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Karl Schawelka Farbe Warum wir sie sehen, wie wir sie sehen Verlag der Bauhaus-Universität Weimar

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Karl Schawelka

FarbeWarum wir sie sehen, wie wir sie sehen

Verlag der Bauhaus-Universität Weimar

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Für Laura

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Für die freundliche Genehmigung der Reproduktion von Abbildungen danke ich:

Birkhäuser Verlag Basel

S. Fischer Verlag GmbH Frankfurt am Main

Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH Heidelberg

John Wiley ] Sons Limited, Chichester

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Vorwort 7 |Die Alltagserfahrung: Farben als

Substanzen 14 |Farben als Empfindungen 25 | Empfindungen und Farbempfindungen

25 | Farbempfindungen und Außenwelt 27 |Physik und Farbe – Das Verhältnis von physikalischem Reiz und

Empfindungen 39 |Lokalfarben, Oberflächenfarben und Farbkonstanz 53 |Die Evolution des menschlichen Farbensehens 64 | Die photische

Situation auf der Erde und das Farbensehen 64 | Die Entwicklung der

Trichromasie 72 |Farbe und Kognition 79 | Grundzüge der visuellen Wahrnehmung im

Gehirn 79 | Methoden der Gehirnforschung 84 | Das menschliche Auge 88| Gene und Farbenblindheit 101 | Vom Auge zum virtuellen Kortex 104 |Farbe und Kortex 108 |Qualia und Synästhesien 114 |Das Problem der Grundfarben 131 | Die Grundfarben der additiven und

der subtraktiven Mischung 131 | Drei Grundfarben oder vier Grundfarben?

140 |Farbsysteme 144 |Farbkategorien und Sprache 163 |Ressource Aufmerksamkeit 174 |Showing pink – Zur Biologie der Farbe Rosa 194 |Farbe mit und ohne Oberfläche – Farbe in Bildern 209 |Farbstile 230 | Farbe als Gegebenheiten der Wahrnehmung 230 | Der

Einfluss neuer Farbstoffe und Pigmente 249 | Farbe und Ekstase 258 |Bibliografie 270 |

Inhalt

Karl Schawelka

Farbe

Warum wir sie sehen, wie wir sie sehen

Druck Gutenberg Druckerei GmbH Weimar

Basislayout: Pieter Dompeling

Umschlag und Bildbearbeitung:

Reinhard Franz

Satz und Gestaltung: Heidemarie Schirmer

© Verlag der Bauhaus-Universität Weimar

2007

ISBN 978-3-86068-314-9

Fax: + 49 (0) 3643/581156

E-Mail: [email protected]

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7Vorwort

Vorwort

Man weiß viel über Farbe, weit mehr als über alle anderen Sinnes-wahrnehmungen. Diese für Laien vielleicht provozierend klingendeAussage trifft gleichwohl zu. Im 17. Jahrhundert, als an der französi-schen Akademie über die Vorzüge der Farbe gegenüber der Liniegestritten wurde, waren sich beide Seiten immerhin darin einig, dassder Umgang mit Farbe einer wissenschaftlichen Behandlung unzu-gänglich sei. Die Befürworter sahen in dieser Tatsache aber keinenMangel, sondern ihren größten Vorzug. Ihre Haltung findet auch heu-te noch großen Zuspruch. Heidegger drückt diese Haltung in seinemberühmten Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerks unmissverständlichaus: »Die Farbe leuchtet und will nur leuchten. Wenn wir sie verstän-dig messend in Schwingungszahlen zerlegen, ist sie fort. Sie zeigt sichnur, wenn sie unentborgen und unerklärt bleibt.«1 Er spricht für viele,die Entzauberung fürchten, wenn sich die Wissenschaften eines Ge-bietes bemächtigen, von dem sie sich gerade einen wissenschaftsfrei-en Raum erhoffen. Ihnen kann ich nur den Trost spenden, dass mitjedem Wissen auch das Nichtwissen zunimmt, sodass wir bei allemFortschritt nur zu einem neuen Arrangement der jeweiligen Bereichekommen. Allerdings treibt der Prozess der Wissensvermehrung nichtzuletzt die künstlerische Entwicklung an und vor allem Künstler ha-ben selten auf die Übernahme von Wissen verzichtet, das ihnen zurVerfügung stand.

Gerade in den letzten Jahren und Jahrzehnten konnten erheblicheWissensfortschritte im Bereich der Farbforschung erzielt werden. Sosind die Vorgänge im menschlichen Auge bis hinunter auf die Ebeneder einzelnen Zellen, ja der von Molekülen im Prinzip geklärt. Auchdie physikalische und chemische Seite der Farbwahrnehmung darf alsgut erforscht gelten. Was passiert, wenn Photonen auf Materie treffenund welche Formen der Interaktion es dabei gibt, kann mit wün-schenswerter Genauigkeit angegeben werden. Der Leitwissenschaftunserer Zeit, der Biologie, verdanken wir insbesondere in ihrer Aus-prägung als Gehirnforschung oder Neurologie nicht nur einen erhebli-chen Erkenntniszuwachs, sondern auch neue, etwa ökologische undevolutionäre Fragestellungen, die noch vor kurzem undenkbar odernicht beantwortbar schienen. Eine davon lautet: cui bono, worin be-steht der Nutzen des Farbensehens? Inzwischen lassen sich begründ-bare Hypothesen anführen, wie und weshalb sich die menschlicheFarbwahrnehmung herausgebildet hat, an welche Umweltbedingun-

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gen sie angepasst und was ihr biologischer Sinn ist. Darüber hinausgibt es neuere Aussagen einer ganzen Reihe anderer Wissenschaften,etwa der Anthropologie, der Genetik oder der Linguistik, die sich mitder Farbe befassen und wichtige Beiträge geliefert haben. Auch imAnwendungsbereich der bildverarbeitenden Techniken, Digitalkame-ras, Bildschirme, Druckverfahren, Farbatlanten etc. kam es zu einemexponentiellen Erkenntniszuwachs. cad(= computer aided design)-Techniken und die Erzeugung virtueller Bilder trugen gleichfalls dazubei, das, was die Wahrnehmung leistet, genauer zu sehen und wis-senschaftlich beschreiben zu können.

Dieses umfangreiche und interdisziplinärer Forschung zu verdan-kende Wissen hat aber nicht dazu geführt, dass einfache, klare undüberschaubare Regeln zur Farbwahrnehmung angegeben werden kön-nen. Die Situation scheint sogar mit jeder neuen Erkenntnis an Kom-plexität zu gewinnen. Deshalb ist ein Abschluss der Forschung, so,dass man sagen könnte, im Prinzip sei nun alles Wissenswerte überFarbe bekannt, in absehbarer Zeit nicht zu erwarten. Die Laienmei-nung, dass man bezüglich der Farben eigentlich nichts Genaues sagenkann und auf Intuition, Geschmack oder noch andere unwägbareFähigkeiten angewiesen ist, findet im angesprochenen Sachverhalt,d. h. der Enttäuschung darüber, dass dem verbreiteten Bedürfnis nacheinfachen Ratschlägen nicht entsprochen werden kann, ihre Begrün-dung. Dennoch ist ein Pessimismus unangebracht. Die Verhältnisseähneln ein wenig denjenigen in der Medizin. Auch da wissen wir invielen Fällen ganz gut Bescheid. Wir wissen, wie eine Zelle funktio-niert, welche Aufgaben welche Organe erfüllen, wissen, welche Fol-gen ihre unterschiedlichen Störungen nach sich ziehen, welche Rolleden Genen zukommt, kennen mancherlei psychosomatische Zusam-menhänge und dergleichen mehr, aber die Hoffnung, dass wir zueiner einfach zu verstehenden Medizin zurückkehren können, wo zurHeilung sämtlicher Gebrechen etwa die Kenntnis von vier Körpersäf-ten ausreicht, die in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen sind,wird ernstlich nicht mehr gehegt. Selbst wenn wir in der Zukunft eineverbesserte Theoriebildung sowie die Erhebung von mehr und genau-eren Messdaten und den verstärkten Einsatz von Computern erwartendürfen, wird jeder Einzelfall seine Besonderheit bewahren. Klar istaber auch, dass Krankheiten nicht aus unserem Leben verschwindenwerden. Dennoch gilt die Medizin zweifelsfrei als eine Wissenschaftund ihre Methoden sind effizienter und ihre Aussagen erwiesener-maßen zuverlässiger als andere Verfahren oder der gesammelte Haus-schatz an Erfahrungsregeln.

8 Vorwort

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9Vorwort

Bei der Farbe ist die Situation ähnlich. Wegen der Kompliziertheitder Materie und der zum Teil eher geringen Anwendbarkeit wissen-schaftlicher Aussagen für Praktiker bot und bietet sie einen Tummel-platz für anti- oder pseudowissenschaftliche Haltungen, wo nicht nurGeschmack, Intuition oder künstlerische Herangehensweisen ihr Rechtbehaupten, sondern obskurantistische und irrationalistische Einstel-lungen manchmal regelrecht gefordert werden, ja sogar weltanschau-liche Erlösungsreligionen fröhliche Urständ’ feiern. Die Haltung einerbewussten Wissenschaftsferne bei Künstlern kann dabei auf eine ge-wisse Tradition verweisen, denn schon die Übertragbarkeit der Er-kenntnisse Newtons auf die Malerei war gering. In diesem Sinn ent-täuscht äußert sich Philipp Otto Runge: »(…) so ist doch bekannt, wiehülflos den Künstler die aufgestellte Wissenschaft [gemeint: die aufNewton basierende Optik] gelassen hat, wenn die bestehenden Ver-hältnisse farbiger Substanzen Wirkungen erzeugten, die aus der blo-ßen Brechung des Lichtstrahls nicht zu erklären waren.«2 Zwar dürfteinzwischen, seit durch Hermann von Helmholtz 1866 die Unterschie-de zwischen additiver und subtraktiver Mischung herausgearbeitetwurden, der genannte Kritikpunkt gegenstandslos sein, doch Rungeführt noch einen weiteren Punkt an, der seine Berechtigung behaltenhat: »Um den Totaleindruck, den wir von der Welt durch unser Augeempfangen, zu begreifen und analog wiedergeben zu können, undum auch die Analogie der Mittel, welche wir haben, mit denen derNatur wissenschaftlich aufstellen zu können, müssen wir die Elementejenes Eindruckes in unwandelbarer Reinheit ergriffen haben.«3 DasSchlüsselwort im angeführten Satz ist ›analog‹ bzw. ›Analogie‹. Die ineinem Kunstwerk benutzten Mittel sind nicht identisch mit denen derNatur, sondern werden zur Herstellung einer analogen Repräsentationbenutzt. Wenn Künstler beispielsweise in einem Landschaftsbild einenRegenbogen wiedergeben wollen, so nutzt es ihnen nur bedingt,wenn sie die physikalischen Gesetzmäßigkeiten dabei kennen, dennsie produzieren ja nicht direkt mithilfe von Sonnenlicht und Wasser-tröpfchen eine Lichtbrechung, sondern sie müssen mithilfe von Pig-menten, Bindemitteln und geeignetem Farbauftrag auf einer flachenUnterlage etwas herstellen, was der Betrachter als Repräsentationeines Regenbogens akzeptiert. Die eigentümlichen Erfordernisse ihresMediums kennen aber die Maler besser als irgendwer sonst. Aller-dings gilt im Gegenzug auch, dass die künstlerischen Mittel ihrerseitsnicht außerhalb der Naturgesetze stehen. Statt aber, was korrekt ge-wesen wäre, aufzuzeigen, wo in ihrem Bereich die physikalischenTheorien unzureichend oder ergänzungsbedürftig waren, glaubte man

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in Künstlerkreisen, sie insgesamt in den Wind schlagen zu können.Dies zumindest ist eine Haltung, an deren Ausbreitung Goethe nichtunschuldig war, obwohl er sich um eine rationale Diskussion wenig-stens bemüht hat. Die keineswegs überwundene Trennung in zweiKulturen, die der Humaniora gegenüber den Naturwissenschaften,geht wohl auf die Zeit der Auseinandersetzung Goethes mit Newtonzurück. Noch heute berufen sich insbesondere die Anhänger RudolfSteiners auf Goethe und seine Farbenlehre, um ihre Kritik an natur-wissenschaftlicher Erkenntnis, an technischer Weltbeherrschung undan einer materialistischen Geisteshaltung insgesamt zu untermauern.Hier ist nicht der Ort, sich mit ihnen auseinander zu setzen, doch seifestgestellt, dass ethische Fragen auf einer ethischen Ebene diskutiertund nicht als wissenschaftliche Sachfrage verkleidet werden sollten.Man kann den heutigen Naturwissenschaften und der Technik vieler-lei vorwerfen und vor allem die Geisteshaltung, die auf eine Beherr-schung und Ausbeutung der Natur aus ist, für fatal halten, aber dieseKritik sollte man nicht von der Beantwortung einer konkreten wissen-schaftlichen Frage abhängig machen wie der, welches Modell die Vor-gänge beim Durchgang von Licht durch ein trübes Mittel am bestenbeschreibt. Doch auch die Künstler des Bauhauses wie Kandinsky,Itten und Klee hatten – vorsichtig formuliert – ein gespanntes Ver-hältnis zu den Naturwissenschaften. Und selbst bei heutigen Zeitge-nossen, die sich als rational und aufgeklärt verstehen, findet sich, wasdie Farbwahrnehmung betrifft, immer noch ein Kenntnisstand, derallenfalls auf die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurückgeht. Magauch Bequemlichkeit dafür die Ursache sein, da es nicht zu den Stan-darderfordernissen eines Geisteswissenschaftlers oder Künstlers zählt,sich über die Resultate der Quantenphysik oder der Neurologie oderEvolutionstheorie einigermaßen auf dem Laufenden zu halten, es gibtin der Praxis tatsächlich leider immer noch so etwas wie die von demNovellisten C. P. Snow diagnostizierten zwei intellektuellen Kulturen,wobei die Einstellung zur Farbe als Schibboleth bei ihrer Unterschei-dung dient. Ein wesentliches Anliegen des vorliegenden Buches be-steht darin, für den Bereich der Farbforschung Wege zur Überwin-dung der Kluft zwischen Wissenschaft und Kunst aufzuzeigen.

Die Zeiten, wo Poststrukturalisten in der Wissenschaft lediglicheine sozial sanktionierte Form von Propaganda sahen, die von derMachtelite benutzt wird, um die Schwachen zu beherrschen, undderen Erklärungen nicht mehr Anspruch auf Gültigkeit beanspruchendürfen als ein beliebiger Mythos, sind zwar anscheinend vorüber, aberim Dauerkonflikt zwischen Natur und Kultur wird von Geisteswissen-

10 Vorwort

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11Vorwort

schaftlern inzwischen gern der Vorwurf des ›Biologismus‹ gebraucht.Was immer das bedeuten mag – anscheinend fürchtet man eine ArtDeterminismus, der die Freiheit bedrohe – die Postmodernen vertre-ten die Meinung, der Kultur sei sozusagen alles möglich. Jeglicheskulturelle Regelsystem sei ein willkürliches Konstrukt, das man allen-falls dekonstruieren könne. Der Verweis auf unsere biologische Naturwürde der Vielfalt, Historizität und Plastizität unserer Einstellungenzur Farbe nicht gerecht werden. Es handelt sich dabei aber um einenScheinkonflikt. Niemand behauptet, dass die annähernd 30.000 Geneder dna unserer Spezies die ca. 100 Milliarden Neuronen im Gehirnmit ihren je an die tausend Synapsen und den entsprechenden vielfäl-tigen Verknüpfungsmöglichkeiten festlegen könnten. Aber schon auslogischen Gründen bedarf das Besondere des Allgemeinen. Die Viel-falt der Gesichtspunkte und die unaufhebbare Voreingenommenheitunserer Wahrheiten, auf welche die Kulturrelativisten zu Recht hin-weisen, stehen nicht im Widerspruch zur Biologie, sondern setzendiese geradezu voraus. Natur und Kultur wirken schon beim Heran-wachsen eines Fötus beständig ineinander, sodass von einem geneti-schen Determinismus keine Rede sein kann. Gene sind Ermöglicher.Die Gene z. B., welche die Herstellung von Opsinen steuern, ermögli-chen zuallererst einmal das Farbensehen, denn ohne sie wären wirfarbenblind. Welchen spezifischen Gebrauch die jeweiligen Kulturenvon dieser Fähigkeit machen, steht auf einem anderen Blatt. Dass dieFähigkeit, reife Früchte im Blattwerk aufzufinden, sich evolutionärentwickelt hat, verhindert nicht, sondern gestattet die Benutzung vonVerkehrsampeln und damit auch die kulturelle Konstruktion der zu-gehörigen Regeln der Straßenverkehrsordnung. Deterministisch sindunsere Gene allenfalls in der Hinsicht, dass Ampeln, deren Signale aufder Verwendung von infrarotem bzw. uv-Licht beruhen, wohl Anlasszu häufigeren Verkehrsübertretungen geben würden. Im Übrigen wirdauch die Freiheit der Meere weniger durch das Wissen über Untiefenund herrschende Strömungen bedroht als durch von Menschen ge-machte, historisch gewordene Konstrukte oder Ideologien.

Immer noch finden sich Neuauflagen der Bücher Johannes Ittens,und dessen Lehre wird von vielen Kunsterziehern ungebrochen sovermittelt, als sei dies der heutige Kenntnisstand und es erscheinenimmer noch Anleitungen zum Umgang mit Farbe für Anfänger, die einhanebüchen falsches Bild der Tatsachen vermitteln, während in dentechnischen Anwendungen, bei den verbreiteten Farbsystemen fürGrafiker, der digitalen Bildverarbeitung und ähnlichem kommentarlosvöllig andere, was nicht unbedingt heißt vertrauenswürdigere Regeln,

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vermittelt werden.4 Zwar ist im Gegenzug auch klar, dass die Wissen-schaft grundsätzlich keine wertenden Aussagen macht, sodass sieprinzipiell ästhetische Entscheidungen nicht begründen kann. VomVorwurf, diese Grenze ihrerseits überschritten und sich als Gesetzge-ber der Kunst versucht zu haben, sind allerdings auch viele Naturwis-senschaftler wie beispielsweise Wilhelm Ostwald nicht leicht freizu-sprechen.5 Dennoch bleibt, dass bei allen Vorzügen, die das Nicht-Wissen haben kann, ein auf Wissen gestütztes Vorgehen auf Dauerdie erfolgreichere Strategie bietet, wie es schon, mit anderen Worten,Thomas Ernest Hulme (1886–1917) formulierte: »Genauigkeit kommtimmer der Schönheit zugute und richtiges Denken dem zarten Ge-fühl.« Die Künstler, die eine Entzauberung ihrer Welt befürchten, kön-nen also beruhigt sein. Etwas zu einem Mysterium zu erklären, führtnicht per se zu guten Resultaten, eher ist das Gegenteil der Fall, undaußerdem gibt es noch genügend Bereiche im Umgang mit Farbe, wounser Wissen nicht hinreicht und ihnen mit ihren spezifischen Verfah-ren ausreichend zu tun bleibt.

