Familienbetriebener apfelanbau in Südtirol: Eine fallstudie zu landwirtschaftlichen ... · 2021....

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PUBLIKATION ZU INNOVATIONEN IN DER FAMILIENBETRIEBENEN LANDWIRTSCHAFT FAMILIENBETRIEBENER APFELANBAU IN SÜDTIROL: EINE FALLSTUDIE ZU LANDWIRTSCHAFTLICHEN INNOVATIONEN

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PUBLIKATION ZU INNOVATIONEN IN DER FAMILIENBETRIEBENEN LANDWIRTSCHAFT

FAMILIENBETRIEBENER APFELANBAU IN SÜDTIROL: EINE FALLSTUDIE ZU LANDWIRTSCHAFTLICHEN INNOVATIONEN

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PUBLIKATION ZU INNOVATIONEN IN DER FAMILIENBETRIEBENEN LANDWIRTSCHAFT

FAMILIENBETRIEBENER APFELANBAU IN SÜDTIROL: EINE FALLSTUDIE ZU LANDWIRTSCHAFTLICHEN INNOVATIONEN

Herausgegeben von Julien de Meyer

Published by arrangement with the Food and Agriculture Organization of the United Nations

by the FIERA BOLZANO SPA – MESSE BOZEN AG

Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen

(Food and Agriculture Organization of the United Nations)

2014

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Diese Studie wurde im englischen Original von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations) unter dem Titel „Apple-producing family farms in South Tyrol: An agriculture innovation case study“veröffentlicht. Diese deutsche Übersetzung wurde von FIERA BOLZANO SPA – MESSE BOZEN AG in Auftrag gegeben. In Falle von Diskrepanzen ist die englische Originalversion maßgeblich. Die in dieser Informationsschrift verwendeten Bezeichnungen und dargestellten Materialien implizieren keine Stellungnahme seitens der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO)) hinsichtlich des Rechts- oder Entwicklungsstatus einzelner Länder, Gebiete, Städte oder Regionen bzw. ihrer Verwaltungsbehörden oder hinsichtlich der Festlegung ihrer Grenzen. Die Erwähnung bestimmter Unternehmen oder Herstellerprodukte, unabhängig davon, ob diese patentiert sind oder nicht, impliziert seitens der FAO keine bevorzugte Unterstützung oder Empfehlung gegenüber anderen ähnlichen Unternehmen oder Herstellerprodukten, die hierin nicht erwähnt werden. Die hierin enthaltenen Stellungnahmen sind die des Autors bzw. der Autoren und geben nicht unbedingt die Ansichten oder Grundsätze der FAO wieder. ISBN 978-92-5-708365-3 (Druck) E-ISBN 978-92-5-708366-0 (PDF) © MESSE BOZEN AG, 2014 (Deutsche Übersetzung) © FAO, 2014 (English Edition) Die FAO regt zur Verwendung, Vervielfältigung und Weitergabe des Inhalts dieser Informationsschrift an. Sofern nicht anderweitig angegeben, darf der Inhalt zu privaten Studien-, Forschungs- und Lehrzwecken oder zur Nutzung für nicht kommerzielle Produkte oder Dienstleistungen kopiert, heruntergeladen und gedruckt werden, vorausgesetzt, dass die FAO als Quelle und Urheberrechtsinhaber angegeben wird und eine Unterstützung der Ansichten, Produkte oder Dienstleistungen des Nutzers seitens der FAO in keinster Weise impliziert wird. Sämtliche Anfragen zu Übersetzungs- und Bearbeitungsrechten sowie zum Wiederverkaufsrecht und zu sonstigen kommerziellen Nutzungsrechten sollten über www.fao.org/contact-us/licence-request oder per E-Mail an [email protected] erfolgen. Veröffentlichungen der FAO stehen auf der Website der FAO (www.fao.org/publications) zur Verfügung und können per E-Mail an [email protected] erworben werden. Titelfoto: Oben: © Kurt Werth Unten: © FAO/M. Marzot Alle Fotos in dieser Publikation wurden mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt von: © Kurt Werth Mit Ausnahme von: Foto auf Seite 13, mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt von: © Südtiroler Beratungsring für Obst-und Weinbau Foto auf Seite 23, mit freundlicher Genehmigung bereitgestellt von: © Mivor

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INHALT

Danksagungen ...................................................................................................................................................................... iv Abkürzungen und Akronyme ................................................................................................................................................ v Geografische Information ....................................................................................................................................................... vi Zusammenfassung .............................................................................................................................................................. vii

EINLEITUNG ..................................................................................................................... 1

ALLGEMEINES ZIEL DIESER ANALYSE .......................................................................................... 5 FAKTOREN, DIE DIE ENTWICKLUNG DES SYSTEMS BEEINFLUSSTEN ........................................................................................................... 5

METHODEN ................................................................................................................................ 8

ERGEBNISSE DER ANALYSE .............................................................................................. 9 ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER VERSCHIEDENEN ORGANISATIONEN UND ANKNÜPFUNG VON VERBINDUNGEN ................ 9 MECHANISMUS DER NETZWERKENTWICKLUNG: WISSENSANEIGNUNG UND ANTRIEBSKRÄFTE ............................................ 22 ENTWICKLUNG DER VERBINDUNGEN UND ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN DEN INTERESSENGRUPPEN ...................................... 24 DISKUSSION ÜBER DIE VERBINDUNGEN UND ZUSAMMENARBEIT ...................................................................................................... 25 MÖGLICHKEITEN DES LANDWIRTSCHAFTLICHEN WISSENS- UND INFORMATIONSSYSTEMS ................................................................ 26

SCHLUSSFOLGERUNG ................................................................................................................ 28

LITERATURVERZEICHNIS .................................................................................................................................................... 30

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DANKSAGUNGEN

Diese Publikation wurde von Sandra Hakim, May Hani, Julien de Meyer, Cecile Nicod, Ana Pizarro und Kurt Werth erstellt und durch wertvolle Beiträge von John Preissing, Riccardo del Castello, John Ruane und Delgermaa Chuluunbaatar ergänzt. Die abschließende sprachliche Überarbeitung und Anpassung an den internen Stil der FAO wurde von Thorgeir Lawrence vorgenommen.

Dieser Beitrag wurde als eine Fallstudie für das vom 7. EU-Forschungsrahmenprogramm geförderte SOLINSA-Projekt (Support of Learning and Innovation Networks for Sustainable Agriculture; zu deutsch: Förderung von Lern- und Innovationsnetzwerken für nachhaltige Landwirtschaft) erstellt und präsentiert. Wir bedanken uns für die technische und finanzielle Unterstützung von SOLINSA.

Die Autoren möchten sich bei den Menschen in Südtirol für ihre Gastfreundlichkeit während des Studienbesuchs sowie für ihre Geduld bei der Beantwortung von Fragebögen und der Teilnahme an Umfragen bedanken.

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ABKÜRZUNGEN UND AKRONYME AKIS Agricultural Knowledge and Information System (Landwirtschaftliches Wissens- und Informationssystem) DCA Dynamic Controlled Atmosphere (Dynamisch kontrollierte Atmosphäre)

EU Europäische Union FAS Farm Advisory System (System der landwirtschaftlichen Betriebsberatung) GAEC Good Agricultural and Environmental Conditions (Normen für einen guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand) G.A.P. Gute Agrarpraxis GAP Gemeinsame Agrarpolitik [der EU] IFP Integrated Fruit Production (Integrierter Obstanbau) IP Integrated Production (Integrierter Anbau) IPM Integrated Pest Management (Integrierte Schädlingsbekämpfung)

LINSA Learning and Innovation Network for Sustainable Agriculture (Lern- und Innovationsnetzwerk für nachhaltige Landwirtschaft)

SMR Standards of Management Requirements (Standards für Managementanforderungen) VI.P Verband der Vinschgauer Produzenten für Obst und Gemüse VOG Verband der Südtiroler Obstgenossenschaften

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GEOGRAFISCHE INFORMATION

Südtirol ist die in diesem Bericht verwendete Bezeichnung für die nordöstliche Region Italiens, die an Österreich

und die Schweiz grenzt. Zwar ist Südtirol eine Provinz Italiens, doch ist es eine weitestgehend autonomische

Region, die ihre alten Eigenschaften erhalten hat. Italienisch, Deutsch und Ladinisch sind gleichermaßen

anerkannte Amtssprachen. Der italienische Name ist Provincia autonoma di Bolzano - Alto Adige; zu Deutsch:

Autonome Provinz Bozen - Südtirol; und auf Ladinisch, der in dieser Region gesprochenen Sprache: Provinzia

autonoma de Balsan/Bulsan - Südtirol.

Karte 1. Karte der Studienregion Südtirol

SÜDTIROL

Karte 2. Die wichtigsten Genossenschaften der Apfelproduzenten

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Zusammenfassung

In der autonomen Provinz Südtirol in Norditalien ist das größte zusammenhängende Apfelanbaugebiet Europas angesiedelt. Das 19.000 Hektar große Südtiroler Produktionsgebiet beliefert bis zu 50% des italienischen, 15% des europäischen und 2% des weltweiten Apfelmarktes. Der Apfelanbau floriert seit langem und war stets in der Lage, der europäischen und globalen Marktnachfrage nachzukommen und mit der Konkurrenz mitzuhalten.

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs organisieren sich die unterschiedlichen Interessengruppen im Apfelanbau und der Apfelvermarktung in einem effizienten und effektiven Lern- und Innovationsnetzwerk für nachhaltige Landwirtschaft (Learning and Innovation Network for Sustainable Agriculture (LINSA)). Das LINSA ist ein hoch entwickeltes und anpassungsfähiges Netzwerk aus Produzenten, ihren Genossenschaften und Verbänden, Forschungseinrichtungen, landwirtschaftlichen Beratungsdiensten und anderen öffentlichen und privaten Akteuren, die alle in einem Netzwerk von Verbindungen kooperieren, das aufgrund eines hohen Verständnisses und enger Zusammenarbeit zwischen allen Interessengruppen funktioniert.

Die wichtigsten Komponenten des LINSA sind die Genossenschaften der Apfelproduzenten und ihre strenge Einhaltung der von Friedrich Wilhelm Raiffeisen definierten Grundprinzipien Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung und Mitgliederförderung.

Daneben gibt es zahlreiche andere Faktoren, die die Beschaffenheit dieses Systems beeinflusst haben. Der historische, gesellschaftliche und kulturelle Charakter der Provinz und ihrer Einwohner begünstigte die Schaffung einer geografischen Konzentration, wo sich Menschen und Institutionen weiterentwickeln und innovativ sein mussten, um erfolgreich zu überleben. In den letzten Jahrzehnten war die Provinz politisch stabil und verfolgte eine für die Landwirtschaft förderliche Agrarpolitik, die die landesweite Regierungspolitik und die gemeinsame Agrarpolitik der Europäischen Union ergänzte. Dadurch wurden gute Rahmenbedingungen für Innovationen geschaffen. Wirtschaftlich gesehen trug die Diversifizierung der Einnahmen der 8.000 landwirtschaftlichen Familienbetriebe, die dem LINSA angehören, zur Widerstandsfähigkeit dieses Innovationssystems bei.

Die Entwicklung des Netzwerks wurde von formellen und informellen Mechanismen beeinflusst, die eine deutliche Komponente des sozialen Lernens enthielten. Die formellen Mechanismen sind auf politischer, institutioneller und individueller Ebene vorhanden, und Aspekte des sozialen Lernens durchdringen das System. Die Wissensaneignung in Südtirol ist mit einer äußeren und inneren Dynamik verbunden, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. Das in dieser geographischen Konzentration generierte soziale Kapital ermöglicht die Entwicklung des Systems, indem das Wissen anderer aufgenommen und neues Wissen erarbeitet wird.

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FAMILIENBETRIEBENER APFELANBAU IN SÜDTIROL: EINE FALLSTUDIE ZU LANDWIRTSCHAFTLICHEN INNOVATIONEN

Das landwirtschaftliche Wissenssystem ging mit dem LINSA einher und unterstützte es. Das Forschungs- und Beratungssystem sowie das Bildungssystem haben sich weiterentwickelt und den Innovationsprozess durch Initiativen zur Kapazitätsentwicklung, die Bereitstellung ländlicher Beratungsdienstleistungen und die Erfindung oder Anpassung von produktionsrelevanten Technologien unterstützt.

