politische Parteien, sondern auch die Infektionen, die die öffentli­chen Verwicklungen der Parteien ihnen selbst einbrachten. Unter dem Druck einer starken Moralisierung des Abtreibungsstreits in der öffentlichen Diskussion gerieten die Parteifüh­rungen in die Lage, den Fraktionszwang bei parlamentarischen Abstimmungen aufheben zu müssen. Damit einher ging eine öffentlich sichtbare Diversifizierung der Positionen innerhalb

80der Parteien. Die Konflikte, die die Parteien austrugen, waren dann auch in erheblichem Maße Konflikte in den eigenen Reihen.

Wahrscheinlich sind diese parteiinternen Differenzen einer reflexiven Verarbeitung funda­mentaler Meinungsverschiedenheiten eher dienlich gewesen. Man kann erkennen, daß sich durch die "Kreuzung der sozialen Kreise" von Öffentlichkeit und Politik auch eine Öffnung

und Intensivierung des Konflikts bei der politischen Willensbildung ergeben haben muß, die die üblichen Blockbildungen durcheinander brachten. Einer blanken "Vermachtung" der Öf­fentlichkeit widersprach eine gewisse "Moralisierung" der Politik. Insofern ist trotz der auf­

fällig starken Rolle der Parteien im öffentlichen Abtreibungsstreit nicht davon auszugehen,

daß diese die gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen in der Kommunikation "überwältigt" (Habermas) hätten. Auf allen Seiten lassen sich die Spuren diskursiver Ausein­andersetzungen erkennen. Der Disziplinierung massenmedial verbreiteter "Deliberation" ent­sprach deren Einfluß auf die politische Willensbildung. Die Durchdringung beider Sphären konnte in Richtung sowohl einer Entfundamentalisierung von Moralansprüchen als auch einer Wertebindung pragmatischer Entscheidungsprozesse wirksam sein - dies eine Bedingung da­

für, daß über Etappen hin nicht nur Kompromisse gefunden werden konnten, sondern für die­

se auch wenn nicht Akzeptanz, so doch ein Maß an Respekt erreicht wurde, das ausreichte, dem Widerstand der Öffentlichkeit die Empörung zu nehmen.4

7. Konfliktlösungen durch Kompromiß

In Deliberationstheorien ist merkwürdig wenig, wenn überhaupt, von den demokratischen Funktionen des Kompromisses die Rede. Die Idealisierung von Konsens führt zu einer Ge­ringschätzung von Kompromiß. Er erscheint gegenüber dem vernunftsichernden "arguing"

von der minderen Dignität eines bloßen "bargaining". Der Vernunft des Kompromisses läßt

sich freilich nicht entraten in den empirisch überwiegenden Fällen von Dissens, wo dennoch entschieden werden muß. Wie kann Legitimität von Entscheidungen unter solchen Bedingun­gen entstehen ohne den Versuch, in diesen Entscheidungen auch den Respekt vor den Positio­nen der Minderheiten (oder - wie in unserem Fall - gar Mehrheiten) praktisch auszudrücken,

deren Ansprüchen man nicht folgt? Auch das Wissen um die Fehlbarkeit des eigenen An­spruchs verleiht der Kompromißbildung jenseits strategischer Kalkulationen einen normativen Sinn, den die Analyse folgenreich verpaßt, wenn sie diesen Prozeß nur der Logik von Ge­schäftsabschlüssen zuordnet. Deliberationstheorien bleiben unterkomplex, wenn sie diese Form der Konfliktlösung, die für die Praxis demokratischer Politik unausbleiblich und zentral ist, aus demokratietheoretischen Bestimmungen ausklammern.

Die differenziert abwägenden Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts bieten ein gutes Muster für die normative Bestimmbarkeit gesetzlicher Entscheidungen (vgl. Döbert in diesem Band). Sie verweisen dabei auf Optionen, die unter strategischen Gesichtspunkten das Argumentationsfeld um einige Dimensionen erweitern und damit zusätzliche Balancie­rungschancen zwischen gegensätzlichen Positionen eröffnen. Gemeint sind flankierende

81

Maßnahmen zur Abtreibungsregelung, die schon früh in der öffentlichen Diskussion aufka­men, in der zweiten Diskussionswelle eine deutlich zunehmende Aufmerksamkeit fanden und deren Diskussionsanteil im gesamten Beobachtungszeitraum die Größenordnung von fast ei­nem Drittel jener Beiträge ausmachte, die zu den bisher ausschließlich behandelten gesetzli­chen Grundmodellen in unserem Material vorliegen: nämlich Äußerungen über soziale Hilfen,

Beratungsregelungen und Kostenfragen. Vor allem die Parteien haben diese Aspekte verhan­delt und in der Öffentlichkeit argumentativ vertreten.

Sie gewannen in dem Konflikt deshalb Bedeutung, weil mit ihnen zusätzliche Möglichkei­ten der Kompromißbildung aufkamen. Soziale Hilfen (am Rande auch Reformen des Adopti­onsrechts) wurden ins Spiel gebracht, um den betroffenen Frauen die Alternative zur Abtrei­bung subjektiv überzeugender darstellen zu können; dies fand, weil es schwer fällt, etwas ge­gen soziale Hilfen zu äußern, in der öffentlichen Diskussion fast nur Zustimmung, führte also Konsensuselemente ein, die den Streit um die Hauptsache vielleicht etwas entschärfen konn­ten. Beratungs- und Kostenregelungen konnten genutzt werden, um die Freiheit betroffener

Frauen, über Abbruch oder Nichtabbruch von Schwangerschaft allein und ohne Nachteil ent­scheiden zu können, mehr oder weniger einzuschränken. Ohne an dieser Stelle auf Details einzugehen, läßt sich feststellen, daß Vorschriften über Pflichtberatungen (mit gezielter Dar­

legung der Schutzansprüche ungeborenen Lebens) und Kostenregelungen für medizinische Eingriffe (mit am Ende restriktiven Überwälzungschancen) eingesetzt wurden, um die Libe­

ralisierungstendenz zu dosieren, die sich zuerst mit der Ausweitung des Indikationenmodells,

sodann mit dem Wechsel zum Fristenmodell durchsetzte. Um die Tendenz zugunsten der Ent­scheidungsfreiheit der Frau kompromißfähig zu halten, wurden durch die Definition von

Randbedingungen für die Nutzung ihrer grundsätzlich erweiterten Rechte Erschwernisse ein­gebaut. Dies wurde auf Druck des Bundesverfassungsgerichts im übrigen zusätzlich durch die kompromißstrategisch geniale Gesetzesformulierung komplettiert, Abtreibung (innerhalb des ersten Drittels der Schwangerschaft) sei zwar gesetzwidrig, bleibe aber (bei Einhaltung be­stimmter Verfahrensbedingungen) straffrei. Durch Ausweitung des Diskussions- und Ver­handlungsraums über die Grundtypen der Abtreibungsregelungen hinaus konnte auf diese Weise die Abwägung diskrepanter moralischer Ansprüche raffiniert werden. Dies wirkte, wie

unser Material zeigt, zugunsten der Hauptopponenten grundsätzlicher Liberalisierungstenden­zen (also vor allem der Mehrheit der CDU/CSU sowie der katholischen Kirche), besaß also Funktionen eines Ausgleichs. Daß dieser nicht nur durch "bargaining"-Kalküle bestimmt war,

zeigen am überzeugendsten die Argumentationen des Bundesverfassungsgerichts.Mit Sicherheit wurden Kompromißpraktiken dieser Art, die mit erheblichem Kommunika­

tionsaufwand und bis in technische Details hinein austariert wurden, nicht in der Öffentlich­

keit erfunden, sondern auf der "Hinterbühne" abgeschirmter Verhandlungsräume bedacht und abgestimmt. Insofern deren Ergebnisse und Zwischenergebnisse aber öffentlicher Mei­nungsbildung zugeführt und dann auch öffentlich diskutiert wurden - und dies war der Fall

"verschränken sich ... Diskurse und Verhandlungen", und "strategisches" und "normregulier­tes Handeln" durchdringen einander (Habermas 1992, S. 412, 409). Nur unter dieser Bedin­

82

gung war es im vorliegenden Fall möglich, daß die öffentliche Resonanz auf die politischen Abtreibungsentscheidungen zwar nicht Akzeptanz, wohl aber ein für den Rechtsfrieden hin­reichendes Ausmaß an Toleranz anzeigte: Die Widerstände wurden moderater und gingen

zurück.

8. Einige theoretische Folgerungen

Bevor sich am Ende der theoretische Ertrag der empirischen Analyse bilanzieren läßt, ist es unerläßlich, noch einmal die Besonderheiten des außerordentlichen Falles zu markieren, auf den sich die Untersuchung mit ihren Daten bezog. Das "issue", dessen öffentliche Diskussion und politische Entscheidung hier beobachtet wurden, betraf die gesetzliche Regelung einer moralischen Frage, und die Konflikte, die sich mit ihrer Erörterung verbanden, waren Wert­konflikte von dilemmatischer Ausprägung. Das bestimmte die Auswahl an Akteuren, die sich zu dem Gegenstand des Konflikts mobilisierten, verfestigte deren Positionen, gab ihrem Streit eine besondere Schärfe und sicherte ihm über eine beträchtliche Zeitspanne hinweg auch ein

relativ hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit. Will man an diesem speziellen Fall etwas lernen, dann müssen die Grenzen der Verallgemeinerbarkeit der empirischen Ergebnisse an seinen Besonderheiten bestimmt werden.

Folgt man dabei einem Bezugsrahmen, der mit zentralen Fragestellungen einer deliberati-

ven Demokratietheorie abgesteckt ist, so geben unsere Befunde Anlaß sowohl für Relativie­rungen ihrer Geltung als auch für Revisionen einiger ihrer Inhalte. Sie belegen dabei aber ebenso die prinzipielle Anwendbarkeit und Prüfbarkeit von Perspektiven deliberativer Demo­kratietheorie. Dabei ist einzurechnen, daß mit der vorliegenden Analyse die Möglichkeiten

unseres Erhebungsmaterials noch nicht vollständig erschlossen werden konnten. Es ist späte­ren Auswertungen anderer Projektmitglieder Vorbehalten, die zahlreich erhobenen "idea ele­ments", die von den Akteuren des Abtreibungsstreits zur argumentativen Begründung ihrer Positionen eingebracht wurden, auf die inhaltlichen Aspekte des Abtreibungs"diskurses" zu beziehen und dabei deren Wandel auch auf die Frage hin zu untersuchen, ob und in welcher Hinsicht kollektives "Lernen" stattgefunden hat. Die noch ausstehende Analyse von Akteurs­daten wird es unter anderem ermöglichen, den Medieneinfluß im Abtreibungsstreit zuverläs­siger bestimmen zu können. Schließlich wird der systematische Vergleich mit den amerikani­schen Daten, sobald diese vorliegen, eine genauere Bestimmung der institutionellen und kul­turellen Bedingungen des deutschen Falles gestatten. Bezieht man die hier vorgelegten Daten

auf Fragestellungen deliberativer Demokratietheorien, so lassen sich dennoch einige Ergeb­nisse festhalten.

1. Im Abtreibungsfall kam es zu einer relativ starken und untypisch dauerhaften Mobilisie­rung einer breiteren, massenmedial sichtbaren Öffentlichkeit; damit war eine erste Bedingung für alle weiteren Möglichkeiten deliberativer Prozesse erfüllt. Dies ergab sich aber aus Beson­

derheiten des "issue", die den Nachrichtenwert der Ereignisse, die sich mit ihm verbanden,

auch für die Relaisinteressen der Massenmedien erzeugten. Es wird nicht viele Themen geben,

83

die in gleicher Weise die Chance haben, über Jahre hin Gegenstand öffentlicher Meinungsbil­

dung zu sein. Bedeutet dies eine erhebliche Einschränkung der Geltung deliberativer Demo­kratietheorie? Insoweit die Selektivitätsgesetze der Massenmedien auf die Marktbedingungen kollektiver Aufmerksamkeitserzeugung bezogen sind, werden politische Themen nicht nur ihre Bedeutung als "öffentliche Angelegenheit", sondern auch ihre Marktgängigkeit als Un­terhaltungsstoff erweisen müssen, um sich in der Öffentlichkeit festzusetzen. Dem läßt sich

politisch nachhelfen, z. B. durch überraschende Aktionen und einfallsreiche Protestinszenie­rungen sozialer Bewegungen. Aber es bleibt zu berücksichtigen, daß in den Zusammenhang von politischer Bedeutung und öffentlicher Aufmerksamkeit Faktoren intervenieren, die für

die empirische Geltung deliberativer Demokratieansprüche restriktiv sind. Gleichwohl bele­gen Fälle wie der Abtreibungsstreät die (außerordentlich voraussetzungsvolle) Möglichkeit ihrer Geltung, und indem die politischen Institutionen dies wissen können, erhält sich ihre Sensibilität gegenüber einem politischen Publikum der Bürger, dessen Mobilisierbarkeit sie

abschätzen, aber nicht genau ausrechnen können.2. Auch wenn Deliberation stattfindet, ist es unwahrscheinlich, daß sie die Qualität jener

Diskurse erreicht, von denen sich die Theorie die entscheidenden Rationalitäts- und Legitimi­tätsgewinne verspricht. Im vorliegenden Fall konnte angenommen werden, daß die Hetero­genität der Akteure ein großes Spektrum von Einstellungen, Gesichtspunkten, Thesen und Begründungen aufbrachte, die den "Argumentationsraum" in der Abtreibungsfrage anreicher­ten und im wesentlichen vielleicht sogar vollständig machten. Man konnte auch als durch­schnittlicher Beobachter der Abtreibungsdiskussion alles wissen, um die eigenen Präferenzen zu begründeten Meinungen entwickeln zu können. Andererseits konnte die Art der öffentli­chen Diskussion ratlos und am Ende dann auch indifferent machen, da sie sich weniger auf die Begründung von Positionen als auf deren Kritik und Entwertung spezialisierte und dabei

der Formgebung vermittelnder Ambivalenzen wenig Raum gab. Die wiederum Von der Nach­richtenlogik der Medien beförderte Tendenz einer Polarisierung vorhandener Differenzen ver­band sich mit einer Tendenz zur gegenseitigen Paralysierung aller Positionen,

3. Mag man den "Negativismus" öffentlicher Meinungsbildung als Gegenpol zur Borniert­heit politischen Managements dennoch produktiv finden, so kann man nicht gleichzeitig von der Öffentlichkeit erwarten, daß sie selber kollektive Einverständnisse erzeugt. Im vorliegen­

den Fall entstand in lang anhaltenden Diskussionen weder ein Konsens noch eine Mehr­heitspräferenz für eine der konkurrierenden Grundpositionen der Abtreibungsregelung. Damit verweist unser Fall auf eine systematische Schwachstelle deliberativer Theorien: Wenn die

von ihnen eingeforderten öffentlichen Diskurse gleichzeitig einen Entscheidungsdruck und eine Etttscheidungsblockade dadurch ergeben, daß alle Optionen politischer Entscheidung zwar ausgiebig behandelt, aber mehrheitlich verworfen werden, wie soll dann Legitimität nach den Maßstäben der Deliberationstheoretiker überhaupt noch entstehen? Bindet man

Legitimität an Konsens, mangelt es der Theorie an Legitimitätskriterien, wenn Konsens nicht erreicht wird - und dies wird unter den Strukturbedingungen massenmedial gesteuerter Öf­fentlichkeit bei den meisten Themen die Regel sein. An dieser Stelle sind Revisionen der

84

Theorie fällig, die kaum vermeiden können, entweder ein Prinzip relativen Konsenses in dem Sinne zu akzeptieren, daß Zustimmungen auch unterhalb der absoluten Mehrheitsschwelle dann anerkannt werden, wenn sie höher liegen als die Zustimmungen zu ihren Alternativen - oder aber das Postulat aufzugeben, das die politischen Entscheidungsformate an öffentliche Übereinstimmungen - kleine oder große - bindet. In jedem Fall gerät die Politik in die Lage,

entscheiden zu müssen, auch wenn sie die öffentliche Meinung nicht hinter sich weiß. Ihre Legitimität entscheidet sich dann daran, ob sie die Gründe, die die öffentliche Diskussion stark macht, ernst nimmt - nicht daran, daß sie ihnen folgt. Ob sie auch in diesem Falle die Bürger letztlich doch überzeugen kann, wird in Wahlen abgerechnet.

4. Kann man mit der Wahrscheinlichkeit von Konsens weder in den öffentlichen Mei­nungsbildungsprozessen noch zwischen diesen und politischen Entscheidungsprozessen rech­nen, dann wird eine Kategorie wichtig, die in deliberativen Demokratietheorien kaum bedacht wird: die des Kompromisses. Je unvollständiger nämlich die Übereinstimmungen zu bestimm­

ten Fragen allgemeiner Bedeutung sind, um so mehr stellt sich auch jenseits entschei­dungspragmatischer Kalküle die normative Frage nach Formen, Strategien und Trägern der

Vermittlung sowohl von Mehrheits- und Minderheitspositionen als auch, genereller noch, von Öffentlichkeit und Politik. In unserer Analyse konnte gezeigt werden, mit welchen Balancie­

rungsstrategien auch im vorliegenden Fall eines Wertekonflikts Kompromisse konstruiert wurden, welche Akteure daran beteiligt waren, auf welche Weise zwischen ihnen eine Ver­schränkung von Meinungs- und Willensbildungsprozessen stattfand und wie dann auch zu erklären ist, daß die getroffenen politischen Entscheidungen mehrheitlich toleriert wurden. Das Ausmaß an Legitimität, das dabei entstand, läßt sich ohne den Einbau einer Theorie des Kompromisses in die Theorie deliberativer Demokratie weder erkennen noch würdigen.

85

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Freiburg, München.Walz, D. (1996): "Vertrauen in Institutionen in Deutschland zwischen 1991 und 1995." In:

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ren." In: M. Kaase/W. Schultz (Hg.): Massenkommunikation. Theorien, Methoden, Befunde. Sonderheft 30 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Opladen, S. 473­489.

87

Anmerkungen

1 Die in diesem Beitrag verwendeten Daten entstammen der deutschen Teilstudie eines für die Bundesrepublik und die USA ländervergleichend durchgeführten Projekts über

"Strukturen und Prozesse öffentlicher Meinungsbildung am Beispiel des Abtreibungskonflikts 1970-1994" (vgl. Gerhards/Lindgens 1995; vgl. Gerhards in diesem Band). Die amerikanische Teilstudie wird von William A. Gamson und Myra Marx Ferree durchgeführt. In der Abtei­lung "Öffentlichkeit und soziale Bewegung" des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialfor­schung (WZB) waren Jürgen Gerhards, Monika Lindgens, Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht für den deutschen Part verantwortlich. Eine umfassende Darstellung der deutschen Be­funde wird gegenwärtig vorbereitet. Die deutsch-amerikanischen Vergleichsanalysen werden

ab 1997 publiziert.Ich danke Jürgen Gerhards, Monika Lindgens und Dieter Rucht; sie haben sich bei dem

außerordentlich aufwendigen Erhebungs- und Kooperationsmanagement viel stärker einge­

setzt als ich. Die Codierleitung der Inhaltsanalyse lag bei Barbara S. Franz. Andreas Dams war für die schwierige Datenbankorganisation zuständig und hat mich zuverlässig und pro­

fessionell mit dem Material versorgt, das ich von ikrn abgefragt habe.2 Die an dieser und an einigen weiteren Stellen auftretenden Datendifferenzen zu den

Berechnungen, die Jürgen Gerhards in diesem Band vorstellt, ergeben sich aus unterschiedli­chen Fragestellungen und Analyseinteressen. Sie beruhen einerseits darauf, daß zum Teil un­gleich große Mengen von Aussagen den Prozentwerten zugrunde liegen; dies geht aus den jeweiligen Kontexten hervor. Sie beruhen andererseits darauf, daß in diesem Beitrag an späte­rer Stelle in der Absicht, Parteien als intermediäre Institutionen zu behandeln, die Beiträge

von Mitgliedern und Untergruppen der Bundestagsfraktionen dem Akteur "Parteien" zuge­schlagen werden, bei Gerhards aber dem Akteur "Legislative" zugeordnet bleiben. Aus diesen Differenzen ergeben sich allerdings keine unterschiedlichen Deutungszwänge. Die Befunde beider Beiträge erscheinen dort, wo sie miteinander vergleichbar sind, als komplementär.

3 Wir werden nach weiteren Analysen unserer Daten imstande sein, den gleichen Zu­sammenhang zu kontrollieren. Mit "Sprechern", die sich zur Abtreibungsfrage äußerten, wur­den Interviews durchgeführt, und von ihnen wurde Material (Broschüren, Flugblätter, Pres­

semitteilungen etc.) gesammelt, das über ihre Positionen im Abtreibungsstreit authentisch Auskunft gibt. Die Ergebnisse dieser Auswertung lassen sich dann mit den Positionsdarstel­lungen vergleichen, die diese Sprecher in der von uns erhobenen Presse gefunden haben. •

4 Es wird mit diesen Überlagerungen und Annäherungen Zusammenhängen, daß Jürgen

Gerhards in seiner Analyse zwischen den "Akteuren des Zentrums des politischen Systems" und den "Akteuren der Peripherie des politischen Systems" zwar Differenzen im Sinne seiner Hypothesen feststellen konnte, diese aber geringer als erwartet ausfielen.

Soziale Positionierung und politische Kommunikation am Beispiel der öffentlichen Debatte über Abtreibung

Jürgen Gerhards

1. Theoretischer Rahmen

Politische Akteure, die sich an öffentlichen Diskussionen beteiligen, nehmen unterschiedli­

che Sozialpositionen ein. Sozialpositionen - so die klassische Definition von Ralf Dahrendorf (1964) - sind nicht substantiell aus sich selbst heraus bestimmt, sondern werden gleichsam extern durch das Beziehungsnetz festgelegt, das an soziale Positionen geknüpft ist und durch das die jeweilige Position erst definiert wird. In diesem Sinne erklärt Dahrendorf soziale Po­sitionen als Orte im Koordinatensystem sozialer Beziehungen (Dahrendorf 1964, S. 30). Mit jeder sozialen Position sind Rollenerwartungen verbunden, die sich aus der Verflechtung der jeweiligen Position mit den anderen Positionen eines sozialen Feldes ergeben. Rollen sind

Bündel von Verhaltenserwartungen, die an soziale Positionen geknüpft sind und deren Einhal­

tung meist durch Sanktionen sichergestellt wird. Soziale Positionen, Rollen und die mit diesen Rollen verbundenen Sanktionen können in einem unterschiedlichen Ausmaß expliziert und definiert sein. Dahrendorf betont, daß die durch das Recht bestimmten Positionen, Rollen und Sanktionen sich durch einen hohen Grad an Explikation auszeichnen. Die durch das Recht

definierten Positionen und Rollen bezeichnen in relativ klarer Weise das Beziehungsfeld ein­zelner Positionen sowie die mit den Rollen verbundenen Handlungserwartungen und Sanktio­nen, die zu rollenkonformen Handlungen motivieren. Aus der Perspektive der Positionsinha­ber und Roilenspieler kann gesagt werden, daß die "Constraints" - und damit die Handlungs­und Gestaltungsmöglichkeiten rechtlich definierter Sozialpositionen und Rollen - klar Umris­sen sind.