Dieses Buch wendet sich, der Kompetenz des Autors entsprechend,in erster Linie an Künstler, Designer und Vertreter aller gestalterischenBerufe sowie an Kunsthistoriker und andere Geisteswissenschaftleroder einfach auch an interessierte Laien. Es möchte die kunsthisto-rische Forschung mit Einsichten in die Neurologie des Sehens ver-knüpfen und sie dadurch womöglich präzisieren und verbessern. DerAufbau, dass zunächst der Kenntnisstand zur Farbwahrnehmung dar-gelegt oder zumindest skizziert wird, ehe gewisse Anwendungen vor-gestellt werden, folgt bekannten Mustern. Im Gegensatz zur existie-renden Literatur für den genannten Personenkreis aber werden dieneuen Resultate, Thesen und Fragestellungen der interdisziplinärenFarbforschung und insbesondere der Biologie aufgegriffen und es wirdversucht, sie mit dem mir geläufigen Material der Kulturwissenschaf-ten zusammenzubringen. Vor allem wird der Gehirnforschung breiterRaum gegeben. Das Buch will zum einen den heute verfügbarenKenntnisstand der Farbforschung in lesbarer Form, aber möglichstohne Abstriche an der Korrektheit ausbreiten. Daran anschließendwerden mir interessant scheinende Konsequenzen und Anwendungenim Kulturbereich entwickelt, vorgestellt und vorgeschlagen, die – wieich hoffe – manches Neue bringen. In der Annahme, dass auch dieNeurowissenschaften aus kunstwissenschaftlichen Erkenntnissen ge-winnen können, versucht der Autor gleichwohl, die Grenze zwischenSollen und Sein, zwischen Beschreibung und Wertung zu respektie-ren. Man erwarte also keine Ratschläge zur farbigen Gestaltung von

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13Vorwort

Staubsaugern oder Hauseingängen oder die bei der Anlage einesAquarells zu beachtenden Regeln.

Die Grundthese des Buches, dass die menschliche Farbwahrneh-mung nur vor dem Hintergrund von und im Zusammenwirken mitanderen, vor allem visuellen Wahrnehmungsleistungen beurteilt wer-den kann, ist nicht neu. So vertrat Kurt Koffka schon 1936 die Auffas-sung, dass eine allgemeine Theorie der Farbe gleichzeitig eine allge-meine Theorie von Raum und Form sein müsse. Allerdings hat sichdas Wissen um solche Zusammenhänge seitdem dramatisch erweitert,was vor allem für die evolutionäre Perspektive gilt. Die Fähigkeit, Far-ben zu unterscheiden, muss ein Lebewesen in die Lage versetzen,sinnvolle Unterscheidungen zu treffen, die letztlich zu Handlungenführen, die zumindest in der Geschichte der Gattung einen Überle-bensvorteil geboten haben. Angesichts der metamodalen Organisationdes Gehirns führt eine isolierte Betrachtung einzelner kognitiver Sub-modalitäten in die Irre. Erst im Verständnis der Leistungen der Farb-wahrnehmung in den natürlichen, alltäglichen Lebenszusammenhän-gen erhalten bestimmte Besonderheiten – wie sie in der Kunst gernherauspräpariert werden – ihren Platz. Es wird sich zeigen, dass einVerständnis der Farbe ›an sich‹ wenig hilfreich ist, wenn nicht dieWechselwirkungen mit anderen Aspekten der Wahrnehmung beachtetwerden. Dies gilt auch für die Wahrnehmung von Kunst, denn wirbetrachten sie prinzipiell mit dem gleichen Wahrnehmungsapparat,mit dem wir auch die Wirklichkeit sehen, wenn auch einige spezielleBedingtheiten zu beachten sind. Das Argument, dass die Farbe eineethologische Herangehensweise erfordert und nicht losgelöst von denanderen Elementen der Wahrnehmung behandelt werden kann, wirdvor allem in den abschließenden Kapiteln konkretisiert, in denen derAutor auch eigene Überlegungen entwickelt, während die anderenTeile des Buches eher referierenden Charakter haben.

Anmerkungen:

1 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks (1935/36) in: Holzwege, Frank-

furt/M., 6. Aufl. 1980, S. 32.

2 Zitiert nach Felix Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit – Goethes Farbenlehre aus

rezeptionsgeschichtlicher Sicht, Heidelberg 1990, S. 101f.

3 Ebd., S. 102.

4 Vgl. Andreas Schwarz u. a. (Hrsg.), Immer wieder Itten ...? Neue Ansätze zum

Umgang mit Farbe im Kunstunterricht, o. O., 2003.

5 Vgl. Wilhelm Ostwald, Farbsysteme, das Gehirn der Welt, ZKM, Rolf Sachsse, Peter

Weibel (Hrsg.), mit einem Text von Albrecht Pohlmann.

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Die Alltagserfahrung:

Farben als Substanzen

Der schottische Philosoph Thomas Reid schrieb 1764: »Die Philoso-phen sind sich sicher, dass Farbe nicht in den Körpern, sondern imGeist ist; und der ›Pöbel‹ ist sich sicher, dass Farbe nicht im Geist ist,sondern eine Qualität der Körper.«1 Nun zählen wir uns alle wohl lie-ber zu den Philosophen als zum Pöbel, aber auch wenn man Farbe alseine Hervorbringung des Gehirns ansieht, – was der in diesem Buchvertretenen Auffassung entspricht – sollte man eine Erklärung dafürhaben, wieso sie überhaupt und noch dazu alles in allem recht erfolg-reich im täglichen Leben als eine Qualität der Körper betrachtet wer-den kann. Die damit gegebene Rehabilitierung des common sensewar übrigens auch das Anliegen von Thomas Reid. Denn in unseremvolkstümlichen Alltagsverständnis handelt es sich bei Farben eindeu-tig um sichtbare Eigenschaften von Substanzen. Sand ist sandfarben,Spinat spinatgrün, Ziegel sind ziegelrot und Ocker eben ockerfarben.Wenn wir die Empfindung eines reinen Rots beschreiben sollen, sodenken wir in der Regel dabei an Objekte wie Feuerwehrautos oderandere konkrete Dinge oder Stoffe wie Blut. Mithilfe der Bezeichnungfür Substanzen mit charakteristischer Farbe sind wir dann sogar in derLage, die Farben anderer Objekte zu umschreiben: Als kaffeebraunkann auch eine Hautfarbe bezeichnet werden, ein Hemd kann flieder-farben sein. Ja, es spricht viel für die Vermutung, dass alle unsereFarbwörter ursprünglich nur eine bestimmte Substanz bezeichnethaben, ehe ihre Bedeutung auf andere Entitäten übertragen wurde.Bei Bezeichnungen wie orange, rosa, oliv und violett (frz. violet =Veilchen) ist der Bezug zu den ursprünglich namengebenden Früchtenund Blumen noch heute erhalten geblieben, während andere Wörterwie ›blond‹ in ihrer Anwendbarkeit immer noch auf eine bestimmteKategorie von Gegenständen eingeschränkt sind. Es gibt Volksstämmewie die Usbeken, die zumindest früher ohne abstrakte Farbwörterauskamen, und auch Kinder sehen zunächst in Farben konkreteEigenschaften von Objekten, die weder als abstrakt gedacht noch aufandere Objekte übertragen werden. Die Benennung von Farben bzw.die Ausbildung von Farbwörtern scheint ein Vorgang eigener Art zusein, der mit der Entwicklung des kategorischen Denkens zusammen-hängt.

14 Die Alltagserfahrung: Farben als Substanzen

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15Die Alltagserfahrung: Farben als Substanzen

Manche farbige Substanzen wie z. B. Ochsenblut, Kreide, Nagel-lack oder Schuhcreme können dazu genutzt werden, andere Objektedamit zu überziehen und einzufärben. Sie werden im Alltag als Far-ben im engeren Sinn, genauer als Farbstoffe oder Farbmittel bezeich-net und, da wir gewohnheitsmäßig Teile unserer Haut, Kleiderstoffe,Verpackungen, Wände, ganze Häuser, Gartenzäune, Autos, Schiffeund noch alles mögliche andere mit Farbe versehen, gibt es Farben-geschäfte, Kosmetika und eine einschlägige Industrie, die solcheFarbmittel herstellt. Man unterscheidet unlösliche Farbmittel, die Pig-mente, von den löslichen, den Farbstoffen. Pigmente werden mit Bin-demitteln (eventuell noch Lösungsmitteln und anderen Zusatzstoffen)versetzt. Nach Erstarren des Bindemittels auf einer Unterlage haltendie verklebten Pigmente dort dauerhaft fest. Farbmittel sind für unswahrnehmungsmäßig untrennbar von Substanzen. Weder die Unter-scheidung von Buntfarben und Unbuntfarben noch die von eigentli-chen Farben und solchen, die auch Oberflächeneigenschaften miteinschließen, spielen auf dieser Ebene eine Rolle. Entsprechend zäh-len im Alltag Gold, Silber oder Metalliclacke zu den möglichen Far-ben, die eine Oberfläche aufweisen kann.

Was ist biologisch gesehen der Sinn von all dem? Warum erschei-nen uns Farben als Attribute von Objekten oder Eigenschaften vonDingen ›da draußen‹? Halten wir fest, dass wir fähig sind, uns an Sub-stanzen zu erinnern, dass ihre charakteristische Farbigkeit zum Wissenum die jeweilige Substanz gehört, dass wir letztere uns zu einem ge-wissen Grade vorstellen können, auch wenn sie gerade nicht zu sehenist, und dass wir die Eigenschaft, eine bestimmte Farbe aufzuweisen,auch vom jeweiligen Träger loslösen und in der Vorstellung auf ande-re Stoffe, Materialien oder Objekte übertragen können. Manchmalliegt eine solche Übertragbarkeit alles andere als nahe, sodass jedeSprache Farbbezeichnungen kennt, die nur innerhalb bestimmter Ob-jektbereiche Anwendung finden, manchmal, wie bei der Bezeichnung›rabenschwarz‹, übertragen wir dafür eine Farbbezeichnung auch aufEntitäten wie den Humor, die gar nicht sinnlich wahrnehmbar sind.Wir können jedoch die in die hunderttausende gehenden Nuancenan Farbempfindungen, zu deren Unterscheidung wir anscheinenddann imstande sind, wenn wir sie gerade aktuell vor Augen haben, inwenige Kategorien wie eben ›Rot‹ oder ›Braun‹ fassen und damit bes-ser memorieren. Natürlich wissen wir, dass unsere Sinneseindrückeuns täuschen können und wir manchmal andere Farben sehen alsunter normalen Umständen, aber unsere Zuversicht, dass einer Ober-fläche ›eigentlich‹ ihre ›richtige‹ Farbe zukommt, wird damit nicht

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erschüttert. Zwar gibt es gewisse Grenzen in der Genauigkeit unsererErinnerung, aber schwere kategorielle Fehler, dass etwa ein Kirschrotmit einem Orange verwechselt wird, können wir im Normalfall aus-schließen.

Welchen Nutzen ziehen Menschen daraus, dass sie Farben unter-scheiden können? Farben sind Farben von etwas. Würden wir sienicht auf etwas beziehen können, wäre die Farbwahrnehmung rechtnutzlos. Zum Farbwissen gehört nicht nur das Erkennen der Farbe,sondern die Fähigkeit, sie einem Objekt zuzuordnen. Für uns hatjedes Objekt, das wir sehen, mindestens eine Farbe. Haben wir einObjekt gut sichtbar im hellen Tageslicht vor unseren Augen, so sindwir ziemlich sicher, welche Farbe oder Farben ihm zukommen. Wirkönnen gar nicht anders, als eine spezifische Oberfläche gleichzeitigund zusammen mit ihrer Farbe wahrzunehmen. Allerdings gibt esObjekte, deren farbiges Aussehen sich ständig ändert, Wasserflächenz. B. oder auch Seifenblasen. Dennoch weisen auch diese in demAugenblick, in dem ich hinschaue, eine spezifische Farbigkeit auf,selbst wenn sie an verschiedenen Stellen verschieden sein mag, jaauch dann, wenn sie sich vor meinen Augen ändert. Manchmal ge-lingt es uns nicht, die wahrgenommene Farbe einem Objekt zuzuord-nen, was uns sogar besonders beschäftigt und die Aufmerksamkeitweckt, aber das ist die Ausnahme, welche die Regel bestätigt. DieWahrnehmung ist unwillkürlich bestrebt, Farbempfindungen und kon-krete Oberflächen aufeinander zu beziehen. Ist ihr das einmal gelun-gen, können wir den vorherigen Zustand, bei dem uns ein Farbreizauffiel, ohne dass wir wussten, zu welchem Objekt die Farbe gehört,nicht mehr zurückrufen.

Durch ihre Farbe also können Oberflächen rasch und sicher unter-schieden werden. Was verschieden ist, sollte möglichst auch verschie-den aussehen und umgekehrt: Ein Eichhörnchen sollte sich, selbstwenn es teilweise überdeckt wird, in unserer Wahrnehmung vomLaubwerk abheben, die Blätter dagegen untereinander ähnlich sein.Da die Oberflächen zu Körpern gehören, dienen Farben also geradedem Erkennen und Unterscheiden von Objekten. Haben zwei Objektedie gleiche Farbe, so spricht viel dafür, dass sie auch in ihrer Substanzübereinstimmen. So dürften wahrscheinlich sämtliche gelben Fleckenauf meinem Rasen zur gleichen Art von Löwenzahnblüten gehören.Demnach kann, was zusammen gehört, durch gleiche Farbigkeit sig-nalisiert werden, seien es Teile eines einzigen Objektes oder verschie-dene, aber ähnliche Objekte, wie umgekehrt durch die Verschieden-artigkeit der Farbe innerhalb eines Objekts dieses optisch in Teile

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zerlegt werden kann. Für Unterscheidungen, Klassifikationen undGliederungen wie bei Weiß- oder Rotweinen, dem weißen Haus oderden gelben oder roten Rüben eignen sich die Farbkategorien anschei-nend vorzüglich.

Nun sind Farben nicht die einzigen optischen Eigenschaften, andenen wir Oberflächen auseinander halten können. Es gibt z. B. Diffe-renzen in den Texturen. So unterscheiden sich eine Wiese und einKiesweg bzw. polierter Glattputz oder Rauputz in ihrer Textur, wieauch in anderen visuellen Eigenschaften wie ›glänzend‹ oder ›matt‹.Auch mag trotz gleicher oder ähnlicher Texturen die Helligkeit zweierOberflächen unterschiedlich sein, z. B. bei Mehl und Ruß. Die Defi-nition nach din: »Farbe ist diejenige Gesichtsempfindung eines imAuge strukturlos erscheinenden Teiles des Gesichtsfeldes, durch diesich dieser Teil bei einäugiger Beobachtung mit unbewegtem Augevon einem gleichzeitig gesehenen, ebenfalls strukturlosen angrenzen-den Bezirks allein unterscheiden kann«, ist zwar korrekt, aber zu kon-zeptuell. Sie wird der Tatsache nicht gerecht, dass wir im alltäglichenNormalfall eben mit beiden Augen sehen, uns bewegen und dass Far-ben perzeptuell viel auffälliger sind als Texturunterschiede oder auchgeringere Helligkeitsunterschiede. Wir sehen Farben nicht schließlichund zu guter Letzt erst dann, wenn alle anderen visuellen Unterschei-dungsmöglichkeiten erschöpft sind, sondern sofort und in einemfunktionalen Zusammenhang mit anderen Leistungen der Wahrneh-mung. Etwa bei der Abgrenzung verschiedener Flächen vertrauen wirunmittelbar und unwillkürlich den Farbwahrnehmungen, ehe uns an-dere Kriterien überhaupt auffallen.

Objekte zu erkennen und von ihrem Hintergrund zu isolieren isteine fundamentale Leistung der visuellen Wahrnehmung, die aller-dings auch dann ganz gut funktioniert, wenn – wie in einem Schwarz-Weiß-Film – die Farbwahrnehmung behindert oder ausgeschaltet ist.Selbst wenn zwei Oberflächen ziemlich identisch aussehen, könnenwir häufig anhand von Regeln wie der geschlossenen Form oder desgemeinsamen Schicksals (was sich gemeinsam bewegt, dürfte zusam-mengehören) Objekte von ihrem Hintergrund isolieren. Vergleichtman ein farbiges Foto einer natürlichen Szenerie mit einem manipu-lierten Schwarz-Weiß-Foto der gleichen Szenerie, dem also dieeigentliche Farbinformation entzogen wurde, mit einem manipuliertenFoto der Ursprungsszene, das keinerlei Hell-Dunkel-Unterschiedemehr aufweist, also nur noch farbige Information trägt, so wird klar,dass im Schwarz-Weiß-Foto solche visuellen Elemente wie Form, Hell-Dunkel-Unterschiede, Orientierung, die Texturen sowie Objektgren-

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zen ganz gut erkennbar sind, während auf dem Foto mit der reinenFarbinformation recht wenig davon unterschieden werden kann.Addiert man beide Informationen aber – was zum ursprünglichenFarbfoto zurückführt –, so wird deutlich, dass die Unterscheidungunterschiedlicher Objektklassen mittels ihrer Farbe mühelos undselbstverständlich gelingt. Die Früchte und die Blätter werden unterZuhilfenahme der segmentierenden Farbinformation leicht auseinan-dergehalten, besser erkannt, eingeprägt und sogar erinnert.