Die Apfelproduzenten in Südtirol haben ein LINSA entwickelt, das von zwischenmenschlichen Beziehungen, Vertrauen, einer geteilten Vision und gemeinsamen Interesse geleitet wird und in dem Informationen und Wissen problemlos weitergegeben und durch schnelles und kollektives Handeln zur Erzielung von Innovationen untermauert werden.

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EINLEITUNG

Spätestens seit dem 16. Jahrhundert ist Norditalien in der Apfelproduktion tätig, als Kuriere aus der Südtiroler Region an der Etsch frisches und konserviertes Obst an die Höfe der österreichischen und russischen Monarchen lieferten (VOG, 2013). Seit 1945 konnte Südtirol trotz politischer und wirtschaftlicher Erschütterungen sein Produktions- und Vermarktungssystem soweit entwickeln, dass es die Existenz von 8.000 landwirtschaftlichen Familienbetrieben sichert.

Heute beliefert das 19.000 Hektar große Südtiroler Apfelanbaugebiet bis zu 50% des italienischen, 15% des europäischen und 2% des weltweiten Apfelmarktes. Der Apfelanbau floriert seit Ende des Zweiten Weltkriegs und war stets in der Lage, der europäischen und globalen Marktnachfrage nachzukommen und mit der Konkurrenz mitzuhalten.

Die vielen Merkmale der gegebenen Situation sind ein gutes Beispiel für ein Lern- und Innovationsnetzwerk für nachhaltige Landwirtschaft (Learning and Innovation Network for Sustainable Agriculture (LINSA))1. Das LINSA ist ein hoch entwickeltes und anpassungsfähiges Netzwerk aus Produzenten, ihren Genossenschaften und Verbänden, Forschungseinrichtungen, landwirtschaftlichen Beratungsdiensten und anderen öffentlichen und privaten Akteuren, die alle in einem Netzwerk von Verbindungen kooperieren, das aufgrund eines hohen Verständnisses und enger Zusammenarbeit zwischen allen Interessengruppen funktioniert. Die Produzenten und ihre Genossenschaften stehen im Zentrum des Systems, wobei die Innovations- und Wettbewerbsfähigkeit der Produzenten ausschlaggebende Faktoren für den Erfolg sind.

Südtirol ist eine Region mit einer starken Identität, die auf seine stürmische Geschichte zurückzuführen ist. 1919 wurde die bis dahin zu Österreich-Ungarn gehörende Region durch den Vertrag von Saint-Germain an Italien angegliedert. Die Einwohner von Südtirol mussten sodann Mussolinis Italianisierungsprogramm hinnehmen. Das faschistische Regime förderte die Umsiedlung italienischsprachiger Migranten aus anderen Teilen Italiens nach Südtirol, wodurch der Anteil der Italienisch sprechenden Bevölkerung von 7% im Jahr 1914 auf 35% im Jahr 1943 anstieg (Fedele, 2008). Die Bevölkerung wurde weiter durch den Zweiten Weltkrieg und das deutsch-italienische Optionsabkommen von 1939 gespalten, demzufolge die deutschsprachige Bevölkerung von Südtirol die Wahl hatte, entweder in die Nachbarländer Österreich und Deutschland auszuwandern oder in Italien zu bleiben und die vollständige Italianisierung zu akzeptieren. Durch die Auswanderung der deutschsprachigen Südtiroler wurde die Wirtschaft weiter geschwächt.

Das Ende des Zweiten Weltkriegs führte zum ersten Autonomiestatut, mit dem sich die Provinz aufgrund ihrer Verbindung zur Provinz Trient nicht zufrieden gab (Alcock, 2001). Die Krise im Zusammenhang mit Südtirols Autonomie gipfelte in einer gewaltsamen Bewegung, bei der Aktivisten 1965 Bombenanschläge verübten.

1 Ein LINSA definiert sich im Allgemeinen als ein Wissensnetzwerk, in dem neues Wissen ausgetauscht oder erarbeitet wird oder in dem Innovationen entwickelt werden (Hermans, Klerkx und Roep, 2010).

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1960 griffen die Vereinten Nationen in den Konflikt ein, was zu einer Wiederaufnahme der Verhandlungen zwischen Österreich und Italien und letztlich zum zweiten Autonomiestatut im Jahr 1972 führte. Dieser Kampf um Autonomie und die spezifischen Merkmale der Provinz als eine mehrsprachige Berggemeinschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung Italienisch nicht als Muttersprache hatte, verstärkte ihre Isolierung weiter, begünstigte gleichzeitig aber auch die Schaffung einer geographischen innovationsfreundlichen Konzentration.

Diese Einleitung wäre unvollständig, wenn nicht kurz auf die in Südtirol vorherrschende Genossenschaftskultur eingegangen würde. Die von Friedrich Wilhelm Raiffeisen definierten Grundprinzipien der Selbsthilfe, Selbstverwaltung, Selbstverantwortung und Mitgliederförderung (Wülker, 1995) sind der Anker des LINSA. Die Genossenschaftsbewegung begann in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, als Tirol eine weitgehende Agrarreform erfuhr, die die Einführung des geschlossenen Hofsystems sowie die Entstehung der ländlichen Raiffeisen-Kreditbanken und die Gründung von landwirtschaftlichen Genossenschaften mit sich brachte (Rizzo, 2009). Heute sind die Mitglieder der Genossenschaften für Apfelproduzenten—die 95% aller Produzenten in der Provinz repräsentieren—die wirtschaftlichen Eigentümer mit einer Entscheidungsgewalt beruhend auf dem Prinzip „eine Person, eine Stimme“ und die hauptsächlichen Dienstleistungsempfänger der Genossenschaft. Dadurch verfügen die Produzenten über ein großes Mitspracherecht und können Dienstleistungen fordern und nicht zufriedenstellende Leistungen sanktionieren. Dieses Steuerungssystem einhergehend mit strengen und regelmäßigen Finanzprüfungsverfahren verhilft dem LINSA zu einem stabilen System gegenseitiger Kontrolle und Überwachung.

Letztendlich machen die Südtiroler Apfelproduzenten es zu einem wahrhaft einmaligen System. Sie fühlen sich mit ihrer Kultur und ihren Traditionen verbunden, sind aber gleichzeitig wahre Innovatoren. Sie haben die modernsten Lagerungs- und Vermarktungsmechanismen bereitwillig angenommen und suchen stets nach neuen Ideen, um noch effizienter und effektiver zu sein. Sie haben, wenn auch manchmal erst nach langen und gesunden Diskussionen, neue Technologien und Verfahren eingeführt und bei Bedarf neue Institutionen gegründet. Sie sind an verschiedenen Zeitpunkten in ihrer Geschichte das Risiko eingegangen, Änderungen vorzunehmen und sich an neue Bedingungen anzupassen. Ihre Innovationsfähigkeit und ihr Einfallsreichtum sind die ausschlaggebenden Faktoren für den Erfolg dieses LINSA. In Tabelle 1 sind die wichtigsten Akteure innerhalb des LINSA aufgeführt.

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Tabelle 1. Wer ist wer in Südtirol – einige der wichtigsten Akteure in dem Innovationsnetzwerk.

NAME UND ZIEL WEITERE INFORMATIONEN

AGRIOS (ARBEITSGRUPPE FÜR DEN INTEGRIERTEN OBSTANBAU IN SÜDTIROL) Die AGRIOS managt Aspekte im Zusammenhang mit der Qualität und den Gesetzen und Vorschriften für den integrierten Anbau.

Die AGRIOS wurde 1977 als privates, gemeinnütziges Unternehmen gegründet. Sie verliert derzeit ein wenig an Einfluss, da die Richtlinien für den integrierten Anbau nunmehr direkt von Rom vorgeschrieben werden (oder von den Käufern, wie im Fall von GlobalG.A.P). Die Qualitätskontrollfunktion wurde ausgegliedert und wird jetzt von einem gemeinnützigen Unternehmen (das Konsortium „Südtiroler Qualitätskontrolle“) implementiert.

BAUMSCHULEN

Die Baumschulen sind ein Teil der Dienstleistungen, die den Produzenten von privaten Unternehmen bereitgestellt werden. Ihr Ziel ist es, virenfreies und qualitativ hochwertiges Pflanzmaterial für die von den Produzenten benötigten Sorten bereitzustellen.

Das Konsortium Südtiroler Baumschuler (KSB) ist ein Zusammenschluss von Baumschulen, das nach dem Provinzgesetz gegründet wurde und für die Vermehrung und Verteilung von Vermehrungsmaterial verantwortlich ist. Darin eingeschlossen ist die GRIBA, eine Genossenschaft für Baumschulen. Die Südtiroler Baumschulen produzieren insgesamt über 10 Millionen Bäume pro Jahr. Die Baumschulen haben sich zu internen Bildungs- und Informationszwecken zum Bund Südtiroler Baumschuler (BSB) zusammengeschlossen.

BAUERNBUND

Ziel des Bauernbundes der Provinz ist es, den Bauernstand in wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Hinsicht zu stärken und die Interessen seiner Mitglieder zu vertreten.

Der Verband wurde ursprünglich 1904 gegründet, musste jedoch 1919 neu etabliert werden, als Südtirol an Italien angegliedert wurde. Er hat sich seitdem weiterentwickelt und zählt heute über 21.000 Mitglieder. Die Mehrheit seiner Einnahmen erzielt der Verband aus seiner Dienstleistungsbereitstellung.

BERATUNGSRING

Der Beratungsring bietet ein privates und unabhängiges Beratungssystem an.

Der Beratungsring ist ein Anbieter von ländlichen Beratungsdienstleistungen, der 1957 gegründet wurde. Er verfügt über ein Budget von 3,2 Millionen Euro, von dem 70% von den Landwirten und 30% von der Lokalregierung bereitgestellt werden. Rund 90% der lokalen Landwirte sind Mitglieder. Es sind 31 Berater tätig.

BRANCHE UND DIENSTLEISTUNGEN

Der Apfelanbau in der Provinz ist mit einer dynamischen Branche verbunden. Sie entstand, um die notwendigen Instrumente für den Apfelanbau bereitzustellen. Viele Kleinunternehmen haben sich inzwischen zu Branchenführern entwickelt.

Eines dieser Unternehmen ist Isolcell, ein Unternehmen, das mittlerweile seit 50 Jahren in Bozen besteht und führend ist im Bereich der Apfelkonservierungstechniken und in der Vermarktung des Verfahrens der dynamisch kontrollierten Atmosphäre (Dynamic Controlled Atmosphere (DCA)), das am Versuchszentrum Laimburg entwickelt wurde. DCA ist das bekannteste und meist angewandte Verfahren zur Optimierung der Bedingungen für die Lagerung mit dynamisch kontrollierter Atmosphäre. Es wird von Isolcell Italia AG vermarktet und im kommerziellen Apfelanbau weltweit angewandt (Zanella, Cazzanelli und Rossi, 2008; Prange, Delong und Harrison, 2005).

GENOSSENSCHAFTEN

Ihr Ziel ist die Lagerung und Vermarktung der Äpfel ihrer Mitglieder.

In Südtirol gibt es 23 Genossenschaften für den Apfelanbau, die 95% der Produzenten abdecken. Die erste Genossenschaft für den Apfelanbau wurde 1893 gegründet (Algund) und schließt heute VOG Products ein – Europas größten Obstverarbeiter. Die wichtigsten Ziele der Genossenschaften sind die Lagerung, Verarbeitung und Vermaktung des von den Mitgliedern gelieferten Obstes.

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NAME UND ZIEL WEITERE INFORMATIONEN

GENOSSENSCHAFTSVERBAND

Es gibt zwei Genossenschaftsverbände für die Vermarktung und Rechnungsstellung (Verband der Südtiroler Obstgenossenschaften [VOG] und Verband der Vinschgauer Produzenten für Obst und Gemüse [VI.P]).