Für die Sozialpositionen, Rollen und Sanktionen der Akteure des politischen Systems (im engeren Sinne) der Bundesrepublik gilt nun, daß sie in hohem Maße rechtlich kodifiziert sind. Das Grundgesetz und die hieraus abgeleiteten Verfahrensvorschriften bestimmen die meisten der einzelnen Sozialpositionen sowie das Geflecht der Beziehungen untereinander, die Regeln des Verfahrens der Positionseinnahme, die Rollenerwartungen, die mit den einzelnen Positio­nen verbunden sind, und die Sanktionen.

Das Gesamtgefüge aller Positionen und Rollen im Bereich der Politik wird seit Talcott .Par­sons auch als das politische System bezeichnet. Man hat den Eindruck, daß die Theoretiker

des politischen Systems heute ganz vergessen haben, in welch starkem Maße die Systemtheo­rie ursprünglich mit der Rollentheorie verknüpft war und damit der abstrakten Systemtheorie

. 2 ein konkretes und empirisch besser operationalisierbares Unterfutter hinzufügte. Das Ge­samtgefüge der Sozialpositionen des politischen Systems kann selbst wiederum zu einer Struktur geordnet werden, indem man verschiedene Positionen aggregiert, zu Teilbereichen zusammenfaßt und diese dann als Teilsysteme des Teilsystems des politischen Systems be-

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zeichnet. In der politikwissenschaftlichen Literatur ist eine Vielfalt solcher Ordnungsversuche zu finden, die zwar mit unterschiedlichen Begriffen operieren, in der Sache aber häufig ähnli­

ches beschreiben. Die meisten dieser Klassifikationsversuche sind inspiriert durch die Adapti­on und Ausarbeitung der Parsonianischen Systemvorstellung von Politik durch David Easton (1965; 1990). Easton aggregiert die verschiedenen Sozialpositionen des politischen Systems

entlang einer Einteilung des Prozesses der Politikherstellung. Ausgehend von der Sozialposi­tion der Bürger des politischen Systems, werden deren Interessen über die Akteure der Inter­essenartikulation (Bewegungen, Interessengruppen) transportiert, von den Parteien aggregiert, von der Legislative in Policies übersetzt, von der Exekutive entschieden und von der Admini­stration als kollektiv verbindlich für die Bürger durchgesetzt. Eine solche - entlang des Pro­zesses von "Input", "Throughput" und "Output" festgelegte - Einteilung ist von Dieter Fuchs in einer Metatheorie des demokratischen Prozesses weiter verfeinert worden (vgl. Fuchs 1993, S. 32 ff.)?

Aber auch in der aus einer ganz anderen Theorietradition entwickelten Vorstellung der Struktur eines demokratischen politischen Systems von Jürgen Habermas (1992, S. 399 ff.) ist eine Einteilung der zu Teilsystemen aggregierten Sozialpositionen entlang des Policy- Prozesses auszumachen. Habermas nimmt Modellvorstellungen von Bernhard Peters (1993) auf, unterscheidet zwischen dem Zentrum und der Peripherie des politischen Systems und differenziert die Peripherie nochmals in eine Input- und eine Outputperipherie. Das Zentrum selbst besteht aus der politischen Verwaltung, der Regierung, dem Gerichtswesen und dem

parlamentarischen Komplex inklusive Parteien. Die vier Sozialpositionen des Zentrums sind selbst wiederum entlang der Entfernung zur Input- bzw. Outputperipherie geordnet. Auf der Outputseite der Peripherie befinden sich die organisierten Spitzenverbände, mit denen das Zentrum in korporatistischer Manier die Entscheidungen umsetzt, die die Implementierung von Entscheidungen aber auch blockieren können. Auf der Inputseite der Peripherie, von der aus Interessen und Themen definiert werden, lokalisiert Habermas den Bereich der Öffent­lichkeit. Dieser wird idealiter von Sozialpositionen der Interessengruppen und vor allem von den freien Assoziationen der Bürger beherrscht, die zusammen den Bereich der Zivilgesell­schaft ausmachen. Wird die Inputseite der Peripherie jedoch von den Akteuren des Zentrums des politischen Systems dominiert, spricht Habermas nicht mehr von einer autochthonen, son­dern von einer vermachteten Öffentlichkeit. Die Sozialpositionen des vorpolitischen Raums,

der Peripherie also, unterscheiden sich von den Sozialpositionen des Zentrums durch einen geringeren Grad an rechtlicher Definition der Positionen und der damit verbundenen Rollen, durch einen geringeren Grad an Organisationsförmigkeit und - so Habermas' Hoffnung -

durch eine andere Art der Kommunikation. Das Zentrum ist spezialisiert auf die Herstellung von Entscheidungen, die Peripherie hingegen auf die kommunikative Vorbereitung und die Abnahme von Entscheidungen.

Von der sozialstrukturellen Lagerung involvierter Akteure - bestimmbar durch Position und Rolle - und ihrer Aggregation in Teilsysteme, wie man sie sowohl bei Easton als auch

Habermas findet, kann die Kommunikation von Akteuren, die die jeweiligen Positionen ein-

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nehmen, unterschieden werden. Politische Akteure beteiligen sich an der öffentlichen Dis­kussion über politisch entscheidbare Streitfragen, um Einfluß auf den Entscheidungsprozeß über Themen zu nehmen. Sie fokussieren bestimmte Themen unter Vernachlässigung anderer Problemstellungen, beziehen Positionen zu den Themen, machen Vorschläge für die Behand­lung von Themen und versehen manchmal all dies mit Argumenten zur Stützung ihrer The­men, Positionen und Vorschläge. Da die Massenmedien die Öffentlichkeitsarena darstellen,

die sowohl von den anderen politischen Akteuren als auch von den Bürgern am häufigsten als Beobachtungs- und Informationssystem benutzt wird, versuchen politische Akteure, ihre kommunikativen Beiträge vor allem hierüber zu lancieren.

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen öffentlichen Kommunikationen einerseits und der sozialstrukturellen Verortung der Sprecher durch ihre Zuordnung zu Teilsystemen der Politik andererseits soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Typologien von

Teilsystemen des politischen Systems machen letztendlich nur dann Sinn, wenn sie helfen, das Handeln von Akteuren zu erklären. Die Beschreibung von bestimmten Sozialpositionen, Rollen und daraus gebildeten Teilsystemen ist mit der Vorstellung verbunden, daß die Positi­

ons- und Rolleninhaber auch so handeln, wie es auf der Basis der Positions- und Rollendefi­nition erwartbar ist. In diesem Sinne kann von der Vermutung ausgegangen werden, daß sich die Art der politischen Kommunikation aus der sozialstrukturellen Positionierung des Spre­chers in der Kommunikation ergibt: Die möglichen Themen, die er anspricht, die Positionen, die er vertritt, die Lösungen, die er vorschlägt, und die Argumente, die er benutzt, sind einge­grenzt durch die strukturellen "Constraints" seiner Position und seiner Rolle.

Diese allgemeine Annahme soll im folgenden für die zu Teilsystemen des politischen Sy­stems aggregierten politischen Akteure spezifiziert und dann anhand der Auswertung einer Inhaltsanalyse der öffentlichen Diskussion über Abtreibung in der Bundesrepublik exempla­

risch überprüft werden. Dabei steht das Thema Abtreibung selbst nicht im Fokus der Analyse; vielmehr werden die Debatten über Abtreibung als Beispiel für eine Überprüfung von forma­len Hypothesen benutzt.

2. Fragestellungen, empirische Operationalisierung und Ergebnisse

Empirische Grundlage der folgenden Ausführungen bildet eine Inhaltsanalyse der öffentli-. # 4chen Debatte über Abtreibung in der Bundesrepublik in der Zeit von 1970 bis 1994. Inhaltsa­

nalytisch erhoben wurde die Berichterstattung über Abtreibung in den beiden überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine (FAZ) und Süddeutsche Zeitung (SZ).

Neben einer Codierung von Informationen auf der Basis von Artikeln haben wir zusätzlich eine Codierung der in einem Artikel vorkommenden Aussagen von Akteuren durchgeführt. Das Definitionskriterium für die Existenz einer Aussage war dabei formaler Art: die Identifi­kation eines Akteurs, der entweder in direkter Rede (in Anführungszeichen) oder indirekt zu Wort kommt. Innerhalb der Klasse aller so erhobenen Aussagen haben wir drei inhaltlich spezifizierte Arten unterschieden, wovon zwei für unsere Fragestellung von Relevanz sind.

92

Zum einen haben wir die Thematisierung politischer Regelungsmodelle sowie die Positio­nen, die Akteure dazu einnehmen können, erhoben. Öffentliche Diskussionen in Demokratien

sind, so die im ersten Abschnitt erläuterten Modelle des Policy-Prozesses, kein Selbstzweck, sondern werden geführt, um Einfluß auf die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidun­gen zu nehmen. Entschieden werden sollen letztendlich konkrete gesetzliche Regelungsmo­delle von Problemen, die zur Abstimmung anstehen, von der Verwaltung durchgesetzt und manchmal von der Judikative überprüft werden. Dabei haben wir zwischen der Thematisie­rung unterschiedlicher Regelungsmodelle und der Position, die ein Akteur zu den Regelungs­modellen einnimmt, differenziert. Die Anzahl der in der Diskussion befindlichen gesetzlichen Regelungsmodelle des § 218 kann entlang von vier Grundpositionen klassifiziert werden, die

von restriktiv bis liberal reichen: 1. generelles Verbot/ Strafbarkeit der Abtreibung; 2. Indika­tionenregelung; 3. Fristenregelung; 4. ersatzlose Streichung des § 218/generelle Straffreiheit bei Abtreibung. Die verschiedenen konkreten gesetzlichen Regelungsmodelle, die von Akteu­ren thematisiert werden, haben wir innerhalb dieser Grundpositionen plaziert. Sie bilden die Variablenausprägungen. Neben der Thematisierung von gesetzlichen Regelungsmodellen, die

durch die vier Grundpositionen abgebildet werden, äußern sich die Akteure darüber hinaus zu

verschiedenen, vor allem sozialpolitischen Maßnahmevorschlägen, die wir ebenfalls unter der Variable "Politische Regelungsmodelle" erhoben haben.

Neben der. Erhebung von politischen Regelungsmodellen, die Akteure thematisieren und

bewerten, bilden sogenannte Idee-Elemente eine weitere Klasse von Aussageobjekten, die wiruntersucht haben. Würde man den Begriff "Argument" nicht zu rationalistisch verstehen, dannkönnte man den Terminus Idee-Element in den des Arguments übersetzen. Akteure begründenihre Position zu Policies sehr häufig mit Argumenten und rahmen sie durch Bezugnahme auf

5unterschiedliche Bedeutungskontexte. Die Plazierung eines Themas in unterschiedliche Be­deutungsrahmen hat zur Folge, daß das Thema selbst durch das Kräftefeld von Sinngehalten des jeweiligen Rahmens in seinem Wesen geprägt und entsprechend in unterschiedlichen "Frames" zu einem bedeutungsmäßig unterschiedlichen Thema wird.

Unsere Auswertungen beziehen sich also auf zwei verschiedene Klassen von Aussagen: auf solche, in denen politische Regelungsmodelle diskutiert werden, und auf jene, die sich auf die Interpretation des Themas Abtreibung mit Hilfe der Benutzung von Idee-Elementen beziehen.

Das Thema Abtreibung eignet sich aus einem zweifachen Grund zur Überprüfung von Hy­

pothesen über den Zusammenhang zwischen aggregierten Sozialpositionen, Rollen und Kommunikationen. Zum einen gab es zur Abtreibungsproblematik lang andauernde .und dichte öffentliche Debatten, so daß es um ein Thema geht, das nicht wie die meisten politi­schen Entscheidungen jenseits der Öffentlichkeit behandelt wurde (vgl. von Beyme 1994).

Zum anderen waren diese Debatten nicht folgenlos, sondern mündeten in politische Entschei­dungsprozesse in Form einer gesetzlichen Regelung des § 218.

Um das Abtreibungsthema ranken sich sowohl öffentliche Kommunikationen als auch po­litische Entscheidungen. Es ist somit ein Thema, zu dem Kommunikationen sowohl des Zen­

trums als auch der Peripherie des politischen Systems erwartet werden können. Abbildung 1

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nehmen, unterschieden werden. Politische Akteure beteiligen sich an der öffentlichen Dis­kussion über politisch entscheidbare Streitfragen, um Einfluß auf den Entscheidungsprozeß über Themen zu nehmen. Sie fokussieren bestimmte Themen unter Vernachlässigung anderer Problemstellungen, beziehen Positionen zu den Themen, machen Vorschläge für die Behand­lung von Themen und versehen manchmal all dies mit Argumenten zur Stützung ihrer The­men, Positionen und Vorschläge. Da die Massenmedien die Öffentlichkeitsarena darstellen,

die sowohl von den anderen politischen Akteuren als auch von den Bürgern am häufigsten als Beobachtungs- und Informationssystem benutzt wird, versuchen politische Akteure, ihre kommunikativen Beiträge vor allem hierüber zu lancieren.

Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen öffentlichen Kommunikationen einerseits und der sozialstrukturellen Verortung der Sprecher durch ihre Zuordnung zu Teilsystemen der Politik andererseits soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Typologien von

Teilsystemen des politischen Systems machen letztendlich nur dann Sinn, wenn sie helfen,

das Handeln von Akteuren zu erklären. Die Beschreibung von bestimmten Sozialpositionen, Rollen und daraus gebildeten Teilsystemen ist mit der Vorstellung verbunden, daß die Positi­

ons- und Rolleninhaber auch so handeln, wie es auf der Basis der Positions- und Rollendefi­nition erwartbar ist. In diesem Sinne kann von der Vermutung ausgegangen werden, daß sich die Art der politischen Kommunikation aus der sozialstrukturellen Positionierung des Spre­chers in der .Kommunikation ergibt: Die möglichen Themen, die er anspricht, die Positionen, die er vertritt, die Lösungen, die er vorschlägt, und die Argumente, die er benutzt, sind einge­grenzt durch die strukturellen "Constraints" seiner Position und seiner Rolle.

Diese allgemeine Annahme soll im folgenden für die zu Teilsystemen des politischen Sy­stems aggregierten politischen Akteure spezifiziert und dann anhand der Auswertung einer Inhaltsanalyse der öffentlichen Diskussion über Abtreibung in der Bundesrepublik exempla­

risch überprüft werden. Dabei steht das Thema Abtreibung selbst nicht im Fokus der Analyse; vielmehr werden die Debatten über Abtreibung als Beispiel für eine Überprüfung von forma­len Hypothesen benutzt.

2. Fragestellungen, empirische Operationalisierung und Ergebnisse

Empirische Grundlage der folgenden Ausführungen bildet eine Inhaltsanalyse der öffentli-e . 4chen Debatte über Abtreibung in der Bundesrepublik in der Zeit von 1970 bis 1994. Inhaltsa­nalytisch erhoben wurde die Berichterstattung über Abtreibung in den beiden überregionalen Tageszeitungen Frankfurter Allgemeine (FAZ) und Süddeutsche Zeitung (SZ).

Neben einer Codierung von Informationen auf der Basis von Artikeln haben wir zusätzlich eine Codierung der in einem Artikel vorkommenden Aussagen von Akteuren durchgeführt. Das Definitionskriterium für die Existenz einer Aussage war dabei formaler Art: die Identifi­kation eines Akteurs, der entweder in direkter Rede (in Anführungszeichen) oder indirekt zu

Wort kommt. Innerhalb der Klasse aller so erhobenen Aussagen haben wir drei inhaltlich spezifizierte Arten unterschieden, wovon zwei für unsere Fragestellung von Relevanz sind.

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Zum einen haben wir die Thematisierung politischer Regelungsmodelle sowie die Positio­nen, die Akteure dazu einnehmen können, erhoben. Öffentliche Diskussionen in Demokratien

sind, so die im ersten Abschnitt erläuterten Modelle des Policy-Prozesses, kein Selbstzweck, sondern werden geführt, um Einfluß auf die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidun­gen zu nehmen. Entschieden werden sollen letztendlich konkrete gesetzliche Regelungsmo­delle von Problemen, die zur Abstimmung anstehen, von der Verwaltung durchgesetzt und manchmal von der Judikative überprüft werden. Dabei haben wir zwischen der Thematisie­rung unterschiedlicher Regelungsmodelle und der Position, die ein Akteur zu den Regelungs­modellen einnimmt, differenziert. Die Anzahl der in der Diskussion befindlichen gesetzlichen Regelungsmodelle des § 218 kann entlang von vier Grundpositionen klassifiziert werden, die von restriktiv bis liberal reichen: 1. generelles Verbot/ Strafbarkeit der Abtreibung; 2. Indika­tionenregelung; 3. Fristenregelung; 4. ersatzlose Streichung des § 218/generelle Straffreiheit bei Abtreibung. Die verschiedenen konkreten gesetzlichen Regelungsmodelle, die von Akteu­ren thematisiert werden, haben wir innerhalb dieser Grundpositionen plaziert. Sie bilden die Variablenausprägungen. Neben der Thematisierung von gesetzlichen Regelungsmodellen, die

durch die vier Grundpositionen abgebildet werden, äußern sich die Akteure darüber hinaus zu verschiedenen, vor allem sozialpolitischen Maßnahmevorschlägen, die wir ebenfalls unter der

Variable "Politische Regelungsmodelle" erhoben haben.Neben der. Erhebung von politischen Regelungsmodellen, die Akteure thematisieren und

bewerten, bilden sogenannte Idee-Elemente eine weitere Klasse von Aussageobjekten, die wiruntersucht haben. Würde man den Begriff "Argument" nicht zu rationalistisch verstehen, dannkönnte man den Terminus Idee-Element in den des Arguments übersetzen. Akteure begründenihre Position zu Policies sehr häufig mit Argumenten und rahmen sie durch Bezugnahme auf

5unterschiedliche Bedeutungskontexte. Die Plazierung eines Themas in unterschiedliche Be­deutungsrahmen hat zur Folge, daß das Thema selbst durch das Kräftefeld von Sinngehalten des jeweiligen Rahmens in seinem Wesen geprägt und entsprechend in unterschiedlichen "Frames" zu einem bedeutungsmäßig unterschiedlichen Thema wird.

Unsere Auswertungen beziehen sich also auf zwei verschiedene Klassen von Aussagen: auf solche, in denen politische Regelungsmodelle diskutiert werden, und auf jene, die sich auf die

Interpretation des Themas Abtreibung mit Hilfe der Benutzung von Idee-Elementen beziehen.Das Thema Abtreibung eignet sich aus einem zweifachen Grund zur Überprüfung von Hy­

pothesen über den Zusammenhang zwischen aggregierten Sozialpositionen, Rollen und Kommunikationen. Zum einen gab es zur Abtreibungsproblematik lang andauernde und dichte öffentliche Debatten, so daß es um ein Thema geht, das nicht wie die meisten politi­schen Entscheidungen jenseits der Öffentlichkeit behandelt wurde (vgl. von Beyme 1994).

Zum anderen waren diese Debatten nicht folgenlos, sondern mündeten in politische Entschei­dungsprozesse in Form einer gesetzlichen Regelung des § 218.

Um das Abtreibungsthema ranken sich sowohl öffentliche Kommunikationen als auch po­litische Entscheidungen. Es ist somit ein Thema, zu dem Kommunikationen sowohl des Zen­trums als auch der Peripherie des politischen Systems erwartet werden können. Abbildung 1

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vermittelt einen Eindruck über den Zusammenhang zwischen politischen Entscheidungen und öffentlichen Kommunikationen.

Abbildung 1: Anteil der Artikel zum Thema Abtreibung in derFrankfurter Allgemeinen (FAZ) und der Süddeutschen Zeitung (SZ)

Die Verteilung der Artikel ist zweigipfelig; die Hochphasen des Diskurses liegen in den Jahren 1974 und 1991 mit einem jeweiligen Vor- und Nachlauf in der Zeit unmittelbar vor und- nach diesen Höhepunkten. Die öffentlichen Debatten gruppieren sich dabei in erster Linie

um die politischen Entscheidungsprozesse der Gesetzgebung und der Gesetzesprüfung durch das Bundesverfassungsgericht: Zu Beginn der siebziger Jahre wurden verschiedene politische Reformierungsvorschläge diskutiert, die in den Beschluß des Bundestages für ein Fristenmo­dell im Jahr 1974 (April) mündeten. 1975 (Februar) wurde die beschlossene Fristenregelung vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt; die dann folgende Debatte über verschiedene gesetzliche Regelungen führte zur Verabschiedung der Indikationenregelung durch den Bundestag im Februar 1976. Der zweite Gipfel in der öffentlichen Diskussion wur­de induziert durch die im Einigungsvertrag definierte Notwendigkeit einer gesetzlichen Neu-

6regelung nach der Wiedervereinigung : die ersten Debatten über verschiedene Regelungsmo­delle im Bundestag 1991; die Verabschiedung des sogenannten Gruppenantrags 1992; die Normenkontrollklage vor dem Bundesverfassungsgericht mit der Urteilssprechung im Mai 1993 und dem erneuten Versuch einer gesetzlichen Regelung, die erst 1995, also außerhalb unseres Untersuchungszeitraums zum Abschluß kommt. Öffentliche Debatten über das Ab­

treibungsthema sind also mit den politischen Entscheidungsprozessen eng verzahnt. 'Welche Hypothesen lassen sich nun aus den sozialstrukturellen Beschreibungen der Sozi­

alpositionen und Rollen des politischen Systems für die Wahrscheinlichkeit des Auftretens

bestimmter Aussagen formulieren? Ich benutze im folgenden die von Habermas favorisierte dichotome Einteilung der Akteure des politischen Systems in Akteure des Zentrums und in Akteure der Peripherie; diese Begriffe sind synonym mit der Luhmannschen Unterscheidung zwischen Politik im engeren bzw. weiteren Sinne oder mit der Fuchsschen Einteilung in Pu­blikumssystem und Polity. Mit Bezugnahme auf den Titel dieses Bandes könnte auch von

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einem Entscheidungssystem und einem diesem Entscheidungssystem vorgelagerten Öffent­lichkeitssystem gesprochen werden. Die Sozialpositionen und Rollen des Zentrums sind in einem weit stärkeren Maße rechtlich kodifizierte Positionen und Rollen als diejenigen der Peripherie. Es sind die Positionen und Rollen des Zentrums des politischen Systems, die Ent­scheidungen treffen bzw. implementieren können. Die Akteure der Peripherie des politischen Systems sind auf vorgelagerte Kommunikation spezialisiert.