In der Regel benutzen wir drei Dimensionen oder Freiheitsgrade,um eine Farbe zu kennzeichnen. Wir unterscheiden den eigentlichenFarbton selbst, also ›blau‹, ›grün‹, ›rostrot‹ oder ähnliches. Danebenkönnen wir diesen eigentlichen Farbton nach hell und dunkel quali-fizieren, also etwa ein ganz helles, ein helles, ein mittleres oder dun-kles Blau und vielleicht noch ein Nachtblau unterscheiden. Als drittessteht uns eine Kennzeichnung der Sättigung zu Gebote: beispielswei-se ›ein kräftiges, leuchtendes Blau‹, ›ein mittleres Blau‹, ›ein gedeck-tes, gebrochenes‹ oder auch ein ›ausgewaschenes Blau‹. Unterschiedein der Sättigung fallen uns vergleichsweise am wenigsten auf, was,nebenbei bemerkt, beim Vorzug des pal-Systems gegenüber Secambeim Farbfernsehen eine Rolle spielt. Aber auch die Wahrnehmungder Helligkeit ist nicht völlig problemlos. Sie wird beispielsweise gernüberschätzt, wenn ein Farbton sich stark von seiner Umgebung ab-hebt.

Im Alltag nehmen wir ohnehin keine strenge Trennung vor zwi-schen Materialeigenschaften wie ›matt‹, ›glänzend‹, ›stumpf‹, ›durch-scheinend‹ etc. und den eigentlichen Farbbezeichnungen, wenn nichtohnehin wegen des Bezugs zu einer konkreten Substanz eine solcheTrennung unnötig und undurchführbar erscheint. Bei einem Ausdruckwie ›stahlblau‹ z. B. macht es wenig Sinn zu fragen, ob darunter eherder Aspekt des ›metallisch Glänzenden‹ oder von ›Blau‹ zu verstehenist. Die Befunde der Linguisten weisen gleichfalls darauf hin, dass sichreine Farbwörter im Verlauf der Sprachentwicklung erst relativ spätherausbilden. So wiesen unsere in den europäischen Sprachen gängi-gen Farbbezeichnungen einst eine enge Verbindung mit Materialei-genschaften und Texturen auf und es kam diesbezüglich oft zu einerBedeutungsverschiebung. Anscheinend geht beispielsweise das mittel-lateinische Wort blavus, aus dem unser ›blau‹ entstanden ist, aufflavus zurück, das die Bedeutung ›goldgelb glänzend‹ hatte. Auchkennt man Volksstämme wie die Nuer (am oberen Nil), die zwar überwenig eigentliche reine Farbwörter verfügen, dennoch aber mit vielenspezialisierten Wörtern subtil über die Fellfarben samt Flecken und

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Glanz ihres Viehs zu reden verstehen. Es spricht also viel dafür, dassWörter, die das Aussehen von Materialien bezeichnen oder mitbezeichnen, grundlegender sind als die reinen Farbwörter. Ersterekönnen ständig ad hoc gefunden und als Referenzobjekte verwendetwerden, was im Übrigen die Werbung gern ausnutzt. Bei dieser istjedoch zusätzlich ein anderes Phänomen im Spiel. Evidenterweisekann man sich nur dann mit einem anderen über einen Farbton ver-ständigen, wenn beiden Sprechern die Substanz auch bekannt ist, dieals Referenz dient, was aber bei Bezeichnungen wie ›smaragdgrün‹oder ›korall‹ in früheren Zeiten oder ›fuchsin‹ in den heutigen nichtohne Weiteres gelten dürfte. Solchen Bezeichnungen haftet dahereine Art Herrschaftswissen an: »Ich kenne solche edlen Substanzen,die dir nie untergekommen sind.« Die Werbung verfährt beim Erfin-den exklusiver Farbtöne gern nach dem beschriebenen Muster. IhreFarbbezeichnungen wie ›premiumweiß‹ oder ›tropenblau‹ dienen sel-ten der Information, sondern beschwören ein prestigeträchtiges Asso-ziationsfeld. Denotation und Konnotation von Farbwörtern solltendeshalb unterschieden werden.

Trotz der Fülle an Information, die in einem Schwarz-Weiß-Bildsteckt, fällt es uns bei einem Fußballspiel entschieden leichter, dieMannschaft in blauen Trikots von der in den roten zu unterscheidenals die dunkelgrauen Spieler von den mittelgrauen bzw. die mit denseidenen von denen in leinenen Trikots. Die Bereitschaft, mehr Geldfür Farbfernseher auszugeben, für Farbfotos oder Videos in Farbe,findet nicht zuletzt in solchen Verhältnissen der Wahrnehmung ihreBegründung. Es hat sich gezeigt, dass Farbe nicht nur bei der Objekt-erkenntnis hilfreich ist, sondern auch bei der Memorierbarkeit derSzenen und Objekte. Verglichen mit Texturen, deren Unterscheidbar-keit für die Wahrnehmung nicht so besonders gut ausgeprägt ist, fälltes uns sehr leicht, eine herausstechende Farbe zu erkennen. Manspricht vom Pop-Out-Effekt. Die Aufforderung, aus einer Reihe vongrünen Elementen das rote herauszufinden, können wir rascher erfül-len als die, das Element mit abweichender Lage, Form, Textur etc.anzugeben, auch wenn es vergleichbar isoliert ist. Verkehrsschilder,Signale etc., auf die wir sofort und unwillkürlich reagieren sollen, be-ruhen daher auf kräftigen Farbgegensätzen, nicht auf Unterschiedenin der Textur oder dem Glanz der Oberfläche. Dennoch kann mansagen, dass zwischen der Farb- und der Texturwahrnehmung funktio-nal eine gewisse Verwandtschaft besteht, ja dass mit der Farbwahr-nehmung für die damit begabten Lebewesen sich vor allem die Unter-scheidbarkeit verschiedener Oberflächen enorm verbessert hat.

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Helligkeitsunterschiede sind gegenüber Farbunterschieden wesent-lich mehrdeutiger. Handelt es sich um ein Grau im Licht oder einWeiß im Schatten? Verschiedene Helligkeiten können einerseits dar-auf beruhen, dass eine Oberfläche nur anders zum Licht steht als einegleichartige andere (unter gleichen Bedingungen gleich aussehende),oder aber darauf, dass die eine Oberfläche eben mehr oder wenigerLicht reflektiert, also ›an sich‹ (in ihrem Reflektanzverhalten) helleroder dunkler ist, oder beides. Unsere Wahrnehmung muss also erstdie mutmaßliche räumliche Gesamtsituation unter Berücksichtigungder Lichtquelle beurteilen, ehe sie entscheidet, dass es sich in einemFall um einen bloßen Schatten handelt, den man vernachlässigen darf,im anderen Fall um permanente Eigenschaften von Oberflächen, dieeben dauerhaft verschieden hell sind und nicht nur zufällig im Augen-blick gerade so erscheinen. Weisen zwei Oberflächen dagegen ver-schiedene Farben auf, so dürften sie mit ziemlicher Sicherheit auch inihrer Materialität verschieden sein. Kommt es auf rasche und eindeu-tige Unterscheidung von Oberflächen an, so empfiehlt sich schon des-halb eine farbige Kennzeichnung, da in unserer natürlichen dreidi-mensionalen Umgebung erhebliche Helligkeitsunterschiede ohnehinständig berücksichtigt werden müssen. Auch Unterschiede im Sätti-gungsgrad sind, verglichen mit Farbunterschieden, wenig auffällig undunzuverlässig. In einer natürlichen Umgebung können zwei an sichidentische (unter gleichen Bedingungen gleich aussehende) Oberflä-chen sich ohne Weiteres in ihrer Sättigung unterscheiden, etwa weilmehr oder weniger eine trübe Luftschicht zwischen ihnen und demAuge liegt oder sie eher von Reflexlicht im Halbschatten beleuchtetwerden statt von direktem Licht. Da viele Oberflächen das reflektierteLicht nicht völlig gleichmäßig in jede Richtung abgeben, kommt esschon bei kleinen Änderungen des Betrachtungswinkels zu Unter-schieden in der Sättigung. Die menschliche Wahrnehmung ist ihnengegenüber recht tolerant. Außerdem nimmt bei geringen Lichtstärken,in der Dämmerung z. B., die Sättigung ab. Aus diesem Grund emp-fiehlt es sich nicht, bei einem Stromkabel die stromführende Fasergraublau, den erdenden Teil hingegen blaugrau zu gestalten, sondernman wählt sie tunlichst aus klar getrennten und robust zu unterschei-denden Farbkategorien.

Bei den Menschenaffen und auch beim Menschen handelt es sichum recht bewegliche Tiere, deren Vorfahren sich wahrscheinlich imGeäst von Bäumen an rasch wechselnde räumliche Situationen anpas-sen mussten. Die menschliche Farbwahrnehmung kann nicht ohneBerücksichtigung dieser Beweglichkeit behandelt werden, denn in

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einer natürlichen Wahrnehmungssituation stehen Augäpfel, Kopf,Rumpf und Körper selten still. Bei Unklarheit über das Gesehene hilftmanchmal bereits eine kleine Ortsveränderung. Mit ihrer Hilfe gewin-nen wir Sicherheit über Obenflächeneigenschaften wie Glanz oder beider Frage, ob es sich um einen Schatten oder wirklich einen Farbun-terschied handelt. Die Eigenbewegung erfolgt nun in enger Verbin-dung mit dem Tastsinn und nur in Bezug auf letzteren können wir,wie bereits Herder ausführte, Körper und räumliche Formen erfahren.Farben erhalten daher in der Regel erst im Zusammenspiel mit derRaumwahrnehmung und dem Tastsinn ihre eigentliche Bedeutung,weshalb die Farbwirkung nicht losgelöst von Stoffen, Erden, Substan-zen und deren materiellen Eigenschaften betrachtet werden sollte.

Auch die Sprache liefert uns wichtige Hinweise auf diesen engenZusammenhang zwischen konkreten Oberflächen und Farben. Deshalbgibt es Farbbezeichnungen, die nur zur Bestimmung von Käfern, Stei-nen, Weinsorten oder Pferden dienen. Sie tragen damit der TatsacheRechnung, dass für unsere Wahrnehmung die Verbindung von materi-eller Erscheinung und Farbton sehr eng ist. Die mehr oder wenigersystematischen Änderungen eines Farbeindrucks je nach Eigenbewe-gung geben uns also Hinweise auf die Materialität, das Mikroreliefeiner Oberfläche, ihre Texturen wie ›glänzend‹, ›matt‹, ›pelzig‹, ›fase-rig‹, ›schuppig‹, auf Farbauftragweisen und dergleichen. Opalisieren-de, irisierende oder auf Interferenz beruhende Farberscheinungen er-kennen wird in der Natur sofort, wenn wir den Blickwinkel auch nurganz leicht ändern – nicht aber in einer Abbildung. Deshalb müssenim Prinzip je nach Material und Farbauftrag verschiedene Farbatlan-ten angefertigt werden. Um die Farbe eines Goldfisches genau zu be-stimmen (was tatsächlich vorgekommen ist),2 brauchte man eigentlichFarbkarten, in denen die Oberfläche von Fischschuppen simuliert istund die unter Wasser mit den Fischleibern verglichen werden. Aberschon zur Bestimmung von Woll- und Seidenstoffen, diverser Putzar-ten oder Plastikfolien sind jeweils eigene Farbatlanten mit den ent-sprechenden Texturen nötig und in Gebrauch. Es gibt kein Farbsys-tem, das alle möglichen Sorten von Oberflächenfarben umfasst.

Farben als Substanzen werden jeweils nicht allein wegen ihres Farb-tons geschätzt, sondern auch wegen ihrer Transparenz, ihres Glanzes,ihrer Brillanz, wegen unmerklicher Beimengungen von glänzendenKristallen und ähnlichem. Künstler und Kunsthandwerker aller Zeitenhaben samtig matt schimmernde Oberflächen, den weichen, seidigenGlanz, die harzige Konsistenz von Lackfarbe, Lasurschichten, derenEindruck sich je nach Blickwinkel ändert und die deshalb lebendig

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erscheinen, herzustellen und zu verfeinern versucht. Ihre Aufmerk-samkeit widmeten sie der Veredlung ihrer Werkstoffe, dem Beizen,Wachsen, Polieren, Lasieren oder Firnissen, dem Punzieren, Riefelnund dergleichen. Manchmal wurden, nur um einen leichten perlmut-tartigen Schimmer zu erzielen, aufwendige Prozeduren entwickelt undkeine Kosten gescheut. Obwohl seit gut 2000 Jahren die Giftigkeitvon Bleiweiß bekannt ist, haben Künstler jedenfalls bis zur Entwick-lung von Titanweiß diesen Farbstoff anderen Weißpigmenten vorgezo-gen. Es kommt eben nicht nur auf die Remissionsanteile des Lichtesbei einer Farbe an, sondern auch auf das, was Maler ihren ›Körper‹nennen. In der Denkmalpflege erweist sich immer mehr, dass derFarbcharakter, wie er sich aus ihrer Konsistenz und Auftragsweise vonz. B. Kalkfarben ergibt, für die Wirkung entscheidender ist als die vomSpektrometer gemessene Übereinstimmung mit einem historischenFarbton, wenn letztere mit einer modernen, stumpfen Industriefarberealisiert wird, die völlig gleichmäßig appliziert wird.

Es hat sich gezeigt, dass die bevorzugte Farbwahl erheblich vomGegenstand abhängt: Was für Früchte, für Hautfarben, für Anzügeoder für Autos gilt, lässt sich nicht auf andere Produkte übertragen.Der unnachahmliche orangefarbene Firnis einer echten Stradivari wärein einem Bild von Matisse ebenso unauffällig wie das bei altem chine-sischem Porzellan geschätzte grünliche Celadon, was sich im Westenals Bezeichnung dieser Färbung durchgesetzt hat. (Sie geht auf dieRomanfigur eines schmachtenden Liebhabers zurück, dessen Lieb-lingsfarbe eben dieses modische chinesische Porzellangrün war.) Nichtnur, dass die Erwartungen an die typischen Farben der Materialien,aus denen die Produkte bestehen, eine Rolle spielen, es handelt sichimmer um Farben, die untrennbar mit taktilen Werten verbundensind. Die Beurteilung von Farben und Farbkombinationen ist daherausgesprochen kontextabhängig, zumeist nahsichtig und auf konkreteDinge bezogen. Was wir gerne anfassen, ob kühle, glatte oder war-me, grobkörnige Objekte, liegt nicht unwesentlich an unseren Erwar-tungen an den jeweiligen Gegenstandsbereich. Nebenbei bemerkt:Die unterschiedlichen Erinnerungen an Substanzen, die ein und der-selbe Farbton je nach individueller respektive kulturell vermittelterErfahrung auslöst, sind für seine emotionale Einschätzung von ent-scheidender Bedeutung. Der redlight district hat seinen Namen nichtvon ungefähr daher, dass ein menschliches Gesicht im schummerigenrötlichen Licht, das die Pupillen weitet, kleine Unregelmäßigkeitennicht erkennen und die Haut durchblutet erscheinen lässt, attraktiveraussieht.

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Insbesondere der Glanz kann als ein universell verbreitetes Merk-mal farbiger Oberflächen bezeichnet werden, dem wir große Bedeu-tung beilegen. Unsere Reaktion auf ihn dürfte zu einem gewissenGrad angeboren sein, vielleicht weil Glanz unter den Bedingungen derSavanne, dem wohl natürlichen Habitat der Menschen, auf Feuchtig-keit und Wasser schließen lässt. Nicht nur, dass er die Aufmerksam-keit auf sich zieht, er durchbricht die Dreidimensionalität und vermaguns zu entrücken. In so gut wie allen Religionen spielt das Licht dieRolle eines sichtbaren Zeichens oder einer Metapher für Transzen-denz. Es scheint, dass, indem sie das Sonnenlicht, das nicht direktangeblickt werden kann, zurückwerfen, glänzenden Materialien etwasHeiliges, Mächtiges zukommt. Deshalb gehört der weiche Glanz vonGold, das auch die Glanzlichter gelblich färbt, und gehören Metallewie Silber sowie Wasserflächen, Spiegelungen oder polierte Steine zuden gebräuchlichen Gestaltungsmitteln im sakralen Bereich. In unsererGegenwart lassen die verbreiteten Metallic-Autolacke ahnen, welchenKultwert wir diesen Fortbewegungsmitteln beimessen.

Als weithin verbreitetes Mittel, Transzendenzerfahrungen zu beför-dern, kann es allenfalls die Transparenz mit dem Glanz aufnehmen.Die biologisch nützliche Unterscheidung zwischen klarem und trübemWasser mag bei ihrer Wertschätzung beteiligt sein. Das Wort ›Durch-laucht‹ (eigentlich: ›Durchleuchtet‹) als Steigerung von ›Erlaucht‹ (=›Erleuchtet‹) unterstellt sozial hochstehenden Personen sogar einendiaphanen Körper. Die Lasuren, durchscheinenden Überzüge, die ar-beitsintensive Umwandlung opaker Pigmente in Farbstoffe oder Tink-turen, Stoffe, die, ›in der Wolle gefärbt‹, gewissermaßen immaterielleFarbwirkungen zeigen, sie spielen bei der Veredelung von Materialieneine entsprechend bedeutsame Rolle. Selbst künstlerische Technikenwie der Pointillismus, die eigentümlich unfassbare schwebende Farb-schleier erzeugen, gehören in den gleichen Zusammenhang.