Der VI.P und der VOG sind Erzeugerorganisationen im Sinne der europäischen Rechtsprechung. Der VOG wurde 1945 gegründet. Er beschäftigt 1.558 Mitarbeiter und besteht aus 16 Genossenschaften mit 5.200 Mitgliedern auf einer Fläche von 10.700 Hektar. Der VOG verzeichnet einen jährlichen Absatz von 735.000 Tonnen Äpfel und einen Umsatz von 433 Millionen Euro. Der VI.P wurde 1990 gegründet. Er beschäftigt 700 Mitarbeiter und besteht aus 7 Genossenschaften mit insgesamt 1.750 Mitgliedern auf einer Fläche von 5.110 Hektar. Der VI.P verzeichnet einen jährlichen Absatz von 284.000 Tonnen Äpfel und einen Umsatz von 225 Millionen Euro.

HANDELS- UND WISSENSMESSEN

Ziel der Messen ist die Präsentation der neuesten Innovationen und der Wissensaustausch.

Diverse Organisationen in der Provinz arrangieren regelmäßig Messen. Die wichtigste Messe ist die alle zwei Jahre stattfindende Interpoma, eine Messe rund um den Apfel. 2012 waren 364 Aussteller aus 17 Ländern vertreten, mit 16.017 Fachbesuchern aus über 60 Ländern.

LAND- UND FORSTWIRTSCHAFTLICHES VERSUCHSZENTRUM LAIMBURG

Das Land- und Forstwirtschaftliche Versuchszentrum Laimburg betrachtet sich selbst als die führende Forschungseinrichtung für Landwirtschaft in Südtirol. Seine Aufgabe ist es, die Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit der Landwirtschaft durch einen kritischen Wissensvorsprung zu verbessern.

Seit seiner Gründung 1975 konnte das Versuchszentrum Laimburg einen Platz unter den führenden landwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen halten, nicht nur in Italien, sondern auch in deutschsprachigen Ländern in Europa. Dies ist insbesondere auf das Engagement von Wissenschaftlern und Experten zurückzuführen, die jährlich rund 400 Projekte und Aktivitäten durchführen und ihre gesammelten Erkenntnisse aufbereiteten, um sie an den Südtiroler Bauernstand weiterzugeben.

LANDESKONSORTIUM FÜR DEN SCHUTZ VOR WITTERUNGSUNBILDEN

Das Konsortium implementiert Initiativen für seine Mitglieder zur Unterstützung des aktiven und passiven Schutzes vor Witterungsunbilden.

Das Konsortium wurde 2004 gegründet. 95% der Apfelproduzenten und 75% der Winzer zählen zu seinen Mitgliedern.

PRODUZENTEN

Landwirte im Apfelanbau. Es gibt 8.000 Landbesitzer mit Obstplantagen in Südtirol, von denen 5.000 aktiv im Apfelanbau tätig sind.

Der Obstanbau in Südtirol hat eine lange Tradition. Schon im 16. Jahrhundert brachten Kuriere aus der Region an der Etsch frisches und konserviertes Obst an die Höfe der österreichischen und russischen Monarchen.

SÜDTIROL (AUTONOME PROVINZ)

Die Provinzverwaltung ist für soziale und wirtschaftliche Belange zuständig, einschließlich derer der Land- und Forstwirtschaft. Das zweite Autonomiestatut räumte der Provinz eine größere Entscheidungsgewalt hinsichtlich ihrer Zukunft ein.

Die Provinz wurde durch die Angliederung an Italien 1919 gegründet. Sie wurde mit dem ersten Autonomiestatut ein Teil der Region Trentino-Südtirol und erhielt 1972 durch das zweite Autonomiestatut erweiterte Befugnisse.

SORTENERNEUERUNGSKONSORTIUM SÜDTIROL (SK)

Ziel des SK ist es, neue Sorten zu testen, einzuführen und zu fördern. Es fungiert als Sorteninformationsstelle des VI.P und des VOG.

Das Konsortium wurde 2002 gegründet und ist eine gemeinnützige Organisation mit dem Ziel, geeignete Sorten für die Region zu finden, für sie zu werben und die besten Sorten gemeinsam mit dem Versuchszentrum Laimburg und dem Beratungsring durch den Kooperationsverbund an die Produzenten zu bringen.

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ALLGEMEINES ZIEL DIESER ANALYSE

Ziel dieser Analyse ist das Verständnis der lokalen Innovationsprozesse in Südtirol und insbesondere der Beschränkungen und Möglichkeiten des LINSA. Dazu werden die letzten 50 Jahre der Geschichte des LINSA eingehend untersucht, wobei die günstigen Rahmenbedingungen, die Unterstützung durch das landwirtschaftliche Wissens- und Informationssystem2 (Agricultural Knowledge and Information System (AKIS)) sowie die Antriebskräfte und Auslöser für Innovationen hervorgehoben werden. Wir diskutieren das lokale Wissen und die wissenschaftlichen Prozesse sowie die imitierten Verfahren, die auf Technologien oder Praktiken beruhen, welche außerhalb von Südtirol entwickelt wurden, und erläutern, inwiefern sie die Quelle angewandten Wissens sind.

FAKTOREN, DIE DIE ENTWICKLUNG DES SYSTEMS BEEINFLUSSTEN

Das System wurde von historischen, kulturellen, sozialen, politischen, geografischen und wirtschaftlichen Faktoren beeinflusst. Die Geschichte der Provinz, auf die in der Einleitung kurz eingegangen wurde, hat einen Teil des Prozesses geformt, und die Resultate sind heute zu sehen. Die Wahrung der lokalen Kultur war ein gemeinsamer Kampf der Südtiroler, die zusammenarbeiten mussten, um ihre Lebensweise zu erhalten. Man ist hier stark davon überzeugt, dass ein Individuum innerhalb einer Gruppenstruktur erfolgreicher ist; zumindest spiegelt sich das in der Mehrheit der befragten Personen wider. Die Art und Weise, in der die Menschen miteinander umgehen, ist ebenso auf ihre Geschichte zurückzuführen, wie von Alcock (2001) beschrieben: „Um zu überleben und sich anzupassen, war von der Südtiroler Gesellschaft stets Kooperation anstelle von Konfrontation gefragt.“ Sie etablierte einen dynamischen Entwicklungsprozess, der auf Vertrauen, Lernen und gegenseitigen Respekt beruht.

Die geografischen Besonderheiten der Provinz beeinflussten sein LINSA. Die Provinz profitiert von einem feuchten kontinentalen Klima mit Lufttemperaturschwankungen, das insbesondere den Apfelanbau begünstigt. 300 Tage Sonne im Jahr garantieren gute Anbaubedingungen. Dieses produktive Umfeld liegt in einer isolierten Berglandschaft, in der die Menschen die gleiche Sprache und Lebensweise sowie soziale und kulturelle Werte teilen, die sich von denen in den umgebenden italienischen Regionen unterscheiden. Die Isolation trug zur Entwicklung eines dichten Beziehungsnetzwerks innerhalb der Provinz bei. Man schuf eine geografische Konzentration, wo die zwischenmenschlichen Beziehungen, das Vertrauen, eine gemeinsame Sprache und der gleiche Glaube eine schnelle Weiterleitung von Informationen, eine problemlose Weitergabe von Wissen und die Bildung von sozialem Kapital ermöglichte (Carbonara, 2004; Putnam, 1993). Die Menschen und Institutionen mussten sich gleichzeitig weiterentwickeln. Wie in den folgenden Kapiteln veranschaulicht wird, unterstützte diese zeitgleiche Entwicklung wiederum die Entwicklung eines Innovationssystems durch die schnelle Weitergabe von Wissen in einem dynamischen Selbstlernsystem. (Juma, 2011).

2 Ein landwirtschaftliches Wissens- und Informationssystem verbindet die Landbevölkerung mit den

Institutionen, um gegenseitiges Lernen zu fördern und landwirtschaftliche Technologien, Kenntnisse und Informationen zu erarbeiten, zu teilen und zu nutzen. Das System integriert Landwirte, Landwirtschaftsexperten, Forscher und Berater, um Wissen und Informationen aus verschiedenen Quellen für eine bessere Landwirtschaft und verbesserte Lebensbedingungen zu nutzen (Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation/Weltbank, 2000).

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FAMILIENBETRIEBENER APFELANBAU IN SÜDTIROL: EINE FALLSTUDIE ZU LANDWIRTSCHAFTLICHEN INNOVATIONEN

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In sozialer Hinsicht genießen die Apfelproduzenten einen hohen Status. Kulturell gesehen waren die Menschen in der Provinz von jeher Innovatoren. Beispielsweise war es ein Apotheker aus der Provinz, Ludwig Comini, der 1857 Obstbäume und Weinreben erstmals mit Schwefel behandelte, um sie gegen Mehltau zu schützen ‒ eine Methode, die auch heute noch in der ganzen Welt angewandt wird (Leonardi, 2009).

In den letzten Jahrzehnten schuf eine für die Landwirtschaft förderliche Agrarpolitik auf staatlicher, nationaler und europäischer Ebene günstige Rahmenbedingungen für das LINSA. Die Provinz verfügt zudem über eine spezielle Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums. Mit den Worten des Gouverneurs der autonomen Provinz Südtirol:

„Die Entwicklung des ländlichen Raums kann und sollte nicht länger allein von der Landwirtschaft abhängig sein. Zur Förderung der Potenziale und zugleich der Nachhaltigkeit ländlicher Gemeinden und des ausgewogenen Verhältnisses zwischen Stadtzentren und ländlichen Regionen bedarf es der Diversifikation sowohl innerhalb als auch außerhalb der Land- und Forstwirtschaft.“

Mit Hinblick auf die politischen Rahmenbedingungen gab es in Südtirol seit der Erklärung seiner Autonomie nur drei Gouverneure und eine politische Mehrheitspartei, die Südtiroler Volkspartei. Diese politische Stabilität und die Politik zur Förderung der Landwirtschaft und Entwicklung des ländlichen Raums bildeten eine stabile Basis für die Entwicklung des Innovationssystems.

Wirtschaftlicher Hintergrund: Die Produktionseinheiten sind eine Mischung aus unterschiedlich großen Familienbetrieben: 34% der Betriebe verfügen über 0,1 bis 1 Hektar Land ‒ diese sollten als landwirtschaftliche Teilzeitbetriebe betrachtet werden, 31% verfügen über 1 bis 3 Hektar Land, 20% besitzen zwischen 3 und 5 Hektar Land, und der Rest besitzt über 5 Hektar Land (K. Werth, pers. Anm.). Die für diesen Bericht befragten Personen stimmten überein, dass ein Betrieb mit etwa 3,5 bis 4 Hektar Land genügend Einnahmen aus dem Obstanbau für einen landwirtschaftlichen Vollzeitbetrieb einbringen kann. Folglich sind viele Apfelproduzenten, die weniger als 3,5 Hektar Land besitzen, auf eine weitere Einkommensquelle angewiesen. Diese Einkommensdiversifikation unterstützte die Widerstandsfähigkeit des LINSA.

Im Allgemeinen setzt sich ein Familienbetrieb aus mehreren Grundstücksparzellen zusammen, die weit voneinander entfernt liegen können. Allerdings wurde die weitere Zersplitterung landwirtschaftlicher Flächen sowie die Bildung großer Landbesitze und der Zusammenschluss kleiner Landwirtschaftsbetriebe im Jahr 1954 durch die Wiedereinführung des Gesetzes zum geschlossenen Hof in die Politik der Provinz verhindert, wonach landwirtschaftliche Grundstücke von einer traditionellen Erbaufteilung ausgeschlossen wurden (auf Italienisch: maso chiuso). Mit dieser Politik und gemäß dem traditionellen Konzept des „Erbhofs“ kann ein Grundstück nicht zersplittert oder aufgeteilt, sondern sollte an eines der Kinder weitergegeben werden, um den Fortbestand eines einzelnen Hofes zu erhalten. Dadurch wurde der Erhalt rentabler Produktionseinheiten ermöglicht. Laut der letzten Volkszählung (2000) gab es in Südtirol 26.600 Höfe (einschließlich 8.000 Apfelanbaubetriebe), von denen rund 12.500 zu „geschlossenen Höfen“ erklärt wurden.