Unsere ersten beiden Hypothesen lauten folgendermaßen:

1. Je näher ein Akteur am Entscheidungszentrum positioniert ist, desto höher ist sein Anteil an Policy-orientierten Aussagen.

2. Je näher ein Akteur am Entscheidungszentrum positioniert ist, desto geringer ist der Be­zug auf Werte und Grundsatzfragen.

Diese Hypothesen lassen sich folgendermaßen operationalisieren: Policy-orientierte Kom­munikationen sind im Abtreibungsdiskurs Vorschläge im Hinblick auf die gesetzliche Rege­

lung des Problems. Insgesamt finden wir 2.734 Aussagen, die sich auf die sogenannte Policy- Ebene beziehen. Idee-Element-Aussagen sind solche Aussagen, die sich auf Werte und Grundsatzfragen beziehen. Insgesamt können wir 8.984 dieser Idee-Element-Aussagen fest­stellen. Bildet man aus den Policy-orientierten Aussagen und aus den Idee-Element-Aussagen eine Gesamtmenge an Aussagen und berechnet den relativen Anteil der beiden Aussagetypen an der Gesamtmenge in bezug auf die einzelnen Akteure, können die Hypothesen überprüft werden. Zusätzlich sind in Tabelle 1 noch die Spaltenprozente, die uns Auskunft über die Stärke der öffentlichen Präsenz der einzelnen Akteure geben, ausgewiesen.

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Tabelle 1: Anteil an Poliey-orientierten Aussagen und Idee-Element-Aussagenverschiedener Akteure in Prozent der Gesamtzahl ihrer Aussagen

Policy-Aussagen

Idee-Element­Aussagen

Anteil der Akteure an der Zahl der

Aussagen insgesamt

Akteure des Zentrums des 30,6 (1.775) 69,4 (4.022) 49,4politischen SystemsLegislative JJ, / (436) 66,3 (1.482) 19,1Exekutive 32,7 (436) 67,3 (898) 11,4Parteien 37,1 (445) 62,9 (753) 10,2Administration 15,4 (8) 84,6 (44) 0,4Judikative 13,5 (132) 86,5 (845) 8,3

Akteure der Peripherie des 16,2 (959) 83,8 (4.962) 50,6politischen SystemsKirchen 18,8 (297) 81,2 (1.286) 13,5Andere Akteure der 21,6 (321) 78,4 (1.168) 12,7

InteressensartikulationJournalisten der FAZ und 12,0 (341) 88,0 (2.508) 24,3

SZ(2.734) 76,7 (8.984) 100(11.718)

Anmerkung: Phi = .17; P = .000.

Tabelle 1 enthält Informationen, die über die Testung der formulierten Hypothesen hinaus­

gehen und denen wir uns zuerst zuwenden wollen.Der Anteil der Idee-Element-Aussagen beträgt insgesamt über drei Viertel der Aussagen,

so daß bezüglich aller Akteure gilt, daß sie in erster Linie Idee-Element-Aussagen und nicht Policy-Aussagen zum Ausdruck gebracht haben. Die Dominanz dieses Aussagentypus hat zwei Ursachen. Zum einen handelt es sich um ein Methodenartefakt insofern, als die Codier­regeln für Policy-Aussagen restriktiver definiert waren als für Idee-Element-Aussagen. Po­licy-Aussagen wurden nur dann codiert, wenn die thematisierte Regelungsvorstellung auch mit einer Position der Bewertung verbunden war. Zudem war das Kategoriensystem der Idee­

Elemente weitaus feiner differenziert als das der Policy-Aussagen, die auf einem aggregierte- ren Niveau codiert wurden, was wiederum den Anteil an Idee-Element-Aussagen am Gesamt­volumen in die Höhe getrieben hat. Neben dieser methodischen Ursache mag es aber auch noch ein inhaltliches Motiv für die Dominanz von Idee-Element-Aussagen geben, was mit dem spezifischen Fall Abtreibung zusammenhängt. Der Abtreibungskonflikt wird von vielen Akteuren als Wert- und nicht als Interessenkonflikt gedeutet. Wertkonflikte sind im Gegen­

satz zu Interessenkonflikten in einem weit geringeren Maße kompromißfähig (Aubert 1973). Wenn man einen Fötus als menschliches Lebewesen definiert und darüber hinaus noch als gottgegebenes Leben, verbieten sich fast automatisch alle Möglichkeiten der Gesetzgebung, die mit dem Tod des so definierten Fötus verbunden sind. Wird umgekehrt davon ausgegan­gen, daß der Fötus ein Teil der Mutter ist und damit ihrem Selbstbestimmungsrecht unterliegt, dann verbieten sich alle gesetzlichen Regelungen, die dieses Selbstbestimmungsrecht ein­

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schränken. Die Tatsache, daß die Abtreibungsfrage als ein Konflikt um Werte konstruiert wird, hat zur Folge, daß die öffentlichen Debatten über die Deutung des Themas selbst, weni­ger über die politische Regelung des Themas geführt werden.

Bei der Betrachtung der prozentualen Anteile der Akteure an der Gesamtmenge der Aussa­

gen fällt auf, daß das Feld beherrscht wird von den gut organisierten professionellen Akteu­ren, sei es des Zentrums, sei es der Peripherie des politischen Systems. Die Kategorie "Andere politische Akteure" gliedert sich auf in eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, wobei keiner von ihnen mehr als 5 Prozent der Nennungen erhält. Die dem Habermasschen Konzept der Assoziationen der Zivilgesellschaft am nächsten kommenden verschiedenen Gruppierungen der Frauenbewegung haben nur 0,5 Prozent der Aussagen, die Lebensschützer nur 0,3 Prozent der Aussagen getätigt. Im Kontext der Habermasschen Theorie würde man dieses Ergebnis als Anzeichen einer vermachteten Öffentlichkeit interpretieren und als Verlust einer autochthonen

Öffentlichkeit beklagen können.

Journalisten kommt eine besondere Funktion in der öffentlichen Kommunikation zu. Sie sind zum einen der wichtigste Akteur medial bestimmter Kommunikation und übernehmen

zum zweiten eine wichtige Funktion bei der interpretatorischen Rahmung des Themas. Ver­steht man sie als Stellvertreter der Bürger, die sie in der Debatte repräsentieren, manifestiert sich die Zivilgesellschaft in der Öffentlichkeit nicht selbst, sondern in Form einer Stellvertre­

tung.- Nicht die Bürger bzw. die bürgernahen Organisationen und Bewegungen, sondern Pro­fessionals der Meinungsbildung sind die dominanten Akteure.

Vergleicht man nun den Anteil, den die Akteure des Zentrums und der Peripherie des poli­tischen Systems jeweils an den Policy-orientierten Aussagen und den Idee-Element-Aussagen haben, bestätigen die Ergebnisse die formulierten Hypothesen. Der Anteil an Policy-Aussagen ist bei den Akteuren des Zentrums höher als bei denen der Peripherie; umgekehrt gilt, daß der Anteil an Idee-Element-Aussagen bei den Akteuren der Peripherie des politischen Systems höher ist als bei den Akteuren des Zentrums. Der formulierte Zusammenhang zwischen der Sozialposition von Akteuren einerseits und ihrem Kommunikationsverhalten andererseits wird durch den Wert des Assoziationsmaßes (Phi = .17) bestätigt. Dieses Ergebnis gilt jedoch nicht für die Verwaltung und die Judikative. Bei der Verwaltung kann die Abweichung auf die ge­ringe Fallzahl zurückzufiihren sein; für die Judikative gilt dies sicherlich nicht. Habermas ordnet in seiner Typologie die Judikative dem Zentrum des politischen Systems zu. Im Hin­blick auf das Kommunikationsverhalten der Akteure macht diese Zuordnung aber keinen

Sinn. Das Bundesverfassungsgericht ist für die letztendlich verbindliche Interpretation des Grundgesetzes zuständig. Prüfverfahren auf Kompatibilität gesetzlicher Regelungen des § 218 mit dem Grundgesetz werden vom Bundesverfassungsgericht in Abwägung aller möglichen Argumente vorgenommen (vgl. Döbert in diesem Band). Insofern kann es nicht verwundern, daß das Bundesverfassungsgericht einen hohen Anteil an Idee-Element-Aussagen aufweist.

Die zweite der beiden formulierten Hypothesen kann nochmals genauer spezifiziert wer­den, wenn man sich die inhaltliche Verteilung der Idee-Elemente vor Augen führt. Die Menge aller Idee-Elemente ist unterteilt in acht verschiedene Rahmen und diese dann wiederum in

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Unterdimensionen. Einer dieser Rahmen umfaßt all jene Idee-Elemente, die behaupten, daß in der Abtreibungsdebatte eher pragmatische Aspekte beachtet werden sollten, weniger allge­meine Grundsatzgesichtspunkte. Von den Rahmen, die das Thema grundsätzlich deuten, sind die beiden Rahmen "Fötus als Leben" und "Selbstbestimmung der Frau" die bedeutsamsten Interpretationsmuster. Werden die Rahmen auf die Ausprägungen "Idee-Elemente mit Bezug auf Grundsatzfragen (Fötus als Leben und Selbstbestimmung der Frau)" einerseits und "Pragmatismus vor Grundsatzfragen" andererseits selektiert und dichotomisiert, kann man folgende Erwartung formulieren: Akteure des vorpolitischen Raums werden im Vergleich zu

den Akteuren des Zentrums bei den Idee-Elementen mit Bezug auf Grundsatzfragen überre­präsentiert sein; die Akteure, die Entscheidungen hersteilen müssen, werden wiederum für eine Logik der Realpolitik plädieren und im Feld "Pragmatik vor Grundsatzfragen" entspre­

chend überproportional vertreten sein.

Tabelle 2: Bezug auf Grundsatzfragen versus Pragmatikverschiedener Akteure (in Prozent)

Idee-Elemente

Bezug auf Pragmatik vorGrundsatzfragen Grundsatzfragen

Akteure des Zentrums despolitischen Systems 76,7 (1.515) 23,3 (459)

Akteure der Peripherie despolitischen Systems 81,5 (1.828) 18,5 (413)

79,3 (3.343) 20,7 (872)

Die Ergebnisse bestärken in ihrer Grundstruktur die aufgestellte Hypothese; die Unter­schiede, mit denen Akteure des engeren politischen Systems für eine pragmatische Interpreta­tion des Abtreibungsthemas plädieren bzw. mit denen die Akteure des vorpolitischen Raums das Thema in Form von Grundsatzfragen rahmen, sind aber sehr gering. Habermas formuliert in seinem Konzept der Öffentlichkeit die Hoffnung, daß Akteure der Ziviigeseilschaft jene

sind, die den Normprozeß der Willensbildung "stören" und mit Grundsatzargumenten einen Gegenkreislauf der Macht in Gang setzen. Im Fall der öffentlichen Debatte über Abtreibung traf dies nicht zu. Die Akteure der Zivilgesellschaft - als "Andere Akteure der Interessenarti­kulation" zusammengefaßt - sind öffentlich kaum präsent, und wenn sie in Erscheinung treten, favorisieren sie nicht überdurchschnittlich oft eine Grundsatzargumentation.

Akteure des Zentrums des politischen Systems und der Peripherie unterscheiden sich hypo­thetisch außerdem in Hinblick auf ein anderes Merkmal kommunikativen Verhaltens. Wäh­rend Parteien verschiedene Interessen der Bürger aggregieren, Legislative und Exekutive die verschiedenen Interessen integrieren müssen, damit sie mehrheitsfähig sind, und die Judikati­ve um alle Interessen ausgleichende Regelungen bemüht sein muß, vertritt jener Teil der Ak­teure der Peripherie, den man als Interessengruppen bezeichnet, Einzelinteressen einer be-

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stimmten Klientel von Bürgern. Dadurch, daß Interessengruppen jeweils über eine homogene Klientel im Hinblick auf das zu verfolgende Ziel verfügen, wird es ihnen - so die Erwartung - möglich, radikalere Positionen zu vertreten. Umgekehrt kann erwartet werden, daß mit zu­nehmender Heterogenität des Publikums die Vorschläge und Positionen eines Akteurs dieser Klientel gemäßigter und kompromißbereiter sind.

Wir haben die Positionen, die die Akteure zu einem politischen Regelungsmodell beziehen, mit Hilfe einer 5er-Skala codiert. Die beiden Endpunkte der Skala "sehr starke Ablehnung" und "sehr starke Zustimmung" können als das Einnehmen einer Extremposition bezeichnet werden, während man die Positionen "Ablehnung" und "Zustimmung" als "gemäßigt" und die Mittelposition als "ambivalent" benennen kann. Gruppiert man die Messung der Position zu

den Regelungsmodellen in dieser Weise um, dann läßt sich überprüfen, ob Akteure der Inter­essenartikulation tatsächlich in einem stärkeren Maße Extrempositionen einnehmen als die

8anderen Akteure.

Tabelle 3: Extreme, gemäßigte und ambivalente Positionen zu politischenRegelungsmodellen von verschiedenen Akteuren (in Prozent)

Akteure des Zentrums des Extrem Gemäßigt Ambivalentpolitischen SystemsExekutive 3,4 (15) 92,4 (402) 4,4 (19)Legislative 3,5 (26) 92,0 (692) 4,5 (34)Judikative - 96,2 (127) 3,8 (5)Parteien 2,5 (11) 93,9 (418) 3,6 (16)

Akteure der Peripherie des politischen Systems (nur Interessengruppen)Katholische Kirche 13,8 (30) 84,4 (184) 1,8 (4)Evangelische Kirche 5,1 (4) 91,1 (72) 3,8 (3)Gewerkschaften 10,0 (2) 90,0 (18) -Frauenbewegung 31,6 (6) 57,9 (11) 10,5 (2)Lebensschützer - 100,0 (10) -

3,7 (100) 91,2(2492) 5,1 (140)

Betrachten wir zunächst die Randverteilung der Variablen "Position", wird deutlich, in welch starkem Maße die Positionseinnahme "gemäßigt" den Abtreibungsdiskurs bestimmt:

91,2 Prozent der Positionseinnahmen lassen sich als "gemäßigt", 5,1 Prozent als "ambivalent" und nur 3,7 Prozent als "extrem" klassifizieren. Man muß also den Prozentsatz von 3,7 Pro­zent als Bezugsgröße wählen, wenn danach gefragt werden soll, inwieweit Interessengruppen im Vergleich zu den anderen Akteuren häufiger Extrempositionen vertreten. Die Ergebnisse sind in manchen Fällen aufgrund der geringen Fallzahl nur schwerlich in ihrer prozentualen Verteilung zu interpretieren; sie bestätigen in ihrer Struktur, sieht man von der Ausnahme der Lebensschützer ab, die formulierte Hypothese. Interessengruppen nehmen häufiger als andere

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Akteure die Extrempositionen im Abtreibungsdiskurs ein. Die beiden Kontrahenten Frauen­bewegung und katholische Kirche sind hierbei diejenigen Interessengruppen, die am häufig­sten und in überdurchschnittlicher Weise Extrempositionen beziehen. Allerdings gelten diese Unterschiede allein in Referenz zu den anderen Akteuren. Im Hinblick auf die Gesamtvertei­

lung gilt der Befund, daß Extrempositionen generell nur in Ausnahmefällen anzutreffen sind. Der Abtreibungsdiskurs in der Bundesrepublik ist ein gemäßigter Diskurs (vgl. Neidhardt in diesem Band). Wir erwarten für die USA ganz andere Ergebnisse, da wir davon ausgehen, daß hier das Einnehmen von Extrempositionen in einem weit stärkeren Ausmaß anzutreffen sein

wird.Neben der formalen Position, die Akteure im Abtreibungsdiskurs beziehen, kann man zu­

sätzlich die Bezugnahme auf die inhaltlichen Regelungsmodelle betrachten, die in der Abtrei­bungsdebatte zur Diskussion stehen, um Aufschluß über die formulierte Hypothese zu gewin­nen. Die verschiedenen Regelungsmodelle, die im Verlauf der Debatte diskutiert wurden, las­sen sich zu vier Grundpositionen zusammenfassen, die wiederum entlang der Dimension "restriktive versus liberale Lösungsvorschläge" ordinal geordnet werden können: Verbot von

Abtreibung, Fristenlösungsmodelle, Indikationenmodelle und Freigabe der Abtreibung. Das völlige Verbot von Abtreibungen und die völlige Freigabe der Abtreibung bilden unter den verschiedenen Lösungsmodellen die inhaltlichen Extremvorschläge; die anderen beiden Mo­dellvorschläge lassen sich als Kompromißverschläge bezeichnen. Kombiniert man nun allein die positiven Stellungnahmen zu den so gruppierten Lösungsmodellen und kreuztabelliert diese mit den verschiedenen Akteuren, erhält man Aufschluß darüber, welche Akteure sich für die beiden radikalen Lösungsmodelle stark machen und welche nicht.

Tabelle 4: Prozentualer Anteil an positiven Stellungnahmen zu den beiden radikalenLösungsmodellen (Verbot und Straffreiheit von Abtreibungen) und den gemäßigten Lösungsvorschlägen (Indikationenregelung und Fristenregelung) (in Prozent)

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Radikale GemäßigteLösungsmodelle

Akteure des Zentrums des politischen Systems

Exekutive 4,0 (4) 96,0 (97)Legislative 10,4 (23) 89,6 (199)Parteien 10,2 (10) 89,8 (22)Judikative *■ 100,0 (88)

Akteure der Peripherie des politischen Systems (nur Interessengruppen)

Katholische Kirche 22,2 (2) 77,8 (7)Evangelische Kirche 7,7 (1) 92,3 (12)F rauenbewegung 75,0 (3) 25,0 (1)

10,9 (60) 89,1 (488)

Untersucht man auch hier zunächst die Randverteilung, fällt auf, in welch starkem Maße alle Akteure in ihren Aussagen die beiden Kompromißmodelle bevorzugen. 89,1 Prozent der Aussagen beziehen sich positiv auf die Indikationen- oder die Fristenregelung; allein 10,9

Prozent der Aussagen favorisieren eines der beiden radikalen Lösungsmodelle. Man muß auch den Prozentsatz von 10,9 Prozent als Bezugsgröße heranziehen, wenn danach gefragt wird, inwieweit Interessengruppen im Vergleich zu den anderen Akteuren häufiger Extrempositio­nen vertreten. Die geringe Fallzahl macht es auch hier in einigen Fällen kaum möglich, eine Interpretation zu wagen. Riskiert man dies trotzdem, dann zeigt sich, daß die Interessengrup­pen, vor allem die katholische Kirche und die Frauenbewegung, überdurchschnittlich häufig die beiden Lösungsmodelle, die wir als die radikaleren Varianten klassifiziert haben, vertre­ten.

Wir haben bis jetzt versucht, Hypothesen über den Zusammenhang von zu Teilsystemen der Politik aggregierten Sozialpositionen und deren Kommunikationsverhalten zu überprüfen, und dabei den analysierten Zeitraum von 25 Jahren nicht weiter differenziert. Die Daten er­möglichen aber auch eine Überprüfung von Hypothesen zum Wandel des Kommunikations­

Verhaltens unterschiedlicher Akteure. In der Politikwissenschaft wird die These vertreten, daß es im parlamentarischen System westlicher Gesellschaften - und entsprechend auch in der Bundesrepublik - seit den siebziger Jahren eine Strukturveränderung gegeben hat. Zum einen habe die Bedeutung der Akteure des vorpolitischen Raums zugenommen, zum zweiten ließen sich Entdifferenzierungsprozesse von vormals klar definierten Aufgaben und Handlungser-

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Wartungen der einzelnen Sozialpositionen des politischen Systems beobachten. Die Differen­zierung zwischen Bürgerrollen, Rollen der Akteure der Interessenartikulation, der Aggregati­

on, der Entscheidungsfindung und des Entscheidungsbeschlusses, der Implementation und der juristischen Kontrolle wird brüchig und ersetzt durch ein "parlamentarisch-gesellschaftliches 'Verhandlungssystem' der sozialstaatlichen Demokratie" (Herzog 1993, S. 14). Damit soll gemeint sein, daß die auf bestimmte Aufgaben spezialisierten Akteure zunehmend mehr Auf­gaben der anderen Bereiche übernehmen und entsprechend auch in den anderen Arenen zu finden sind. Dabei geht die Theorie von der Vorstellung aus, daß vor allem die Organisationen der Interessenartikulation, d. h. die Akteure des vorpolitischen Raums, Rollen des engeren politischen Systems zwar nicht übernehmen, sich aber in die Regelung der politischen Ent­

scheidungen einmischen. Ein solcher Wandlungsprozeß der Aufweichung von Rollendiffe­renzierungen geht mit dem zuerst beschriebenen Prozeß der Bedeutungszunahme der Akteure des vorpolitischen Raumes einher.

Für einen Teilbereich dieses hypothetischen Prozesses erlauben unsere Daten eine Über­

prüfung. Ich habe den Zusammenhang zwischen der Sozialposition eines Akteurs und dem Typus an Aussagen (Aussagen insgesamt, Policy-orientierte Aussagen und Idee-Element­Aussagen) für zwei Zeitphasen getrennt berechnet. Die sich aus der Theorie ergebende Erwar­tung lautet: In der zweiten Zeitphase hat sich (a) der Anteil der Aussagen, der für die Akteure der Peripherie des politischen Systems festgestellt werden konnte, insgesamt und (b) der An­teil der Policy-orientierten Aussagen der Akteure aus dem vorpolitischen Raum im Vergleich zu denen des politischen Systems im engeren Sinne erhöht; zugleich ist der Anteil der Aussa­gen der Akteure der Peripherie des politischen Systems, die Idee-Elemente enthalten, zumin­dest konstant geblieben.