Nun wäre die Schilderung der innigen Verbindung von Farbe mitSubstanzen unvollständig, würde man vergessen, darauf hinzuweisen,dass diese auch fehlen kann. Das Blau des Himmels beispielsweiseoder allgemein die Farben entfernter Objekte werden wahrgenom-men, ohne dass wir sie auf eine konkrete greifbare Substanz in unse-rem Handlungsraum beziehen oder beziehen können. Dem deutschenPsychologen David Katz folgend unterscheidet man verschiedeneErscheinungsweisen der Farbe, je nachdem, ob sie in Verbindung miteiner räumlich situierten konkreten Oberfläche erlebt wird oder nicht.Er nahm in diesem Sinn eine Trennung der ›Oberflächenfarbe‹ vonder ›Flächen‹- oder ›Filmfarbe‹ vor. Als Bezeichnung für letztere hat

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sich inzwischen die Bezeichnung ›Farbe im Öffnungsmodus‹ durchge-setzt. Blickt man nämlich durch eine kleine Öffnung wie etwa eineRolle zusammengedrehten Papiers, so sehen wir eine Farbe nichtmehr als Teil einer Gesamtszenerie, sondern flächig, senkrecht zuunserer Blickachse, in unbestimmter Entfernung und ohne Bezug aufdie Oberfläche, der sie anhaftet. Man kann sagen, dass wir dann Far-ben im Öffnungsmodus sehen, wenn ihre Verbindung zu Oberflächenmit ihren räumlichen Orientierungen in unserem Handlungsraumnicht möglich ist. Sie sind so etwas wie das default setting der Farb-wahrnehmung, d. h. entsprechen dem, was man in Ermangelung aus-reichender zusätzlicher Information sieht. Im Grunde ist damit dasBindungsproblem angesprochen, die Tatsache, dass wir nicht eineungeordnete Vielfalt unverbundener Wahrnehmungsinhalte erleben,sondern die verschiedenen Texturen, Farben, Bewegungen etc. einund demselben Objekt wie etwa einem Gesicht zuschreiben. Wiestellt das Gehirn die Verbindung zwischen einzelnen Modulen oderZentren her, die jeweils bestimmte Aspekte zu einem einheitlichenPerzept beisteuern? Dazu muss ein reger Austausch zwischen ihnenherrschen – man spricht vom cross talk –, es müssen aufsteigende undabsteigende Prozesse integriert werden etc. In einem späteren Kapitelwird ausführlicher auf die hier beteiligten Wahrnehmungsprozesseeingegangen. Unter anderem muss, wenn die Bindung der Farbwahr-nehmung an Objekte aufgehoben ist, die Kategorie der Helligkeitanders gefasst werden, da im Öffnungsmodus nicht mehr unterschie-den werden kann, ob beispielsweise ein schwach beleuchtetes Weißoder ein stark beleuchtetes Grau vorliegt. Hier sei nur erwähnt, dassauch die Film- oder Flächenfarben respektive Farben im Öffnungsmo-dus ihre Besonderheit, ihre Immaterialität etc. nur vor dem Hinter-grund ihrer Abweichung vom Normalfall erhalten, der Farben undSubstanzen innig aufeinander bezieht.

Anmerkungen:

1 Zit. nach Heinz Greuling, Die Physik des Lichts und die Metaphysik der Farbe, in:

Farbe & Gesundheit, Roland Aull (Hrsg.), München 2004, S. 14.

2 Vgl. Victoria Finlay, Colour. Travels Through the Paintbox, London 2002, S. 436.

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Farben als Empfindungen

Empfindungen und Farbempfindungen

Trotz der Selbstverständlichkeit, mit der wir im Alltag Farben auf kon-krete Materialien und ihre Oberflächen beziehen, sind Zweifel amPlatze, wie eng die Verbindung zwischen Substanzen und ihren Far-ben tatsächlich ist. Im Gegensatz zu der Sicherheit, mit der wir imAlltag Farben solchen Objekten, Substanzen und Oberflächen zu-schreiben, die außerhalb von uns vorhanden sind, steht die unabweis-bare Tatsache, dass jedes Mal, wenn ich eine Farbe sehe und mir be-wusst ist, dass ich sie sehe, nur ich allein mir sicher bin oder seinkann, dass ich an der und der Stelle meines Gesichtsfeldes eine Farb-empfindung habe. Mögen die anderen noch so sehr insistieren, dasses da gar keine Farbe zu sehen gibt oder diese ganz anders aussieht,als sie mir vorkommt, ich allein kann wissen, was ich empfinde undmir sicher sein, ob ich jetzt eben eine Farbempfindung habe.

Demnach sind Farben Empfindungen, d. h. Hervorbringungenunseres Gehirns. Nur die Person, die das jeweilige Gehirn besitzt,kann die spezifische subjektive Erfahrung machen, die manche ihrerGehirnaktivitäten begleiten und sich darüber Rechenschaft geben.Farbempfindungen gehören damit zur selben Gruppe von Erscheinun-gen wie Schmerzempfindungen, Tastempfindungen, Geruchsempfin-dungen, Temperaturempfindungen, Geschmacksempfindungen etc.und für sie gilt, was für alle Empfindungen gilt. Empfindungen sindprivat in dem Sinn, dass ich mit Sicherheit nur meine eigenen Emp-findungen habe, erlebe und über sie berichten kann, während ich dieEmpfindungen anderer Menschen höchstens indirekt und in Analo-gieschluss zu meiner privaten Empfindungswelt erschließe. (In der Tatgibt es keine Möglichkeit zu wissen, ob nicht das, was eine anderePerson Rot nennt, von ihr so empfunden wird wie das, was ich Grünnenne.) Ich kann mir zwar vorstellen, was andere empfinden, wennsie an einer Rose riechen oder ein Musikstück hören, aber ich kannihre Empfindungen nicht wirklich teilen. Selbst wenn ich mich nochso sehr in eine andere Person hineinversetze, ihre Empfindungen ge-hören ihr und nicht mir. Umgekehrt weiß ich, dass das, was ich emp-finde, wenn ich ein bestimmtes Rot sehe, für meine Mitmenschennicht direkt nachzuvollziehen ist. Natürlich gibt es Veranstaltungen,

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wie in ein Konzert zu gehen oder einen Film anzuschauen oder sicheinem religiösen Ritual zu unterziehen, wo meine Empfindungen unddie der anderen in gewissem Umfang synchronisiert und einanderangenähert werden, aber auch da bleibt, dass ich die Empfindungender anderen nur ›von außen‹ beurteilen kann, während mir meineeigenen unmittelbar zugänglich sind.

Das Gehirn wurde nicht für die Logik oder die Vernunft geschaffen,sondern als Organ, das zum Überleben dient. Die Überlebenschancenwerden anscheinend durch möglichst schnelle, wenn auch gelegent-lich falsche Entscheidungen vergrößert. Ein kleiner Vogel auf Nah-rungssuche kann nicht bei jedem einzelnen Ast untersuchen, ob essich nicht doch um eine essbare Raupe handelt, die sich als Ast tarnt.Unser Gehirn ist dazu programmiert, voreilige Schlüsse zu ziehen undals wahr zu akzeptieren, was offenbar für das Überleben vorteilhafterist als zu objektiveren Urteilen zu gelangen, wenn diese unverhältnis-mäßig viel Zeit erfordern. Es ist sogar so ausgelegt, dass es uns nurdas Vorteilhafte als wahr akzeptieren lässt. Jeder Wahrnehmungsaktist daher immer bewertend und immer eingebettet in die Vorge-schichte der Erfahrung, also ins Gedächtnis. Er bedeutet immer aucheinen virtuellen Handlungsakt: Tue dies oder unterlass dies! Nur wennein Sachverhalt für den Organismus in einem bestimmten Augenblickeine Bedeutung besitzt, kann er auf die Ebene des Bewusstseins ge-hoben werden. Der neuronale Bewertungsprozess findet daher vorherstatt, ist präbewusst. In ihn sind statistische Annahmen eingegangen,die sich zumindest für das Überleben unserer Vorfahren als vorteilhafterwiesen haben. Kategorien wie warm/kalt, rein/trüb, reif/unreif etc.dürften immer noch eine gewisse Rolle spielen. Der Fall eines Malers,der durch einen Verkehrsunfall cerebral farbenblind wurde und derberichtet, dass in der Folge ihm weder die farblose Nahrung noch dermausgraue nackte menschliche Körper attraktiv erschienen, zeigt, wiesehr die biologische Relevanz bei der Ausbildung von Farbkategorienbeteiligt ist und wie sehr sie emotionale Reaktionen beeinflusst.1

Farbwahrnehmungen sind uns in aller Regel bewusst, was im Übrigenauf eine evolutionär jüngere Fähigkeit unseres Gehirns verweist.

Zwar sind in der Zwischenzeit bildgebende Verfahren entwickeltworden, mit denen die Gehirnaktivität festgestellt werden kann,während die Versuchsperson bestimmte Wahrnehmungsreize verarbei-tet, und ein Außenstehender kann beispielsweise feststellen, ob etwadie Region hV4, die wahrscheinlich eine gewisse Rolle bei der Farb-wahrnehmung spielt, in diesem Augenblick bei ihr besonders aktiv ist,aber auch dann kann niemand sicher sein, ob überhaupt bzw. wenn

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ja, was die Versuchsperson wirklich empfindet. Das bislang ungelösteProblem des Bewusstseins spielt hier hinein, denn eine messbare Ak-tivität in einer Gehirnregion heißt noch nicht, dass die betreffendePerson sich der damit verbundenen Aktivitäten bewusst ist bzw. sie inEmpfindungen umsetzt. Die philosophische Unterscheidung von Per-zeption und Apperzeption sucht diesen Unterschied zu fassen. MeineEmpfindungen sind mir aber stets bewusst, denn ich habe sie nurdann, wenn ich gleichzeitig weiß, dass ich sie habe. Aber selbst wennwir uns vorstellen, dass es bei einer Weiterentwicklung der Gehirnfor-schung und der erwähnten bildgebenden Verfahren eines Tages mög-lich sein wird zu entscheiden, ob einem bestimmten Erregungsmusterim Gehirn immer Bewusstseinsprozesse entsprechen, d. h., ob manimstande ist, sie von außen zu registrieren, bleibt, dass wir zu denEmpfindungen anderer Leute keinen direkten Zugang haben. Wir hät-ten allenfalls eine notwendige Bedingung erkannt, wüssten aber we-der, wie Bewusstseinsprozesse entstehen, noch was die anderen wirk-lich empfinden.

Farbempfindungen und Außenwelt

Es ist hilfreich, sich die kategorielle Zugehörigkeit von Farbempfin-dungen zu den Empfindungen allgemein klar zu machen, denn vieleProbleme, an denen sich bedeutende Denker abgemüht haben, lassensich so leichter verstehen. Schon in Platons Timaios wird die Frageaufgeworfen, welcher Realitätscharakter den Farbempfindungen zu-kommt, eine Frage, die inzwischen zu einer eigenen seltsamen Formvon Scholastik geführt hat und von Philosophen und Wissenschaftlernnoch heute recht kontrovers beantworten wird, ohne dass dies in derPraxis einen sonderlichen Unterschied ausmacht. Demnach geht esdarum, ob unseren Empfindungen etwas Konkretes, Vorhandenes,Messbares in der physikalischen Welt entspricht oder ob es sich umrein geistige Konstrukte, Illusionen oder Einbildungen handelt. Wasunsere Farbempfindungen betrifft, wird letzteres ja durchaus behaup-tet. Nehmen wir zum Vergleich die Schmerzempfindungen, wo nie-mand auf die Idee kommt, ihnen würde ein klarer, physikalisch mes-sbarer Sachverhalt zugrunde liegen. Wohl im Tegmentum, alsoirgendwo im Gehirn, wird da eine Schmerzempfindung gebildet, wo-bei über die Nerven Informationen aus allen Teilen des Körpers her-angezogen werden. Wir empfinden diesen Schmerz aber nicht als imGehirn angesiedelt, wo im Übrigen auch keine Schmerzrezeptoren

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vorhanden sind, sondern differenzieren sehr wohl nach Rückenschmer-zen, Zahnweh oder einem schmerzenden Schienbein. Selbst wenn derSchmerz als schwer lokalisierbar erlebt wird, dann doch als diffus inBezug zu unserem Körper. Offenbar gibt es im Gehirn unter anderemauch eine Repräsentation des Körpers und die Schmerzempfindungenwerden auf die entsprechenden Teile dieser Körperrepräsentation be-zogen. Dies erklärt zumindest, wieso es zu Phantomschmerzen kom-men kann (Schmerzen in Gliedern, die gar nicht mehr vorhandensind), und auch, wieso wir an manchen Körperstellen schmerzunemp-findlich werden, wenn die Nervenleitung zum Gehirn unterbrochenist. Die Schmerzempfindung wird nicht an der schmerzenden Stelleerzeugt, sondern im Gehirn. Wenn ein bestimmter Teil des Tegmen-tums, das periaquäduktale Grau, aktiviert ist, sind fast alle Schmerz-empfindungen verschwunden. Es gehört demnach zum Wesen derSchmerzempfindungen, dass es sich zwar um Produkte einer Gehir-naktivität handelt, sie aber als in bestimmten Körperregionen lokali-siert empfunden werden.

Ähnlich ist es, wenn wir unsere Farbempfindungen konkreten Ob-jekten, Oberflächen oder wenigstens Richtungen im Raum zuordnen.Wir verfügen im Gehirn über mindestens eine Repräsentation desRaumes, in dem wir uns befinden, wo wir Objekte unterscheiden, dieräumlich geordnet sind, und beispielsweise die Flasche auf dem Tischvom Schatten, den sie wirft, mühelos unterscheiden. Dieser Reprä-sentation (oder: diesen Repräsentationen) des Raums in unseremGehirn werden die Farben zugeordnet, nicht irgendwelchen Entitätenin der physikalischen Welt, und es gehört zum Wesen der Farbemp-findungen, dass wir dies ganz selbstverständlich und automatisch tun,auch wenn wir zu einem gewissen Grad davon abstrahieren können.Wären die Farbempfindungen völlig unabhängig von der Raumwahr-nehmung mit den Objekten in ihm, unabhängig von ihrer wahrge-nommenen Größe, Form, räumlichen Gruppierung etc., so würden sieuns wenig nützen. Daraus ergibt sich, dass die Farbempfindungennicht unabhängig von der Repräsentation (oder: den Repräsentatio-nen) des Raums im Gehirn und den darin unterschiedenen Objektensind. Da mindestens noch der Tastsinn und die durch Eigenbewegun-gen des Körpers gelieferten Informationen in die mentalen Repräsen-tationen des Raumes mit eingehen, werden unsere Farbempfindungenwohl auch von ihnen modifiziert.

Die Psychologie (diese Wissenschaft sollte nicht mit den Berufendes Psychiaters oder Psychoanalytikers verwechselt werden) des 19.Jahrhunderts stellte sich die Wahrnehmung in etwa so vor wie das

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Ablesen eines Messinstruments. Da gibt es einen physikalisch be-stimmbaren Reiz, etwa eine Luftschwingung einer bestimmten Fre-quenz mit einer gewissen in Dezibel messbaren Energie, und demkorrespondiert eine Empfindung wie z. B. der Ton a bei Zimmer-lautstärke. Nach dieser Sicht sollten die Empfindungen uns Auskunftgeben über die Außenwelt. Sie liefern die Informationen, aus denen›das Ich‹, d. h. irgendeine Instanz im Gehirn, dann ein mehr oderweniger zutreffendes Bild der Wirklichkeit gewinnt. In diesem Sinnesagt ›uns‹ das Vorliegen von Geschmacksempfindungen wie sauer, bit-ter, salzig oder süß etwas über die chemische Zusammensetzungunserer Nahrung, empfinden ›wir‹ Kälte, so erfahren wir etwas überdie Temperatur unserer Umgebung und so weiter. Nach diesemModell, das demnach eine Art Gespenst in einer Maschine voraus-setzt, vermittelt ›uns‹ (dem Geist oder dem Ich) eine Farbempfindungwie z. B. rot, dass da ein physikalisch bestimmbarer Reiz vorliegenmuss, dessen Vorhandensein die entsprechende Empfindung auf ihreWeise registriert.

Dass dieses Modell nicht zutreffend sein kann, ergibt sich jedochschon aus der Tatsache, dass eine Instanz im Gehirn (ein ›Homunku-lus‹), welche die Sinnesdaten abliest, sie interpretiert und aus ihnenHandlungsanweisungen bezieht, um dies zu leisten wieder Sinnesor-gane brauchte, die eine weitere Instanz zu interpretieren hätte und soweiter ad infinitum. Unsere Sinnesempfindungen liefern keine Mes-sdaten, sondern sind bereits Resultat einer Interpretation des Gehirns.Sie bieten in einem eine Auswahl aus den Reizen, eine Bewertungund eine Handlungsanweisung. Wichtiger noch ist die Tatsache, dassder Zustand unseres Körpers die Art und Stärke einer Empfindungbeeinflusst. Empfindungen sind immer ein Produkt von äußerem Reizund seiner Bewertung aufgrund der momentanen Situation des Orga-nismus. Im Grenzfall bedürfen wir gar keines äußeren Reizes, um den-noch Empfindungen hervorzubringen. Prozesse wie Habituation aneinen Reiz, Assimilation und Adaption gehen ebenso wie der Kontext,in dem sich unser Körper befindet, in die Reaktion ein. Gleicherma-ßen beeinflusst das Vorliegen anderer, vielleicht für neuartiger oderwichtiger erachteter Reize die Wahrnehmung. Die in jeder Wahrneh-mung enthaltenen Bewertungen, die Aufmerksamkeit, die man einemReiz widmet, Schockzustände, sie alle lassen das eindimensionaleModell einer automatisch ablaufenden Stimulus-Response-Reaktionals unzureichend erscheinen. In Empfindungen ist der Zustand desKörpers, der empfindet, und sind seine Interessen bereits mit einge-flossen. Bei den Schmerzempfindungen wird besonders deutlich, dass

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sie uns mehr über den Zustand des eigenen Körpers informieren alsüber die Außenwelt, obgleich sie durchaus auch relevante Informatio-nen über letztere geben. Sie liefern aber nicht nur Erkenntnisse überdie Härte der Tischkante oder die Temperatur der Herdplatte, son-dern vor allem Wertungen und Handlungsanweisungen: »unterlasse inZukunft solche Handlungen, die dir Schmerzen bereitet haben«,»schone im Augenblick deinen Rücken« etc. Es handelt sich bei ih-nen, auch wenn sie als Messinstrumente wenig taugen, keineswegsum eine Art Selbstbelustigung unseres Gehirns, sondern um ein fürdas Überleben des Individuums wie der Art eminent wichtiges Sys-tem. Menschen, die aufgrund einer genetischen Erkrankung schmerz-unempfindlich sind, haben nur eine geringe Lebenserwartung.