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apple-producing family farms in south tyrol: an agriculture innovation case study

Seit seinen Anfängen hat sich das Genossenschaftssystem auf die wirtschaftlichen Interessen seiner Mitglieder konzentriert. Genossenschaften funktionieren wie Wirtschaftsunternehmen, wobei sie sich einzig und allein auf die Lagerung und Vermarktung der Äpfel ihrer Mitglieder konzentrieren und darauf, ihnen zum bestmöglichen Verkaufspreis zu verhelfen. Das System wird von drei fundamentalen Elementen zusammengehalten: (i) die Regel, dass ein Mitglied eine Stimme erhält, unabhängig von dessen sozialen Status oder Betriebsgröße, (ii) die Pflicht des Mitglieds, seine gesamte Ernte an die Genossenschaft zu übergeben und (iii) die Pflicht der Genossenschaft, die gesamte Ernte anzunehmen.

Ein abschließender Faktor, der jedoch von Bedeutung ist, ist die Tatsache, dass die Forschungs-, Beratungs- und Bildungssysteme eine starke Präsenz haben. 922 Schüler und Studenten sind an landwirtschaftlichen Schulen in Südtirol eingeschrieben. Die seit 50 Jahren bestehende Organisation Beratungsring stellt ländliche Beratungsdienstleistungen zur Verfügung, und das Versuchszentrum Laimburg ist eine etablierte und anerkannte Forschungseinrichtung. Beide Organisationen unterhalten langjährige enge nationale und internationale Beziehungen.

Einige Faktoren könnten als Schwachpunkte des Systems betrachtet werden. Wichtige Quellen merkten an, dass eine übermäßig genossenschaftliche Haltung dem Unternehmensgeist individueller Produzenten schaden könnte. Zusätzlich birgt die monokulturelle Apfelproduktion ein ökologisches und wirtschaftliches Risiko und muss deshalb angemessen gesteuert werden.

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apple-producing family farms in south tyrol: an agriculture innovation case study

METHODEN

Es wurde eine systematische Prüfung der Literatur zum Betrieb des Innovationsnetzwerks in Südtirol durchgeführt. Darin eingeschlossen war die Prüfung der politischen und professionellen Literatur sowie akademischer Beiträge. Fehlende grundlegende Informationen wurden in Telefongesprächen von dem in Südtirol ansässigen Forschungs- und Beratungspersonal bereitgestellt. Es wurden zwei Experten befragt, Kurth Werth, ehemaliger Berater beim ländlichen Beratungsdienst, und Josef Dalla Via, ehemaliger Direktor am Versuchszentrum Laimburg, um die im Rahmen der Literaturprüfung zusammengetragenen Daten zu ergänzen und die Vorbereitung eines Studienbesuchs in Südtirol zwecks Befragung wichtiger Auskunftgeber zu besprechen. Mit Hilfe der Provinzregierung wurde ein kurzer Fragebogen an 50 landwirtschaftliche Familienbetriebe verteilt, um Daten zu Beziehungen und Kommunikationsmustern zu sammeln. Die erhobenen Daten wurden in einem internen Bericht der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation zusammengetragen (Nicod et al., 2013). Im Juli 2013 schließlich wurde ein 5-tägiger Studienbesuch in Südtirol veranstaltet, um diverse Akteure in dem Innovationssystem persönlich zu befragen.

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ERGEBNISSE DER ANALYSE

ENTSTEHUNG UND ENTWICKLUNG DER VERSCHIEDENEN ORGANISATIONEN UND ANKNÜPFUNG VON VERBINDUNGEN

Das LINSA in Südtirol musste sich anpassen und auf Auslöser reagieren, um wettbewerbsfähig zu werden und zu bleiben. Die Entwicklung des LINSA kann in fünf Phasen unterteilt werden. In den Ausführungen wird versucht, die Entstehung der Organisationen und Verbindungen innerhalb der einzelnen Zeiträume zu erklären, um ein besseres Verständnis des Systems zu vermitteln.

1945 bis 1960 – Stärke in der Einheit und unabhängiger Beratungsdienst Südtirol war nach dem Zweiten Weltkrieg eine verarmte Provinz mit einer gespaltenen Bevölkerung. 1945 waren nur noch wenige Genossenschaften für Wein- und Apfelproduzenten in Betrieb, sofern sie den Faschismus und den Krieg überstanden hatten. Die Apfelvermarktung wurde von privaten Händlern kontrolliert. Gewöhnlich lieferten die Apfelproduzenten den Großteil ihrer Apfelernte an private Händler, die für den Weiterverkauf eine Provision erhielten. Es wurde zwischen dem Produzenten und dem Händler vorab kein Verkaufspreis vereinbart, und der Produzent wurde erst nach dem Weiterverkauf seines Obstes bezahlt, so dass er bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, wie hoch seine Einnahmen sein würden. Dies war ein intransparenter Vermarktungsmechanismus, der nicht die Bedürfnisse der Produzenten befriedigte. Am 24. August 1945 schlossen sich neun Obstgenossenschaften unter dem Motto „Stärke durch Einheit“ unter einem neuen Genossenschaftsverband, dem VOG, zusammen. Durch diesen Zusammenschluss weiterten die Genossenschaften das Prinzip der Selbsthilfe3 aus und erhöhten so ihre Wettbewerbs- und Werbefähigkeit, während sie gleichzeitig eine direkte Verbindung zu den Mitgliedern aufrechterhielten. Zusätzlich zu diesem Verband wurden in diesem Zeitraum mindestens 12 neue Genossenschaften für Apfelproduzenten gegründet, die zwischen 250 und 400 Mitglieder zählten und deren Ziel die Lagerung und Vermarktung von Äpfeln im Auftrag ihrer Mitglieder war. Auslöser für diesen Wandel war, dass die Produzenten die Notwendigkeit für einen Zusammenschluss erkannten.

1945 wurde auch der Bauernbund neu gegründet, der auch heute noch der wichtigste Verband auf der politischen Ebene in Südtirol ist. Er organisierte den Agrarsektor in der Provinz neu. (Gatterer, 2007).

Das Produktionssystem war ein traditionelles System. Obstpflücker ernteten die Äpfel von herkömmlichen Leitern aus von hohen Bäumen. Die Äpfel wurden in Säcke gepackt, die die Obstpflücker an ihrer Seite befestigt hatten, und anschließend in Holzkisten gelagert (siehe Fotos 1 und 2). Die Obstplantagen wurden mit einer

3 Menschen in der gleichen oder in einer ähnlichen Situation schließen sich zusammen, bringen die notwendigen finanziellen Mittel für ein gemeinsames genossenschaftliches Unternehmen auf und sind bereit, sich gegenseitig zu unterstützen. Sie gehen davon aus, dass eine Genossenschaftsmitgliedschaft den fehlenden Zugang zum Markt und zum Kapital des Wettbewerbs ausgleicht und so die eigene Marktstellung verbessert und die wirtschaftlichen Bedürfnisse befriedigt. Im weitesten Sinne gehen sie davon aus, Markt- und Kapitalzugang zu erhalten. (Wülker, 1995).

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apple-producing family farms in south tyrol: an agriculture innovation case study

Pflanzendichte von rund 300 Bäumen pro Hektar angebaut (Dalla Via und Mantinger, 2012). Man brauchte über 1.000 Arbeitsstunden pro Hektar, um maximal 25 Tonnen Obst zu produzieren (K. Werth, pers. Anm.). Die Äpfel wurden in der Genossenschaft per Hand in zwei Kategorien sortiert: Äpfel für den Einzelhandel und Äpfel für eine sonstige Verwendung. Ein Großteil der 191 Sorten, die 1873 auf der Weltausstellung in Wien präsentiert wurden, sind auch heute noch unter den gepflanzten Sorten in der Provinz zu finden (Oberhofer, 2007). Die beliebtesten Sorten waren Kalter Böhmer und Champagner Renette, die nahezu 50% der Produktion ausmachten.

Die Einführung der Frostberegnung war eine wichtige technologische Innovation. Ein Landwirt aus Südtirol, B. Holler, las darüber und bestellte 1949 die erste Beregnungsanlage zur Frostbekämpfung. Nach einigen Testversuchen wurde die Anlage 1950 erstmals erfolgreich in Betrieb genommen (Christanell, 2012). 1958 wurden bereits 4.000 Hektar der Obstplantagen mit dieser Art des aktiven Frostschutzes bestückt. Das LINSA war noch in seinen Anfängen und nutzte ein vorwiegend informelles System, um Ideen und Wissen mit anderen zu teilen. Doch die Nutzung dieser Technologie verbreitete sich trotz eines fehlenden soliden Forschungs- und Beratungssystems schnell in einer Provinz, die heftige Unruhen im Zusammenhang mit der Südtiroler Unabhängigkeit erlebte.

Im Dezember 1957 kam es zu einer wichtigen institutionellen Innovation, als fünfzig Obstproduzenten beschlossen, einen unabhängigen ländlichen Beratungsdienst zu gründen. Auslöser für diese Innovation war die

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Lagerung von Äpfeln in kleinen Holzkisten (vorherige Seite) und Erntezeit in Südtirol (diese Seite)

Tatsache, dass die Produzenten von den Verkäufern landwirtschaftlicher Betriebsmittel beraten wurden, wodurch eine mögliche Voreingenommenheit nicht ausgeschlossen war. Die Obstproduzenten investierten in die Gründung einer gemeinnützigen Organisation, die ihnen zeitgerechte, unabhängige, aktuelle technische und professionelle Beratungs- und Informationsdienste anbieten würde, die ihren Bedürfnissen entsprachen. So entstand der Beratungsring für Obst- und Weinbau (im Folgenden „Beratungsring“ genannt), der ein wichtiger Akteur im LINSA werden sollte.

Die gemeinsame EU-Agrarpolitik (GAP) begann 1957. Ihre damaligen Ziele waren die Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards für die landwirtschaftliche Bevölkerung und des Zugangs zu Lebensmitteln zu angemessenen Preisen. In den folgenden 50 Jahren war die GAP die wichtigste gemeinsame EU-Politik (Hermans, Klerkx und Roep, 2010) und beeinflusste die Entwicklung des LINSA.

1961 bis 1971 – Intensivierung, integrierte Produktion und Lagerung Seit den fünfziger Jahren fand eine Abwanderung von der Provinz in umliegende Länder in unterschiedlichem Maße statt. Der Höhepunkt der Auswanderung wurde in den sechziger Jahren erreicht, als jährlich rund eintausend Südtiroler nach Norden abwanderten. Aufgrund der Migration mangelte es in Südtirol im landwirtschaftlichen Sektor an Arbeitskräften, was zu höheren Lohnkosten führte. Die spezifischen Probleme der Provinz verstärkten sich durch die Krise des europäischen Gartenbausektors zwischen 1966 und 1979, als

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ein Nachfragerückgang zusammen mit einer Apfelüberproduktion zu einer Senkung der Apfelpreise führte, und das zu einem Zeitpunkt, als die Lohnkosten stiegen. Diese Kombination stellte eine Bedrohung für die Apfelproduktion in der Provinz dar, da das traditionelle Produktionssystem unter diesen Bedingungen den Apfelproduzenten keinen angemessenen Lebensstandard bieten konnte.

Das LINSA reagierte auf verschiedene Weise auf diese Auslöser. Mit Hinblick auf die Institutionen wurde 1962 in Laimburg die Schule für Wein- und Gartenbau gegründet (im Folgenden „Laimburg-Schule“ genannt). Nach dem Beratungsring war die Laimburg-Schule der zweite Programmzweig des AKIS, der die landwirtschaftliche Produktion unterstützen sollte. 1967 übernahm die Schule zudem die Verantwortung für die Forschungsarbeit im Gartenbau (Dalla Via und Mantiger, 2012). 1964 bot der Beratungsring allen interessierten Produzenten in der Provinz eine Mitgliedschaft an und weitete die unabhängigen und professionellen Beratungsdienstleistungen somit drastisch aus (Lösch, 1964).