Tabelle 5: Policy-orientierte Aussagen und Idee-Element-Aussagen verschiedenerAkteure: 1970-1982 und 1983-1994 im Vergleich (in Prozent)

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Policy-Aussagen

Idee-Element­Aussagen

Anteil derAkteure an der

Zahl der Aussagen insgesamt

1970-1982

Akteure des Zentrums despolitischen Systems 22,0 (452) 78,0 (1.598) 43,7Legislative 28,6 (207) 71,4 (516) 15,4Exekutive 22,8 (85) 77,2 (288) 7,9Parteien 30,6 (64) 69,4 (145) 4,5Administration 11,8 (4) 88,2 (30) 0,7Judikative 12,9 (92) 87,1 (619) 15,1

Akteure der Peripherie despolitischen Systems 17,3 (457) 82,7 (2.188) 56,3Kirchen 19,9 (148) 80,1 (595) 15,8Andere Akteure der

Interessensartikulation 24,8 (149) 75,2 (453) 12,8Journalisten der FAZ

und SZ 12,3 (160) 87,7 (1.140) 27,7

19,4 (909) 80,6 (3.786) 100,0 (4.695)

1983-1994

Akteure des Zentrums despolitischen Systems (1.323) 64,7 (2.424) 53,4Legislative 36,2 (547) 63,8 (966) 21,5Exekutive 36,5 (351) 63,5 (610) 13,7Parteien 38,5 (381) 61,5 (608) 14,1Administration 22,2 (4) 77,8 (14) 0,3Judikative 15,0 (40) 85,0 (226) 3,8

Akteure der Peripherie despolitischen Systems 15,3 (502) 84,7 (2.774) 46,6Kirchen 17,7 (149) 82,3 (691) 12,0Andere Akteure der

Interessensartikulation 19,4 (172) 80,6 (715) 12,6Journalisten der FAZ

und SZ 11,7 (181) 88,3 (1.368) 22,1

26,0 (1.825) 74,0 (5.198) 100,0 (7.023)

Die beiden Hypothesen werden falsifiziert. Der Anteil der Aussagen, die von den Akteuren der Peripherie des politischen Systems gemacht wurden, hat im Zeitverlauf nicht zu-, sondern abgenommen und ist von 56,3 Prozent auf 46,6 Prozent gefallen. Umgekehrt gilt: Die Akteure des Zentrums des politischen Systems sind in zunehmendem Maße die hegemonialen Akteure des Diskurses geworden. Auch der Anteil an Policy-orientierten Aussagen der Akteure der

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Peripherie des politischen Systems hat im Zeitverlauf entgegen der theoretischen Erwartung - wenn auch nur gering - nachgelassen. Statt einer Bedeutungszunahme der Akteure der Peri­

pherie stellen wir eine Bedeutungsabnahme fest, statt Entdifferenzierungsprozessen finden wir eine Verstärkung der Differenzierung. Die Akteure des vorpolitischen Raums konnten im Zeitverlauf kein Terrain innerhalb des Diskurses erobern. Interpretiert man diese Entwicklung auf der Grundlage des von Habermas entwickelten normativen Konzepts von Öffentlichkeit,

dann läßt sich dieser Befund als eine Zunahme der Vermachtung des vorpolitischen Raums einer politischen Öffentlichkeit beschreiben. Allerdings muß bedacht werden, daß wir nicht

kontrollieren können, ob es sich bei dieser Entwicklung allein um einen themenspezifischen oder um einen generellen Trend handelt.

3. Bilanz der Ergebnisse und die Formulierung einer alternativen Erklärung

Die Ergebnisse unserer empirischen Analyse zeigen, daß die Kommunikation politischer Akteure durch ihre Plazierung in einem der beiden Teilsysteme der Politik, die durch Aggre­gation von Positionen und Rollen gewonnen wurden, strukturiert wird. Die Akteure des Zen­trums der Politik, also des Entscheidungssystems, sind bei den Policy-orientierten Aussagen

überdurchschnittlich vertreten, während die Akteure der Peripherie des politischen Systems hier unterrepräsentiert sind; für die Klasse der Idee-Element-Aussagen gilt der umgekehrte Befund. Die Akteure der Peripherie vertreten zudem häufiger extreme Positionen und spre­

chen sich für radikalere Lösungsmodelle aus. Insofern werden die theoretisch formulierten Erwartungen in ihrer Richtung bestätigt. Zugleich aber zeigen die Befunde, daß die Differen­zen zwischen den Akteuren des engeren politischen Systems und den Akteuren der vorpoliti­schen Peripherie eher gering sind. Theorien, die sich nicht oder nur schwach empirisch be­währen, motivieren im Sinne der Approximationstheorie der Wahrheit von Karl Popper die Suche nach alternativen oder ergänzenden Erklärungen. Zu der Vorstellung einer durch die soziale Position und die Rolle bestimmten Kommunikation gibt es alternativ die Theorie ge­sellschaftlicher Konfliktlinien, auf die ich am Ende kurz eingehen möchte.

Das Konzept gesellschaftlicher Konfliktlinien geht davon aus, daß die Kommunikation der Akteure des politischen Systems nicht in erster Linie durch die jeweiligen Sozialpositionen strukturiert wird, sondern durch die Interessenlagen der Akteure, die gleichsam quer zu der Einteilung der Akteure nach Sozialpositionen liegen. Eine politische Konfliktlinie ist eine auf Dauer gestellte Gegnerschaft zwischen politischen Akteuren in bezug auf politische Fragestel­

lungen, wobei jede der kontrahierenden Seiten sich durch eine Koalition zwischen verschie­denen Akteuren des Policy-Prozesses auszeichnet: sozialstrukturell oder ideologisch relativ homogene Bevölkerungssegmente, soziale Bewegungen und Verbände als Interessengruppen, Parteien, parlamentarische Fraktionen sowie die durch eine Partei bestellte oder unterstützte Regierung.-' Die Annahme eines Zusammenhangs zwischen sozialstrukturellen Spaltungen und Interessen in der Bevölkerung einerseits und der Repräsentanz dieser unterschiedlichen

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Interessen durch Interessengruppen, Parteien, Legislative und Regierung andererseits ist in diversen Studien dargelegt worden und bildet bis heute ein erklärungskräftiges Theorem in der Analyse der Interessenvermittlung.

Im Hinblick auf das Kommunikationsverhalten von Akteuren geht das Konzept der Kon­fliktlinien davon aus, daß es unabhängig von der sozialen Position und der Rolle des jeweili­gen Akteurs im Policy-Prozeß eine Gemeinsamkeit in der Kommunikation der Akteure gibt,

die die Koalitionen der jeweiligen Pole einer Konfliktlinie bilden (vgl. Gerhards 1993, S. 43). Mit jedem Pol einer Konfliktlinie sind spezifische Themenpräferenzen, Positionen zu den Themen, Deutungsmuster und zum Teil auch Ideologien verbunden, die entsprechend auch die öffentliche Kommunikation prägen werden.

Teilt man die Akteure unabhängig von der Frage, welche sozialstrukturelle Position sie in­nehaben (ob Partei oder Interessengruppe), entlang einer Links/Rechts-Achse ein, ist im Sinne der Theorie gesellschaftlicher Konfliktlinien zu erwarten, daß genau diese Einteilung die

Kommunikation über Abtreibung strukturiert. Wir haben die Akteure, die entlang einer ideo­logischen Orientierung klassifiziert werden können, ausgewählt und zu drei verschiedenen

Deutungsrahmen, die aus Idee-Elementen gebildet werden, in Beziehung gesetzt10: 1. Defini­tion des Fötus als menschliches Leben; 2. Konflikt zwischen dem Schutz des Lebens und den Rechten der Frau; 3. Rechte, Aufgaben und Selbstbestimmung der Frau.

Wir erwarten, daß - unabhängig von der Sozialposition des Akteurs im Policy-Prozeß - Akteure, die politisch links orientiert sind, das Thema Abtreibung in erster Linie mit dem Frame "Selbstbestimmung der Frau" rahmen und kommunikativ strukturieren und daß rechts­

orientierte Akteure das Thema Abtreibung mit dem Frame "Fötus als Leben" interpretieren und kommunikativ bearbeiten.

Tabelle 6: Deutungsrahmen und nach Konfliktlinien sortierte Akteure (in Prozent)

Fötus als mensch- Konflikt zwischen Selbstbestim-liches Leben Fötus und Selbst- mung der Frau

bestimmung

Lebenschützer 47,5 (9) 31,6 (6) 21,1 (4)Katholische Kirche 69,9 (346) 24,4 (121) 5,7 (28)Evangelische Kirche 56,1 (147) 30,2 (79) 13,7 (36)CDU/CSU/DSU 47,5 (455) 36,4 (348) 16,1 (154)FDP 22,3 (47) 23,2 (49) 54,5 (115)SPD 28,8 (132) 29,6 (136) 41,6 (191)Bündnis 90/Die Grünen 9,4 (6) 14,1 (9) 76,6 (49)PDS 20,0 (1) 80,0 (4)Frauengruppen - - 100,0 (21)

45,9 (1.143) 30,1 (748) 24,1 (602)

Anmerkung: Lambda = .14.

105

Die Ergebnisse bestätigen die formulierte Hypothese, auch wenn bei manchen Akteuren fallzahlbedingt die Interpretationen riskant sind. Die öffentliche Interpretation und Rahmung des Themas Abtreibung ist abhängig von der Position eines Akteurs innerhalb eines nach Konfliktlinien strukturierten Spektrums, und dies unabhängig von der Frage, ob es sich um Parteien oder Interessengruppen handelt. Das rechte Lager deutet das Thema Abtreibung do­minant im Rahmen "Fötus als Leben", das geschützt werden soll; das linke Lager präferiert eine Interpretation des Konflikts im Deutungsrahmen "Selbstbestimmung der Frau".

Setzt man diesen Befund in Beziehung zu den Ergebnissen unserer Hauptuntersuchung, müssen die dort gefundenen Ergebnisse ergänzt werden. Die Rationalität politischer Kom­munikation hat offensichtlich eine doppelte, sich wechselseitig durchdringende Struktur. Sie

ergibt sich einerseits aus der sozialen Positionierung der Akteure innerhalb der Teilsysteme des politischen Systems. Diese soziale Positionierung wiederum beeinflußt den Typus an Aussagen, der präferiert wird, und den Grad der Radikalität der Aussagen. Die inhaltliche Deutung eines Issue aber wird bestimmt durch die Konfliktlinienstruktur der Auseinanderset­zung. Ob und inwieweit diese Befunde der Untersuchung über das Thema "Abtreibung" hin­

aus generalisiert werden können, bleibt eine offene Frage.

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Literatur

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Neidhardt (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Meinung und soziale Bewegungen. Sonderheft 34

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fentliche Meinung und soziale Bewegungen. Sonderheft 34 der Kölner Zeitschrift für Sozio­logie und Sozialpsychologie. Opladen, S. 42-76.

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Anmerkungen

1 Daß die Sozialposition "Bundeskanzler" von den Abgeordneten des Bundestages ge­wählt und vom Bundespräsidenten ernannt wird, daß es zur Rollendefinition des Bundeskanz­lers gehört, ein Kabinett zusammenstellen zu dürfen, gegenüber den Ministern Richtlinien­kompetenz zu besitzen sowie über entsprechende Sanktionen zu verfügen und diese auch durchzusetzen, daß er und die Regierung Gesetzesinitiativrechte genießen und vieles mehr, ist

durch die Artikel 62 ff. der Verfassung definiert, die damit auch die Handlungsmöglichkeiten und die Handlungsbeschränkungen desjenigen festlegt, der die Position des Bundeskanzlers

einnimmt. Ähnlich explizite Definitionen gelten für die anderen Sozialpositionen des politi­schen Systems (Parlamentarier, Richter des Bundesverfassungsgerichts, Parteifunktionäre

etc.).2 Dies gilt auch für die frühen Arbeiten zum politischen System von Niklas Luhmann.

Nach der autopoietischen Wende seiner Systemtheorie ist das Konzept der Rolle als Baustein der Ausdifferenzierung von Teilsystemen immer mehr in den Hintergrund gerückt.

3 Fuchs faßt folgende Sozialpositionen und Rollen zu Teilsystemen des politischen Systems zusammen:

a) Das Publikumssystem, an der Inputseite des politischen Systems lokalisiert, umfaßt die. Sozialpositionen der Staatsbürger, der Interessengruppen und der Massenmedien. Die Formulierung von Ansprüchen gehört zu den zentralen Aufgaben dieser Positionen.

b) Politische Parteien bilden das intermediäre System der Vermittlung der formulierten

Ansprüche in Lösungsvorschläge und Politikalternativen.c) Diese werden dann von den Positionen der Legislative und der Exekutive entschieden

und von der Administration implementiert (Regierungssystem) sowied) durch das Publikumssystem akzeptiert oder zurückgewiesen.4 Die Inhaltsanalyse der deutschen Mediendebatte über Abtreibung ist selbst Teil eines

größeren deutsch-US-amerikanischen Vergleichsprojekts über Strukturen öffentlicher Mei­nungsbildung am Beispiel der Debatten über Abtreibung. Primärforscher sind auf amerikani­scher Seite William Gamson und Myra Marx Ferree, auf deutscher Seite Jürgen Gerhards, Monika Lindgens, Friedhelm Neidhardt und Dieter Rucht. Das Projekt wurde dankenswerter­weise von der Fritz-Thyssen-Stiftung und der National Science Foundation gefordert. Die Codierleitung lag bei Barbara S. Franz; die Texte wurden codiert von Bettina Becker, Uwe Breitenbom, Sabine Hödt und Inken Schröder.

5 In der Debatte über Pro und Kontra von Abtreibung wird das Thema von verschiede­nen Akteuren z. B. in unterscheidbare Rahmen, die die Bedeutung des Themas verändern, eingeordnet. Ein möglicher Rahmen, in dem das Abtreibungsthema behandelt wird, bezieht sich beispielsweise auf die Frage, ob der Staat den Bereich der privaten Entscheidungen der Bürger regeln sollte oder nicht. Hier wird das Thema in das Bedeutungsfeld "Staatsaufgaben/Schutz der Privatsphäre" eingebettet. Ein anderer Rahmen, in den das Thema plaziert werden kann, befaßt sich mit dem Abtreibungsthema im Hinblick auf die Frage, ob es

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mit dem Verbot von Abtreibungen nicht insofern zu einer sozialen Ungerechtigkeit kommt, als vermögende Frauen sich eine illegale Abtreibung eher leisten können als sozial schwächer gestellte Frauen. Hier wird das Thema in das Bedeutungsfeld "Soziale Gerechtigkeit" einge­ordnet. Ein dritter Rahmen lokalisiert das Abtreibungsthema in bezug auf die Frage, ob sich Frauen von primär männlichen Entscheidungsträgern (Verfassungsrichter, Abgeordnete im Bundestag) überhaupt etwas vorschreiben lassen sollen. Hier wird das Thema in das Feld "Selbstbestimmungsrechte der Frau" gesetzt. Die Beispiele mögen illustrieren, was mit unter­

schiedlichen Rahmungen des Themas Abtreibung gemeint ist.6 Die relativ starke Medienresonanz im Jahr 1988 steht nicht im Zusammenhang mit

den parlamentarischen Bemühungen um eine gesetzliche Regelung. 1988 findet in Memmin­

gen der Prozeß gegen den Arzt Horst Theissen statt, der bezichtigt wird, illegal Abtreibungen

durchgeführt zu haben,7 Die Variable Idee-Elemente umfaßt insgesamt acht Rahmen, die jeweils durch die

erste Stelle eines dreistelligen Codes gekennzeichnet sind. Innerhalb dieser acht unterscheid­baren Rahmen gibt es Teilrahmen, die jeweils durch die zweite Stelle des dreistelligen Codes

bezeichnet sind. Innerhalb dieser Teilrahmen finden sich dann als eigentliche Variablenaus­prägungen die Idee-Elemente, die durch die dritte Stelle des dreistelligen Codes angegeben werden. Idee-Elemente bilden folglich eine strukturierende Idee innerhalb eines Teilrahmens,

der wiederum Bestandteil eines umfassenderen Rahmens ist.8 Differenziert man wiederum die Parteien entlang des Kriteriums "Volkspartei versus

kleine Partei" - verbunden mit der Hypothese, daß die großen Volksparteien sich keine Ex­trempositionen leisten können, kleinere Parteien aber schon - und überprüft dann, inwieweit sich diese Hypothese bestätigen läßt, kommt man zu einem die Hypothese falsifizierenden Ergebnis: PDS, GRÜNE und Bündnis 90 sind im Einnehmen von Extrempositionen nicht

häufiger vertreten als CDU und SPD. Eine Ausnahme bildet die CSU.9 Inwieweit die Administration und die Judikative ebenfalls in diese Koalitionsgefüge

eingebunden sind, wird theoretisch in der Konfliktlinientheorie nicht reflektiert, aber in der politischen Kommunikation häufig in diesem Sinne interpretiert und kritisch kommentiert.

10 1. Definition des Fötus als Leben - Kontinuität der Entwicklung des LebensEiner der zentralen Rahmen zur Deutung der Abtreibungsproblematik ordnet das Thema in

die Frage ein, ob es sich bei dem Fötus um Leben handelt, ob es eine Kontinuität von pränata­

ler Existenz und dem Leben nach der Geburt gibt bzw. ob und wie die Grenzen zwischen dem Fötus und dem Leben nach der Geburt zu ziehen sind. Alle Idee-Elemente in dieser Bedeu­

tungsdimension rahmen das Thema Abtreibung im Hinblick auf die Definition von Leben. Innerhalb dieses Rahmens finden sich Idee-Elemente, die davon ausgehen, daß kein Unter­schied zwischen einem Leben vor und nach der Geburt existiert, aber auch Idee-Elemente, die von der umgekehrten Voraussetzung ausgehen.

2. Konflikt zwischen dem Schutz des Lebens und den Rechten der FrauDer zweite aus dem Material entwickelte Bedeutungsrahmen, in dem das Abtreibungsthe­

ma behandelt wird, nimmt eine Mittelstellung zwischen dem ersten und dem dritten Bedeu-

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tungsrahmen ein, d. h. der Definition des Fötus als Leben einerseits und der Thematisierung der Selbstbestimmung der Frau andererseits. Idee-Elemente, die in diesem Rahmen plaziert sind, gehen von einem Konflikt zwischen den beiden unterschiedlichen Prinzipien aus. Zum

Teil werden Güterabwägungen zwischen den beiden Werten durchgeführt, zum Teil werden aber Güterabwägungen gerade abgelehnt, womit aber nichtsdestotrotz der Rahmen, innerhalb dessen davon ausgegangen wird, daß es einen Konflikt zwischen dem Schutz des Lebens ei­nerseits und den Rechten der Frau andererseits gibt, benutzt wird.

3. Rechte, Aufgaben und Selbstbestimmung der FrauDie Fokussierung auf die Frau als Entscheidungsträgerin, auf Rechte, Aufgaben und die

Selbstbestimmung der Frau bildet einen weiteren Bedeutungsrahmen. Die Interpretation des

Abtreibungsthemas als Konflikt zwischen Männern und Frauen, die feministische Ladung des Themas, gehört in diesen Rahmen. Aber auch die Gegner einer Abtreibungsreform benutzen diesen Frame, wenn sie den Frauen das Selbstbestimmungsrecht in der Abtreibungsfrage mit unterschiedlichen Gründen abstreiten.

Die Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem

Dieter Fuchs und Barbara Pfetsch

1. Einleitung

Eine Analyse der Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem ist aus zwei miteinander verschränkten Perspektiven interessant. Zum einen aus der systemtheo­

retischen Perspektive des Kommunikationsprozesses zwischen dem Regierungssystem und seiner relevanten Umwelt. In Demokratien besteht letztere vor allem aus der Wählerschaft sowie aus den Gruppen und Medien, die deren Wünsche und Ansprüche an das Regierungs­system artikulieren und transportieren. Als zusammenfassender Ausdruck für die verschiede­nen Akteure dieser Umwelt des Regierungssystems kann der Begriff des Publikums (Luhmann 1970) verwendet werden und als zusammenfassender Ausdruck für die Wünsche

und Ansprüche - zumindest vorläufig - der Begriff der öffentlichen Meinung. Aus einer de­mokratietheoretischen Perspektive stellt sich zum anderen die Frage, in welcher Weise und wie stark das Regierungssystem in seinen Handlungen auf diese öffentliche Meinung reagiert und sich an ihr orientiert. Deskriptive Befunde aus der systemtheoretischen Perspektive sind Voraussetzungen für normative Bewertungen aus der demokratietheoretischen Perspektive.

Unser methodischer Zugriff auf dieses Thema besteht nicht in der empirischen Rekon­struktion der tatsächlichen Beobachtungsprozesse der öffentlichen Meinung durch das Regie­

. . irungssystem, sondern in der Ermittlung der Vorstellungsbilder derjenigen Akteure des Regie­rungssystems, die speziell für diese Beobachtungsfunktion ausdifferenziert sind und die ihreinstitutioneile Zuordnung in den sogenannten Öffentlichkeitsabteilungen des Regierungsappa-

2rates haben. Diese Vorgehensweise wurde aus zwei Gründen gewählt: erstens aus dem prag­matischen Grund, daß eine empirische Rekonstruktion der tatsächlichen Beobachtungsprozes­se äußerst aufwendig ist und, da sie immer nur themenspezifisch vorgenommen werden kann, zudem zu Generalisierungsproblemen führt. Zweitens aus dem substantiellen Grund, daß die Vorstellungsbilder der Akteure des Regierungssystems über dessen relevante Umwelt die Kommunikationsweise mit dieser Umwelt weitgehend determinieren. Die Konstruktionen, die innerhalb des Regierungssystems in bezug auf die Umwelt vorgenommen werden, legen die Medien und Formen und zum Teil auch die Inhalte fest, über die das Regierungssystem mit seiner Umwelt kommuniziert.