Eine ähnliche Beziehung zum Zustand des empfindenden Organis-mus gilt auch für andere Empfindungen. Das Vergnügen, das sie be-reiten, rührt in erster Linie von den als positiv bewerteten Reizen her.Was der Organismus als nützlich einstuft, wird als lustvoll belohnt,was als schädlich, mit Unlustgefühlen oder Schmerzen bestraft. Ineiner Umgebung, in der Nahrungsmittel knapp sind, rät die Empfin-dung ›bitter‹ gleichwohl dazu, das Ganze besser auszuspucken, wäh-rend die Empfindung ›süß‹ uns dazu verleitet, so viel wie möglichdavon zu konsumieren. Dennoch informieren uns die vier Geschmacks-empfindungen süß, salzig, sauer und bitter über die chemischenEigenschaften der in den Mund gelangten Stoffe nur höchst selektivund nicht einmal zuverlässig: Es gibt Süßstoffe, die nicht nähren, undnahrhafte Substanzen, die nicht süß schmecken. Ähnlich ist es beimGeruch, wo wir zerfallende Eiweißstoffe, die uns vergiften könnten,als penetrant stinkend empfinden und den Geruch frischer Blüten alsfrisch und angenehm. Viele giftige Gase dagegen kommen uns völliggeruchlos vor. Wer zweifelt, ob den Farben etwas Objektives in derWelt entspricht, muss sich das Gleiche auch bei den anderen Emp-findungen fragen. Die Glucose-Moleküle sind nicht ›an sich‹ süß, auchnicht ihr chemisches Verhalten, sondern sie schmecken süß, wenn sievon unserem Organismus in der rechten Weise aufgenommen wer-den. Wir essen sie nicht, weil sie süß schmecken, sondern wir habenumgekehrt evolutionär die Empfindung ›süß‹ entwickelt, weil dieseMoleküle sich als Energielieferant bewährt haben. Empfindungen stel-len daher so etwa dar wie die individuell und stammesgeschichtlicherworbenen Reaktionen auf bestimmte Reizsituationen, die nachMaßgabe des jeweiligen Körperzustands bewertet werden. Sie erfül-len eine biofunktionale Aufgabe. Wer hungrig ist, nimmt anders undanderes wahr als jemand, der satt ist. Auch die Farben haben durch-

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aus Teil an diesem Belohnungs- und Bestrafungssystem, wobei nochzu sagen ist, dass selbst negative Empfindungen noch eher zu ertra-gen sind als ein längeres Ausbleiben von Empfindungen insgesamt.Zur Beziehung von Farben zu den Bewertungen des Körpers wird spä-ter mehr zu sagen sein.

Nicht alle Reize, die der Körper aufnimmt und auf die er reagiert,gelangen ins Bewusstsein. In vieler Hinsicht reagiert der Körper wieein Automat, beispielsweise bei der Regulierung der Körpertempera-tur, die in der Regel ebenso zuverlässig und ohne Beteiligung vonBewusstseinsprozessen abläuft wie bei einem Thermostaten. Bei denPheromonen z. B. handelt es sich um Duftstoffe, die unser Verhaltenbeeinflussen, ohne dass uns jedoch bewusst wird, dass eine Beein-flussung vorliegt. Mit dem Bewusstwerden von Empfindungen scheinteine gewisse Verzögerung einherzugehen, die es auch erlaubt, die mitihnen gegebene Handlungsanweisung aufzuschieben oder zu missach-ten. Dies gilt für das Gewahrwerden von farbigen Objekten in beson-derem Maße. Wenn in Empfindungen Bewertungen und Handlungs-anweisungen enthalten sind, heißt dies, da sie ja ins Bewusstseingelangen, gerade nicht, dass wir ihnen unbedingt Folge leisten müs-sen. Ich kann, wenn es denn sein muss, für den Augenblick vielleichtmeine Schmerzen unterdrücken oder, auch wenn die Kirschen dortam Baum einladend reif und saftig aussehen, sie im Wissen, dass essich um Tollkirschen handelt oder sie jemand anderem gehören, dorthängen lassen.

Wie zuverlässig sind Empfindungen? Wir wissen alle, dass denEmpfindungen nicht immer und unbedingt zu trauen ist. Andererseitskönnen, wie gezeigt, uns sogar Schmerzempfindungen etwas über dieAußenwelt, z. B. über die Härte eines Objekts, an dem wir uns ge-stoßen haben, mitteilen, auch wenn sie uns vorwiegend über denZustand unseres Körpers informieren und beispielsweise die Hand-lungsempfehlung geben, unser Schienbein im Augenblick besser zuschonen. Man kann Phantomschmerzen empfinden, ohne wirklichkrank zu sein, kann umgekehrt schwer erkrankt sein, ohne Schmerzenzu empfinden. Dass die Farbempfindung ›rot‹ die Aufmerksamkeit aufsich zieht, vermag angesichts der Gefahr, die heutzutage vielleichteher von radioaktiver Strahlung ausgeht, nicht mehr so überlebensre-levant sein. Wenn wir Blau als kühl und Gelborange als warm emp-finden, so steht dies im diametralen Gegensatz zur Energiehaltigkeitder jeweiligen Photonen.

Gerade beim letzten Beispiel erweist sich, dass Empfindungen eherevolutionär erworbene Wahrscheinlichkeitsannahmen widerspiegeln,

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als dass sie physikalische Fakten registrieren würden. Wie jeder Phy-sikstudent im ersten Semester lernt, entsteht das Himmelblau durchBeugung an relativ kleinen Molekülen der Atmosphäre, was die kurz-welligen Anteile stärker betrifft als die langwelligen. (Haben die Mo-leküle dagegen eine gewisse Größe wie bei Wasserdampf, so reflektie-ren sie Licht im gesamten Bereich des Spektrums, weshalb Wolkenweißlich erscheinen.) Das direkte Sonnenlicht, dem durch die genann-te Beugung kurzwellige Anteile entzogen wurden, sieht aus diesemGrund eher gelblich aus. Es ist weiterhin anisotrop (stark gerichtet) imGegensatz zum wegen der Rayleigh-Streuung mehr oder weniger iso-tropen (gleichförmig in jeder Richtung) Licht, das vom restlichen Him-mel ausgeht. Die stammesgeschichtlich erworbene Erfahrung, dassdas direkte wärmende Sonnenlicht eher gelblich aussieht, währenddie nur indirekt vom blauen Himmel beleuchteten kühlen Schattenbe-reiche eher bläulich wirken, dürfte für diesen ihren emotional erleb-ten Charakter der warmen und kalten Farben verantwortlich sein. Diegewisse Aufmerksamkeit, Spannung und Alarmierung, ja freudige Er-wartung, die stark gesättigte und aus ihrer Umgebung herausstechen-de Farben hervorrufen, wobei insbesondere Rot zu nennen ist, kannzwanglos aus den mutmaßlichen stammesgeschichtlichen Erfahrungenin einer natürlichen Umwelt abgeleitet werden. Merkwürdigerweisesind, was die beteiligten Gehirnprozesse betrifft, Angst und Lust engverwandt, was die ambivalente Wirkung von Farben vielleicht besserzu verstehen hilft. Ähnliche Bewertungen nimmt die Wahrnehmungbereits vor, wenn glänzende Stellen mehr Aufmerksamkeit auf sichziehen als matte oder helle Stellen mehr als die dunklen. Reine, ge-sättigte Farben fallen mehr auf als gedeckte, Rotes mehr als Grünesetc. Ebenso interessieren nahe, greifbare Objekte stärker als Schatten;Löcher, Hintergründe oder sonst wie entfernte Entitäten und bewegteObjekte beschäftigen uns mehr als unbewegte. Das meiste davon giltbereits für Säuglinge und dürfte auf angeborenen Verarbeitungsme-chanismen des Gehirns beruhen. Schatten hängen von unserer Positi-on im Raum ab und bilden, wenn es um das Herausfiltern von Invari-anzen geht, nicht die höchste erreichbare Stufe. Empfindungenregistrieren nicht physikalische Gegebenheiten, sondern stellen eineArt eigenes psychobiologisches Urteil über Wahrscheinlichkeit undRelevanz der jeweiligen Reize dar.

Gerade aus den Farben allerdings sind direkte Handlungsanweisun-gen nur selten zu gewinnen. Sie spielen eine eher diagnostische Rolle,sie lenken, je mehr sie aus der Umgebung herausstechen, den Blickauf sich, erregen Aufmerksamkeit, aber sie lassen auch Spielraum für

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die Reflexion. Wie Maurice Merleau-Ponty es ausdrückt, tritt dieQualität einer Sinnesempfindung erst dann so recht hervor, wenn ich,anstatt sie zu leben, Zweifel hege und mich bemühe, sie zu fassenund zu beschreiben.2 Manche Beeren sind trotz ihrer einladendenFarbe giftig, was gelernt werden sollte. Rote Fliegenpilze dürfen nichtzwanghaft verzehrt werden. Unser Instinktverhalten kann durch dieErfahrung, dass grüne Granny-Smith Äpfel schmackhaft, dass Pflau-men und Heidelbeeren mit ihrer ins Bläuliche reichenden Farbigkeitdennoch delikat und verträglich sind, suspendiert werden, wenn auchder Genuss von seppie alla Veneziana (Tintenfisch in eigener Sauce)eine gewisse Eingewöhnungszeit erfordert und Bier in blauen Dosen,wie die Firma Aral feststellen musste, geradezu unverkäuflich ist. Spe-ziell der Geruch kann durch die Farbe der wahrgenommenen Substanzstark beeinflusst werden, wie durch Experimente nachgewiesen wur-de. Der Effekt ist so stark, dass die Versuchspersonen selbst nachDemonstration der Versuchsbedingungen nicht glauben wollten, dasszwei farblich verschiedene Substanzen identisch im Geruch waren.3

Erworbene Assoziationen und Konditionierungen, die jedoch mehrden Erfahrungen mit bestimmten Substanzen als den eigentlichen Far-ben gelten, beeinflussen unsere Zu- und Abneigungen. Denke ich beieiner bestimmten Farbkombination automatisch an Erbsen und Karot-ten, so löst dies bestimmte, emotional gefärbte Erinnerungen aus undich kann die genannte Farbzusammenstellung jedenfalls nicht mehrals vornehm oder extravagant empfinden. Ob die bei Farben gegebe-ne Lockerung der Bindung an das Instinktverhalten damit zusammen-hängt, dass bei der Entstehung des trichromatischen Sehens die bio-logische Umwelt unserer Vorfahren ja bereits farbige Signale enthielt,die für andere Spezies Bedeutung hatten, nicht aber für sie, mageinen Teil der Erklärung liefern. Die gewiss auffälligen bunten und gutriechenden Blüten z. B. sind als die sexuellen Reize der Pflanzen füruns Menschen (wenn auch nicht für die Bienen) biologisch ziemlichuninteressant, wenn man nicht annimmt, dass sie allgemein einfruchtbares Land, »in dem Milch und Honig fließen«, also ein unsererGattung gemäßes Habitat, indizieren. Dennoch nutzen wir sie ähnlichwie die bunten Federn der Vögel speziesübergreifend zum Schmuck,bei der Werbung und auch in Bestattungsritualen. Allerdings weisenPflanzen, die stark riechen, in der Regel keine ausgeprägte Farbigkeitauf und umgekehrt. Im Vergleich zum Sehen wirkt der Geruchssinnunmittelbarer auf unsere Handlungen ein.

Kant hielt die Welt an sich für unerkennbar. Wir können sie nurnach Maßgabe der Kategorien unseres Erkenntnisapparats nach Raum

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und Zeit und Kausalität beschreiben. Er gab damit den Anstoß zurEntfaltung der philosophischen Richtung des deutschen Idealismus,einer Epoche, die immer noch als ein Höhepunkt der Philosophiege-schichte gilt, obwohl sie natürlich inzwischen von anderen Strömun-gen abgelöst wurde. Wegen der Resultate der Gehirnforschungjedoch kehrt dieser Idealismus nun gewissermaßen im naturwissen-schaftlichen Gewand wieder: Wir haben nur unser Gehirn und kön-nen mit ihm nur jene Gedanken denken und nur jene Gehirnzuständeerfahren, die eben seine Bauart zulässt. Zwar werden mit den neuenwissenschaftlichen Erkenntnissen die von Kant postulierten Kategori-en modifiziert und anders verstanden, aber das Prinzip, dass wir nurnach Maßgabe unseres Gehirns die Welt verstehen können, bleibt dasGleiche, ebenso wie die Problematik, ob überhaupt und wenn, dannwie wir zu einer Erkenntnis der Außenwelt fähig sind. Letztlich mussdie Kenntnis der Außenwelt nach Maßgabe dessen, was das Gehirnkann, beschränkt bleiben. Andererseits bedarf das Gehirn zu seinerEntwicklung einer Außenwelt, auf die es reagieren kann.

Heißt das, dass es sich bei Farbempfindungen lediglich um Ideenhandelt, dass wir jeden Versuch aufgeben sollten, über sie etwas überdie Welt an sich zu erfahren? Wir sind inzwischen an ›Fehlfarbendar-stellungen‹ gewöhnt, also Darstellungen, wo bestimmten Parameternwie etwa der Temperatur bei Wetterkarten willkürlich Farben zuge-wiesen werden, aber man muss sich klar machen, dass auch die nor-male Farbwahrnehmung, ja jede bewusste Wahrnehmung eine Art›Fehlfarbendarstellung‹, also eine Konstruktion des Gehirns ist. Wirleben in einer virtuellen Welt. Für uns Menschen sind Farbempfin-dungen ein auffälliger Teil unserer visuellen Wahrnehmung, währendwir uns die Wahrnehmungswelt eines Hundes, die von Geruchsemp-findungen dominiert wird, kaum vorstellen können, um von denEmpfindungen einer Fledermaus, die sich bekanntlich über ultrakurzeSchallsignale nach dem Prinzip des Echolots orientiert, ganz zuschweigen.

Die Farbempfindungen beziehen sich nicht direkt auf die Außen-welt, sondern auf andere mentale Konstrukte des gleichen Gehirns,den Raumvorstellungen z. B. Das Gehirn selber produziert also An-nahmen über die Außenwelt. Auch wenn diese Raumkonstruktioneneher der Vorbereitung von Handlungen dienen, die der Situationangemessen sind, als dass sie zur Erkenntnis des Raums an sich füh-ren, so dienen Farbempfindungen doch der Differenzierung, Gliede-rung und Bewertung der Objekte in diesem geistigen Konstrukt.Damit ist die Frage nach dem Realitätscharakter der Farbempfindun-

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gen eigentlich beantwortet. Sie sind höchstens graduell, nicht prinzi-piell von unseren anderen Realitätskonstruktionen verschieden.

Wer, wie der Autor, der Ansicht der Internalisten zustimmt, dassdie gesamte visuelle Erfahrung der Welt auf interne Repräsentationendes Gehirns zurückführbar ist und dass weder kausale noch Ähnlich-keitsbeziehungen dieser Repräsentationen zu einer vom Gehirn unab-hängigen Außenwelt bestehen müssen, wird ungeachtet dessen Fol-gendes anerkennen: Unser gleiches Gehirn erlaubt es, sich gegenüberden eigenen Empfindungen (und auf einer zweiten Stufe: Konstruktio-nen) kritisch und theoretisch zu verhalten, ja sogar Physik zu betrei-ben. So vertrat kein geringerer als Albert Einstein die Ansicht, dassalle Wissenschaft nur eine Verfeinerung des Denkens im Alltag sei.Den Ausgangspunkt bildet eine Kontrolle der einzelnen Empfindun-gen aneinander. Bei der Auge-Hand-Koordination ist dies inzwischensogar gut erforscht. Wir sind imstande, die verschiedenen internenRepräsentationen, die wir haben, miteinander zu vergleichen und zusehen, welche kausalen oder sonstigen Beziehungen zwischen ihnenauf einer theoretischen Ebene feststellbar sind. Es gibt also manch-mal, wenn die erforderliche Zeit vorhanden ist und die Notwendigkeitdazu verspürt wird, eine Art paralleler Konsistenzprüfung, wo ver-schiedene Gehirnrepräsentationen miteinander und mit bisherigenErfahrungen verglichen werden können. Gerade für die Kategorie desRaumes nutzen wir alle verfügbare Information, solche des Tastsinns,der Wahrnehmung von Eigenbewegung, der Bewegungswahrnehmung,des visuellen Systems mit all seinen Hinweisen wie der Überschnei-dung, Parallaxe, der binokularen Disparität etc. Der Versuch derWahrnehmung, etwaige Widersprüche dieser diversen Informationenaufzulösen, dürfte sogar den Ausgangspunkt unserer theoretischenFähigkeiten bilden. Das Gehirn kann demnach eine dritte Ebene vonWirklichkeitskonstruktion vollziehen und sogar von den Resultatender eigenen Konstruktion felsenfest überzeugt sein, z. B., dass esnicht die Sonne ist, die aufgeht, sondern dass es die Erde ist, die sichdreht.

Im genannten Sinne hielt Achim von Arnim die ganze Physik ihremWesen nach für die Übertragung einer Sinnesempfindung in eineandere: »Alle Physik läuft darauf hinaus einen Sinn durch den andernzu construiren durch sich selber kann und soll keiner.«4 Anstatt Tem-peraturempfindungen lediglich zu fühlen, beurteilen wir die Längeeiner Quecksilbersäule, anstatt uns auf unsere Schwereempfindungenzu verlassen, beurteilen wir wieder auf visuellem Weg den Ausschlageiner Waage etc. Dies ist das Prinzip der Maßstäbe, Zirkel und sonsti-

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gen Messinstrumente. Wir müssen also gar nicht zu unbeweisbarenerkenntnistheoretischen Annahmen greifen über die Realität, wie siesich jenseits unserer Gehirne verhält, um psychophysische oder bio-funktionale Zusammenhänge zu erkennen.