Aus technologischen gründen und aufgrund der Tatsache, dass Landflächen einen einschränkenden Faktor darstellten, musste Südtirol sein Produktionssystem intensivieren, um Produzenten ein angemessenes Einkommen gewährleisten zu können. Die traditionelle Methode war arbeitsintensiv und brachte geringe Erträge pro Hektar ein. Sie musste daher durch ein System ersetzt werden, dass weniger arbeitsintensiv war und höhere Erträge abwarf. Einige Produzenten begannen, das italienische Palmettensystem einzuführen. Dieses System reduzierte die Höhe der Bäume und den Bedarf an Arbeitskräften. Es war jedoch nicht optimal. Im Januar 1968 wurde auf einer Konferenz zum Obstbaumanbau eine Präsentation zum Anbau mit hoher Pflanzendichte gegeben: Giornata Frutticola di Merano. Im September 1968 begab sich eine Delegation von Produzenten, einschließlich einiger Berater vom Beratungsring, nach Holland, um über das dortige Apfelanbausystem zu erfahren. Sie lernten über das schlanke Spindelsystem, bei dem Apfelbäume in hoher Dichte angepflanzt und auf einen Niederstamm gepfropft werden. Die Delegation war bald davon überzeugt, dass so die Zukunft der Provinz aussehen sollte (K. Werth, pers. Anm.). Nach ihrer Rückkehr versuchten sie, die Produzenten davon zu überzeugen, das schlanke Spindelsystem anzuwenden.

1969 wurden 30 Hektar Land nach dem schlanken Spindelsystem bepflanzt, ein Teil davon wurde zu Demonstrationszwecken in der Laimburg-Schule angepflanzt. Zu der Zeit waren die Berater des Beratungsrings damit beschäftigt, den Produzenten den Vorteil des neuen Systems zu erklären und zu demonstrieren. Die Apfelproduzenten bezweifelten, dass ein System, bei dem die Bäume wie „Tomatenpflanzen“ aussahen (K. Werth, pers. Anm.) ihren Bedürfnissen entsprach (Fotos auf Seite 13). Die Strategie des Beratungsrings war es, jegliche formellen und informellen Kommunikationswege zu nutzen, um seine Argumente zu präsentieren: Verbindungen zu den Landwirtschaftsschulen, Besuche von Demonstrationsflächen und, noch wichtiger, die Identifizierung einiger anerkannter und innovativer Landwirte, die man von dem System überzeugen konnte und die sich für die Umstellung einsetzen würden. Bis 1971 waren 180 Hektar Plantagen nach dem neuen System bepflanzt. Trotz der zögerlichen Annahme der Intensivierung wurden andere Fortschritte erzielt. 1970 waren durchschnittlich 850 Arbeitsstunden nötig (eine Reduzierung von 11% im Vergleich zu dem Zeitraum von 1945 bis 1960), um 27 Tonnen Äpfel pro Hektar zu produzieren (ein Anstieg von 28,5% im Vergleich zum vorhergehenden Zeitraum).

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Die Intensivierung führte zu einer weiteren technologischen Innovation. Mit der Produktionszunahme entstand ein Bedarf, die auf den Markt gelangende Obstmenge zu beliebigen Zeitpunkten zu kontrollieren, um Preisschwankungen, wie während der europäischen Krise, zu vermeiden. 1972 errichtete die Laimburg-Schule eine Lagerfläche, die experimentell genutzt wurde, um die bestehenden Methoden der Apfelkonservierung zu testen und die vielversprechendsten Methoden sodann mit den Genossenschaften erstmals umzusetzen. Der Lagerungsbedarf führte zu einer weiteren Sorteninnovation, als der Beratungsring und die Genossenschaften den Produzenten rieten, Sorten zu pflanzen, die für eine langfristige Lagerung geeignet sind. Daher verschwanden von 1970 an allmählich ältere, traditionelle Sorten. Sie wurden durch moderne Sorten ersetzt, die besser für die neuen Anbau- und Verarbeitungsmethoden in Italien geeignet waren.

Schließlich erhielt das LINSA in diesem Zeitraum mit Hilfe der italienischen Landesregierung und der Provinz Zugang zu EU-Subventionen, um die Infrastruktur seiner Genossenschaften zu modernisieren. Einer der Auslöser für die Modernisierung der Infrastruktur war der Bedarf einer verbesserten Apfelsortierung, um der vom Markt geforderten Anzahl der Qualitätsklassen für Äpfel nachzukommen, die von 2 ‒ gut oder schlecht ‒ im Jahr 1960 auf 10 im Jahr 1970 und 30 im Jahr 2000 anstieg (K. Werth, pers. Anm.).

Entwicklung der geeigneten Baumform zur Intensivierung (im Uhrzeigersinn)

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1972 bis 1990 – Qualitätsverbesserung und erste Innovationsplattform Auf politischer Ebene trat 1972 das zweite Autonomiestatut in Kraft. Dies ermöglichte es Südtirol unter anderem, zwei wichtige provinzielle Institutionen zu gründen. 1976 wurde das landwirtschaftliche Versuchszentrum in Laimburg gegründet, was die Schaffung eines umfassenden AKIS zur Unterstützung des LINSA zum Abschluss brachte. Das Versuchszentrum wurde in der Nähe der Laimburg-Schule errichtet. Ihm wurden 250 Hektar Land übergeben, wodurch es zudem einer der wichtigsten Produzenten in der Provinz wurde. Die zweite Institution, die in diesem Zeitraum gegründet wurde, war die staatliche Genossenschaft für den Schutz der Ernten vor Witterungsunbilden. Diese gemeinnützige Genossenschaft wurde 1973 gegründet und hatte das Ziel, ihren Mitgliedern passiven Schutz gegen Witterungsunbilden anzubieten, insbesondere gegen Hagel. Sie ist zugleich ein Versicherungsprogramm und eine Genossenschaft mit dem Ziel, alle möglichen Geldquellen auffindig zu machen (einschließlich Gelder von der Provinzregierung und der italienischen Staatsregierung), um Entschädigungen für Produktionsverluste aufgrund von Wetterereignissen zu leisten. Der wichtigste Auslöser für die Gründung dieser beiden Institutionen war politischer Natur; denn es war der Wunsch der autonomen Regierung, über eine eigene Struktur zur Unterstützung der landwirtschaftlichen Produktion in der Provinz zu verfügen.

Die Genossenschaftsbewegung wuchs weiter, und in den neunziger Jahren gab es 34 Genossenschaften für Apfelproduzenten im Tal von Bozen und 9 im Vinschgau. Die Konsolidierung der Genossenschaftsstruktur auf der VI.P- und VOG-Ebene wurde zum Teil durch politische Bestrebungen ausgelöst; denn die autonome Provinz verfolgte das politische Ziel, das Genossenschaftssystem zu konsolidieren.

Ende der sechziger Jahre wurde das Konzept der Integrated Pest Management (IPM – der integrierten Schädlingsbekämpfung) von Hermann Oberhufer (Beratungsring) und dem Versuchszentrum Laimburg eingeführt.4 Anfang 1970 wurde die Idee von progressiven Obstbauern aufgegriffen und implementiert. Der wichtigste Auslöser dafür war zum einen die Resistenz von Schädlingen gegenüber agrochemischen Kontrollmethoden und zum anderen der wirtschaftliche Vorteil, den eine integrierte Produktion mit sich brachte. 1974 fand das 5. IPM-Symposium in Bozen statt. Im Rahmen dieses Symposiums verlangte der Beratungsring von seinen Mitgliedern, von denen es ursprünglich 50 gab, die mittlerweile jedoch über die gesamten Provinz verteilt waren, die Schädlinge und Nützlinge auf ihren Obstplantagen genauestens zu beobachten und eine unnötige chemische Behandlung auf jeden Fall zu vermeiden. Ab 1977 organisierte der Beratungsring zusammen mit der Südtiroler Bauernjugend (Teil des Bauernbundes) während der Wintermonate IPM-Kurse. 1980 versammelten sich 15 Arbeitsgruppen von IPM-Produzenten alle zwei Wochen zur Kontrolle ihrer Plantagen. Allmählich führte die praktische Realisierung des IPM-Konzepts seitens der Obstbauern zu dem gewünschten ökologischen Bewusstsein. Bis 1987 hatten nahezu 600 Obstbauern an IPM-Kursen in den Wintermonaten teilgenommen. Im Dezember 1988 schließlich wurde der integrierte Obstanbau (Integrated Fruit Production (IFP)) mit der Gründung der Innovationsplattform AGRIOS als Arbeitsgruppe für den integrierten Obstanbau in Südtirol institutionalisiert. Zu Ihren Mitgliedern

4 Das Konzept der IP wurde von der internationalen Organisation für biologische und integrale Bekämpfung von schädlichen Tieren und Pflanzen ( International Organization for Biological and Integrated Control of Noxious Animals and Plants (IOBC)) eingeführt.

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zählten die wichtigsten Akteure im LINSA.5 Die AGRIOS formulierte im Rahmen eines Beratungsprozesses jährliche Richtlinien für den integrierten Obstanbau, die von den Apfelproduzenten einzuhalten waren, und die Prüfer der AGRIOS führten Prüfungen bei den Produzenten durch, um ein qualitatives und aufrichtiges System sicherzustellen. Es vergingen 18 Jahre von der ersten Einführung der integrierten Produktion im LINSA bis zu ihrer erfolgreichen Institutionalisierung.

Es gab noch andere institutionelle Innovationen in diesem Zeitraum, die für die weitere Entwicklung des LINSA ebenfalls von Bedeutung waren, zum Beispiel:

› 1974 – Erster Bioapfelproduzent in der Provinz

› 1977 – Anerkennung der Marke Mela Alto Adige (zu deutsch: Südtiroler Apfel) als eine geschützte geographische Angabe

› 1980 – Aufnahme eines Forschungsprogramms zu Nachernte-Technologien am Versuchszentrum Laimburg

› 1981 – KSB, die erste Genossenschaft für Apfelbaumschulen unter der Sanitär- und Qualitätskontrolle von Laimburg. Die Bäume aus den Baumschulen erhielten anschließend von den zuständigen Behörden ein Zertifikat über ihre Virusfreiheit (Südtiroler Zertifikat).

Der Produktionsbereich wurde zunehmend intensiviert, und die Apfelpreise sanken weiter (siehe Graph 1)

Graph 1 Entwicklung des Apfelproduktionssystems in Südtirol pro Durchschnittsrendite und -preis (die Preise sind inflationsangepasst)

5 Der Beratungsring, der VOG, die Südtiroler Obstgenossenschaft ESO (sie fusionierte 1999 mit dem VOG),

die Provinzregierung, die Laimburg Versuchszentren und die Bauernverbände.

Quelle: Handelskammer und Raiffeisenverband

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Bis 1990 waren 16.000 Hektar nach dem neuen System bepflanzt worden. Es waren nun im Durchschnitt 650 Stunden pro Hektar nötig, um 42 Tonnen Äpfel von bis zu 15 verschiedenen Qualitätstypen zu produzieren. Dadurch konnte das LINSA einen angemessenen Gewinn für die Produzenten sicherstellen (siehe Graph 2).

Graph 2 Entwicklung der Bruttoeinnahmen pro Hektar in Südtirol (Zahlen sind inflationsangepasst)

Quelle: Handelskammer und Raiffeisenverband 1991 bis 2001 – Sorteninnovation, Konsolidierung und internationale Netzwerke In den neunziger Jahren änderten sich die Bedingungen für den Apfeltuntersektor sehr schnell, als der Einfluss von Supermärkten als Käufer zunahm und die Modernisierung der Lagerungs- und Verarbeitungsanlagen höhere Investitionen erforderlich machte, um den Marktänderungen voraus zu sein.

Einer der Auslöser für eine institutionelle Innovation war politischer Natur. Die befragten Personen erklärten, dass die Provinzregierung 1990 entschied, nur Genossenschaften von bedeutender Größe Subventionen (hauptsächlich die provinzielle Komponente der EU-Subventionen) zukommen zu lassen, so dass kleine Genossenschaften von den Fördergeldern ausgeschlossen waren. Diese Entscheidung löste einen Konzentrationsprozess aus, bei dem sich kleine Nachbargenossenschaften zu größeren Organisationen zusammenschlossen. Die 9 Genossenschaften im Vinschgau schlossen sich zu 6 Genossenschaften und die 34 Genossenschaften des VOG zu 18 Genossenschaften zusammen. Diese Konzentration von Genossenschaften ermöglichte nicht nur eine effiziente Modernisierung der Infrastruktur, sondern bildete auch eine

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hervorragende Basis für ein nachhaltiges System. Ein Genossenschaftsdirektor erklärte, dass die Abschreibung der in diesem Zeitraum angeschafften Infrastruktur die erforderlichen Investitionen zur Modernisierung der Infrastruktur ermöglichte. Da es sich bei den Genossenschaften in der Tat um gemeinnützige Organisationen handelt, werden die Einnahmen aus dem Apfelverkauf an die Mitglieder weitergegeben, abzüglich der Betriebskosten (einschließlich der Abschreibungen für die Infrastruktur). Diese Abschreibungen belaufen sich heute auf mehrere Millionen Euro und stehen der Genossenschaft für Investitionen zur Verfügung. Diese clevere Verteilung von Subventionen und die Tatsache, dass sie Genossenschaften und nicht einzelnen Personen zukamen, ist einer der Gründe für eine erhöhte Effizienz des LINSA.