Mit dem Analysethema verbinden die meisten Leser mit sozialwissenschaftlichem Hinter­

grund zweifelsohne ein unmittelbares intuitives Verständnis. Wie wir aber zeigen wollen, dürfte dieses inhaltlich sehr unterschiedlich sein, was vor allem an der Ambiguität des Be­griffs der öffentlichen Meinung und an den unterschiedlichen Weisen liegt, wie man sich de­ren Beobachtung vorstellen kann. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, ergibt sich auch der Aufbau unserer Analyse. Wir beginnen mit einer Diskussion des Begriffs der öffentlichen

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Meinung und versuchen dann unter Rekurs auf systemtheoretische Überlegungen, die Beob­

achtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem zu explizieren. Auf dieser Grundlage können Erwartungen über die Vorstellungsbilder der in den Öffentlichkeitsabtei

hingen des Regierungssystems wirkenden Akteure zur öffentlichen Meinung und ihrer Beob­achtung spezifiziert werden. Die Erwartungen werden in dem danach folgenden empirischen Teil überprüft. Die Analyse schließt mit einer Zusammenfassung und Diskussion der ermittel­

ten Ergebnisse ab.

2. Theoretischer Rahmen

2.1 Der Begriff der öffentlichen Meinung

In den liberalen Demokratien der modernen Gesellschaften konkretisiert sich das Prinzip

der Volkssouveränität auf einer formalen Ebene in der Besetzung der Entscheidungspositio­nen durch das Wählervotum in kompetitiven Wahlen und auf einer inhaltlichen Ebene in der

Responsivität der selektierten Entscheidungsträger gegenüber der öffentlichen Meinung. Be­züglich dieses Stellenwertes der öffentlichen Meinung in den demokratischen Prozessen be­steht eine weitgehende Übereinstimmung. Um so erstaunlicher ist deshalb die Unklarheit dar­über, was öffentliche Meinung denn eigentlich sei. So beginnen fast alle Analysen, die mit diesem Begriff arbeiten, mit der Feststellung, daß es sich um einen vieldeutigen, schillernden

oder sogar mysteriösen Terminus handle. Sie machen in der Regel dann einen Vorschlag, was ihrem Verständnis nach öffentliche Meinung denn wirklich sei, fügen damit aber der Vieldeu­tigkeit häufig nur eine weitere Komponente hinzu. Es muß demnach ein anderer Weg gefun­

den werden, um aus diesem Dilemma herauszukommen. Bevor wir darauf eingehen, ist es notwendig, das Dilemma selbst, d. h. die Vieldeutigkeit des Begriffs der öffentlichen Mei­nung, zu skizzieren. Dabei soll nicht noch einmal die Geschichte des Begriffes ausgebreitet,

sondern lediglich versucht werden, die unterschiedlichen Bedeutungen etwas zu systematisie­ren, die sich in der aktuellen Begriffsverwendung auffinden lassen.

Wir beginnen mit einer Exploration des semantischen Feldes des Begriffs und knüpfen da­bei an seine beiden Bestandteile an. Eine Meinung setzt einen Gegenstand voraus, über den man sich eine Meinung bildet. Im Kontext des politischen Systems sind die wichtigsten Ge­

genstände politische Themen und politische Akteure. Eine Meinung zu Themen und Akteuren kann auf zwei ganz unterschiedliche Weisen geäußert werden. Erstens durch eine allgemeine Bewertung im Sinne von gut/schlecht, richtig/falsch, stark/ schwach etc. Zweitens durch eine inhaltliche Präferenz, die mit einem Thema oder mit programmatischen Positionen der Akteu­re verbunden ist. Eine solche inhaltliche Präferenz kann dann ihrerseits wieder im erwähnten Sinne bewertet werden und erfährt auf diese Weise eine Art Gewichtung oder bekommt eine Intensität. Diese beiden Bedeutungen von Meinung im Sinne einer allgemeinen Bewertung eines Objektes oder einer Präferenz für eine von mehreren konkurrierenden Alternativen sind

die naheliegenden, und dementsprechend wird der Begriff in der Regel auch verwendet. Im

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Rahmen der Massenkommunikationsforschung hat sich eine dritte Bedeutung herausgebildet, die sich vor allem auf das Thema und weniger auf die Meinung dazu bezieht. Es kann als ei­nes der gesicherten Ergebnisse der Massenkommunikationsforschung gelten, daß die in den

Massenmedien diskutierten Themen einen mehr oder weniger großen Effekt auf die Themen haben, die die Bürger auch tatsächlich diskutieren (Rogers/Dearing 1988). Die Agenda- Setting-Funktion der Massenmedien ist für die Meinungsbildung insofern relevant, als von der Themensetzung prägende Wirkungen auf die Einstellungen der Bürger zu politischen Themen

und politischen Akteuren ausgehen (Iyengar/Kinder 1987).Etwas komplexer stellt sich das semantische Feld des Bestandteils öffentlich im Begriff der

öffentlichen Meinung dar. Eine sinnvolle Annäherung kann über die Heranziehung des Ge­genbegriffs "privat" erfolgen (Luhmann 1970; Peters 1994). Mit der binären Unterscheidung öffentlich/privat ist die Vorstellung eines Heraustretens aus dem privaten Raum und eines Hineintretens in einen öffentlichen Raum verbunden, wenn von öffentlicher Meinung die Re­

de ist. Was aber sind der private und der öffentliche Raum? Hinsichtlich des privaten Raums lassen sich zwei Varianten unterscheiden. Zum einen kann privat als das begriffen werden,

was lediglich im Bewußtsein eines Individuums vorkommt und nicht in Kommunikationen zwischen Individuen überführt wird (Luhmann 1984, S. 142 f., 239 f.); der private Raum ist in diesem Sinne der Raum des eigenen Bewußtseins. Zum anderen kann privat als das begriffen werden, was. in der primären Lebenswelt der eigenen Familie (und eventuell auch der Freun­de) verbleibt; dementsprechend stellt diese primäre Lebenswelt den privaten Raum dar. Aus diesen Bestimmungen des Privaten ergibt sich die Definition des Öffentlichen: Eine Mei­

nungsäußerung ist dann öffentlich, wenn sie vor anderen, d. h. vor einem Publikum, erfolgt. Ausgehend von der engeren Fassung des Privaten, zählt zu diesem Publikum jeder andere; ausgehend von der weiteren Fassung, gehören zu dem Publikum lediglich unvertraute oder unbekannte andere. Vor allem bei letzterer Definition stellt sich die Frage, wo die Orte des Öffentlichen sind, die den Raum der Kommunikation in der Wirklichkeit erst bilden. Neid­

hardt (1994, S. 7) bezeichnet diese Orte mit der Metapher des Forums, wonach Sprecher in einer Arena etwas vor einem Publikum in einer dazugehörigen Galerie äußern. Diese Meta­

pher ist aber noch keine Beschreibung realer Orte, sondern lediglich eine Heuristik, diese auf­

zufinden. Solche realen Orte können Plätze, Hallen oder auch Straßen sein, die eher "kleine Öffentlichkeiten" konstituieren, oder aber die Massenmedien, bei denen dann von "großen Öffentlichkeiten" gesprochen werden kann (Gerhards 1993, S. 33 f.; Neidhardt 1994, S. 10).

Diese Differenz von kleinen und großen Öffentlichkeiten wird zwar an der Größe des

Raumes festgemacht, sie steht aber in einer eindeutigen Beziehung zu der Menge von Perso­nen, vor denen und zwischen denen Kommunikation in diesem Raum stattfinden kann. Damit ist neben der Distinktion von öffentlich/privat eine zweite Bedeutungsdimension des Öffentli­

chen im Begriff der öffentlichen Meinung angesprochen: die Größe des Publikums, das sich in dem jeweiligen öffentlichen Raum zusammenfindet und sich eine Meinung zu einem The­ma oder einem Akteur bildet. Ab welcher Größenordnung sind in einem öffentlichen Raum geäußerte Meinungen aber eine öffentliche Meinung: wenn alle - oder zumindest fast alle - sie

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teilen? Wenn eine Mehrheit sie teilt? Oder ist jede öffentlich kommunizierte Meinung eine öffentliche Meinung, die dann immer nur in einer Pluralität auftritt? Da es an dieser Stelle lediglich um die Deskription der Vieldeutigkeit öffentlicher Meinung geht, muß diese Frage

hier nicht entschieden werden.Während sich die beiden bisher erläuterten Bedeutungsdimensionen von öffentlicher Mei­

nung auf die quantitativen Aspekte der Größe des öffentlichen Raums, in dem Meinungen kommuniziert werden,' und der Menge von Personen, die diese Meinungen teilen, beziehen,

verweist eine dritte auf die Qualität der öffentlichen Meinung. Wenn also einmal von der Fra­ge abgesehen wird, wie viele Bürger eine Meinung teilen müssen, damit diese als öffentliche Meinung gelten kann, und in welchem öffentlichen Raum die Meinungsbildung stattfindet, rückt diese qualitative Bedeutung die Art und Weise des Zustandekommens von öffentlicher Meinung in den Blickpunkt. Nicht alle öffentlich geäußerten Meinungen können aus dieser normativen Perspektive als öffentliche Meinung bestimmt werden, sondern nur diejenigen, die das Ergebnis öffentlicher Diskurse sind (Habermas 1962). Erst eine diskursiv zustande ge­kommene öffentliche Meinung kann im Unterschied zu einer zufällig bestehenden Meinungs­

konstellation als eine legitime öffentliche Meinung der Bürger zu einer öffentlichen Angele­genheit begriffen werden.

3Diese drei Bedeutungsdimensionen öffentlicher Meinung mit ihren jeweils unterschiedli­

chen Bedeutungsausprägungen können in vielfältiger Weise kombiniert werden. In der wis­

senschaftlichen Diskussion haben sich aber drei dominante Varianten herausgebildet, die je ­weils unterschiedliche Bedeutungsaspekte betonen. Als erste - und im anglo-amerikanischen Sprachraum vorherrschende - Variante ist das Verständnis von öffentlicher Meinung als Ag­

gregation von Individualmeinungen zu nennen, d. h. eine statistisch ermittelbare Verteilung der Einstellungen von Bürgern zu einem bestimmten Objekt (Themen, Akteure). Dieses Ver­ständnis wird in der Definition von Fünfter (1995, S. 1027) sehr deutlich:

"[Public opinion are] the political values, attitudes, or opinions of the general public of a country or other political unit, usually understood to include voting patterns or other political behavior ... In the light of the central importance o f’the people' in democracy, the ... public opinion and its influence on political decisions must be considered in evaluating the extent of democracy in any political sy­stem."

Diese Definition von öffentlicher Meinung bezieht sich - unter Verweis auf das Prinzip der Volkssouveränität - lediglich auf die Gesamtheit der Bürger einer gegebenen Demokratie. Dabei interessiert zunächst einmal nicht, ob die Meinung der jeweils einzelnen Bürger zu ir­

gendeinem Zeitpunkt in einem öffentlichen Raum kommuniziert wurde, d. h. über das Be­wußtsein der Bürger hinausgegangen ist, sondern nur, welche Meinungen die Mitglieder der

politischen Gemeinschaft zu einem gegebenen Zeitpunkt haben. Die vom unmittelbaren Wortsinn her naheliegende Distinktion von öffentlich/privat spielt bei diesem Begriff keine Rolle. Dieses Verständnis öffentlicher Meinung ist in den US-amerikanischen Sozialwissen­schaften offenbar so dominant, daß es häufig nicht mehr eigens expliziert wird, sondern die

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Ausgangsprämisse für weitere Analysen bildet (Converse 1987; Jacobs/Shapiro 1994; Steiner

1994; Zaller 1994).Von dieser Variante öffentlicher Meinung grenzt sich das Verständnis von Gerhards (1993,

S. 25) und Neidhardt (1994, S. 26) ab, die postulieren, daß die aggregierten Individualmei­nungen gerade nicht öffentliche Meinung seien. Beide Autoren können sich dabei auf theore­tische Überlegungen von Luhmann (1990, S. 172) stützen, der das Bewußtsein von Individuen scharf absetzt von einer Kommunikation zwischen Individuen und öffentliche Meinung nur auf letzteres bezieht. Für Gerhards und Neidhardt ist der primäre Referenzpunkt in dem kom­plexen semantischen Feld des Begriffs also die Distinktion von öffentlich/privat. Öffentliche

Meinung ist bei ihnen damit auf Themen und Meinungen zu Themen beschränkt, die in einem

öffentlichen Raum kommuniziert werden. Hinsichtlich des öffentlichen Raums, in dem kom­muniziert wird, schlagen sie eine differenzierte Konstellation von Orten vor (Gerhards/Neidhardt 1990, S. 19 ff), fokussieren ihre Analysen aber letztlich doch weitge­hend auf massenmedial vermittelte Kommunikationen. Beide Autoren begründen die Rele­vanz der Analyse öffentlicher Meinung zunächst mit der Bedeutung, die sie im demokrati­

schen Prozeß hat und dabei vor allem in dem Einfluß auf das Handeln der politischen Akteure im Entscheidungssystem. In Anlehnung an Noelle-Neumann (1979) nehmen sie bei ihrer weiteren Begründung des Stellenwertes öffentlicher Meinung dann eine folgenreiche Zuspit­zung vor. Danach ist ein Einfluß der öffentlich kommunizierten Meinungen auf das Entschei­dungssystem nur dann wahrscheinlich, wenn sich diese zu einer relativ einheitlichen öffentli­chen Meinung verdichten (Gerhards 1993, S. 11, 24 f.) oder aber zu einer Konsonanz der ver­öffentlichten Meinung (Neidhardt 1994, S. 26) führen. Diese systematische Unterscheidung

zwischen den vielfältigen veröffentlichten Meinungen zu einem Thema und einer einheitli­chen öffentlichen Meinung dazu ist einerseits sinnvoll; andererseits aber stellen beide Autoren fest, daß es nur in seltenen Fällen zu einer solchen Verdichtung oder Konsonanz kommt. Dies wirft dann das Folgeproblem auf, daß öffentliche Meinung eben auch nur in seltenen Fällen eine Rolle im demokratischen Prozeß spielen kann, und das wiederum entspricht offenkundig nicht der politischen Wirklichkeit.

Eine dritte Variante des Verständnisses von öffentlicher Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion stellt die Qualität der öffentlichen Meinung in den Vordergrund. Es ist ein norma­tiver Begriff der öffentlichen Meinung, der in der Demokratietheorie eine lange Tradition hat und in jüngster Zeit von Habermas (1992) in einen umfassenden demokratietheoretischen Kontext eingearbeitet wurde. Peters (1994) hat diese Perspektive in einer etwas engeren Blickrichtung, die auf den Begriff selbst fokussiert ist, noch einmal aufgegriffen. Öffentliche

Meinung ist diesem normativen Begriff zufolge eine "anspruchsvolle" öffentliche Meinung, die aus öffentlichen Diskursen hervorgeht und deshalb Vernünftigkeit und Legitimität bean­spruchen kann (Peters 1994, S. 47). Da unsere Analyse vor allem in deskriptiver Absicht er­folgt, kann dieser Begriff der öffentlichen Meinung in unserem Kontext etwas zurücktreten. Wir kommen auf ihn aber bei der empirischen Darstellung des Verständnisses öffentlicher Meinung im Regierungssystem sowie in den Schlußfolgerungen noch einmal zurück.

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Als wichtigstes Ergebnis der Exploration des semantischen Begriffsfeldes von öffentlicher Meinung und der Darstellung der dominanten Verständnisvarianten der öffentlichen Meinung in der wissenschaftlichen Diskussion ist die Vielzahl von Sachverhalten bzw. von Bezeichne­tem hervorzuheben, die in unterschiedlichen Bündelungen mit der identischen Bezeichnung (öffentliche Meinung) versehen werden. Um aus diesem Vieldeutigkeitsdilemma herauszu­

kommen, gibt es mindestens drei Strategien:1. Man schafft für unterschiedliche Sachverhalte unterschiedliche Begriffe und konstru­

iert auf diese Weise größere Eindeutigkeiten zwischen Bezeichnetem und Bezeichnung.2. Man reklamiert nur einen der vielfältigen Sachverhalte als die angemessene Zuord­

nung zu der Bezeichnung und nimmt das als die "eigentliche" öffentliche Meinung an.3. Man geht davon aus, daß es faktisch mehrere Sachverhalte gibt, die mit dem Begriff

verbunden werden, und gibt dann genau an, für welchen Sachverhalt aus welchem Grunde

man die Bezeichnung öffentliche Meinung wählt.Die ersten beiden Strategien scheinen uns wenig aussichtsreich zu sein. Der Begriff der öf-

. 4 .fentlichen Meinung ist ein historisch gewachsener Terminus. Dies macht einerseits seine

Bedeutungskomplexität aus, erschwert andererseits aber auch eine Begrenzung dieser Mehr­deutigkeit, weil sie sowohl in der alltäglichen als auch in der wissenschaftlichen Kommuni­kation viel zu eingespielt ist. Die Lösung des Begriffsproblems kann unseres Erachtens nur in der dritten Alternative liegen, d. h. in der Explikation des eigenen Analysekontextes, in dem öffentliche Meinung eine Rolle spielt, und in der Erläuterung des Verständnisses von öffentli­cher Meinung für diesen Kontext. Dies wird im folgenden durch die Diskussion der spezifi­schen Rationalität des Regierungssystems und seiner von dorther gesteuerten Kommunikation mit der Umwelt versucht.

2.2 Die Kommunikation zwischen dem Regierungssystem und seiner Umwelt

In einer systemtheoretischen Perspektive ist das politische System eines der primären ge­sellschaftlichen Teilsysteme. Jedes dieser Teilsysteme differenziert sich nach drei Kriterien aus der Gesellschaft aus. Erstens durch eine bestimmte Funktion oder Leistung, die es für die Gesellschaft zu erbringen hat. Es ist eine in der Systemtheorie kontrovers diskutierte Frage, inwieweit derartige Leistungsbestimmungen durch einen analysierenden Beobachter quasi

objektiv vorgenommen werden können. Wir teilen die Auffassung von Mayntz (1988), daß von einem ausdifferenzierten Teilsystem sinnvollerweise nur dann gesprochen werden kann,

wenn die ihm zugeschriebene Funktion letztlich auch in den subjektiven Orientierungen der Akteure aufzufinden ist, die sowohl innerhalb des Systems selbst als auch in seiner dazuge­hörigen Umwelt handeln. Andernfalls ist das Risiko relativ willkürlicher Systemansetzungen zu groß. Im Falle des politischen Systems ist die Sachlage eher unproblematisch. Nach allge­mein geteiltem Verständnis besteht die Funktion des politischen Systems für die Gesellschaft in der Realisierung kollektiver Ziele durch die Herstellung kollektiv bindender Entscheidun­gen.

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Um diese Funktionen erbringen zu können, bilden sich bestimmte Rollenkomplexe heraus,

die darauf bezogen sind. Dies ist das zweite und vermutlich eindeutigste Ausdifferenzierungs­kriterium. Diese Rollenkomplexe sind durch die Verfassung rechtlich definiert, und sie legen

fest, welche Handlungen und Interaktionen in dem Teilsystem zulässig und geboten sind. Die­se Rollenkomplexe stellen die Struktur des Systems dar, wobei unterschiedliche strukturelle Konfigurationen unterschiedliche Systemtypen konstituieren. Der besondere Typ des politi­

schen Systems der Bundesrepublik Deutschland wird in der Regel als eine liberale Demokra­

tie bezeichnet oder, noch konkreter, als eine parlamentarische Demokratie.Ein drittes Ausdifferenzierungskriterium besteht in der Herausbildung einer spezifischen

Systemrationalität, die sich von den Rationalitäten anderer Systeme in der Umwelt des Teil­systems unterscheidet. Auch bei diesem Kriterium gehen wir davon aus, daß diese Rationalität nicht einfach angesetzt werden kann, sondern nur dann wirklich existiert, wenn die Akteure des Systems sie sich in ihrem Handeln auch zu eigen machen. Wie wir zeigen wollen, ist die

spezifische Rationalität des Regierungssystews eng mit der Struktur dieses Systems ver­knüpft.

Das politische System der Bundesrepublik Deutschland weist wie alle liberalen Demokra­

tien eine ganz bestimmte interne Differenzierung auf. Diese besteht in einer Zentrierung der eigentlichen Entscheidungstätigkeit auf ein Teilsystem des politischen Systems, das als Regie­

rungssystem. bezeichnet werden kann und in jedem Falle Parlament, Regierung (in einem en­geren Sinne) und Verwaltung umfaßt. Die für das Regierungssystem relevante Umwelt ist das Publikum, das in liberalen Demokratien vor allem aus den Wählern besteht. Die Wählerrolle ist die entscheidende Rolle des Publikums, durch die dieses an der Entscheidungstätigkeit des Regierungssystems partizipiert, ln systemtheoretischer Terminologie werden die Aus­tauschprozesse zwischen einem System und seiner Umwelt als Kommunikationen gefaßt. Diese Kommunikationen können natürlich aus beiden Perspektiven betrachtet werden, aber die für uns relevante Perspektive ist die des Regierungssystems. Nach Luhmann (1984) ist die Kommunikation eines jeden Systems mit seiner Umwelt hoch selektiv. Diese Selektivität be­ruht auf einer Beobachtung der Umwelt durch das System nach systeminternen Gesichtspunk­ten. Insofern ist die Kommunikation des Systems mit seiner Umwelt selbstreferentiell: Aus der unendlichen Vielfalt von möglichen Umweltereignissen und Umweltzuständen wird nur das wahrgenommen und somit zu einer Information für das System, was für die systemeige­nen Operationen von Belang ist. Das bedeutet umgekehrt: Wenn irgendwelche Anstöße und Anregungen aus der Umwelt an das System herangetragen werden - im Falle des Regierungs­systems sind das vor allem Wünsche und Ansprüche der Bürger -, dann können diese nur durch den Filter der systemeigenen Operationen wahrgenommen werden und eine Relevanz bekommen. Luhmann (1986, S. 40) schlägt zur begrifflichen Fixierung des Sachverhaltes, daß das System auf die Umwelt nur nach Maßgabe seiner eigenen Struktur und Rationalität rea­gieren kann, den Begriff der Resonanz vor.