Woran könnten wir unsere Farbempfindungen überprüfen? Goethehielt dies für überflüssig, wenn nicht irregeleitet. Für ihn ist das Augeselbst das beste Messinstrument: »Der Mensch an sich selbst, insoferner sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genauestephysicalische Apparat, den es geben kann.«5 Angeboren ist aber nichtgleichbedeutend mit wahr. Widersprüche wie den zwischen subjektivempfundener Temperatur und intersubjektiv überprüfbaren Messre-sultaten lösen wir in der Regel nach dem Muster: »Du hast Recht, ansich ist es hier laut Thermometer nur 20 Grad warm, aber mir ist imAugenblick trotzdem zu heiß. Ich muss an die frische Luft.« Bei derFarbe jedoch sagen wir nicht: »Du hast Recht, an sich handelt es sichlaut Spektrograf bei dieser Farbe um ein Rot, aber mir erscheint sieim Augenblick gelb.« Wenn sie mir im Augenblick gelb vorkommt, sogehe ich davon aus, dass sie auch anderen Menschen an meiner Stel-le gelb erscheint und wenn sie allen anderen Menschen gelb erscheint,so hat eben der Spektrograf den entscheidenden Mangel, nicht unse-rem Sehen zu entsprechen. Vor allem sind es intersubjektive Differen-zen, die als Fehler und Widersprüche der Wahrnehmung bemerkbarwerden und so den Anstoß zur Ausbildung von Zollstöcken, Waagenoder Thermometern gegeben haben; sie treten bei den Farben kaumauf, da diese mit anderen Empfindungen nur höchst indirekt ver-gleichbar sind. (Die auf Galilei und Locke zurückgehende Unterschei-dung zwischen primären und sekundären Qualitäten, wonach Farbezu den sekundären Qualitäten zu rechen ist, spielt hier hinein. JohnLocke definierte die primären Eigenschaften als solche, die vom Kör-per untrennbar sind, nämlich Solidität, Ausdehnung, Gestalt, Bewe-gung oder Ruhe und Zahl. Alle übrigen wie Farben, Töne, Geschmacketc. waren für ihn sekundäre Eigenschaften. Seiner Meinung nachfinden sich die primären Eigenschaften wirklich in den Körpern, wäh-rend die sekundären nur im Wahrnehmenden existieren. Ohne Augengäbe es keine Farben, ohne Ohren keine Töne und so weiter. LockesAnsicht wird anscheinend dadurch bestätigt, dass Farben unterschied-lich erscheinen können, wandelbar sind, es Farbenblinde gibt und soweiter. Allerdings wies Bischof Berkeley darauf hin, dass sich die glei-chen Argumente auch auf die primären Eigenschaften anwenden las-sen, weshalb seitdem die Locke’sche Unterscheidung als überholt gilt.Dennoch beherrschte sie die Praxis der Physiker und das Alltagsden-

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ken bis heute. Wenn zwischen physikalisch messbaren Sachverhaltenund unseren Empfindungen kein linearer Zusammenhang besteht, soist das für uns nur selten relevant. Farben können nur gesehen, abernicht gehört, gefühlt oder gerochen werden. Die Farbinformationkann mit der Information durch andere Sinnesempfindungen kaum inWiderspruch geraten. Höchstens im Verhältnis zur Raumwahrneh-mung treten gelegentlich Konflikte auf. Allerdings beruht inzwischenunser physikalisches Wissen über das Weltall in erheblichem Maßeauf der Farbwahrnehmung bzw. auf von ihr abgeleiteten Messungen.Nicht nur erlauben es die Fraunhofer’schen Linien in den Spektren,die Zusammensetzung entfernter Sterne zu analysieren, und gibt dienach dem Doppler-Effekt zu verstehende Rotverschiebung ein Maßfür die Geschwindigkeit, mit der sie sich von der Erde entfernen,inzwischen können wir an winzigen periodischen Schwankungen die-ser Rotverschiebung sogar erkennen, ob manche Sterne von größerenPlaneten umkreist werden.

Goethe hat insofern Recht, als für die meisten praktischen Zweckeder Bestimmung einer Farbe der Bezug auf allenfalls Farbmuster und-atlanten genügt, wobei wir beim Vergleichen immer noch unsereneigenen Augen trauen. Es gibt natürlich auch Geräte wie Spektrofoto-meter sowie physikalische Definitionen der Leuchtdichte etc., die mitentsprechenden Vorrichtungen gemessen werden kann. Im Allgemei-nen besteht aber kein Bedürfnis nach einem solchen Messinstrument.Wir haben den merkwürdigen Fall, dass wir der Genauigkeit unsererFarbempfindungen mehr trauen als einem Apparat. Inzwischen aberbenutzen wir – pace Goethe – z. B. bei der exakten Einstellung vonKameras, Farbkopierern, Druckmaschinen oder bei der elektronischenBildbearbeitung in wachsendem Umfang doch Geräte häufiger als dieAugen. Allerdings muss ein Resultat, das sich an das Auge wendet,letztlich doch von uns Betrachtern mit unserer biologischen Ausstat-tung beurteilt werden.

Unser Gehirn gestattet es auch, sich selbst als Produkt der Evoluti-on zu sehen, in das gattungsgeschichtlich wie auch individuell erwor-benes erfolgreiches Verhalten eingegangen ist. Der Geist kann, wieder späte Schelling dachte, sich selber als ein Naturprodukt sehen,kann annehmen, dass seine eigene Wahrnehmung im Wesentlichenzutreffend sein muss, da er sonst nicht hier wäre, kann sogar, wieGoethe, davon ausgehen, dass unsere mentalen Konstruktionen unddie Außenwelt sich in einer Art von prästabilisierter Harmonie befin-den. Je nach erkenntnistheoretischer Position mag also, wer will, dasVerhältnis von Empfindungen zur physikalischen Welt als ein intrapsy-

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chisches Problem ansehen oder einen relationalen Funktionalismusvertreten. Das Verhältnis zu den physikalischen Gewissheiten bleibt,gerade wenn man es ins Gehirn selbst verlagert, auf ein intelligentesRaten reduziert, wobei evolutionär über trial and error erworbeneRegeln eine Rolle spielen. Dies entspricht auch der heute gängigenAuffassung von Wissenschaftstheoretikern.

Anmerkungen:

1 Vgl. Oliver Sacks, Eine Anthropologin auf dem Mars, Reinbek bei Hamburg 1995.

2 Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1962,

S. 227.

3 Vgl. Brian J. Koza, Anna Cilmi, Melissa Dolese und Debra A. Zellner, Color

Enhances Orthonasal Olfactory Intensity and Reduces Retronasal Olfactory Intensi-

ty, in: Chemical Senses 2005, Bd. 30(8) S. 643–649.

4 Achim von Arnim, Aphorismen zur Theorie des Lichts, gsa 95/U5 Mss 213/5,

Goethe-Schiller Archiv Weimar, Aphorismus 15, zitiert nach: Frederick Burwick,

The Damnation of Newton, Berlin 1986, S. 141.

5 Zitiert nach Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit – Goethes Farbenlehre aus rezep-

tionsgeschichtlicher Sicht, Heidelberg 1990, S. 202.

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Physik und Farbe

Das Verhältnis von physikalischem Reiz und

Empfindung

»Die Farben selbst, ihre Verhältnisse zu einander und die Gesetzmä-ßigkeit ihrer Erscheinung, dies Alles liegt im Auge selbst, und ist nureine besondere Modifikation seiner Thätigkeit …«1 Schopenhauer,von dem diese Aussage stammt, teilt, Ideen Goethes aufgreifend, dieAnsicht, dass Farbe nicht in der Natur, sondern nur im menschlichenWahrnehmungsapparat (für ihn: ›Auge‹) zu finden ist. Dies entsprichtim Prinzip der im vorliegenden Buch vertretenen Auffassung. Im Ge-genzug gilt dann aber auch: Die Physik kennt keine Farben. Zu Farb-empfindungen kommt es nur, wenn ein Beobachter über ein entspre-chendes Nervensystem verfügt, während physikalische Gegebenheitenauch dann existieren, wenn sie nicht beobachtet werden. In ihrer bis-lang umfassendsten Theorie, der auf Richard Feynman (1918–1988)zurückgehenden Quantenelektrodynamik, hat die Physik es im ele-mentarsten Sinn mit elektromagnetischen Wellen und verschiedenenMaterieteilchen zu tun und mit den Wechselwirkungen zwischenihnen. Diese können untersucht und beschrieben werden, ohne aufBegriffe wie ›Rot‹ oder ›Blau‹ rekurrieren zu müssen. (Dass Physikermanche Eigenschaften ihrer als Gluonen bezeichneten Elementarteil-chen ›Farben‹ nennen, ist nur eine façon de parler.) Elektromagneti-sche Strahlungen können dabei sowohl als Welle als auch als Teilchenbzw. als Photonen oder Lichtquanten beschrieben werden. Wahr-scheinlich wäre es richtiger, allein von Photonen und ihrer in Tera-hertz gemessenen Vibrationsenergie (sowie deren Phasen) auszuge-hen, da aber mathematisch einfache Umrechnungsregeln existierenund sich im Bereich der Wahrnehmungsforschung die Bestimmungnach in Nanometer gemessenen Wellenlängen eingebürgert hat, wer-den im Folgenden beide Ausdrucksweisen unterschiedslos angewandt,ohne dass damit eine Aussage über die ›wahre‹ Natur des Lichtsimpliziert wäre. Die verschiedenen elektromagnetischen Wellen re-spektive Photonen unterscheiden sich lediglich nach der Frequenz, inder sie schwingen (in der Darstellung als Photonen: hinsichtlich ihrerEnergie), sowie der Ebene, in der sie das tun, bzw. ihrer Phase. Dane-ben müssen natürlich sowohl ihre Richtung als auch die Intensität,d. h. die Anzahl von Photonen, die pro Zeiteinheit auf einer gegebe-nen Fläche auftrifft, berücksichtigt werden. Ob als Welle oder Teil-

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chen dargestellt, sie sind nicht selber farbig, sondern unsere Wahr-nehmung vermag es, wenn Photonen (eines gewissen Energiebereichs)ins Auge gelangen und dort in bestimmten Rezeptoren Reaktionenauslösen, daraus in einer komplizierten Folge von Verarbeitungs-schritten Farbempfindungen zu erzeugen. Für die Schwingungsebenebzw. die Polarisation der einzelnen Wellen – respektive die Phase beiden Photonen – besitzen wir Menschen jedoch, im Gegensatz zumanchen Tieren wie den Bienen, keine Sinnesorgane. Sie bleibt imFolgenden daher unberücksichtigt.

Was ist dann mit unserer felsenfesten Überzeugung, dass bestimm-te Substanzen eine Farbe haben, die wir unter normalen Bedingungensofort sehen, dass diese ihre Farbe ihnen einigermaßen dauerhaft zu-kommt und wir uns darüber intersubjektiv verständigen können? Da-zu müssen wir uns klar machen, dass uns diese augenfällige Materia-leigenschaft, wie schon Aristoteles wusste, nicht unmittelbar gegebenist. Sein Argument war übrigens, dass Gegenstände, die wir direkt aufdas Auge legen, keine Farbempfindungen hervorrufen. Intuitiv ist esnicht ohne Weiteres einsichtig, dass die Gegenstände Lichtstrahlenreflektieren, die, wenn sie in unser Auge gelangen, von unserem Ge-hirn zu Raum- und Gegenstandswahrnehmungen weiterverarbeitetwerden. Die Natur des Lichtes stellt für unser Alltagsverständnisdurchaus ein Rätsel dar. Deshalb hatte die Sendethorie, wonach dasAuge, um zu sehen, wie ein Scheinwerfer Strahlen aussendet, vieleJahrhundert lang ihre Anhänger. Allerdings war es natürlich zu allenZeiten bekannt, dass auch Licht erforderlich ist, um Farben sehen zukönnen. Unsere Augen können nur Lichtstrahlen registrieren und ver-leiben sich nicht irgendwie direkt die Substanzen ein. Lediglich ausder Analyse von Muster, Anzahl, Verteilung und Zusammensetzungder ins Auge gelangenden Lichtstrahlen kann unsere Wahrnehmungrespektive unser Gehirn zu der Überzeugung gelangen, dass dieseZitrone da vor uns eben zitronengelb aussieht oder der Wein imWeinglas bordeauxrot. Wie also hängen die ins Auge gelangendenPhotonen, die mit physikalischen Mitteln beschrieben werden kön-nen, mit den Farben wahrgenommener Oberflächen zusammen?

Zunächst war schon lange vor Newton bekannt, dass man einenneutral (›weiß‹) aussehenden Lichtstrahl in einem Prisma ›beugen‹kann, sodass er, auf eine weiße, reflektierende Fläche geworfen, einverbreitertes ›Spektrum‹ (= Gespenst) erzeugt, das farbig aussieht.Newton wies nun (wenn auch möglicherweise nicht als erster, sodoch für die breitere wissenschaftliche und später allgemeine Öffent-lichkeit) nach, dass man erstens diesen Vorgang wieder rückgängig

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machen kann – es entsteht wieder ein neutral (›weiß‹) aussehenderLichtstrahl, wenn man den je nach Beugungsvermögen auseinandergezogenen Lichtstrahl erneut vereint – und zweitens, dass, wenn maneine bestimmte, rot oder blau etc. aussehende Stelle des auseinandergezogenen farbigen Spektrums ein zweites Mal beugt, man keinneues Resultat erhält. Er schloss daraus zum einen, dass das neutral(›weiß‹) aussehende Licht zusammengesetzt sein muss, denn es lässtsich je nach Beugungsverhalten in verschiedene Bestandteile zerlegen,und zum anderen, dass die einzelnen Bestandteile, in die es sich zer-legen lässt, die Fähigkeit haben, im Auge eine bestimmte Farbemp-findung hervorzurufen. Dabei war er sehr vorsichtig und korrekt inseinen Formulierungen: »For the rays to speak properly, are not colo-red. In them there is nothing else than a certain power and dispositi-on to stir up a sensation of this or that color.«2 Streng genommensollte man daher die Rede vom roten, blauen, weißen Licht etc. ver-meiden. Rot, Blau, Weiß etc. sind Empfindungen, also Hervorbrin-gungen unseres Gehirns, und der Zusammenhang zwischen Photoneneiner bestimmten Sorte und Empfindungen ist – wie im Folgendennäher ausgeführt wird – wesentlich indirekter als die Rede von ›ro-tem‹ oder ›grünem‹ Licht nahe legt.

Die Entdeckungen Newtons waren damals sensationell. Insbeson-dere war es aus theologischer Sicht schwer zu akzeptieren, dass das›weiße‹ Licht, das seit alters als Emanation des Göttlichen, als Erschei-nung der Transzendenz, als rein und reinigend angesehen wurde, auseinem Gemenge verschiedener (und rangniedrigerer) Elemente beste-hen sollte. Galten die Farben bis dato als Produkte des Lichts undmithin als eine geringere Stufe seiner Erscheinungsweisen, so wardurch Newton die ganze Stufenlehre des Seins korrumpiert worden.Dies bildete übrigens auch den Ausgangspunkt für Goethes Kritik, derfesthielt, dass für die Welt unserer Empfindungen die Empfindungvon Weiß nichts Zusammengesetztes hat und ihr dort der Charaktervon Ursprünglichkeit und Reinheit zukommt. Aus heutiger Sicht wi-dersprechen sich die beiden Aussagen Newtons und Goethes nichtunbedingt, denn sie handeln einerseits von physikalischen, anderer-seits von psychologischen Sachverhalten. Schließlich erscheint unspsychologisch auch Wasser als ursprünglich, elementar und einfach,obwohl es in Wasserstoff und Sauerstoff zerlegbar ist.

Jedenfalls konnte man in der Folge von Newton die Lichtstrahlenimmer besser nach ihrer Wellenlänge, Intensität und Zusammenset-zung analysieren und damit das Gebiet der Psychophysik eröffnen, dieden Zusammenhang zwischen physikalischen Parametern und korre-

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spondierenden Empfindungen untersucht. Man konnte z. B. sehen,welche physikalisch bestimmbaren Reize gerade noch wahrgenommenwerden oder welche Wellenlängen wir mit welcher Farbempfindungverbinden. Damit ist aber der eigentliche Bereich der Physik bereitsverlassen und jener der Psychologie erreicht. Wenn Schopenhauer, fürden Farbe in der »qualitativ getheilte(n) Thätigkeit des Auges«3 be-steht, sie eindeutig dem menschlichen Wahrnehmungsapparat zuord-net, so fragt der große Psychophysiker Hermann von Helmholtz imGegensatz dazu gerade nach der Differenz von physikalischem Reizund sinnlichem Eindruck. Letzterer besitzt seiner Meinung nach fürden modernen positivistischen Wissenschaftler »keine unumstößlicheAutorität; er untersucht die Berechtigung desselben, fragt ob wirklichdas ähnlich, was die Sinne für ähnlich, ob wirklich das verschieden,was sie für verschieden erklären, und kommt häufig zu einer vernei-nenden Antwort.«4 Für ihn sind also allein die physikalisch bestimm-baren Reize gewiss, d. h. intersubjektiv überprüfbar, und das zu be-stimmende abgeleitete Ungewisse liegt in dem, was die Sinne darausmachen.

Einige der verblüffenden Resultate der Psychophysik waren, dasswir nur einen kleinen Bereich der elektromagnetischen Wellen über-haupt wahrnehmen können, der als der Bereich des sichtbaren Lichtsbezeichnet wird und etwa von 400 bis 700 nm (1 nm entspricht 10–9

Meter) reicht. Die obere und untere Grenze der sichtbaren Strahlungist jedoch schwer zu bestimmen, da die Empfindlichkeit der Rezepto-ren in diesen Bereichen stark abfällt und gegen null geht. Um dortgleiche Luminanz zu erzielen, wie in den mittleren Bereichen desSpektrums, sind um ein Vielfaches mehr Photonen nötig. Auch sinddie Grenzen der Wahrnehmbarkeit großen individuellen Schwankun-gen unterworfen, sodass man sie auf vielleicht 370 bis 750 nm aus-dehnen darf. Jüngere Beobachter können meist kürzere Wellenlängenals 400 nm – also solche im uv-Bereich – noch wahrnehmen. Sie wir-ken aber auf sie genauso violettblau wie das restliche kurzwelligeEnde des sichtbaren Spektrums. Alles, was unter 460 nm liegt, siehtfür uns jedoch gleichermaßen blauviolett aus, wie umgekehrt allesüber 640 nm den gleichen Eindruck eines warmen Rots hervorruft.Selbst den Bereich der für uns sichtbaren Lichtstrahlen, der ja linearund stetig organisiert ist, nehmen wir aber nicht in der Weise einerSkala wie etwa bei der Temperatur wahr. Das langwelligste, ebennoch erkennbare Licht erscheint uns als ein warmes, leicht gelblichesRot. Die Empfindungen gehen über Orange, Gelb, Grün und Blaugrünzu Blau und enden schließlich im kurzwelligsten Bereich bei einem

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Farbton, der als ein ziemlich rotstichiges Blau oder sogar als Violettangesehen werden muss. Die beiden Enden, die, physikalisch gese-hen, Welten trennen, liegen empfindungsmäßig gar nicht so weit aus-einander, wie man erwarten sollte, während die mittleren Grüntöneeinen den Rottönen eher entgegengesetzten Eindruck hervorrufen.Die physikalisch gesehen energiereicheren Teile des Spektrums neh-men wir im Gegensatz dazu als bläulich und als eher kühl wahr,während wir die energieärmeren langwelligen Teile als rot, orangeoder gelb und somit als wärmer empfinden. Daneben hat sich erge-ben, dass der ganze Bereich der Purpurtöne im Spektrum nicht vor-kommt. Sie entstehen für die Wahrnehmung in der Regel dann, wenngleichzeitig kurz- und langwellige Lichtstrahlen (unter weitgehendemAusschluss der mittleren Wellenlängen) ins Auge gelangen. Purpurtö-ne lassen sich demnach nicht mit einer einzigen Wellenlänge erzeu-gen, aber erlauben es, das langwellige, infrarote Ende des Spektrumsmit dem kurwelligen, ultravioletten Ende nahtlos zu verbinden, so-dass der Bereich der Buntfarben kreisförmig geschlossen werden kann.Purpur ist also ebenso wie Weiß eine nicht-spektrale Farbe.