Während des Konzentrationsprozesses wurden die Grundsätze von Fairness und Transparenz eingehalten: Wenn zwei Genossenschaften über eine Fusion abstimmten, war die Mehrheit der Stimmen der Mitglieder beider Genossenschaften ausschlaggebend, und die Abstimmungen erfolgten in beiden Genossenschaften zum exakt gleichen Zeitpunkt, um ein objektives Verfahren ohne jegliche Beeinflussung zu gewährleisten.

Die Intensivierung des Produktionssystems wurde in dieser Zeit abgeschlossen. Bis 1990 wurden 16.000 Hektar Obstplantagen nach dem schlanken Spindelsystem bepflanzt. Es dauerte also eine ganze Generation (20 Jahre), um 80% der Anbaufläche nach dem neuen System zu bepflanzen. 2002 schließlich war das neue System auf nahezu der gesamten Anbaufläche vorzufinden. Anfang 2000 waren lediglich 450 Arbeitsstunden nötig, um pro Hektar 55 Tonnen Äpfel der Marke „Mela Alto Adige (integrierter Obstanbau)“ zu produzieren.

Das LINSA öffnete seine Türen auch für internationale Partnerschaften und arbeitete mit schweizerischen und österreichischen Forschungszentren zusammen. 1998 fand die erste Interpoma statt. Die Interpoma ist eine dreitägige Fachmesse für landwirtschaftliche Innovationen, die alle zwei Jahre in Bozen stattfindet. Sie ist eine der wenigen Veranstaltungen in der Welt, die ausschließlich dem Anbau, der Lagerung und der Produktion von Äpfeln gewidmet ist. Sie bietet Interessengruppen und wirtschaftlichen Empfängern die Gelegenheit, gemeinsame Interessenbereiche zu identifizieren, Wissen auszutauschen, neue Märkte zu erforschen und neue Partnerschaften zu gründen. Während dieser Zeit organisierten die Genossenschaften und der Beratungsring zwecks Ideenaustausch weiterhin Besuche von Obstplantagen in anderen Ländern, was zu einem stetigen Wissensaustausch beitrug.

1991 begannen Forscher in Laimburg in Zusammenarbeit mit dem privaten Unternehmen Isolcell, neue Lagerungsmethoden mit dynamisch kontrollierter Atmosphäre zu testen, wobei sie Fluoreszenzsensoren einsetzten, um die Lagerfähigkeit von Äpfeln zu verbessern und den Einsatz von Chemikalien zu vermeiden.

Trotz aller Fortschritte und der außerordentlichen Kapazität des LINSA, sich an neue Bedingungen anzupassen und innovativ zu bleiben, erkannte man in dieser Zeit nicht die Bedeutung, die Club- bzw. kontrollierten Sorten

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18 PUBLIK ATION ZU I NNO VATIO NE N IN DER FAMIL IENBET RIE BE NE N LANDWIRT SCHAFT

zukommen würde. Diese neue Art der Apfelvermarktung begann Mitte der neunziger Jahre und definierte eine neue Strategie für den Apfelanbau und -vertrieb. Bei einer kontrollierten Sorte handelt es sich um eine neue patentierte und geschützte Apfelsorte, die in einem Produktions- und Marketingclub angebaut und vermarktet wird. Der Anbau der Sorte ist nur Clubmitgliedern gestattet. Die Lizenzen für den Anbau dieser Sorten finanzieren das Marketing zur Ankurbelung der Nachfrage. Die Clubmitglieder können den besten Anbauort, die zu vermarktende Produktmenge und den Qualitätsstandard festlegen. Es soll hier nicht auf die Clubsorten eingegangen werden; doch ist es von großer Wichtigkeit, dass das LINSA in Südtirol diesen Wandel nicht rechtzeitig erkannte. Erst spät suchte man nach einer Gelegenheit, den wichtigsten Clubs beizutreten, als die Lizenzen bereits an andere Länder vergeben worden waren. Heute erfolgt der Anbau der meisten Clubsorten in Südtirol im Rahmen von Unterlizenzen. LINSA lernte aus dem Fehler und schuf 2002 eine neue vom VI.P und vom VOG unterstütze Innovationsplattform, das Sortenerneuerungskonsortium Südtirol (SK).

Ziel des SK Südtirol ist es, die Sorteninnovation in Südtirol gemeinsam mit dem Versuchszentrum Laimburg und dem Beratungsring zu koordinieren. Es obliegt seiner Verantwortung, zunächst Zugang zu neuen Sorten zu erhalten, diese dann zu testen und, sofern eine Sorte als angemessen für Südtirol betrachtet wird, das Verfahren für den VI.P und den VOG vorzubereiten, damit diese die Vermarktungsrechte erwirken können. Nach Sicherung der Rechte wird der VI.P oder der VOG Mitglied (oder es werden beide Mitglieder) der Clubs für kontrollierte Sorten. Im Anschluss daran berät der Beratungsring die Produzenten hinsichtlich des geeigneten Anbauortes, des richtigen Managements und der besten Anbaudichte, um die maßgebliche Produktionsmenge zu erzielen.

2002 bis heute – Innovation, Professionalisierung und der Markt In den letzten zehn Jahren sah man eine weitere Konsolidierung der genossenschaftlichen Vermarktungsstruktur als Reaktion auf die Konzentration des Einzelhandels mit Obst (siehe Graph 3). Dies geschah in zwei Schritten. Anfänglich war es eine Geschäftsentscheidung, als verschiedene Genossenschaften fusionierten, um ihre Ressourcen zusammenzulegen und ein größeres Volumen zu erzielen. Anschließend wurden Fusionen durch Änderungen der EU-Regelungen ausgelöst. Die Genossenschaften sind nun unter dem VI.P und dem VOG in Marketing-Pools organisiert, und 85% der Abrechnung erfolgt auf VI.P- und VOG-Ebene. Das LINSA kann Großaufträge effizient ausführen. Mit Hilfe der maßgeschneiderten Software „Clickview” haben Genossenschaftsdirektoren oder befugte Mitarbeiter Zugang zu allen Verkaufs- und Lagerbestandsdaten der einzelnen Mitgliedsgenossenschaften des VOG. Dies erfolgt in Echtzeit, und die zugriffbaren Informationen beziehen sich auf die Menge, Qualität und Preise. Dadurch ist höchste Transparenz geboten. 2003 kam es zu einer fundamentalen Reform der gemeinsamen EU-Agrarpolitik, und die Betriebsprämienregelung wurde eingeführt, was die Rolle der Produzentenorganisationen und den Bedarf für eine zentralisierte Abrechnung verstärkte, um Zugang zu den Subventionen zu erhalten. Dadurch wurde die Notwendigkeit einer Konsolidierung erhöht und die Bedeutung des VI.P und des VOG verstärkt.

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19 PUBLIK ATION ZU I NNO VATIO NE N IN DER FAMIL IENBET RIE BE NE N LANDWIRT SCHAFT

FLÄC

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1994

1996

1998

2000

2002

2004

2006

2008

2010

2011

Graph 3. Konzentration des Einzelhandels mit Obst

100

90

80

70

60 4 4 50

7

6 6

5 5 5

4

40 93% 87% 83% 65% 56% 30

20

10

0

SCHWEDEN GB DÄNEMARK DEUTSCHLAND I TAL IE N

3

2

1 % des Marktes

0 Zahl der Einzelhändler

Quelle: K. Werth, pers.Anm.

Graph 4. Entwicklung der Bio-Anbaufläche (in ha)

1 400

1 200

1 000

800

600

400

200

0

138

233

347

543

702

776

779

1030

1274

1324

JAHR

Quelle: K. Werth, pers.Komm.

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20 PUBLIK ATION ZU I NNO VATIO NE N IN DER FAMIL IENBET RIE BE NE N LANDWIRT SCHAFT

Die Regeln und Vorschriften zur integrierten Produktion wurden in dieser Zeit ausgebaut, und der Prozess der AGRIOS für den integrierten Obstanbau musste weiterentwickelt werden. 2001 wurde eine neue Organisation zur Qualitätskontrolle, die SQK, gegründet, und die Prüfer der AGRIOS wurden in diese neue Struktur versetzt. Gemäß den EU-Regelungen werden die Richtlinien für die integrierte Produktion nun in Rom festgelegt, und die AGRIOS hat einen geringeren Einfluss auf das System. Heute ist die AGRIOS eine Arbeitsgruppe, die die Richtlinien für die integrierte Produktion¸ die an anderer Stelle festgelegt werden, diskutiert; doch sie hat nur wenig Einfluss hinsichtlich ihrer Festlegung.

1997 führten europäische Einzelhändler ein Zertifizierungssystem zur Vereinheitlichung ihrer Standardverfahren ein. Das Programm hieß ursprünglich EurepG.A.P., wurde 2007 aber in GlobalG.A.P. umgenannt. Das LINSA übernahm die GlobalG.A.P.-Zertifizierung, und während 2003 3% der Anbaufläche in Südtirol zertifiziert waren, waren es 4 Jahre später bereits 87%. Im Vergleich zu den 19 Jahren, die es dauerte, um den integrierten Obstanbau zu institutionalisieren, war dies eine sehr schnelle Annahme, was in direktem Zusammenhang mit den Faktoren innerhalb des LINSA stand, aber auch eine Reaktion auf die Reform der GAP-Reform 2003 war.

Die direkte Zahlung an die Produzentenorganisation durch das Betriebsprogramm ist heute abhängig von deren Einhaltung der Standards für Managementanforderungen (Standards of Managment Requirements (SMR)) und den Normen für einen guten landwirtschaftlichen und ökologischen Zustand (Good Agricultural and Environmental Conditions (GAEC)) unter Qualitätskontrolle (Hermans, Klerkx und Roep, 2010).

Während dieser Zeit stieg auch die Bioproduktion an (Graph 4). Der erste Bioproduzent begann 1974 mit dem Anbau. 1991 gründete das Versuchszentrum Laimburg eine Forschungsabteilung für Bioanbau. 2000 nahm der Beratungsring die Beratung zu Bioanbau in sein Dienstleistungsangebot auf. 2002 wurde die erste Genossenschaft für Bioproduzenten (BIOP) gegründet. 2003 erstellte der Beratungsring den ersten Leitfaden zum Bioanbau. Und 2011 trugen 4,5% der angebauten Äpfel in der Provinz ein Bio-Siegel (Kiem, Erschbamer und Tumler, 2011).

Ein weiterer Fokus in dieser Zeit war die Forschung zur langfristigen Lagerung von Äpfeln. Es wurden Tests mit dynamisch kontrollierter Atmosphäre (Dynamic Controlled Atmosphere (DCA)) am Testzentrum Laimburg durchgeführt. 2003 wurde die DCA-Technologie erstmals von der Genossenschaft Kaiser Alexander auf 150 Tonnen Äpfel angewandt. 2005 wandten vier weitere Genossenschaften die DCA-Technologie an, gefolgt von 15 weiteren Genossenschaften im Jahr 2006. Heute nutzt die Mehrheit der Genossenschaften diese Technologie. Sie wird von Isolcell, einem Bozener Privatunternehmen, vermarktet. Es handelt sich hierbei um eine wichtige technologische Innovation aus dieser Zeit, eine Innovation, die im Wesentlichen vom LINSA entwickelt wurde.

Um neue Märkte zu erreichen, gründeten der VI.P, der VOG und zwei Produzentenorganisationen aus Trient 2010 eine neue Marketingorganisation: FROM. Ihre Funktion ist die Förderung des Apfelexports aus der Region

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apple-producing family farms in south tyrol: an agriculture innovation case study

in Länder außerhalb der EU, zunächst hauptsächlich nach Osteuropa und Russland. Auslöser dafür war die Absatzerosion auf den traditionellen europäischen Märkten und die Notwendigkeit, neue Märkte für die Produkte zu finden. FROM ist die erste Organisation in Südtirol, die Akteure außerhalb der Provinz als gleichgestellte Partner einschließt; dies bezeichnet eine neue Entwicklung im LINSA.