Um zu klären, wodurch die Beobachtung der Umwelt durch das System und die darauf gründende Resonanz auf die Umwelt im System konkret gesteuert wird, bedarf es einer

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handlungstheoretischen Wendung des systemtheoretischen Bezugsrahmens : Da es immer

konkrete Akteure sind, die den Kommunikationsprozeß zwischen System und Umwelt fak­tisch gestalten, müssen diese selektiven Operationen des Systems auch in den Handlungsori­entierungen seiner Akteure lokalisierbar sein. Sofern es um Handlungsorientierungen geht, die alle Akteure als Rollenträger des Systems haben, kann man zunächst einmal nur von einer generalisierten Handlungsorientierung sprechen, die als solche die spezifische Rationalität des Systems ausmacht. Bei Analysen konkreter Systeme ist es immer ein Problem, vorab zu be­stimmen, was denn die systemspezifische Rationalität sein könnte und woher diese überhaupt kommt. Als mögliche Anknüpfungspunkte werden dann historische Betrachtungen oder aber Bezugnahmen auf strukturelle Restriktionen vorgenommen. Da letzteres etwas weniger speku­

lativ ist, wählen wir diesen Weg, der im Falle des politischen Systems überdies zu einfachen und naheliegenden Schlußfolgerungen führt.

Die für das Handeln der Akteure der Politie entscheidenden Restriktionen liegen in libera­len Demokratien in den beiden folgenden institutionell festgelegten Sachverhalten:

1. Das Herstellen kollektiv bindender Entscheidungen kann nur durch die Besetzung von dafür vorgesehenen Entscheidungspositionen erfolgen.

2. Über die Besetzung dieser Entscheidungspositionen entscheiden die Bürger in Form

von periodischen Wahlen im Rahmen eines Parteienwettbewerbs.Aufgrund, dieser strukturellen Restriktionen kann als die grundlegende und generalisierte

Handlungsorientierung aller Akteure des Regierungssystems der Versuch angesehen werden,

diese Entscheidungspositionen zu besetzen; d. h. zunächst einmal, die Parlamentssitze einzu­nehmen, und dann vor allem, die Regierung zu stellen bzw. zu behalten. Selbst wenn das pri­märe Motiv eines individuellen oder kollektiven Akteurs die Verwirklichung bestimmter pro­

grammatischer Ziele sein sollte und nicht das instrumentelle Motiv des Machtgewinns bzw. Machterhalts dominiert, ist die Besetzung von Entscheidungspositionen die notwendige Be­dingung. Luhmann (1986, S. 170) bezeichnet deshalb den binären Code von Regie- rung/Opposition als den Spezialcode des politischen Systems in modernen Gesellschaften.

Die generalisierte Handlungsorientierung der Akteure des Regierungssystems besteht dem­nach in der Erlangung bzw. Erhaltung von Entscheidungspositionen, was über das Votum der Wähler vermittelt wird. Diese generalisierte Handlungsorientierung, die vor allem auf grund­legenden Strukturkomponenten des politischen Systems beruht, ist der wichtigste "Constraint" für die "Choices" aller Akteure. Bei den periodischen Wahlen bestehen die Choices selbst in unterschiedlichen programmatischen und personellen Angeboten der Parteien an die Wähler, und während der Legislaturperiode im Treffen bestimmter Entscheidungen. Letzteres ist durch die Antizipation der kommenden Wahlen wiederum an den Regierungs/Oppositions-

Mechanismus zurückgekoppelt. Die für die Akteure des Regierungssystems entscheidende Frage ist somit, welche Choices oder konkreten Handlungsoptionen sie zum Zwecke dieser generalisierten Handlungsorientierung ergreifen sollen. Das durch die Wahl zum Ausdruck gebrachte Votum der Wähler bezieht sich zunächst einmal auf die Stimmenverteilung für die konkurrierenden Parteien und auf die Sitzverteilung im Parlament und ist noch zu wenig in­

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struktiv für das, was die Wähler inhaltlich genau wollen. Zudem können sich die Präferenzen der Wähler im Verlauf der Legislaturperiode ändern. Aus diesem Grunde müssen sich die Akteure des Regierungssystems in ihrem Handeln permanent an der öffentlichen Meinung orientieren als der laufenden Momentaufnahme dessen, was die Bürger wollen und wovon sie ihre Stimmabgabe abhängig machen. Die Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem bestimmt auch dessen Resonanz auf seine Umwelt. Luhmann (1986,

S. 175) hat dies in prägnanter Weise zusammengefaßt: "Politische Resonanz kommt vor allem dadurch zustande, daß die 'öffentliche Meinung' als der eigentliche Souverän differentielle Chancen der Wiederwahl suggeriert."

Damit sind wir wieder bei dem Begriff der öffentlichen Meinung, der im vorangehenden

Abschnitt erläutert wurde. Durch die Explikation des strukturellen Kontextes, in dem die Ak­teure des Regierungssystems handeln, hat die Betrachtungsperspektive aber einen eindeutigen Referenzpunkt gewonnen. Welches Verständnis von öffentlicher Meinung müssen die Akteu­

re der Politie plausiblerweise haben, wenn es auf die generalisierte Handlungsorientierung der Politie oder auf "differentielle Chancen der Wiederwahl" bezogen wird?

2.3 Die Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem

Als die beiden wichtigsten Verständnisvarianten von öffentlicher Meinung wurden zum ei­nen die aggregierten Individualmeinungen der Bürger und zum anderen die öffentlich kom­munizierten Meinungen ganz unterschiedlicher Akteure dargestellt. Wenn lediglich von der Prämisse ausgegangen wird, daß die spezifische Rationalität des Regierungssystems im Code von Regierung/Opposition besteht, ergibt sich eine ganz eindeutige Gewichtung zwischen beiden: Öffentliche Meinung muß aus dem Eigeninteresse des Systems und seiner Akteure

heraus primär als die aggregierten Individualmeinungen der Bürger verstanden werden. Dem­entsprechend ist es nicht mehr begründungsbedürftig, warum die individuellen Meinungen der Bürger von den Akteuren des Regierungssystems als eine maßgebliche öffentliche Meinung betrachtet werden, sondern warum die in den Medien öffentlich kommunizierten Meinungen

überhaupt eine Rolle für sie spielen sollen. Gerhards (1993, S. 26) hat diese Problematik im Auge gehabt, wenngleich sie bei ihm zu etwas anderen Konsequenzen führte als in unserem Falle:

"Die Stärke des Einflusses öffentlicher Meinung [im Sinne von veröffentlichter Meinung] ergibt sich aus dem Verhältnis zu anderen Einflußkanälen. Die Meinungsumfragen stellen ein funktionales Äquivalent dar. Je besser und genauer diese die Meinungen und Bedürfnisse der Bürger abtasten,

desto bedeutungsloser wird die öffentliche bzw. veröffentlichte Meinung als Ersatzindikator" (Hervorhebung durch Fuchs/Pfetsch).

Angesichts der enormen Professionalisierung der Umfrageforschung und der damit ver­bundenen Akkumulation von methodischem Wissen, die in den letzten Jahrzehnten erfolgte, ist es wenig plausibel, auf diesen "Ersatzindikator" für die eigentlich interessierenden Indivi­

120

dualmeinungen der Bürger zurückzugreifen, zumal die technischen Instrumente der Beobach­tung der Massenmedien vergleichsweise weniger ausgereift sind.

Trotz dieser Argumente, die für eine Fokussierung der Aufmerksamkeit des Regierungs­systems auf die Beobachtung der individuellen Meinungen der Bürger sprechen, bleibt die Tatsache bestehen, daß faktisch von allen Akteuren des Regierungssystems auch die öffent­lich kommunizierten Meinungen kontinuierlich beobachtet werden. Der Grund dafür kann sicherlich nicht in deren Eigenschaft als einem "Ersatzindikator" für die letztlich interessie­renden Bürgermeinungen zu suchen sein. Worin aber dann? Über diese Gründe gibt es unseres

Wissens kaum empirische Informationen, so daß hier nur verschiedene Vermutungen ange­

stellt werden können.Eine erste Annahme bezieht sich auf ein bestimmtes Verhältnis von Bürgermeinungen und

massenmedialen Meinungen in den Vorstellungsbildern der Akteure des Regierungssystems. Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen wissen diese Akteure, daß die Meinungen der Bürger zum einen eine fluide Größe sind und sich zum anderen nicht nur autonom in den einzelnen Bürgern selbst bilden, sondern auch ein Produkt massenmedial vermittelter Kommunikation

darstellen. Ungeachtet der Stärke dieses Effektes der Massenkommunikation auf die indivi­

duelle Meinungsbildung wird dadurch nicht der Tatbestand beeinträchtigt, daß es letzten En­des individuelle Wahlakte der Bürger mit individuell mobilisierten Wahlmotiven sind, die für

die Besetzung der Entscheidungspositionen maßgeblich sind. Wenn also ein Einfluß der öf­fentlich kommunizierten Meinungen auf die Meinungsbildung der Bürger unterstellt werden

kann, ist es für die Akteure des Regierungssystems auch rational, diese Determinante der Meinungsbildung der Bürger zumindest auch zu beobachten und gegebenenfalls zu beeinflus­sen. Interessanterweise wurden die Massenmedien auch schon in Zeiten aufmerksam beobach­tet, als die vorherrschende Meinung der Massenkommunikationsforschung noch eher von ei­nem geringen Effekt der Massenmedien auf die Bürgermeinungen ausging. Die Politiker ver­fügten diesbezüglich offenbar über eine bessere Intuition, die erst neuerdings von der For­schung eingeholt wurde. Zudem konnten sie sich unter den Bedingungen des Wettbewerbs zwischen verschiedenen Parteien das Risiko einfach nicht leisten, eine mögliche Determinante der für sie entscheidenden Bezugsgröße - die individuellen Meinungen der Bürger und ihr darauf beruhendes Wahlverhalten - nicht zu berücksichtigen, denn der konkurrierenden Partei wäre dadurch ein Informationsvorsprung ermöglicht worden, falls sie die veröffentlichte Mei­nung beobachtet hätte.

Die zweite Vermutung bezieht sich auf die Bedeutung der massenmedialen Kommunikati­

on für das Regierungssystem unter inhaltlichen Gesichtspunkten. Zum einen sind die Mas­senmedien eine der wichtigsten Quellen, über die das Regierungssystem Informationen über

gesellschaftliche Problemlagen gewinnen kann, auf die es seinerseits reagieren muß. Diese gesellschaftlichen Problemlagen können, aber müssen sich nicht in den Wahrnehmungen der Bürger spiegeln. Zum anderen stellt die massenmediale Kommunikation ein sensibles und schnell reaktionsfähiges System dar, das vom Regierungssystem als eine Art Rückkopplungs­instanz verwendet werden kann, indem es anzeigt, wie Problemidentifikationen und Lösungs-

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Vorschläge des Regierungssystems in der Umwelt des Systems ankommen, was politisch durchsetzbar ist und was nicht (vgl. dazu Pfetsch 1993). Unter Verwendung der Terminologie von Luhmann (1986, S. 51 ff.) kann das auch pointierter formuliert werden: Es handelt sich um eine Selbstbeobachtung des Regierungssystems durch Beobachtung der Fremdbeobach­

tung seitens der Massenmedien. Durch diese selbstreferentielle Kommunikation mit seiner Umwelt gewinnt das Regierungssystem die Informationen, die seine Resonanz auf die Um­

welt bestimmen.Die dritte Vermutung bezieht sich auf Implikationen der strukturellen Ausdifferenzierung

eigener Öffentlichkeitsabteilungen im Regierungssystem. Diese Ausdifferenzierung muß

rechtskonform verlaufen, d. h. vor allem mit den Verfassungsnormen übereinstimmen. Nach

den verschiedenen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts ist es die vordringliche Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit des Regierungssystems, die Öffentlichkeit über Maßnahmen und Vorhaben so zu informieren, daß diese durch die Öffentlichkeit auch sachgerecht beurteilt werden können (Schürmann 1992). Unter Öffentlichkeit werden dabei sowohl die Bürger als

auch die Presse und das Fernsehen verstanden. Der Presse und dem Fernsehen wird bei dem Prozeß der politischen Willensbildung eine Funktion als "Motor und Sprachrohr" (Schürmann 1992, S. 215) der öffentlichen Meinung zugeschrieben.

Auf der Grundlage der bisherigen Argumentation können nun mehrere Schlußfolgerungen gezogen werden. Bedingt durch die spezifische Rationalität des Regierungssystems, die

strukturell verankert oder vielleicht sogar strukturell generiert wird, verstehen die Akteure des Regierungssystems unter öffentlicher Meinung sowohl die aggregierten Individualmeinungen

der Bürger als auch die in den Medien öffentlich kommunizierten Meinungen. Dabei haben erstere eine relative Priorität, da sie direkt mit dem Wahlverhalten der Bürger verkoppelt sind. Die effizienteste Weise, Bürgermeinungen zu beobachten, besteht im Rahmen ausdifferenzier­ter Öffentlichkeitsabteilungen in der Verwendung des Umfrageinstrumentes. Das funktionale Äquivalent für die Beobachtung der Massenmedien wären systematische Inhaltsanalysen, die

aber hinsichtlich ihrer Flexibilität, ihres Aufwandes und ihrer Verläßlichkeit nicht mit der

Effizienz des Umfrageinstrumentes vergleichbar sein dürften (vgl. dazu die Beiträge von Ger­hards und Neidhardt in diesem Band). Deshalb vermuten wir einen geringeren Systematisie­rungsgrad in der Beobachtung der massenmedialen Meinungen gegenüber der Beobachtung der Bürgermeinungen.

In den Vorstellungsbildern der Akteure des Regierungssystems sind beide Varianten öf­fentlicher Meinung durch eine Beeinflussungsrelation miteinander verbunden, die von den massenmedialen Meinungen auf die Bürgermeinungen geht. Es wird bewußt im Plural ge­sprochen, da es in der Tat selten zu einer einheitlichen und konsonanten öffentlichen Meinung zu einem Thema oder zu einem Akteur kommen dürfte. Aus der Perspektive des Regierungs­systems sind aber nicht nur diese eher unwahrscheinlichen Fälle interessant, sondern jede Art der Meinungsverteilung bei den Bürgern und in den Medien. Wenn man einmal von dem hy­

pothetischen Fall einer Gleichverteilung von zwei unterschiedlichen Meinungen zu einem gegebenen Thema ausgeht, dann ist jede Verschiebung der Gleichverteilung in die eine oder

122

andere Richtung von Belang, weil sich damit Mehrheiten herauszubilden beginnen, die dann zu differentiellen Wahlchancen führen können. Die für das Regierungssystem relevanten öf­fentlichen Meinungen zu Themen und Akteuren sind demgemäß alle in den Medien und bei den Bürgern direkt ermittelten Meinungsverteilungen.

Ausgehend von der Rationalität des Regierungssystems, wurden bislang Annahmen ent­wickelt, was dessen Akteure unter öffentlicher Meinung verstehen und wie sie diese beobach­ten. Noch nicht erörtert wurde die Resonanz, die die beobachtete öffentliche Meinung erzeugt. Diese Resonanz hat eine aktive und eine passive Dimension. Die passive Dimension besteht in der Responsivität auf die beobachtete öffentliche Meinung, d. h. in ihrer mehr oder weniger

starken Berücksichtigung bei der Entscheidungstätigkeit. Diese Responsivität ist einerseits eine demokratische Norm, andererseits aber auch ein Rationalitätsgebot zum Zwecke der Machterhaltung. In dieser passiven Responsivität geht die Resonanz des Regierungssystems aber vermutlich nicht auf. Jedes System versucht seine Autonomie gegenüber der Umwelt zu erhöhen, und die wichtigste Autonomieeinschränkung für das Regierungssystem ist eben die­se öffentliche Meinung. Die effizienteste Weise der Reduktion von Umweltabhängigkeit und

der Erhöhung der Systemautonomie ist die Kontrolle dessen, wovon man abhängt, d. h. in diesem Falle die aktive Beeinflussung der öffentlichen Meinung auf der Grundlage systemei­gener Gesichtspunkte. Diese Beeinflussung kann dann auch Öffentlichkeitsarbeit genannt werden, die vor allem in den Zuständigkeitsbereich der Öffentlichkeitsabteilungen fällt (vgl. dazu auch Marcinkowski 1993, S. 219). In den Öffentlichkeitsabteilungen existieren also ne­

ben Leistungsrollen zur Beobachtung öffentlicher Meinung auch solche zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Mit der Ausdifferenzierung dieser Leistungsrollen ist die Annahme verbunden, daß die öffentliche Meinung grundsätzlich auch zu beeinflussen sei. In welchem Ausmaß diese Annahme tatsächlich zutrifft, ist wissenschaftlich sicherlich noch nicht defini­

tiv geklärt. Aber sie ist durch die Erfahrungen der Politiker vermutlich hinreichend abgestützt. Vor allem aber liegt sie im Eigeninteresse der Öffentlichkeitsabteilungen selbst. In dem Maße,

in dem die Entscheidungsinstanzen glauben, daß die öffentliche Meinung durch das Regie­rungssystem beeinflußt werden kann und die Öffentlichkeitsabteilungen dabei eine wesentli­che Rolle spielen können, steigt auch die Bedeutung dieser Öffentlichkeitsabteilungen im

Regierungssystem. In jedem Falle ist die Vorstellung von einer Beeinflußbarkeit der öffentli­chen Meinung eine rationale Fiktion, um sich die Möglichkeit von Autonomieerhöhung über­

haupt erst einzuräumen. Zudem kann auch hier das Risiko nicht eingegangen werden, daß die öffentliche Meinung doch beeinflußt werden kann und von konkurrierenden Akteuren auch tatsächlich beeinflußt wird.

Die primäre Funktion des Regierungssystems als einem Teilsystem der Politie besteht in der Herstellung und Implementation von kollektiv bindenden Entscheidungen. Diese Ent­scheidungstätigkeit ist zwar auf die Outputseite des demokratischen Prozesses bezogen, sie muß aber permanent mit der öffentlichen Meinung des Publikums an der Inputseite rückge­koppelt werden. Dieser Imperativ ergibt sich aus der spezifischen Systemrationalität, die be­

reits mit dem Code von Regierung/Opposition gekennzeichnet wurde. Zur Effizienzsteigerung

123

bei der Funktionserfüllung werden mit den Öffentlichkeitsabteilungen des Regierungsapparats

eigene Instanzen ausdifferenziert, die die Aufgabe haben, die öffentliche Meinung einerseits zu beobachten und ihre Beobachtungen in das Regierungssystem zu vermitteln, sie anderer­seits aber auch zu beeinflussen. Beobachtung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung sind daher die Formen, in denen die Öffentlichkeitsabteilungen als spezialisierte Einheiten des

Regierungssystems mit dem Publikum kommunizieren. Diese Kommunikation wird von Konstruktionen oder Vorstellungsbildern gesteuert, die die Öffentlichkeitsakteure über die

öffentliche Meinung und über deren Relation zum Regierungssystem haben. In einem sy­stemtheoretischen Rahmen mit einer handlungstheoretischen Komponente wurde eine Reihe

von Annahmen entwickelt, wie diese Konstruktionen aussehen könnten. Diese sollen im nach­folgenden Abschnitt noch einmal als Hypothesen zusammengestellt und präzisiert werden, um sie dann einer empirischen Analyse zugänglich zu machen.

2.4 Hypothesen zur Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem

7A. Das Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem

Hypothese 1: Das Regierungssystem versteht unter öffentlicher Meinung sowohl die ag­gregierten Meinungen der Bürger als auch die in den Medien kommunizierten Meinungen.

Dabei haben erstere eine relative Priorität. Andere Vorstellungen von öffentlicher Meinung spielen im Regierungssystem keine Rolle.

Hypothese 2: Unter öffentlicher Meinung wird jede Meinungsverteilung verstanden und nicht nur eine Konsonanz oder ein Konsens von Meinungen.

Hypothese 3: Das Verhältnis von Bürgermeinungen und Medienmeinungen wird als eine Beeinflussungsrelation verstanden, die von den Medienmeinungen auf die Bürgermeinungen geht. Der umgekehrte Einfluß ist demgegenüber gering.

B. Die Ermittlung öffentlicher Meinung durch das RegierungssystemHypothese 4: Die öffentliche Meinung wird durch demoskopische Erhebungen (Bürger-

ftieinungen) und durch die Beobachtung der Massenmedien (Medienmeinungen) ermittelt

Kontakte mit Personen und öffentliche Veranstaltungen spielen keine große Rolle.Hypothese 5: Infolge der größeren Reichweite elektronischer Medien gegenüber den Print­

medien sind erstere die primäre Quelle für die Beobachtung der massenmedialen Meinungen.

C. Die Resonanz des Regierungssystems auf öffentliche MeinungFlypothese 6: Das Regierungssystem ist responsiv gegenüber der beobachteten öffentlichen

Meinung und versucht, diese zugleich auch selbst zu beeinflussen.

Hypothese 7: Diese Responsivität dient primär dem Zwecke der Machterhaltung und nur sekundär der Einhaltung der demokratischen Norm.