Ein weiteres wichtiges Resultat der Psychophysik besteht in derKomplementarität. Zu jeder Wellenlänge (samt korrespondierenderFarbempfindung) lässt sich eine andere (bzw. im Fall der zu denGrüntönen komplementären Purpurtöne eine Kombination zweieranderer) finden, die so miteinander gemischt werden können, dasssich die Farbempfindungen wechselseitig aufheben und ein farbneu-traler ›weißer‹ Eindruck entsteht. (Bei den induzierten Gegenfarben,wie wir sie von Nachbildern kennen, handelt es sich wegen gewisserAdaptionseffekte nicht um die exakten Komplementärfarben. Die ver-schiedenen Sorten an Zapfen bzw. Ganglionzellen im Auge bzw. annoch späterer Stelle erholen sich verschieden schnell von der Adapti-on. Deshalb ändert sich auch die Farbe des Nachbildes mit der Zeit.Viele Arten von Nachbildern kommen dagegen erst zustande, nach-dem Farbe im Gehirn, zumindest im Kniekörper, erzeugt ist. Farbenkönnen im Gehirn nicht ohne ihre Partner oder Opponenten ankom-men.) Zwei Komplementärfarben müssen dieselben Farbreizempfängerim Auge anregen wie das breitbandige Weiß. Entgegen dem, was wirvon unseren Wasserfarben zu wissen glauben, bilden im Bereich farbi-ger Lichtquellen Blau und Gelb so ein komplementäres Paar. Auchzeigt sich, dass fast alle Farbempfindungen auf mehr als eine Weiseerzeugt werden können. Der Eindruck von Gelb z. B. kann entstehen,indem monochromatisches Licht ausschließlich der Wellenlänge um585 nm gewählt wird oder langwelliges (= ›rotes‹) und mittelwelliges

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(= ›grünes‹) Licht kombiniert werden. Umgekehrt können aus derKombination dreier geschickt gewählter monochromatischer Licht-quellen fast alle Farbempfindungen hervorgehen. Es ergab sich auch,dass manche der Wellenlängen als heller wahrgenommen werden alsandere, dass wir in manchen Bereichen wesentlich sensibler reagierenund geringere Unterschiede registrieren können als in anderen sowiedass in verschiedenen Bereichen des Spektrums ganz unterschiedlicheIntensitäten nötig sind, um überhaupt eine Empfindung herbeizufüh-ren. Beispielsweise unterscheiden sich zwei Gelbtöne für uns bereitsbei einem Unterschied von 1 nm, zwei Rottöne erst bei 3 nm. Nichtsdavon lässt sich aus den physikalisch bestimmbaren Reizen ablesen.

Diese Resultate, wenn sie auch auf farbige Lichter oder Lichtquel-len beschränkt sind, haben noch heute ihre Gültigkeit und bilden dieGrundlage für Diaprojektionen, Video- und Kinofilme, Theaterschein-werfer sowie unsere Farbfernseher, Beamer und Flachbildschirme.Immerhin bleibt die unumstößliche Tatsache bestehen, dass die imAuge ankommenden Reize aus Photonen bestehen, und deren Eigen-schaften, Zusammensetzung und räumliches Muster kann die Physikbeschreiben. Angesichts der immer weiter verbreiteten Verfügungüber farbige Lichter in künstlerischen und designerischen Berufen, wodie Bestimmung der Farben über Monitore und spezialisierte Farbpro-gramme erfolgt oder Architekten der nächtlichen Erscheinung ihrerBauten mithilfe künstlicher Lichtquellen immer mehr Bedeutung ge-ben, sollte das Wissen um die genannten Zusammenhänge entschie-den verbreiteter sein, als es ist.

Allerdings behandelt die Psychophysik Helmholtz’scher Prägung dieWahrnehmung als eine Art black box und hat wenig darüber zu sagen,warum sie sich so sehr von den physikalischen Sachverhalten unter-scheidet. Im Alltagsleben würde niemand auf die Idee kommen, eineFarbempfindung nach ihren physikalisch bestimmbaren Bestandteilenzu bezeichnen. Dies ist übrigens auch der Nachteil vieler gängigerComputerprogramme, in denen die Farben nach den Rot-, Blau- undGrünanteilen der Leuchtdioden bestimmt werden. Die heutige Ge-hirnforschung unternimmt es, in die black box hineinzuschauen. Siefragt, wie es kommt, dass wir farbige Oberflächen sehen, wo dochnichts an den Photonen erkennen lässt, ob sie direkt von einer Licht-quelle abstammen oder von einer Oberfläche reflektiert wurden.

Gibt es physikalische Eigenschaften von Oberflächen, die mit unse-ren Farbempfindungen korrespondieren? Die Antwort darauf ist beivielen Theoretikern und Philosophen strittig und manche halten dieFarbempfindungen für ein rein subjektives Phänomen, dem nichts in

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der Wirklichkeit entspricht. Das stimmt zwar – wie ausgeführt – indem banalen Sinn, dass unsere Empfindungen Hervorbringungen desmenschlichen Gehirns sind, doch wäre es recht unwahrscheinlich,wenn sie keinerlei Bezug zur physikalischen Realität unterhalten wür-den, denn die menschliche Wahrnehmung hat unter anderem denSinn, uns so weit über die physikalische Welt, die Welt ›da draußen‹,zu informieren, dass wir bei der Erfüllung unserer biologischen Aufga-ben, dem Überleben und der Reproduktion erfolgreicher sind als dieKonkurrenz. Wenn die Farbwahrnehmungen uns nicht dabei helfenwürden, hätten sie sich wohl kaum entwickelt. Im Alltagsverständnisgelten Farben als verlässliche Eigenschaften von Gegenständen bzw.ihrer sichtbaren Oberflächen. Der Bleistift in meiner Hand ist gelb, ichtrage heute die braunen Schuhe und die Tomaten im Garten werdenlangsam rot. Zwar sehen wir die Farben der Gegenstände nicht direkt,sondern nur die von ihnen reflektierten Lichtstrahlen, aber uns inter-essiert deren Zusammensetzung nur insoweit, als sie uns über diemehr oder weniger unveränderlichen Eigenschaften der Gegenstands-oberflächen informiert.

Nun gibt es tatsächlich eine solche Eigenschaft von Oberflächen,die physikalisch beschrieben werden kann, nämlich die sogenannteReflektanz. Aus physikalischer Sicht hat jede Materie ein charakteristi-sches Reflektanzverhalten, wonach das Muster, was mit auftreffendenPhotonen geschieht, gleich bleibt. In der Regel sind Änderungen aufmolekularer Ebene nötig, um dieses Reflektanzverhalten zu ändern,wie etwa im Fall einer schwarz werdenden Silberschicht, die geradeinfolge des auftreffenden Lichtes oxydiert. In irgendeiner komplizier-ten Weise scheint also das Reflektanzverhalten, das ein Physiker mitseinen Methoden messen und beschreiben kann, mit dem zusammen-zuhängen, was wir als Farbe empfinden. Ein Photon, das auf einematerielle Oberfläche trifft (genau genommen auf die Elektronenhül-le), hat im Wesentlichen nur drei Möglichkeiten. Es kann in die Ma-terie eindringen, wobei es ein wenig aus seiner Bahn abgelenkt undverlangsamt wird, es kann absorbiert werden, was zu einer gewissenErwärmung führt, und es kann schließlich zurückgeworfen werden.(Genau genommen wird es auch dann kurzfristig absorbiert, hebtdabei ein Elektron auf eine energiereichere Bahn, bis dieses Elektronwieder, unter Aussendung eines dem ursprünglichen gleichen Pho-tons, in eine energieärmere Bahn zurückspringt.) Welche der Möglich-keiten dabei auftritt, hängt sowohl von der Struktur der jeweiligenOberfläche (genau genommen: ihrer Elektronenhülle) ab, aber auchvon der Energie des Photons (der Wellenlänge des Lichts.) Im Prinzip

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hat je nach Energie des Photons die beteiligte Oberfläche alle Frei-heitsgrade der Transmission, Absorption oder Reflexion zwischen 0und 100%. Man kann daher für die verschiedenen Oberflächen eineTabelle erstellen, in der beispielsweise festgehalten wird, dass Lichteiner Wellenlänge von 700 nm zu 60% reflektiert wird, Licht einerWellenlänge von 699 nm zu 59%, bis hin zum Licht von 400 nm, dasvielleicht nur zu 15% reflektiert wird. So etwas kann untersucht wer-den und solche Messungen sind für viele Bereiche von technischenAnwendungen der Farbe unentbehrlich. Genau genommen müssenwir dieses Reflektanzverhalten also getrennt für jede einzelne Wellen-länge untersuchen, da es je nach Wellenlänge (oder Energie) andersausfallen kann und zumeist auch tatsächlich anders ausfällt. Bei derBeschreibung eines physikalisch bestimmten Reflektanzverhaltens alsFarbe geht daher Information verloren. Die Farbempfindung bildet soetwas wie ein Integral der einzelnen Reflektanzen bei unterschiedli-chen Wellenbereichen. Was für uns exakt die gleiche Farbe aufweist,kann physikalisch gesehen unterschiedlich sein, ein Sachverhalt, derals Metamerie bezeichnet wird. Sie wird weiter unten behandelt.

Geschieht die Reflexion innerhalb eines mehr oder weniger trans-parenten Mediums, spricht man von Streuung oder Diffusion. Re-flexion an Oberflächen wiederum kann entweder so geschehen, dassder Austrittswinkel dem Eintrittswinkel spiegelsymmetrisch entspricht(Spiegelung), oder so, dass wie bei einem perfekten ›Lambert’schenReflektor‹ – benannt nach dem deutschen Mathematiker Johann Lam-bert, der im 18. Jahrhundert die Interaktion von Licht mit Oberflä-chen untersucht hat –, der Austrittswinkel völlig unabhängig vom Ein-trittswinkel ist. Wir bezeichnen die entsprechenden Oberflächen alsspiegelnd oder matt. Die meisten Oberflächen liegen zwischen diesenExtremen, indem sie sowohl eine bevorzugte Reflexionsrichtung ha-ben, als auch Teile des auftreffenden Lichts ungerichtet zurückwerfen.Die Wahrnehmung hat sich danach gerichtet, das diffus von Oberflä-chen reflektierte Licht aufzunehmen und zu analysieren und in Farb-empfindungen umzusetzen. Dieses macht aber nur einen Bruchteildes auftreffenden Lichtes aus. Bei Glanzlichtern oder Spiegelungen istdas anders, weshalb sie uns leicht blenden können. Auch erscheintuns Licht, das durch ein transparentes Medium hindurchgegangen ist,als reiner und gesättigter, da die Anteile des bei Draufsicht von einerOberfläche gestreuten diffusen Lichtes fehlen. Glasfenster in gotischenKathedralen z. B. nutzen diesen Effekt aus. Es gibt daneben noch vie-lerlei Spezialfälle wie die Beugung an Gittern, die Interferenz oderden, dass das remittierte Lichtquantum zeitlich verzögert auftritt oder

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dass es eine andere Energie aufweist als das absorbierte. Fluoreszie-rende Stoffe z. B. wandeln das für Menschen unsichtbare uv-Lichtteilweise in für uns sichtbare Wellenlängen um. Auch gibt es selbst-leuchtende Stoffe wie Phosphor, doch kann man sagen, dass in derweitaus überwiegenden Mehrheit der Fälle das Licht, das in unserAuge gelangt, vorher von einer Oberfläche reflektiert wurde.

Nun sieht man einem Photon, das ins Auge gelangt, nicht an, wel-che ›Geschichte‹ es hat, wie oft es mit Materie interagiert hat und aufwelche Weise. (Solche, die dauerhaft absorbiert wurden, können evi-denterweise nicht mehr ins Auge gelangen.) Photonen haben dieerwähnten physikalischen Eigenschaften und keine weiteren. Es er-scheint daher als kaum vorstellbar, wie die Sicherheit, die uns unsereWahrnehmung verschafft, mindestens vortäuscht, dass wir es mit fes-ten Körpern zu tun haben und mit permanenten Eigenschaften ihrerOberfläche, überhaupt zustande kommen kann. Irgendwie schafft esdie Wahrnehmung, genau die ›Geschichte‹ der Photonen, die insAuge gelangen, zu erkennen und aus ihnen abzuleiten, wie die Mate-rie beschaffen war, von der sie reflektiert wurden. Die Verhältnissebeim Hören sind übrigens völlig anders geartet. Hier interessieren wiruns für die Quelle des Schalls, also das, was ihn verursacht, und nichtdafür, was den Schallwellen widerfahren ist, bis sie ins Ohr gelangen.

Kommen wir zurück auf die Reflektanzeigenschaften von Oberflä-chen, von denen wir gesagt haben, dass sie auf eine versteckte undunklare Weise mit unseren Farbwahrnehmungen zusammenhängenmüssen. Dass sie uns farbig vorkommen, wird nach dem oben Ausge-führten einerseits verständlich, denn wenn Sonnenlicht auf einen füruns rot aussehenden Körper auftrifft, erscheint er uns eben deswegenrot, weil er bevorzugt die langwelligen Anteile dieses Lichts reflek-tiert, die anderen dagegen vorwiegend absorbiert bzw. transmittiert.Im Auge kommen also im Wesentlichen solche Lichtwellen an, diewir als rot empfinden. Ähnlich verhält es sich bei den anderen Far-ben. So weit lässt sich das auch mit Messinstrumenten kontrollieren.

Absorbiert ein Körper schließlich das auftreffende Licht mehr oderweniger gleichmäßig über das Spektrum verteilt, so erscheint er unsdann weiß, wenn er circa 50% des ankommenden Lichts reflektiert,und schwarz, wenn er dies zu weniger als 10% tut bzw. grau in denBereichen dazwischen. Hier beginnen aber schon die Probleme, dennein kräftig beleuchtetes Schwarz und ein schwach beleuchtetes Weißreflektieren Licht, das physikalisch gesehen ununterscheidbar ist, wäh-rend wir doch trotz unterschiedlicher Beleuchtungsverhältnisse einweißes Hemd von einer grauen Hose mühelos auseinander halten

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können. Ähnlich verhält es sich bei den Braun- und Olivtönen, derenreflektiertes Licht physikalisch gesehen sich nicht von dem von weni-ger gesättigten Grüngelb-, Gelb- oder Orangetönen unterscheidet,nur dass es von Oberflächen stammt, die es zu einem erheblich gerin-geren Teil zurückstrahlt, als dies bei letzteren der Fall ist. Man kannübrigens jedes Orange braun erscheinen lassen, wenn man es mit hel-leren, strahlenderen Farben umgibt. Es scheint, dass die Wahrneh-mung, sobald sie Körper und Oberflächen im Raum unterscheidetund die jeweiligen Farbempfindungen auf sie bezieht, letztere gehörigmodifizieren kann. Dies ist tatsächlich der Fall und wird im Kapitelüber Lokalfarben und die Farbkonstanz genauer ausgeführt. Die Er-scheinungsweise der Farbe, also ob wir sie als Lichtfarbe oder alsOberflächenfarbe (resp. Stofffarbe) sehen, liegt nicht an physikalischmessbaren Unterschieden der jeweiligen Photonen, sondern allein ander unterschiedlichen Konstruktion der jeweiligen Empfindung imGehirn. Durch geeignete Versuchsanordnungen kann man einen iden-tischen Reiz auf die eine oder andere Weise erscheinen lassen.

Entsprechen unseren Farbempfindungen also verschiedene Wellen-längen des Lichts? Können wir unsere Farbempfindungen als eine Artunvollkommenes Messinstrument ansehen, das uns über die Zusam-mensetzung des im Auge anlangenden Lichts informiert? Könnte einMessgerät, das die Zusammensetzung des Lichts an einer bestimmtenStelle analysiert, als Ersatzauge dienen? Offenbar ist dem in einemgewissen Grade so. Eine digitale Kamera macht ja genau das. Sie ana-lysiert das an einer bestimmten Stelle auftreffende Licht danach, wieviel lang-, mittel- und kurzwellige Anteile es enthält, und die Wieder-gabegeräte verwandeln diese Information wieder in ein Muster ent-sprechender Lichtquanten. Dennoch liefert dieses Verfahren keinebefriedigende Entsprechung dessen, wie die Wahrnehmung Reize inEmpfindungen umsetzt. Nur unter speziellen, in der natürlichen Um-gebung sehr seltenen Bedingungen kann eine eindeutige Zuordnungvon Licht einer bestimmten Wellenlänge zu einer korrespondierendenFarbempfindung vorgenommen werden, nämlich dann, wenn wir sieals Farbe im Öffnungsmodus oder Lichtfarbe einschätzen. Sobald Ob-jekte und ihre räumlichen Beziehungen erkannt werden, ja bereits so-bald eine gewisse Vielfalt an farbig unterschiedlichen Flächen vorliegt,gibt es keine eindeutige Zuordnung von Wellenlängen und Farbemp-findungen mehr.