Zu guter Letzt schuf der Bauernbund kürzlich einen Innovationsinkubator. Es handelt sich dabei um ein Forum, in dem die Mitglieder neue Ideen präsentieren und diskutieren können. Wenn die Ideen vielversprechend erscheinen, bietet der Bauernbund entsprechende Hilfe an, um die finanzielle und technische Unterstützung zur vollständigen Entwicklung der Idee zu erhalten.

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Mechanismus der Netzwerkentwicklung: Wissensaneignung und Antriebskräfte

Die Entwicklung des LINSA wurde von formellen und informellen Mechanismen zur Netzwerkentwicklung mit einer ausgeprägten Komponente des sozialen Lernens beeinflusst. Die formellen Mechanismen, die die Entwicklung des Netzwerks unterstützt haben, sind auf verschiedenen Ebenen vorhanden.

› Auf politischer Ebene schuf die Provinzregierung gute Rahmenbedingungen, indem sie die Apfelproduzentenunterstützte (z. B. sind die Produzenten von einigen Steuern befreit), eine gute Straßeninfrastruktur förderte und ein funktionstüchtiges AKIS gründete, entweder durch die Entwicklung öffentlicher Stellen, wie das Versuchszentrum Laimburg, oder durch die Bereitstellung von Budgethilfen an den Beratungsring. Zudem verfasst sie einige Richtlinien, wie zum Beispiel hinsichtlich der Verteilung von Subventionen an Genossenschaften einer bestimmten Größe.

› Auf institutioneller Ebene wurden verschiedene Verbindungen geknüpft. Die Genossenschaften, die einwesentlicher Bestandteil des LINSA sind, erhalten große Unterstützung durch das AKIS. Innovationsplattformen, wie die AGRIOS oder das SK, wurden eingerichtet, um den notwendigen Raum für Diskussionen und die Wissensentwicklung zur Verfügung zu stellen. Berater und Produzenten sind Mitglieder der wissenschaftlichen Gremien, die an der Festlegung des Forschungsplans von Laimburg beteiligt sind.

› Auf individueller Ebene sind die Fähigkeiten und die Motivation der einzelnen Personen im LINSA einewichtige Komponente für die Netzwerkentwicklung. Interessanterweise wurde während des Besuchs vor Ort festgestellt, dass alle befragten Personen aus Kreisen der Lokalregierung, beim Beratungsring, im Forschungsbereich oder an den Baumschulen entweder selbst Apfelproduzenten waren oder eine enge persönliche Verbindung zu einem Apfelproduzenten unterhielten, wodurch das Vertrauen und das gemeinsame Verständnis innerhalb dieses LINSA weiter gefördert wird.

Es gibt zahlreiche informelle Mechanismen, die zur Entwicklung des Netzwerks eingesetzt wurden. Zum Beispiel ist es eine Regel beim Beratungsring, dass alle Berater montags morgens an einer informellen Gesprächsrunde teilnehmen. Sie tauschen Tipps und Informationen aus und verschaffen sich gegenseitig einen Überblick über die aktuellen Geschehnisse in der Provinz, so dass jeder Berater seine Klienten entsprechend informieren kann. Die Apfelproduzenten nutzen jedes mögliche Netzwerk, um Wissen und Ideen auszutauschen. 90% der im Rahmen dieser Studie befragten Apfelproduzenten gaben an, dass der Austausch zwischen den Landwirten eine wichtige Informationsquelle darstelle. Besonders interessant sind dabei die Rahmenbedingungen, unter denen dieser Wissens- und Ideenaustausch stattfindet. Die Mehrheit gab an, dass dies am Rande von Landwirtschaftstagen oder Flurbegehungen erfolgt, die vom Beratungsring organisiert werden. Die befragten Personen erklärten, dass sie sich zur Kaffeezeit oder während der Pausen bei diesen Veranstaltungen mit ihren Kollegen austauschen. Die geographische Konzentration, die zu Innovationszwecken geschaffen wurde, ist ein wichtiger Mechanismus, der die Gründung dieses LINSA ermöglicht hat.

Der Aspekt des sozialen Lernens dieses LINSA durchdringt das gesamte System. Die Wissensaneignung in Südtirol ist mit einer äußeren und inneren Dynamik verknüpft, sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene. Das soziale Kapital, das in dieser geographischen Konzentration generiert wird, ermöglicht die Entwicklung des Systems, indem das Wissen anderer aufgenommen, Wissen erarbeitet und ein starker Lernethos im Sinne der Entdeckung oder Erfindung geschaffen wird (Moshitz und Home, 2012). Die Entwicklung des LINSA beschritt einen organisatorischen Lernweg, der typisch ist für lernende Organisationen (z. B. Cohen und Sproull, 1996; Huber, 1991).

Der Zeitraum von 1945 bis 1960 war durch empirisches Lernen gekennzeichnet, als Einzelpersonen und in

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Automatisches Lager der Genossenschaft MIVOR

einem gewissen Umfang auch einzelne Genossenschaften neues Wissen durch die Konzepte Learning by Doing (Lernen durch Handeln) und Trial and Error (Versuch und Irrtum) entwickelten. Der Prozess war nicht geplant und lässt sich am besten an Beispielen illustrieren, wie die Einführung der Frostberegnung. In gewissem Maße ist auch die frühe Einführung der integrierten Schädlingsbekämpfung in den siebziger Jahren, noch vor der Gründung des AGRIOS-Systems, ein Beispiel für einen ungeplanten Learning-by-Doing-Mechanismus.

Seit 1960 verfolgt das LINSA einen effizienteren Mechanismus des Lernens durch Nachahmung. Seit der Gründung des Beratungsrings und der ersten Exkursion in Holland, um dort über das schlanke Spindelsystem zu lernen, beschäftigt sich das LINSA mit der Ansammlung von Wissen, das anderenorts entwickelt wurde. Bei diesem „Horizon Scanning“6 werden verschiedene Wissenskanäle genutzt: Informationen aus diversen Veröffentlichungen, Besuche von anderen Anbaugebieten, die Teilnahme an Veranstaltungen und die Organisation von Messen in Bozen, um Experten von außerhalb anzuziehen. Diese Art des Lernens beginnt als Imitationsprozess und führt zu einer Verbesserung und Konzeptualisierung des angeeigneten Wissens. Die Einführung des schlanken Spindelsystems ist ein hervorragendes Beispiel für das Lernen durch Nachahmung.

Zuletzt hat sich das System in Richtung eines Mechanismus des „Lernens durch Akquisition” bewegt. Hier ist man sich bewusst, dass einige Elemente weiterentwickelt werden müssen, die im LINSA nicht vorhanden sind und deren Anschaffung daher erforderlich ist. Die Entwicklung und Anschaffung der Clickview-Software sowie der Aufbau einer modernen Infrastruktur, wie das automatische Lager und die Sortier- und Klassifizieranlage der Genossenschaft MIVOR, sind gute Beispiele für diesen Lernmechanismus.

Ein gemeinsames Merkmal all dieser Lernmechanismen in dem LINSA ist das solide Bottom-up-Prinzip, bei dem sich die Forderung nach Innovation und Ideen stark auf die Bedürfnisse und Forderungen der Produzenten konzentriert. Ein weiterer Mechanismus, der zur Entwicklung des LINSA beiträgt, ist die Bestärkung seiner Identität durch die Anerkennung der Marke Mela Alto Adige (zu deutsch: Südtiroler Apfel) als eine geschützte geographische Angabe.

6 Horizon Scanning ist eine Technik zur Früherkennung von Anzeichen für möglicherweise wichtige

Entwicklungen durch eine systematische Untersuchung potenzieller Risiken und Gelegenheiten mit einer Betonung auf neue Technologien und ihre Auswirkungen auf das vorliegende Problem. Bei der Methode muss bestimmt werden, was konstant ist, was sich ändert und was sich konstant ändert. Dabei werden neue und unerwartete Fragen erforscht sowie bestehende Probleme und Trends untersucht, einschließlich Punkte am Rande gegenwärtiger Denkansätze, die bisherige Annahmen hinterfragen. (OECD, 2013)

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24 Occas i O nal paper s O n i nn O vati O n i n Fami ly Farming

ENTWICKLUNG DER VERBINDUNGEN UND ZUSAMMENARBEIT ZWISCHEN DEN INTERESSENGRUPPEN

Das Genossenschaftswesen und die starke Beteiligung der Obstproduzenten an der Entwicklung des LINSA sind nicht nur Schlüsselfaktoren für das System, sondern ihre kontinuierliche Rolle bei der Umgestaltung des Systems sowie ihre stetige Mitwirkung und Führungsrolle sind zudem für den Erhalt eines effizienten Netzwerks ausschlaggebend.

Die Zusammenarbeit beruht zunächst auf Vertrauen und ein gemeinsames Interesse. Die erste Genossenschaft wurde auf dieser Basis gegründet, und diese beiden wichtigen Elemente sind auch heute noch präsent.

Abgesehen von diesem persönlichen Aspekt haben sich auch institutionelle Verbindungen weiterentwickelt. Sie begannen mit der Gründung gemeinnütziger Genossenschaften und Verbände, die zusammenarbeiteten, um den Apfelproduzenten zu angemessenen Gewinnen zu verhelfen. Später wurden Innovationsplattformen eingerichtet, wie die AGRIOS, bei der eine Gruppe von Stakeholdern eine Arbeitsgruppe gründete, um Produktionsrichtlinien festzulegen und durchzusetzen. Diese formellere Form der Zusammenarbeit und des Austausches unterstützt die informellen Kommunikationskanäle und den sozialen Zusammenhalt zwischen den Akteuren. Die Akteure im LINSA kommen in verschiedenen Gremien und Arbeitsgruppen zusammen und sind zudem Mitglieder der gleichen sozialen Netzwerke. Die formellen und informellen Verbindungen verhelfen zu einer engeren Zusammenarbeit und erhöhten Effektivität und Effizienz des LINSA.

In letzter Zeit sind die Verbindungen professioneller geworden. Durch die Konsolidierung der Marketingstruktur auf der Pool-Ebene im VI.P und im VOG ändern sich einige der Beziehungen zwischen den Produzenten und ihren Genossenschaften. Einige der befragten Personen glaubten, dass das Wachstum der Genossenschaften die Produzenten von den Genossenschaften distanziert.

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DISKUSSION ÜBER DIE VERBINDUNGEN UND ZUSAMMENARBEIT

Ein interessanter Aspekt mit Hinblick auf die Verbindungen und die Zusammenarbeit in dem LINSA ist die unterschiedliche Geschwindigkeit, mit der sich Ideen und Innovationen im LINSA verbreitet haben.

Beispiele dafür sind die beiden Innovationprozesse zum integrierten Anbau und der guten Agrarpraxis (G.A.P.) › Nach der ersten Diskussion über einen integrierten Anbau 1970 vergingen 18 Jahre bis zur Gründung der AGRIOS 1988.

› Es dauerte 5 Jahre, 2003 bis 2007, bis die GlobalG.A.P.-Zertifizierung von 3% auf 87% in der Provinz anstieg.

Bei dem integrierten Anbau handelte es sich weitestgehend um einen Bottom-up-Prozess, bei dem die Produzenten zunächst den Bedarf am integrierten Anbau diskutierten und der Beratungsring sodann mit Hilfe des Bauernbundes Schulungen und Unterstützung anbot, um die individuelle Kapazität der Landwirte zu erhöhen, und schließlich die AGRIOS gründete, mittels derer Beiträge und Meinungen von Forschern und anderen involvierten Akteuren eingeholt wurden. GlobalG.A.P. hingegen war ein Top-down-Prozess: der Einzelhandel gab spezifische Richtlinien vor, und die Initiative wurde von der Reform der gemeinsamen EU-Agrarpolitik 2003 unterstützt. Das LINSA war in der Lage, den notwendigen Kapazitätsentwicklungsprozess auf individueller und institutioneller Ebene zu unterstützen, indem Schulungen angeboten und die Organisation umstrukturiert wurde. Der Wandel wurde zudem durch das Bewusstsein der Produzenten und das soziale Kapital, das im Rahmen des integrierten Anbaus generiert wurde, beschleunigt. Die Einhaltung des G.A.P.-Standards ist komplex. Lediglich dank der uneingeschränkten Unterstützung seitens des AKIS und der Genossenschaften sowie der kollektiven Handlung des LINSA konnte dem Standard so schnell entsprochen werden. Mit den Worten von Paul Romer: „Wissen baut auf sich selbst auf; je mehr Dinge wir entdecken, desto besser werden wir bei diesem Prozess.“7

Ein weiteres Beispiel sind die technologische Innovationen:

› Es dauerte über 20 Jahre, von 1968 bis 1990, bis das schlanke Spindelsystem schließlich von mindestens 80% der Produzenten angewandt wurde.