124

3. Empirische Analyse

3.1 Stichprobe, Erhebungsinstrument und Kategorienschema

Die empirische Analyse der Beobachtung der öffentlichen Meinung durch das Regierungs­

system hat zwei Ziele: erstens die Rekonstruktion des Vorstellungsbildes, das das Regierungs­system von öffentlicher Meinung hat, und - damit verbunden - zweitens die Überprüfung der

im vorangehenden Abschnitt spezifizierten Hypothesen. Da das Regierungssystem eigene Abteilungen ausdifferenziert hat, deren Funktion die Beobachtung und Beeinflussung öffent­licher Meinung ist, liegt es nahe, die Erhebung in diesen Abteilungen vorzunehmen. Die Or­ganisationsstruktur der Öffentlichkeitsarbeit folgt der Organisationsstruktur des Regierungs­systems (Schürmann 1992, S. 403), d. h. es gibt Rollen für Öffentlichkeitsarbeit sowohl bei

den Fraktionen im Parlament als auch im Regierungsapparat selbst. Im Regierungsapparat wiederum entspricht die Organisationsstruktur dem Ressortprinzip, was bedeutet, daß jedes Ministerium und auch das Bundeskanzleramt über eigene Rollen für Öffentlichkeitsarbeit verfügen. Die wichtigste Organisationseinheit für Öffentlichkeitsarbeit im Regierungsapparat

ist aber das sogenannte "Presse- und Informationsamt der Bundesregierung". Trotz seiner Größe - es hat ca. 750 Mitarbeiter - und seiner differenzierten internen Struktur ist es keine eigenständige Bundesbehörde, sondern ein integraler Teil der Bundesregierung als der ober­sten Bundesbehörde (Schürmann 1992); es handelt sich um eine dem Bundeskanzleramt

nachgeordnete Dienststelle, deren Leiter der Weisungsbefugnis des Bundeskanzlers unterliegt. Das macht deutlich, wie stark die Öffentlichkeitsarbeit des gesamten Regierungsapparats auf

das eigentliche Entscheidungszentrum fokussiert ist.Da sowohl die Ministerien, das Bundeskanzleramt als auch das Presse- und Informati­

onsamt der Bundesregierung - das im folgenden der Einfachheit halber Bundespresseamt ge­

nannt wird - hierarchisch organisiert sind, reicht es aus, die Befragung auf die Inhaber von Führungspositionen in den Öffentlichkeitsabteilungen zu beschränken. Wir entsprechen damit

auch dem in der Eliteforschung üblichen Positionsansatz. Insgesamt wurden 38 der rang­höchsten Positionsinhaber der Öffentlichkeitsabteilungen im Regierungsapparat und in den

Parlamentsfraktionen befragt. Die Interviews wurden vom Sommer 1994 bis zum Frühjahr 1995 durchgeführt. Aufgrund des herausragenden Stellenwerts des Bundespresseamts für die Öffentlichkeitsarbeit des Regierungsapparats wurden 16 Inhaber von Leitungspositionen aus

diesem Amt befragt (das sind 42 Prozent der gesamten Stichprobe). Vertreter des Regierungs­apparats stellen mit 29 Befragten (76 Prozent) den größten Anteil der Stichprobe. Fast alle der von uns angesprochenen Positionsinhaber stellten sich für ein Interview zur Verfügung. Wenn wir unterstellen können, daß in hierarchisch strukturierten Organisationen die Leitungsposi­

tionen auch die Organisationen insgesamt repräsentieren, dann kann praktisch von einer Vol­lerhebung aller für die Öffentlichkeitsarbeit relevanten Rollenträger des Regierungssystems

ausgegangen werden.

125

Als Erhebungsinstrument wurden halbstandardisierte Leitfadeninterviews verwendet. Der­artige offene Erhebungsmethoden haben den Vorteil, daß sie die Vorstellungen der Befragten selbst ermitteln und ihnen nicht schon vorgefertigte Antwortalternativen präsentieren. Dieses Verfahren schien uns notwendig zu sein, da das wissenschaftlich gesicherte Vorwissen gering ist und wir nach der Bedeutungsexplikation öffentlicher Meinung von einer Vieldeutigkeit des semantischen Raums dieses Begriffes ausgehen müssen. Der Nachteil solcher offen geführten

Interviews besteht in einer Störungsanfälligkeit durch kontingente Situationsfaktoren, die sich

in der Kommunikation zwischen Interviewer und Interviewten ergeben können. Diese Stö­rungsanfälligkeit wurde in unserem Falle aber dadurch etwas reduziert, daß alle Interviews

von einem der beiden Autoren dieser Analyse durchgefuhrt wurden.Alle Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und anschließend verschriftet. Die

Transkriptionen wurden dann mit einem Kategorienschema verschlüsselt, das ganz eng am

Interviewmaterial entwickelt wurde. Diese Entwicklung des Kategorienschemas orientierte sich an dem Verfahren der hermeneutisch-klassifikatorischen Inhaltsanalyse (Roller/Mathes

1993), das hermeneutische Interpretationsverfahren der Diskursanalyse mit Elementen quanti­tativer Auswertungsmethoden kombiniert. Das Kategorienschema zur Beobachtung öffentli­

cher Meinung umfaßt fünf thematische Bereiche:1. das Verständnis von öffentlicher Meinung;

2. die Ermittlung öffentlicher Meinung;3. die Quellen öffentlicher Meinung;4. die Auswirkung öffentlicher Meinung auf das Regierungssystem;5. die Beeinflussung öffentlicher Meinung durch das Regierungssystem.Die einzelnen Themenbereiche wurden in den Interviews mit identischen Eingangsfragen

begonnen. Eine weitere Strukturierung erfolgte durch die Festlegung von inhaltlichen Aspek­

ten, die in jedem Interview angesprochen werden sollten.Die Eingangsfrage des gesamten Interviews lautete: "Was verstehen Sie unter öffentlicher

Meinung?" Auf der Grundlage der hierzu gegebenen Antworten wurden dann die Kategorien öffentlicher Meinung gebildet, denen die weiteren Aussagen zu den genannten theoretischen Bereichen (Ermittlung, Quellen, Auswirkung, Beeinflussung) zugeordnet wurden. Die ver­schiedenen Verständniskategorien öffentlicher Meinung fungierten im Vercodungsprozeß gewissermaßen als Träger der weiteren inhaltlichen Elemente. Die Vercodungseinheit waren die Aussagen, die die Befragten zu den einzelnen Themenkomplexen machten. Der Datensatz wurde aber so konstruiert, daß auch die Befragten als Analyseeinheit verwendet werden konnten. A uf dieser Analyseeinheit beruht die gesamte nachfolgende empirische Analyse.

In Abbildung 1 wird die Struktur des Kategorienschemas noch einmal graphisch darge­stellt.

Abbildung 1: Aufbau des Klassifikationsschemas zur Beobachtung öffentlicher Meinung126

3.2 Überprüfung der Hypothesen

Das Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem

Die empirische Überprüfung der im Abschnitt 2.4 aufgeführten Hypothesen erfolgt in der

dort vorgenommenen Reihenfolge. Es wird deshalb mit dem Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem begonnen. Die in Tabelle 1 dargestellten empirischen Ergeb­nisse beziehen sich auf die Hypothesen 1 und 2. Die Prozentuierungsbasis aller in Tabelle 1 unterschiedenen Kategorien, d. h. der kursiv markierten Oberkategorien und der jeweils drei

127

Unterkategorien bei Bürgermeinungen und Medienmeinungen, sind die 38 Befragten. Um

auch komplexere Verständnisweisen öffentlicher Meinung erfassen zu können, werden Mehr­fachnennungen einzelner Befragter zugelassen.

Tabelle 1: Das Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem

In Prozent* (Befragte)

Bürgermeinungen 76 (29)

darunter:- allgemeine Bezugnahme auf die Meinungen der Bürger 40 (15)- Mehrheitsmeinung unter den Bürgern 37 (14)- Meinung der Meinungsführer unter den Bürgern 8 (3)

Medienmeinungen 76 (29)darunter:- allgemeine Bezugnahme auf die Meinung der Medien 68 (26)- Mehrheitsmeinung der Medien 8 (3)- Meinungen der journalistischen Elite 5 (2)

Ergebnis von Diskussionen in der Öffentlichkeit 13 (5)

Diffuses Phänomen 3 (1)

Anderes Verständnis 3 (1)

* Die Prozentuäerungsbasis sind alle Befragten (N = 38). Mehrfachnennungen sind sowohl auf der Ebene der Oberkategorien (kursiv markiert) als auch auf der Ebene der Unterkategorien möglich.

In Hypothese 1 werden drei Sachverhalte postuliert: 1. Das Regierungssystem versteht un­ter öffentlicher Meinung die aggregierten Meinungen der Bürger und die in den Massenmedi­en kommunizierten Meinungen; 2. die aggregierten Bürgermeinungen haben eine relative Priorität vor den massenmedial kommunizierten Meinungen; 3. andere Verständnisweisen öffentlicher Meinung als die beiden genannten spielen im Regierungssystem keine Rolle.

Der erste Bestandteil von Hypothese 1 wird durch die Daten eindeutig bestätigt. 76 Prozent (n = 29) der 38 Befragten verstehen unter öffentlicher Meinung Bürgermeinungen; der gleiche

Prozentsatz ergibt sich für Medienmeinungen. Negativ ausgedrückt, haben also nur neun Be­fragte - und das sind 24 Prozent - nicht explizit Bürgermeinungen oder Medienmeinungen angegeben. Das bedeutet nicht notwendigerweise, daß sie dieses Verständnis auch nicht ha­

ben. Wie Tabelle 3 im nachfolgenden Abschnitt zeigt, geben 100 Prozent der Befragten an, daß sie die öffentliche Meinung durch Beobachtung der Massenmedien ermitteln, und 97 Pro­zent tun dies durch demoskopische Erhebungen. Das macht in beiden Fällen aber nur dann Sinn, wenn man ein entsprechendes Verständnis von öffentlicher Meinung hat. Aus den em­pirischen Ergebnissen ziehen wir also die Schlußfolgerung, daß praktisch alle Akteure unter öffentlicher Meinung sowohl Bürgermeinungen als auch Medienmeinungen verstehen.

128

Der zweite Teil von Hypothese 1 scheint durch die Daten hingegen nicht bestätigt zu wer­den, da die Prozentsätze bei Bürgermeinungen und Medienmeinungen identisch sind. Eine relative Priorität der Bürgermeinungen läßt sich demzufolge also nicht ausmachen. Allerdings gab es in dem offen geführten Interview auch keinen Anlaß für die Befragten, sich dazu zu äußern. Wenn davon ausgegangen werden kann, daß die Befragten unter öffentlicher Meinung sowohl Bürger- als auch Medienmeinungen verstehen, dann hätte eine relative Priorität zu­gunsten einer von beiden nur durch eine direkte Nachfrage ermittelt werden können. Dieser

Bestandteil der Hypothese konnte also weder bestätigt noch widerlegt werden, sondern war

mit den verfügbaren Daten schlicht nicht testbar.Der dritte Bestandteil von Hypothese 1 ist eine negative Behauptung: Das Regierungssy­

stem versteht unter öffentlicher Meinung nichts anderes als Bürgermeinungen und Medien­meinungen. Bei der Vercodung wurde versucht, jedes artikulierte Verständnis von öffentlicher Meinung zu erfassen. Wie die Ergebnisse in Tabelle 1 zeigen, ist in der Restkategorie "ande­res Verständnis" nur ein Befragter enthalten, und als "diffuses Phänomen" wird öffentliche Meinung ebenfalls nur von einem Befragten begriffen. Demgegenüber bezeichnen fünf Be­fragte öffentliche Meinung als ein "Ergebnis von Diskussionen in der Öffentlichkeit". Dieses

dem diskursiven Begriff öffentlicher Meinung relativ nahekommendste Verständnis wird also von mehreren Befragten geäußert. Wenn man den entsprechenden Prozentsatz (13 Prozent! aber mit dem für Bürger- und Medienmeinungen vergleicht, fällt er kaum ins Gewicht, zumal alle fünf Befragten unter öffentlicher Meinung auch Bürger- bzw. Medienmeinungen verste­

hen.Hypothese 2 bezieht sich auf die Frage, wie die Meinungen bei den Bürgern und bei den

massenmedialen Akteuren verteilt sein müssen, damit eine öffentliche Meinung vorliegt. Im

Unterschied zu einer verbreiteten Vorstellung wird in der Hypothese behauptet, daß das Re­gierungssystem infolge seiner spezifischen Handlungsrationalität unter öffentlicher Meinung nicht nur eine Meinungskonsonanz oder einen Meinungskonsens versteht, sondern jede Mei­nungsverteilung zu einem politischen Thema oder einem politischen Akteur. Wie aus Tabelle 1 ersichtlich wird, verstehen 37 Prozent der Befragten unter öffentlicher Meinung eine Mehr­heitsmeinung der Bürger und 8 Prozent eine Mehrheitsmeinung in den Medien, aber von Kon­sens hat nur ein einziger Befragter gesprochen. Man könnte argumentieren, daß zwischen Mehrheit und Konsens nur ein gradueller Unterschied besteht und demgemäß zumindest die 37 Prozent, die sich auf eine Mehrheitsmeinung unter den Bürgern beziehen, gegen Hypothe­se 2 sprechen. Zum einen bedeutet dieser Prozentsatz aber, daß es sich immer noch um eine Minderheit der Befragten handelt; zum anderen scheint uns zwischen einer Mehrheit und ei­nem Konsens bzw. einem Beinahe-Konsens ein qualitativer Sprung zu liegen. Eine Gleichver­

teilung von Meinungen ist dagegen nur ein Ausnahmefall. Praktisch gibt es immer eine mehr oder weniger ausgeprägte Mehrheit, und das ist für das Regierungssystem in jedem Falle ein informativer Bezugspunkt, unabhängig davon, wie groß diese Mehrheit im einzelnen sein mag.

129

Die empirischen Ergebnisse zeigen, daß das Regierungssystem unter öffentlicher Meinung nicht eine Konsonanz bzw. einen Konsens der Meinungen versteht. Sie zeigen aber auch, daß

öffentliche Meinung nicht auf das bezogen wird, was in öffentlichen Veranstaltungen oder in Protestaktionen der Bürger artikuliert wird. Kein einziger der Befragten hat ein derartiges Verständnis von öffentlicher Meinung geäußert. Bei der Frage der Ermittlung der öffentlichen Meinung spielen öffentliche Veranstaltungen demgegenüber jedoch eine gewisse Rolle (vgl.

nachfolgenden Abschnitt).Es konnte gezeigt werden, daß in den Vorstellungsbildern der Akteure des Regierungssy­

stems öffentliche Meinungen als Bürgermeinungen und Medienmeinungen begriffen werden.

Beide Verständniskategorien stehen in diesen Vorstellungsbildern aber nicht unverbunden

nebeneinander, sondern sind durch eine Beeinflussungsrelation miteinander verbunden. Ent­sprechend Hypothese 3 geht dieser Einfluß vor allem von den Medienmeinungen auf die Bür­

germeinungen, während das Umgekehrte nicht in gleichem Maße zutrifft. Diese Hypothese wird durch die Daten in Tabelle 2 recht deutlich bestätigt. Immerhin sehen 89 Prozent der Befragten einen Einfluß der Medien auf die Bürger, und nur 29 Prozent gehen von einem ge­

genläufigen Effekt aus. Somit gibt es in den Vorstellungsbildern der Akteure eine Beeinflus­sungsrelation zwischen beiden Kategorien öffentlicher Meinung, und diese ist im erwarteten

Sinne extrem asymmetrisch.

Tabelle 2: Das Verhältnis von Bürgermeinungen und Medienmeinungenaus der Sicht des Regierungssystems

In Prozent* (Befragte)

Medienmeinungen beeinflussen Bürgenneinungen 89 (34)

Bürgermeinungen beeinflussen Medienmeinungen 29 (11)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (n = 38). Mehrfachnennungen sind möglich.

Insgesamt entspricht das empirisch ermittelte Verständnis von öffentlicher Meinung im Regierungssystem den theoretischen Erwartungen, die sich auf Annahmen über die spezifi­sche Rationalität des Regierungssystems im allgemeinen und der im Regierungssystem aus­differenzierten Öffentlichkeitsabteilungen im besonderen gründen. Es ist bemerkenswert, wie

eindeutig nach Maßgabe dieser Rationalität die Komplexität des semantischen Raumes vonöffentlicher Meinung reduziert wird: Vier Kategorien reichen aus, um das in den Interviews

. . 9geäußerte Verständnis zu beschreiben , und unter diesen dominieren im Sinne der theoreti­schen Erwartungen die Kategorien Bürgermeinungen und Medienmeinungen ganz eindeutig. Beide sind wiederum im Vorstellungsbild der Akteure des Regierungssystems durch eine Einflußrelation von den Medienmeinungen auf die Bürgermeinungen verbunden.

130

Die Ermittlung öffentlicher Meinung durch das Regierungssystem

Die öffentliche Meinung kann nur in dem Maße eine Resonanz im Regierungssystem er­zeugen, in dem sie von diesem auch tatsächlich beobachtet wird. Diese Beobachtung wird grundsätzlich durch die Konstruktion von öffentlicher Meinung bei den Akteuren des Regie­

rungssystems gesteuert, was nach unserer bisherigen Analyse bedeutet, daß vor allem die Bürgermeinungen und die Medienmeinungen beobachtet werden müssen. In welcher Weise sie beobachtet werden, hängt darüber hinaus auch von den technischen Beobachtungsmög­lichkeiten und ihrer jeweiligen Effizienz ab. Als das effizienteste und zugleich verläßlichste Instrument zur Ermittlung der Bürgermeinungen wurden im theoretischen Teil demoskopi- sche Erhebungen angenommen, und dementsprechend wurde Hypothese 4 formuliert. Aus Tabelle 3 wird ersichtlich, daß 37 von 38 Befragten angegeben haben, daß demoskopische Erhebungen im Regierungssystem zur Ermittlung öffentlicher Meinung tatsächlich angewen­det werden. Da sich demoskopische Erhebungen aber nur auf Bürgermeinungen beziehen

können, macht dies zugleich deutlich, daß praktisch alle Befragten unter öffentlicher Meinung

unter anderem Bürgermeinungen verstehen. Explizit ausgedrückt haben dies zwar nur 29 Be­fragte (vgl. Tabelle 1), implizit läßt sich das aber aus diesem Ergebnis erschließen, wenn eine minimale kognitive Konsistenz unterstellt werden kann. Dasselbe gilt für die Massenmedien: Nur 29 Befragte haben ausdrücklich angegeben, daß sie unter öffentlicher Meinung Medien­meinungen verstehen (vgl. Tabelle 1), aber nach den Daten in Tabelle 3 wird aus Sicht aller 38 Befragten die öffentliche Meinung durch die Beobachtung der Massenmedien ermittelt.

131

Tabelle 3: Die Ermittlung öffentlicher Meinung durch das Regierungssystem

In Prozent* (Befragte)

Demoskopische Erhebungen 97 (37)darunter:- allgemeine Bezugnahme auf demoskopische

Erhebungen 63 (24)- eigene Erhebungen 32 (12)- Erhebungen anderer Institutionen/

Organisationen 24 (9)

Beobachtungen der Massenmedien 100 (38)darunter:- allgemeine Bezugnahme auf Beobachtungen

der Massenmedien 26 (10)- Beobachtungen der Printmedien 97 (37)- Beobachtungen der elektronischen Medien 89 (34)

Kontakte mit Personen 74 (28)darunter:- Kontakte mit Bürgern 42 (16)- Kontakte mit Politikern 37 (14)- Kontakte mit Journalisten 26 (10)

Öffentliche Veranstaltungen 11 (4)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (n = 38). Mehrfachnennungen sind sowohl auf der Ebene der Oberkategorien (kursiv markiert) als auch auf der Ebene der Unterkategorien möglich.

Bei der Beobachtung der Medienmeinungen ergibt sich jedoch ein wesentlicher Unter­schied gegenüber der Beobachtung der Bürgermeinungen. Im Bundespresseamt werden dieMassenmedien zwar unter Verwendung moderner Techniken der Informationsverarbeitung

iobeobachtet ; systematische Stichprobenziehungen und sinnvolle quantitative Auswertungen sind aber - anders als bei demoskopischen Erhebungen - auf dieser Grundlage nicht möglich. Viele der Befragten geben zudem an, daß ihre Beobachtungsweise der Massenmedien einfach in einer Kenntnisnahme bestimmter Zeitungen besteht, d. h. letztlich in einer Lektüre dieser Zeitungen. Als eine mehr oder weniger systematische Beobachtungsform der Massenmedien werden in den Interviews explizit nur regelmäßige Zusammenstellungen von Artikeln in Form von Pressespiegeln erwähnt. Insgesamt läßt sich also die Schlußfolgerung ziehen, daß das

Regierungssystem die Massenmedien einerseits zwar kontinuierlich beobachtet, andererseits aber die Art dieser Beobachtung weniger professionell ist als die der Beobachtung der Bür­germeinungen. Der Grund hierfür dürfte vor allem in dem einfachen Tatbestand liegen, daß die Wissenschaft zur Beobachtung der Massenmedien bislang keine Instrumente bereitstellen kann, die gleichermaßen effizient - im Sinne des Aufwandes an Zeit und Geld - und verläßlich - im Sinne der Generalisierbarkeit - sind wie die demoskopischen Erhebungen.

132

In Hypothese 5 wird den elektronischen Medien bei der Beobachtung der massenmedialen Meinungen aufgrund ihrer größeren Reichweite eine stärkere Bedeutung zugeschrieben als den Printmedien. Dies kann durch die Daten aber nicht bestätigt werden. Der größte Teil der Befragten beobachtet zwar die elektronischen Medien, gleichermaßen aber auch die Printme­dien, wobei letztere sogar ein leichtes Übergewicht haben. Einer der Gründe für diesen relati­

ven Vorrang der Printmedien könnte in der technischen Verarbeitbarkeit der beobachteten Informationen liegen: Ein Pressespiegel aus Zeitungskommentaren ist beispielsweise leichter herzustellen und durch andere schneller zu registrieren als ein Videomitschnitt von Fernseh­

sendungen. Möglicherweise ist auch die Informationstiefe von Zeitungskommentaren für das Regierungssystem größer, so daß es hier instruktivere Informationen für seine Entscheidungs­tätigkeit erhält. Die geringen Unterschiede zwischen dem Ausmaß der Beobachtung der elek­tronischen Medien und dem der Printmedien sollten allerdings nicht überbewertet werden.

Das wichtigste Ergebnis in Tabelle 3 besteht unseres Erachtens darin, daß die Akteure des Regierungssystems beide Medien beobachten.

Noch nicht eingegangen wurde auf den zweiten Teil von Hypothese 4, in der "Kontakten

mit Personen" sowie "öffentlichen Veranstaltungen" eine geringe Rolle bei der Beobachtung öffentlicher Meinung zugeschrieben wurde. Der Grund für diese Annahme liegt in der gerin­gen Effizienz beider Beobachtungsformen, da sie sich immer nur auf einen ganz selektiven Ausschnitt d.er Bürger beziehen können. Nach Tabelle 3 wird dieser Teil der Hypothese für die "öffentlichen Veranstaltungen" weitgehend bestätigt, aber nicht für die "Kontakte mit Per­

sonen". Immerhin 74 Prozent (n = 28) der Befragten haben angegeben, Informationen über die öffentliche Meinung durch Kontakte mit Personen zu gewinnen. Die mehr oder weniger sy­stematische Beobachtung der öffentlichen Meinung durch demoskopische Erhebungen und Beobachtungen der Massenmedien ersetzen diese direkten Kontakte mit Bürgern, Journalisten und Politikern offenbar nicht vollständig. Es hat den Anschein, daß diese beiden eher abstrak­ten Ermittlungsmethoden durch solche intuitiv leichter zugänglichen direkten Kontakte er­gänzt werden müssen. Zudem gehören Kontakte mit Politikern und Journalisten zu den Routi­netätigkeiten der befragten Akteure, und die auf diese Weise indirekt gewonnenen Informa­tionen über die öffentliche Meinung stellen deshalb kostenarme Zusatzgewinne dar.