› Es dauerte 10 Jahre, von 2003 bis 2013, bis die DCA-Technologie von der Mehrheit der Genossenschaften in der Region eingesetzt wurde.

Die Einführung des schlanken Spindelsystems erfolgte wiederum im Rahmen eines überwiegend internen LINSA-Prozesses, als den Produzenten bewusst wurde, dass sie das Produktionssystem ändern mussten und der Beratungsring eine passende Technologie ausfindig machte, die in der Provinz übernommen werden konnte. Zunächst mussten die Informationen über das System weitergegeben werden und anschließend galt es, die Produzenten allmählich davon zu überzeugen, es einzusetzen. Die Aufklärungs- und Forschungsarbeit sowie die bereitgestellte Unterstützung, als Investitionen und Hilfestellungen bei Produktionsverlusten während der Umstellung von dem alten auf das neue System erforderlich waren, ergänzten den Prozess, in dem eine Generation ihre Praktiken änderte.

7 Interview mit Joel Kurtzman für die Fachzeitschrift Strategy + Business, 20. November 2001.

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Im Gegensatz dazu wurde das DCA-System entwickelt, als das LINSA bereits ausgereift war. Es begann mit einer Partnerschaft zwischen einem öffentlichen und einem privaten Unternehmen und baute auf die Nachernte-Forschung aus 1972 auf. Die Genossenschaften waren von Anfang an der Testung des Verfahrens beteiligt. Mit Hilfe von Abschreibungen ihrer Infrastruktur konnten sie diese sehr schnell mit einem geringeren finanziellen Risiko modernisieren.

Ein interessanter Aspekt war die Art der Faktoren, die die Zusammenarbeit zwischen den Akteuren auslösten. In den Anfängen des LINSA waren es überwiegend systemspezifische Faktoren, und der Prozess der Kapazitätsentwicklung musste Personen, Institutionen und Richtlinien mittels des Learning-by-Doing-Konzepts einschließen. Später führten exogene Auslöser zu Änderungen, wobei sich das bestehende System schnell anpasste. Zu diesem Zeitpunkt war die Kommunikation zwischen Produzenten und Genossenschaften, Testzentren und Beratungsstellen optimal. Die meisten von ihnen trafen sich regelmäßig, und alle Berater und Forscher unterhielten persönliche Verbindungen zum Apfelanbausektor.

MÖGLICHKEITEN DES LANDWIRTSCHAFTLICHEN WISSENS- UND INFORMATIONSSYSTEMS

Wie in den vorstehenden Ausführungen dargestellt, hat das AKIS-System in Südtirol eine starke Präsenz, und die diversen Akteure übernehmen genau festgelegte Rollen. Die Produzenten und ihre Genossenschaften bilden zusammen mit Laimburg und dem Beratungsring die Basis des Systems. Interessanterweise liegt die Möglichkeit für Fortschritte innerhalb des LINSA in der gegenwärtigen variablen Produktion und den unterschiedlichen Bruttoeinnahmen der Produzenten. Graph 5 zeigt die drastischen Einkommensunterschiede in diesem äußerst erfolgreichen LINSA. Für eine Apfelsorte, die unter gleichen Bedingungen unter Zugriff auf die gleichen Beratungsdienstleistungen angebaut wurde, können die Bruttoeinnahmen des erfolgreichsten Produzenten zwischen 45.000 Euro und 50.000 Euro pro Hektar und die des am wenigsten erfolgreichen Produzenten zwischen 5.000 Euro und 10.000 Euro liegen (siehe Graph 5).

Studien könnten Aufschluss über die Gründe für diese Abweichungen geben, der Beratungsring könnte die einzelnen Produzenten je nach ihrer Position auf dem Graphen entsprechend beraten, und das Bildungssystem könnte seinen Bildungsplan revidieren, um die in den Studien aufgedeckten Probleme anzusprechen. Die nachhaltige Produktivität kann potenziell von den existierenden Produzenten erhöht werden.

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€/ h

a

Graph 5 Vergleich der Bruttoeinnahmen der Mitglieder einer Genossenschaft für eine Apfelsorte. Die X-Achse repräsentiert die individuellen Produzenten der Genossenschaft. Die Produzenten, die unterhalb der Gewinnschwelle liegen, sind orange unterlegt.

50 000

45 000

40 000

35 000

30 000

25 000

20 000

15 000

10 000

5 000

0

BRUTTOEINNAHMEN DER INDIVIDUELLEN

MITGLIEDER EINER GENOSSENSCHAFT FÜR DIE APFELSORTE GALA

INDIVIDUELLE MITGLIEDER

Quelle: K. Werth, pers.Anm.

Eine weitere Gelegenheit besteht in der Lektion, die aus der Erfahrung mit den kontrollierten Sorten gelernt wurde. Das LINSA verfügt über eine hervorragende Methode, um durch Nachahmung oder Akquisition zu lernen und hat mit den Messen und Exkursionen ein gutes System entwickelt, um Informationen über potenzielle Bedrohungen oder Gelegenheiten zu sammeln. Doch seine Kapazität zur Analyse der Informationen beruht auf dem Wissen, das innerhalb des LINSA gesammelt wurde. Dadurch können Gelegenheiten und Bedrohungen identifiziert werden, die man innerhalb des Netzwerks versteht. Das System der kontrollierten Sorten war eine derart neue Methode zur Vermarktung von Äpfeln, dass es nicht als eine Bedrohung oder Gelegenheit wahrgenommen wurde. Dies impliziert, dass das AKIS seine vorausschauenden Fähigkeiten weiter entwickeln sollte.

Aus der Innovationsperspektive betrachtet gebührt dem dynamischen Privatsektor in der Provinz Beachtung, der das LINSA unterstützt. Außerhalb der gemeinnützigen Institution, die die Produzenten unterstützt, wurden diverse Branchen kreiert, zum Beispiel Privatunternehmen, die Nachernte-Technologien oder Spritzanlagen entwickeln und vermarkten oder die Kundendienstbranche, die Reparaturen von Maschinen und Infrastruktur anbietet. Es wurde ein vollständiges landwirtschaftliches Innovationssystem geschaffen, um den Apfelanbau in Südtirol zu unterstützen.

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SCHLUSSFOLGERUNG

Das LINSA in Südtirol hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stets angepasst und weiterentwickelt und ist heute ein äußerst erfolgreiches Apfelanbausystem. Südtirol als eine geographische Konzentration zwecks Innovation einhergehend mit günstigen Anbaubedingungen bildet die Basis dieser erfolgreichen Wertekette. Die Entwicklung eines effektiven und effizienten LINSA war durch eine Kombination aus organisatorischen Lernmechanismen möglich: Learning by Doing - d. h. Lernen durch Handeln - Lernen durch Nachahmung und schließlich Lernen durch Akquisition.

Das in der Provinz etablierte Genossenschaftssystem ist für diesen Netzwerkerfolg ausschlaggebend. Gemeinsam mit dem AKIS beeinflusste es das Tempo, in dem Konzepte entstanden bzw. nachgeahmt, übernommen und in das Anbausystem integriert wurden, und trug letztendlich zu den Innovationen bei. Mit Hilfe der von der Provinzregierung und des Bauernbundes geschaffenen günstigen politischen Rahmenbedingungen war es den Produzenten und Genossenschaften möglich, die nötigen Risiken einzugehen und erforderlichen Neuerungen vorzunehmen.

Die Gründung eines robusten und gut finanzierten AKIS mit formellen, informellen und persönlichen Verbindungen zu den Produzentenorganisationen erhöhte die Effizienz, Effektivität und Relevanz des LINSA und bot ein solides Servicesystem für landwirtschaftliche Innovationen zur Unterstützung des Apfelanbaus in Südtirol. Heute kann dieses ausgereifte LINSA das eigens entwickelte Wissen nutzen oder das anderenorts erarbeitete Wissen anwenden.

Durch die Zusammenarbeit von Personen, Gruppen und Organisationen entstanden diverse ungeplante Innovationen in Südtirol. Ob bewusst oder unbewusst, das LINSA entwickelte sich beruhend auf grundlegenden Konzepten: In einer Region, in der Boden, Wasser und Arbeitskräfte begrenzte Ressourcen waren, war der Weg zur Innovation, Wissen und Ideen als wichtigstes unbegrenztes Kapital zu erachten. Das LINSA nutzte dies zu seinem besten Vorteil und betrachtete Wissen nicht als ein Konkurrenzprodukt, sondern teilte es und schuf daraus einen Wert.

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LITERATURVERZEICHNIS

AGRIOS (Arbeitsgruppe für den integrierten Obstanbau in Südtirol). Ohne Datum [online]. History. Siehe http://www.agrios.it/history.html Abgerufen am 24.08.2013.

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FAMILIENBETRIEBENER APFELANBAU IN SÜDTIROL: EINE FALLSTUDIE ZU LANDWIRTSCHAFTLICHEN INNOVATIONEN

PUBL IK ATION ZU I NNO VATIO NE N IN DER FAMIL IENBET RIE BE NE N LANDWIRT SCHAFT 30

Gedruckt in Italien auf umweltfreundlichem Papier | Mai 2014

Design und Layout: Pietro Bartoleschi und Elisabetta Cremona ([email protected])

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POLITISCHE BERATUNG - PARTNERSCHAFTEN - KAPAZITÄTSENTWICKLUNG TOOLS UND METHODIKEN

LANDWIRTSCHAFTLICHE INNOVATIONEN

IN DER FAMILIENBETRIEBENEN LANDWIRTSCHAFT

MANAGEMENT NATÜRLICHER RESSOURCEN VERRINGERUNG DER HUNGERSNOT UND ARMUT

Der Apfelanbau in Südtirol ist eine wahre Illustration eines dynamischen landwirtschaftlichen Innovationssystems. Als eine gemeinschaftliche und pluralistische Struktur umfasst es private und öffentliche Akteure, verschiedene Ebenen von Produzentenorganisationen, Genossenschaften, Forschungseinrichtungen und Beratungs- und Informationsdienste, die allesamt darauf ausgerichtet sind, kleine Apfelproduzenten in ein höchst produktives, rentables und effizientes System zu integrieren. Heute widmen sich in Südtirol vorwiegend Familienbetriebe dem Apfelanbau. Die gesamte Anbaufläche beträgt 19.000 Hektar mit einem durchschnittlichen individuellen Landbesitz von 2,5 Hektar. Bis zu 95% der Landwirte sind Genossenschaftsmitglieder. Über 8.000 Kleinproduzenten haben sich in Genossenschaften zusammengeschlossen, die zusammen zwei große Produzentenorganisationen bilden. In Südtirol produzieren Kleinbauern derzeit 50% der Äpfel für den italienischen, 15% für den europäischen und 2% für den globalen Markt. Die Genossenschaftskultur, die diversen Dienstleistungen, die zahlreichen Akteure und ihre wechselnden Rollen innerhalb des Systems bieten eine gute Gelegenheit, um mehr über die Dynamik der landwirtschaftlichen Innovationen zu erfahren. Dieser Beitrag präsentiert die Entwicklung dieses landwirtschaftlichen Innovationssystems und untersucht die Auslöser und Antriebskräfte für die Innovationen im Südtiroler Apfelanbau.

ERNÄHRUNGS- UND LANDWIRTSCHAFTSORGANISATION DER VEREINTEN NATIONEN (FAO) www.fao.org/nr/research-extension-systems/res-home/en

www.fao.org/nr/research-extension-systems/res-home/en