Die Resonanz des Regierungssystems auf die öffentliche Meinung

Nachdem das Verständnis und die Ermittlung von öffentlicher Meinung durch das Regie­rungssystem in den beiden vorangegangenen Abschnitten empirisch analysiert worden sind, steht eine entsprechende Analyse für die Resonanz des Regierungssystems auf die öffentliche Meinung noch aus. Diesbezüglich wurden zwei Hypothesen spezifiziert. Hypothese 6 behaup­tet zwei unterschiedliche, aber gleichwohl aufeinander bezogene Resonanzformen, die beide

der Rationalität des Regierungssystems entspringen. Erstens ist eine Responsivität auf die jeweils gegebene öffentliche Meinung im Interesse einer Wiederwahl der amtierenden Regie­

rung notwendig. Zweitens aber wird die öffentliche Meinung nicht nur als eine vorgegebene

133

Größe begriffen, sondern als etwas, was beeinflußt werden kann. Wenn man lediglich die ge­neralisierte Handlungsrationalität des Regierungssystems und seine Autonomieerhöhung als Bezugspunkt nimmt, wäre es optimal, wenn die Responsivität des Regierungssystems sich auf

eine öffentliche Meinung beziehen könnte, die es nach systemeigenen Kriterien selbst konsti­tuiert hätte. Das ist natürlich in der realen Welt nicht zu verwirklichen, sondern stellt eine Art fiktionalen Fluchtpunkt dar, an dem sich das faktische Handeln orientieren kann. Eine unmit­telbare und differenzierte Überprüfung dieser beschriebenen Rationalität ist mit den Daten nicht möglich, sondern lediglich eine Überprüfung der in Hypothese 6 enthaltenen Implika­

tionen, daß im Vorstellungsbild der Akteure des Regierungssystems sowohl die Responsivität

als auch die Beeinflußbarkeit enthalten sind.

Tabelle 4: Die Resonanz des Regierungssystems auf die öffentliche Meinung

In Prozent* (Befragte)

Responsivität 82 (31)- auf Bürgermeinungen 50 (19)- auf Medienmeinungen 50 (19)

Beeinflußbarkeit 74 (28)- von Bürgermeinungen 47 (18)- von Medienmeinungen 55 (21)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (n = 38). Mehrfachnennungen sind sowohl auf der Ebene der Oberkategorien (kursiv markiert) als auch auf der Ebene der Unterkategorien möglich.

Nach den in Tabelle 4 aufgeführten Ergebnissen haben 82 Prozent der Befragten angege­

ben, daß für das Entscheidungshandeln des Regierungssystems die öffentliche Meinung eine Rolle spielt und das Regierungssystem in diesem Sinne responsiv ist. Jeweils 50 Prozent der Befragten haben diesbezüglich die Bürgermeinungen und die Medienmeinungen explizit er­wähnt. 74 Prozent der Befragten haben geäußert, daß die öffentliche Meinung durch das Re­

gierungssystem beeinflußt werden kann. 47 Prozent haben sich dabei ausdrücklich auf die Bürgermeinungen und 55 Prozent auf die Medienmeinungen bezogen. Zunächst fällt die rela­tiv geringe Prozentsatzdifferenz zwischen Bürgermeinungen auf. Gleichzeitig ist die stärkere Betonung der Medienmeinungen plausibel, wenn man bedenkt, daß das Handlungsrepertoire der Öffentlichkeitsabteilungen des Regierungssystems zur direkten Beeinflussung der Bürger,

d. h. unter Umgehung einer massenmedial vermittelten Kommunikation, sehr begrenzt ist. Es beschränkt sich weitgehend auf das Versenden von Broschüren, das Verteilen von Zeitungen zu Wahlkampfzeiten sowie das Anbringen von Plakaten und ähnliches. Ganz anders nehmen sich die Möglichkeiten der Medienbeeinflussung aus. Hier sind vor allem zwei Faktoren zu nennen. Erstens die professionellen Kontakte, die die Angehörigen der Öffentlichkeitsabtei­lungen zwangsläufig mit Journalisten haben. Diese Kontakte bestehen unter anderem in stän­

134

digen Pressekonferenzen, in informellen Beziehungen und in der Weitergabe von Informatio­nen an die Nachrichtenagenturen. Hinzu kommt ein zweiter Faktor, der mit der Besonderheit des Regierungssystems verbunden ist: Die Implementation von verbindlichen Entscheidungen für die Gesamtgesellschaft generiert fast automatisch einen Nachrichtenwertfaktor, der eine überproportionale Aufmerksamkeit der Massenmedien gewährleistet. Diese richtet sich so­wohl auf die prominenten Inhaber von Entscheidungspositionen wie den Kanzler und die Mi­nister, aber auch auf die getroffenen Entscheidungen selbst. Beides kann in der Öffentlich­

keitsarbeit des Regierungssystems strategisch eingesetzt werden.

Angesichts dieser unterschiedlichen Möglichkeiten der Beeinflußbarkeit von Bürgermei­nungen und Medienmeinungen ist die geringe Differenz zwischen beiden (vgl. Tabelle 4) eher überraschend. Allerdings ist das Meßinstrument nicht scharf genug - bzw. es wurde nicht so differenziert gefragt -, daß zwischen einer direkten Beeinflussung der Bürger und einer über die Massenmedien vermittelten Beeinflussung unterschieden werden kann. Wir gehen davon aus, daß eine Reihe von Befragten, die eine Beeinflußbarkeit entweder der Bürgermeinungen oder der Medienmeinungen geäußert haben, diese komplexere Einflußrelation, die über die Medienmeinungen auf die Bürgermeinungen verläuft, im Blick haben. Diese Vermutung wird

durch das bereits erörterte Faktum gestützt, daß die überwiegende Mehrheit der Befragten annimmt, daß die Medien die Bürger beeinflussen (vgl. Tabelle 2).

Der letzte. Schritt der empirischen Analyse bezieht sich auf die Verwendung der beobachte­ten öffentlichen Meinung innerhalb des Regierungssystems. Hierauf konzentriert sich Hypo­these 7, in der unterstellt wird, daß die Responsivität des Regierungssystems gegenüber der öffentlichen Meinung primär zum Zwecke der Machterhaltung geschieht und weniger, um einer demokratischen Norm zu entsprechen. Anhand der Ergebnisse in Tabelle 5 wird ver­sucht, diese Hypothese zu überprüfen.

Tabelle 5: Die Verwendung öffentlicher Meinung im Regierungssystem

In Prozent* (Befragte)

Machterhaltung 74 (28)

Politikgestaltung 100 (38)

Politikvermittlung 53 (20)

* Die Prozentuierungsbasis sind alle Befragten (N = 38). Mehrfachnennungen sind möglich.

Die Aussagen der Befragten zu diesem Thema können in drei theoretisch sinnvolle Kate­gorien zusammengefaßt werden, und dementsprechend ist Tabelle 5 aufgebaut. Als Zweck der Beobachtung der öffentlichen Meinung für das Regierungssystem werden von den Befragten "Machterhaltung", "Politikgestaltung" und "Politikvermittlung" angegeben. Im Unterschied zu den beiden ersten Kategorien wird das Wort "Machterhaltung" von den Befragten im Inter­view nicht verwendet, sondern ist eine von uns gewählte Bezeichnung, um den Bezug zum

135

Regierungs/Oppositions-Code deutlich zu machen. Die Aussagen der Befragten selbst bezie­hen sich vor allem auf Wahlen, und dies in der Regel in einer sehr allgemeinen Form. Daß es dabei um das Gewinnen von Wahlen geht - und damit um das Behalten des Regierungsamtes - , kann unseres Erachtens ohne allzu viel Spekulationen unterstellt werden, 28 von 38 Befrag­

ten (74 Prozent) haben Machterhaltung in dem beschriebenen indirekten Sinne als einen Be­weggrund für die Beobachtung und Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch das Regie­rungssystem genannt. Insofern kann Hypothese 7 als bestätigt betrachtet werden. Aber noch mehr Befragte, oder genauer gesagt: alle Befragten, haben die Politikgestaltung als einen Verwendungszweck artikuliert. Politikgestaltung ist allerdings ein mehrdeutiger Begriff, der

zwar auf die Machterhaltung bezogen werden kann, grundsätzlich aber auch auf die Erfüllung

einer demokratischen Norm. Dasselbe gilt für die Politikvermittlung als dem dritten von den Befragten angegebenen Verwendungszweck für die beobachtete öffentliche Meinung. Es be­

steht aber auch kein Grund anzunehmen, daß in beiden Fällen gerade diese Normerfüllung gemeint ist, wenn einerseits keinerlei explizite Äußerungen dazu vorgenommen wurden, an­

dererseits aber Machterhaltung als Zweck sehr häufig erwähnt wurde.Wir interpretieren die empirischen Ergebnisse, die in Tabelle 5 präsentiert werden, als eine

Bestätigung von Hypothese 7, die dem instrumentellen Charakter der Beobachtung öffentli­cher Meinung gegenüber dem normativen Postulat eine eindeutige Priorität gibt. Diese Inter­pretation ist zum Teil durch die Daten in Tabelle 5 selbst gerechtfertigt, zum Teil aber auch

durch das Gesamtmuster der gewonnenen empirischen Ergebnisse. Auf dieses Gesamtmuster

sowie auf das Verhältnis des instrumenteilen und des normativen Aspektes bei der Beobach­tung und Verwendung der öffentlichen Meinung durch das Regierungssystem gehen wir im nachfolgenden Schlußteil noch einmal ein.

4. Zusammenfassung und Diskussion

Dieser letzte Abschnitt enthält drei Aspekte: erstens eine Zusammenfassung der ermittelten empirischen Ergebnisse; zweitens eine Erörterung des Erkenntnisgewinns, der mit diesen Er­gebnissen verbunden sein kann; drittens die Diskussion der bereits im einleitenden Abschnitt angesprochenen Frage, wie die systemtheoretische und die demokratietheoretische Perspekti­ve miteinander zu verbinden sind.

Die Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse der Analyse soll nicht in Form einer erneuten Aufzählung der Einzelresultate vorgenommen werden, sondern durch eine Darstel­lung des gesamten Vorstellungsbildes öffentlicher Meinung, das sich aus diesen Einzelresulta­ten sowie aus den theoretischen Hintergrundüberlegungen extrahieren läßt. Dieses ist in Ab­bildung 2 graphisch dargestellt.

136

Abbildung 2: Das Vorstellungsbild öffentlicher Meinung bei den Akteuren der Öffentlich­

keitsabteilungen des Regierungssystems

--------starker Einfluß------ > schwacher Einfluß

Dieses Vorstellungsbild bezieht sich nicht auf einzelne Akteure, sondern auf alle Akteure der Öffentlichkeitsabteilungen des Regierungssystems, die Leitungspositionen innehaben.

Sozialpsychologisch ausgedrückt, handelt es sich um eine "knowledge structure" (Galambos/Abelson/Black 1986) oder um "cognitive heuristics" (Sherman/Corty 1984) eines

Kollektivs. Inhaltlich besteht dieses Vorstellungsbild aus einem Netzwerk von bestimmten Objekten, die durch Einflußrelationen miteinander verbunden sind. Sowohl die Objekte als auch ihre Relationen sind mentale Konstruktionen der Akteure. In den Objekten sind natürlich die Öffentlichkeitsabteilungen des Regierungssystems enthalten, in denen sie selbst als Rol­

lenträger agieren, und darin enthalten ist auch jenes Teilsystem, auf das sich die Tätigkeit der meisten Öffentlichkeitsabteilungen, die in unserer Befragung berücksichtigt sind, letztlich

bezieht: die Regierung als die eigentliche Entscheidungsinstanz. An die Regierung werden die beobachteten Informationen über öffentliche Meinung weitergegeben, und durch die Strategi­en und Entscheidungen der Regierung bekommen die Öffentlichkeitsabteilungen Vorgaben,

was sie überhaupt zu beobachten haben. Die Kommunikationsbeziehungen der Öffentlich­

keitsabteilungen mit der Umwelt, d. h. vor allem mit der öffentlichen Meinung in der Umwelt, wurden im Verlauf der Analyse bereits ausführlich erläutert. Zwei bislang noch nicht darge­legte Effekte zwischen den Objekten, die im Vorstellungsbild der Akteure der Öffentlich­keitsabteilungen repräsentiert sind, beziehen sich auf Ereignisse in der Umwelt des politischen Systems und auf die Handlungen und Entscheidungen der Regierung. Entsprechend den em­pirischen Ergebnissen der Interviews werden Ereignisse als konstituierende Größen für die

137Meinungsbildung zwar erwähnt, dies jedoch relativ selten. Das kann als ein weiterer Hinweis

auf den selbstreferentiellen Charakter der Kommunikationen des Systems mit seiner Umwelt interpretiert werden, denn Ereignisse sind systemexterne Faktoren. Wichtiger ist ein direkter - systemintemer - Effekt, der von den Entscheidungen der Regierung in bezug auf die Bildung der öffentlichen Meinung postuliert wird, d. h. ein Effekt, der nicht über die Öffentlichkeitsar­

beit des Regierungssystems vermittelt ist. Dieser Effekt wurde im Interview zwar nicht aus­drücklich abgefragt, aber dennoch mehrfach angesprochen. Dies ist plausibel, denn Entschei­dungen als solche werden von den Massenmedien auch unabhängig von der Öffentlichkeitsar­

beit des Regierungssystems registriert, und Entscheidungen als solche haben zumindest in

bestimmten Lebensbereichen der Bürger direkt wahrnehmbare Auswirkungen.Wenn einmal davon ausgegangen wird, daß dieses in Abbildung 2 modellierte Vorstel­

lungsbild der Wirklichkeit einigermaßen entspricht, dann stellt sich die Frage nach dem Er­kenntnisgewinn, d. h. nach dem, was über den unmittelbaren deskriptiven Informationsgehalt hinaus damit gewonnen ist. Zunächst einmal braucht es sich dabei nicht nur um eine kognitive Heuristik für die befragten Akteure des Regierungssystems selbst handeln, sondern kann auch

als eine Heuristik von Wissenschaftlern zur Spezifikation theoretisch sinnvoller Fragestellun­gen dienen, die dann empirisch getestet werden können. Wie die bereits zitierten Überblicks­

aufsätze von Jacobs und Shapiro (1994; 1996) sowie von Rogers und Dearing (1988) - und

weitere ließen sich hinzufügen - zeigen, entsprechen einige der im Vorstellungsbild vermittel­ten Einflußrelationen auch tatsächlichen Interaktionsbeziehungen. Dieser empirische Tatbe­stand ist mit der theoretischen Grundannahme, daß die Handlungen der Akteure des Regie­rungssystems unter anderem durch ihre Vorstellungsbilder gesteuert werden, zumindest ver­träglich.

Der unseres Erachtens aber wichtigste Erkenntnisgewinn besteht in Informationen über die Gründe für empirisch ermittelte Zusammenhänge. In den erwähnten empirischen Analysen werden in der Regel nur Korrelationen erfaßt. Dabei bleiben zwei wichtige Fragen fast immer offen: zum einen die der Kausalrichtung zwischen den beiden korrelativen Größen und zum anderen die Frage, warum es die korrelativen Zusammenhänge gibt. Durch die handlungstheo­retische Perspektive, die in unserer Analyse eingenommen wird und die von der Sinnorientie­rung der beteiligten Akteure ausgeht, kann diese Warum-Frage zumindest partiell beantwortet werden.

Der dritte Diskussionspunkt betrifft das Verhältnis von systemtheoretischer und demokra­tietheoretischer Perspektive, oder genauer als Frage formuliert: Wie sind die in einem sy­stemtheoretischen Bezugsrahmen mit einer handlungstheoretischen Komponente gewonnenen empirischen Ergebnisse unter Aspekten einer normativen Demokratietheorie einzuschätzen? Als Referenzpunkt kann die Unterscheidung von Habermas (1981, S. 384, 446) zwischen strategischem Handeln und kommunikativem Handeln genommen werden. Strategisches

Handeln wird bei Habermas als ein erfolgskontrolliertes Handeln oder als ein instrumentelles Handeln zur Maximierung des eigenen Nutzens begriffen, während kommunikatives Handeln ein verständigungsorientiertes Handeln ist. Demnach sind die Konstruktionen, die das Regie­

138

rungssystem von öffentlicher Meinung vornimmt, und die Kommunikationen, die sich mit öffentlicher Meinung auf dieser Grundlage vollziehen, als strategisches Handeln zu bezeich­nen. Es ist von dem Zweck gesteuert, die öffentliche Meinung so zu mobilisieren, daß die Wiederwahl der amtierenden Regierung gesichert wird. Interessanterweise wird diese strategi­

sche Orientierung, die sich aus der systemeigenen Rationalität ergibt, durch technische Ent­wicklungen zum Teil erst ermöglicht, in jedem Falle aber forciert. Diese technischen Entwick­lungen bestehen zum einen in der Ausbreitung der über Medien vermittelten Massenkommu­nikation und zum anderen im wissenschaftlichen Fortschritt bei der Erfassung der Bürgermei­nungen durch demoskopische Erhebungen. Beide Entwicklungen ermöglichen eine "Kommunikation" mit den Bürgern an den Bürgern vorbei, was mit Verständigung natürlich

sehr wenig zu tun hat.Auf einer ersten Ebene könnte man argumentieren, daß ein strategisches Handeln der Ak­

teure des Regierungssystems, das sich an den eigenen Machterhaltungsinteressen orientiert, nicht viel mit der demokratischen Norm zu tun hat, der zufolge die Entscheidungsprozesse des Regierungssystems von den Interessen des Publikums bzw. der Wähler gesteuert sein müssen.

Bei dieser Argumentation wird aber der institutioneile Aspekt der kompetitiven Wahlen nicht berücksichtigt. Dieser institutionelle Mechanismus zwingt die Akteure des Regierungssy­stems, bei der Verfolgung ihrer eigenen Interessen auf das Interesse des Publikums zu achten. Durch diese zentrale Institution der liberalen Demokratien werden also die unterschiedlichen

Handlungsrationalitäten des Regierungssystems und des Publikums miteinander verschränkt, so daß die instrumentelle Handlungsrationalität des Regierungssystems mit der zentralen de­

mokratischen Norm kein Gegensatzverhältnis, sondern ein Entsprechungsverhältnis bildet. Darin liegt die "List" des institutioneilen Arrangements liberaler Demokratien.

Eine andere Frage ist die nach der Herausbildung der öffentlichen Meinung im Publikum selbst. Inwieweit wird diese eher durch strategisches oder durch kommunikatives Handeln der Publikumsakteure erzeugt? Welche Rolle spielt dabei tatsächlich das strategische Handeln des Regierungssystems als ein publikumsexterner Einflußfaktor? Habermas spricht hinsichtlich des letzteren von einem verdeckten strategischen Handeln, das die Möglichkeit der Manipula­tion impliziert. Das aber sind Fragen, die sich nicht auf die Kommunikation zwischen Politie und Publikum beziehen, sondern auf die Kommunikation zwischen Akteuren und Systemen innerhalb des Publikums.

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142

Anmerkungen

1 Alternative Begriffe, die den gleichen Sachverhalt kennzeichnen, sind "Konstruktionen" oder "Images". Alle drei Begriffe werden im folgenden synonym verwen­

det.2 Eine vergleichbare Analyse hat kürzlich Herbst (1993) durchgeführt. Ihre Fragestel­

lung bezieht sich ebenfalls auf die Konstruktion eines Vorstellungsbildes öffentlicher Mei­nung durch politische Akteure, und ihre Methode sind ebenfalls Leitfadeninterviews. In zwei wesentlichen Aspekten unterscheidet sich Hare Analyse allerdings von der unsrigen: Während sie "normale" Bürger mit unterschiedlichen ideologischen Orientierungen befragt, konzen­triert sich unsere Befragung ausschließlich auf die Rollenträger des Regierungssystems, die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind; und während sie einen sozialpsychologischen Bezugsrahmen wählt, beruht unsere Argumentation auf einer systemtheoretischen Grundlage.

3 Eine vierte Bedeutungsdimension stellt die Definition der Gegenstände öffentlicher

Meinung dar. Diese umfassen nach allgemeinem Verständnis alle "öffentlichen" Angelegen­heiten. Die Definition von "öffentlichen Angelegenheiten" kann aber nicht a priori vorge­nommen werden, sondern ist Ergebnis politischer Prozesse. Deshalb wurde diese Bedeu­tungsdimension in unserer Erörterung nicht ausdrücklich berücksichtigt.

4 Zur Begriffsgeschichte öffentlicher Meinung vgl. Noelle-Neumann (1994).5 Daneben gibt es natürlich noch weitere formelle und informelle Beteiligungsrollen,

wie die des Petitionsschreibers, des Protestierers etc. Die wichtigste ist aber die Wählerrolle,

da sie für die Selektion des Entscheidungspersonals sowie für die Wirksamkeit des Regie- rungs/Oppositions-Mechanismus maßgebend ist.

6 Zur Diskussion des Verhältnisses von Systemtheorie und Handlungstheorie als den beiden großen Paradigmen der Sozialwissenschaften vgl. Münch (1983), Schimank (1985), Fuchs (1993) und Gerhards (1994).

7 Genaugenommen geht es um das Verständnis, das Akteure der Öffentlichkeitsabtei­lungen des Regierungssystems von öffentlicher Meinung haben. Da die Öffentlichkeitsabtei­lungen und die in ihnen handelnden Akteure aber das Regierungssystem in ihrer Funktion als

Beobachter der öffentlichen Meinung repräsentieren, kann auf die kürzere Formulierung zu­rückgegriffen werden.

8 Wir danken Angelika Costa, Andreas Dams und Jan Flickschu für ihre kompetente Mitarbeit bei dieser empirischen Analyse. Angelika Costa war an der Entwicklung des Code­

plans beteiligt und hat alle Interviews vercodet. Andreas Dams hat die Daten aufbereitet und sämtliche Auszählungen vorgenommen. Die Tabellen und Abbildungen wurden von Jan Flickschu erstellt.

9 Das "andere Verständnis" bezieht sich auf die internationale öffentliche Meinung, die von einem Akteur geäußert wurde, der für internationale Beziehungen zuständig ist.

10 Laut einer Informationsbroschüre des Bundespresseamts von 1993 wurde im Amt ein

eigenes Nachrichten-Bearbeitungs-System (NBS) entwickelt.