In einer Serie von eleganten Experimenten hat der nicht geradepublikumsscheue Erfinder Edwin Land, auf den unter anderem dieEntwicklung der Polaroid-Kamera zurückgeht, dies nachgewiesen. Er

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benutzte dazu eine Apparatur, mit der man drei Lichtquellen, die jelang-, mittel- und kurzwelliges Licht liefern, getrennt steuern unddamit ihre Zusammensetzung bestimmen konnte. Sie beleuchteteneine Art abstraktes Bild, das aus einer Vielzahl rechteckiger Farb-flecken bestand und das er wegen einer vagen Ähnlichkeit zu Bilderndes gleichnamigen Pioniers der Abstraktion einen ›Mondrian‹ genannthat. In der Fachsprache hat man sich darauf verständigt, ein solchesBild als den ›Landschen Mondrian‹ zu bezeichnen. Land konnte nunzeigen, dass für unsere Wahrnehmung eine bestimmte Fläche, diez. B. unter Tageslichtverhältnissen rot erscheint, uns auch dann nochrot vorkommt, wenn das von ihr zurückgestrahlte Licht de facto ehermittelwellig ist (weil er die Lichtquellen so eingestellt hat, dass mit-telwelliges Licht stark dominiert) und uns deshalb ebenso grünlicherscheinen müsste wie ein grünes Feld seines ›Mondrians‹ im Tages-licht. Obwohl das von der grünen Stelle im Tageslicht reflektierteLicht identisch war mit dem von der roten Stelle im künstlichen mit-telwelligen Licht, sah letztere immer noch rötlich aus. Da auch imentsprechend eingestellten ›grünlichen‹ Licht im Vergleich mit denNachbarstellen der rötliche Fleck immer noch mehr langwelliges Lichtzurückstrahlt als diese, schließt die Wahrnehmung daraus, dass es sicheben um einen rötlichen Fleck handeln dürfte.

Unsere Farbempfindungen beruhen also zumindest zu einem ge-wissen Teil auf einem Vergleich mit denen in der Nachbarschaft.Wenn es, wie im Fall isolierter Farben, die in einer möglichst licht-schluckenden Umgebung liegen (d. h. Farben im Öffnungsmodus),nichts zu vergleichen gibt, so tritt auch das beschriebene Konstanz-phänomen nicht auf. Die Erscheinung, dass trotz erheblich wechseln-der Lichtverhältnisse wir die Farben von Oberflächen unverändert alsannähernd gleich wahrnehmen, findet ihr Pendant darin, dass physi-kalisch identische Oberflächen für uns auch höchst unterschiedlichaussehen können. Dieses Phänomen, dessen Untersuchung und syste-matische Beschreibung auf den Chemiker Michel-Eugène Chevreulzurückgeht, wird Simultankontrast genannt. Dazu an anderer Stellemehr. Demnach werden Farben in der Wahrnehmung durch ihreNachbarfarben beeinflusst, was einerseits zur Farbkonstanz wie umge-kehrt zur Erscheinung des Simultankontrastes führen kann, sodassphysikalisch identische Reize zu höchst unterschiedlichen Empfindun-gen Anlass geben.

Wenn wir nun Reflektanzen, die ein Physiker messen kann, auchwenn nicht recht klar ist, wie die Wahrnehmung dieselbe Aufgabeeigentlich bewerkstelligt, als das eigentliche Korrelat der Farbwahr-

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nehmung begreifen, was biologisch gesehen jedenfalls einleuchtet, sokann dennoch nicht von einer einfachen und direkten Beziehung ge-sprochen werden. So sind die Reflektanzen nie unmittelbar gegeben,sondern das von einer Oberfläche reflektierte Licht hängt natürlichvon der jeweiligen Lichtquelle ab. Ein weiteres Problem dabei ist,dass die Untersuchung der Reflektanz von Oberflächen viel mehr In-formationen gibt als unsere Farbwahrnehmung berücksichtigt. UnsereFarbwahrnehmung ähnelt eher einer Integralbildung und reduzierteine für uns nicht handhabbare Komplexität. Sie nutzt die verschiede-ne Empfindlichkeit dreier Rezeptortypen im Auge, deren glockenför-mige Empfindlichkeitskurven sich noch dazu stark überlappen, undsetzt das unterschiedliche Maß an Erregung dieser drei Rezeptorenauf eine höchst komplizierte Weise in Farbempfindungen um. Physi-kalisch unterschiedliche Reflektanzen können daher zu gleichen Erre-gungsmustern und damit auch gleichen Empfindungen führen. Genaudies ist ja die Ursache dafür, dass wir mit der geeigneten Mischungeiner begrenzten Anzahl an Grundfarben fast alle anderen nachahmenkönnen. Sehen für die Wahrnehmung zwei Farben gleich aus, obwohlsie physikalisch unterschiedlich sind, so spricht man von ›metameren‹Farben.

Man kann definieren, dass zwei Reize, sofern sie die gleiche neuro-nale Antwort auslösen, als identisch erscheinen, auch wenn sie physi-kalisch verschieden sind. Um einen Vergleich mit der Musik zu be-mühen: Es ist, als würden wir zwischen dem Zweiklang c und g undeinem Zweiklang aus den dazwischen liegenden Tönen d und f bzw.dem reinen Ton e nicht unterscheiden können. Genau dies aber pas-siert bei der Metamerie, wo der Farbwahrnehmung die Diskriminie-rung etwa zwischen einem reinen Gelb der Wellenlänge 585 nm undeinem aus Grüngelb von vielleicht 570 nm und Orange von 600 nmgemischten Gelb nicht gelingt. Der Chemiker Ostwald hatte erstmalsbedingt gleiche (= metamere) von unbedingt gleichen Farben unter-schieden. Für jedes Paar metamerer Objekte gibt es jedoch Beleuch-tungsverhältnisse, unter denen sie verschiedenfarbig erscheinen, wasübrigens der Genauigkeit unser Farbkopierer bestimmte Grenzen setztund bei der Kontrolle von Banknoten genutzt wird. Es gibt natürlichauch Messgeräte, mit denen die unterschiedliche Empfänglichkeitunserer drei Rezeptortypen im Auge simuliert wird. Hierzu zählen bei-spielsweise Farbkopierer und Videokameras. Jede Kamera für farbigeBilder ist jedoch stark abhängig von der Zusammensetzung des herr-schenden Lichts. Sie kann ebenso wenig wie die Farbfotografie eineder wichtigsten Leistungen unserer Farbwahrnehmung vollbringen,

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die sogenannte Farbkonstanz, die in einem eigenen Kapitel bespro-chen wird.

Im Augenblick genügt es zu sagen, dass die Leistung der Farbkon-stanz darin besteht, trotz wechselnder Beleuchtung, wie sie unternatürlichen Bedingungen ständig vorkommt, eine Art Beurteilung derReflektanzen von Oberflächen vorzunehmen. Die physikalische Unter-suchung von Reflektanzen kann mit genormten Lichtquellen arbeiten,während dies für die Wahrnehmung nicht gilt. Das von der Sonnestammende Licht, an das unsere Wahrnehmung sich über Jahrmillio-nen angepasst hat, ändert je nach Tages- und Jahreszeit, nach geogra-fischer Breite und atmosphärischen Bedingungen seine Intensität undZusammensetzung. Nun ist physikalisch gesehen das von einer Ober-fläche reflektierte Licht (und das allein steht unserer Wahrnehmungzur Analyse zur Verfügung) nicht allein von der Reflektanz der betei-ligten Oberfläche abhängig, sondern auch von der Zusammensetzungdes auf sie auftreffenden Lichts. Liefert die Lichtquelle beispielsweiseausschließlich eher langwelliges ›gelbes‹ Licht, so kann auch keinkurzwelliges, ›blaues‹ Licht von irgendetwas reflektiert werden. Unse-re Wahrnehmung ist, im Gegensatz zu den von einer Videokameraregistrierten Bildern, dennoch in erstaunlich gutem Maß dazu in derLage, etwa ein weißes Papier in gelblichem Glühbirnen-Licht voneinem gelben Papier in neutralem ›weißem‹ Tages-Licht zu unter-scheiden. Dazu ist es, wie erwähnt, nötig, gewissermaßen die ›Ge-schichte‹ des im Auge eintreffenden Lichts zu untersuchen und dieReflektanzen der Oberflächen von der Zusammensetzung des herr-schenden Lichts zu trennen. Letzteres wird sozusagen herausgerech-net, sodass wir mit den charakteristischen Farben der Gegenständeeine Art Beurteilung ihrer dauerhaften Reflektanzeigenschaften vor-nehmen.

Der Zusammenhang zwischen empfangenem Reiz und ausgelösterEmpfindung ist somit höchst indirekt und hängt von den biologischenAufgaben ab, welche die Farbwahrnehmung zu erfüllen hat. AlsMessinstrument für die Frequenzen des ins Auge gelangenden Lichtswäre unsere Farbwahrnehmung höchst unvollkommen. Unsere Wahr-nehmung ist auf das Erkennen von Objekten aus. Die Tatsache allein,dass beispielsweise eher langwelliges Licht eine bestimmte Stelleunseres Sehfeldes erreicht, ist für uns in der Regel ziemlich uninteres-sant. Physikalisch gesehen identisches Licht kann je nach Kontext zuvöllig verschiedenen Farbempfindungen führen und umgekehrt kön-nen gleiche Farbempfindungen durch physikalisch gesehen höchstunterschiedliche Reize verursacht sein. Wir interessieren uns also

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ziemlich wenig für die ›Farbe‹ der Lichtquelle (d. h. ihre spektrale Zu-sammensetzung), sondern fast ausschließlich für die Farbe der Ober-fläche von Objekten. An die Schwankungen des Sonnenlichts sind wiraber ganz gut angepasst. In unserer natürlichen Umgebung gibt esmit der Sonne so gut wie nur eine Lichtquelle und deren Licht ist zustark, um es direkt betrachten zu können, sodass fast alles Licht, dasin unsere Augen gelangt, vorher von Oberflächen reflektiert wurde.Selbst bei Mondlicht handelt es sich um von einer (übrigens dunkel-grauen) Oberfläche reflektiertes Sonnenlicht.

Anmerkungen:

1 Arthur Schopenhauer, Sämtliche Werke, 6. Band, Franz Mockrauer (Hrsg.), Mün-

chen 1923, S. 44f. (Über das Sehn und die Farben, § 14, 1816).

2 Zitiert nach: Sources of Color Science, hrsg. von David L. MacAdam, Cambridge

und London, 1970, S. 23.

3 Wie Anm. 1, S. 27. (Über das Sehn und die Farben, § 5, 1816).

4 Vgl. Höpfner, Wissenschaft wider die Zeit – Goethes Farbenlehre aus rezeptionsge-

schichtlicher Sicht, Heidelberg 1990, S. 156

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Lokalfarben, Oberflächenfarben und die

Farbkonstanz

Wie im ersten Kapitel ausgeführt, behandeln wir in unserer Alltags-welt Farben als sinnliche Qualitäten konkreter Dinge, als optischwahrnehmbare Eigenschaften der Oberfläche von Dingen. Deshalbdenken wir bei Farben zumeist an materiell greifbare Substanzen. Esgibt kaum einen Farbton, der in uns nicht Erinnerungen an bestimmteObjekte hervorruft, mit denen er üblicherweise zusammen auftritt,und wir reagieren emotional unterschiedlich je nach dem, welcherGegenstand dies ist und welche Empfindungen wir mit den so assozi-ierten Gegenständen verbinden.

Im üblichen Normalfall der Farbwahrnehmung tritt die Farbempfin-dung demnach als Teil eines Prozesses auf, der auf Invarianten, kon-kreter: auf Objekterkenntnis gerichtet ist. Das, was unsere Wahrneh-mung vornehmlich interessiert, sind Objekte, nicht die leeren Stellenzwischen ihnen. Ein Objekt unterscheiden wir von seiner Umgebungnach (bedeutsamer) Figur und (unwichtigerem) Grund. Insbesondereist die Unterscheidung, was lediglich ein substanzloser Schatten bzw.ein Lichtkringel ist oder aber zu einer tastbaren, stabilen Oberflächegehört, relevant. An einem Objekt interessieren uns seine dauerhaftenAspekte, was es ist, für uns bedeutet, wozu es dienen kann, aberauch seine räumliche Lage, insbesondere in Bezug zu unserem Körper,seine tast- und greifbaren Eigenschaften, seine raue oder glatte Ober-fläche und dergleichen. Gewisse Teile der Wahrnehmung haben ge-lernt, von unserem zufälligen Blickpunkt abzusehen. An einem Fahr-rad, einem Baum, einem Messer oder einem Stuhl sind in der Regeldie permanenten Eigenschaften wichtiger als solche, die bereits ineinem Sekundenbruchteil anders aussehen. Demnach halten wir, wiebereits ausgeführt, Farben für fest mit bestimmten Objekten verbun-den, halten sie für charakteristische und unveränderliche Oberflächen-eigenschaften, weshalb es eine gerichtete Aufmerksamkeit erfordert,sich die Farbe von ungreifbaren, unmanipulierbaren Entitäten wieetwa farbige Schatten oder dem Spiel von Reflexen ins Bewusstseinzu rufen. Wenn Renoir an einem weiblichen Torso das Spiel der grün-lichen Reflexe unter einem sommerlichen Blätterdach auf der nacktenHaut malt, so fühlte sich ein Kritiker an verwesendes Fleisch erinnert.Er hat insofern nicht ganz unrecht, als die Wahrnehmung uns bevor-

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zugt über die invarianten Elemente der Umwelt informiert und wirdie dafür unwesentlichen Reflexe automatisch zu unterdrücken ge-neigt sind. Dass impressionistische Bilder die Empfindung von Luftoder Atmosphäre hervorrufen, hängt gleichfalls mit dieser Betonungephemerer Phänomene zusammen.

Die Zuordnung von Farbempfindungen zu bestimmten haptisch er-fassbaren Objekten betrachten wir als recht stabil, was auch die Vor-aussetzung für ihre Memorierbarkeit und die durch sie gegebeneKategorienbildung bildet. Wir verlassen uns darauf, dass die Objekteeine feste, relativ unveränderliche Zuordnung zu ihren Farben unter-halten, dass unser grünes Auto auch morgen und in einigen Wochennoch die gleiche Farbe haben wird und der gelbe Bleistift auf unse-rem Schreibtisch nicht mysteriöserweise über Nacht seine Farbewechselt. Sicher gibt es Objekte, die ihre Farbe ändern, etwa Seifen-blasen, Öllachen oder Perlmutt, aber das ist dann eben die besondereEigenschaft solcher Objekte. Es scheint also, dass der ökologischeSinn unserer Farbwahrnehmung, der Überlebenswert, den eine ent-wickelte Farbwahrnehmung für Menschen und Menschenaffen hatteund hat, genau darin liegt, dass sie es uns erlaubt, nicht nur momen-tan bestimmte Oberflächen voneinander zu unterscheiden, sondernsie Objekten zuzuordnen, um diese auch in wechselnden Situationeneinigermaßen sicher zu identifizieren, zu kategorisieren und im Ge-dächtnis zu behalten.

Die Objekte bzw. ihre sichtbaren Oberflächen haben in der Regeleine für sie bezeichnende Farbe, ihre sogenannte Lokalfarbe (wobeinatürlich die verschiedenen Oberflächen eines vielgliedrigen Objektesverschiedene Farben haben können.) Der aus der Malersprache stam-mende Ausdruck Lokalfarbe bezeichnet die Farben der Gegenstände,wenn man sie aus der Nähe unter normalen Lichtverhältnissen be-trachtet und die mehr oder weniger zufälligen Modifikationen durchLicht und Schatten, indirekte Beleuchtung, durch das von benachbar-ten Gegenständen stammende Reflexlicht, atmosphärische Erschei-nungen und dergleichen ausschließt. Wenn wir Farbbezeichnungenwie ›tomatenrot‹ oder ›elfenbeinweiß‹ benutzen, meinen wir die je-weilige Lokalfarbe. Ebenso dienen die gängigen Farbatlanten der ge-nauen Feststellung einer Lokalfarbe. Will ich jemandem vorführen,welche Farbe ein Hausanstrich oder ein Plattenbelag hat, so verglei-che ich sie mit verschiedenen Farbmustern durch Danebenhalten,bestimme das ähnlichste und kann dieses dann später als Referenzbenutzen. Entsprechendes gilt für andere taxonomische Zwecke, fürdie Färbung von Zähnen bei der Anfertigung eines Gebisses oder die

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Bestimmung von Stoffen, Gesteinssorten oder Käfern. Es sind die Lo-kalfarben, die wir gemeinsam mit unserem Objektwissen abspeichern.

Die Unterscheidung zwischen Lokalfarben und Oberflächenfarbenerfolgt im wissenschaftlichen Schrifttum nicht konsistent und in vielenZusammenhängen brauchen sie auch nicht unterschieden zu werden.Der umfassendere Begriff ist Oberflächenfarbe, während Lokalfarbesozusagen die ideale Oberflächenfarbe, wie sie unter optimalen Be-dingungen erscheint, bezeichnet. Jedenfalls ist klar, dass man, umeine Lokalfarbe bestimmen zu können, sie zunächst einer konkretenOberfläche mit ihrer Ausdehnung und räumlichen Beziehung zumBetrachter zuordnen muss. Dazu müssen die Oberflächen wieder alsTeile von Objekten gesehen werden, die in den Gesamtraum mit sei-ner herrschenden Lichtsituation eingebettet sind und so weiter. Eskann zu dramatischen Änderungen unserer Farbwahrnehmung kom-men, wenn wir feststellen, dass ein Seh-Eindruck, den wir einer be-stimmten Oberfläche zugewiesen haben, doch nicht zu ihr gehört. Indiesem Sinn wären Lokalfarben vielleicht noch einen Schritt konzep-tueller als die bloßen Oberflächenfarben, d.h., sie würden der Extrak-tion einer Invarianz aus wechselnden Erscheinungen gleichkommen.

Den Grad, in dem unsere Wahrnehmung darauf eingestellt ist,Lokalfarben bzw. Oberflächenfarben zu erkennen, vermag man daranzu ermessen, dass es eine ganze Reihe von Farbbezeichnungen gibt,die nur als Bezeichnung für Oberflächenfarben dienen können. Hierzuzählen beispielsweise grau, rosa, oliv und braun, aber auch schwarz.Wie bereits beschrieben, gibt es physikalisch gesehen, d. h. in derMessung der Zusammensetzung der Lichtstrahlen, die das Auge errei-chen, keinen Unterschied zwischen dem Licht, das ein schwach be-leuchtetes weißes Blatt Papier zurückwirft, und dem Licht, das einstärker beleuchtetes graues Papier reflektiert (oder gar ein schwarzesPapier unter einer starken Lampe.) Dennoch sind wir unter normalenWahrnehmungsbedingungen immer imstande, Weiß von Grau zu u-nterscheiden. Ähnliches gilt für die Wahrnehmung von Braun. Voneinem schwach beleuchteten Gelborange und einem stark beleuchte-ten Braun können in ihrer Zusammensetzung identische Lichtstrahlenausgehen, aber wir nehmen beide Farben als sehr unterschiedlichwahr. Sogar der Sinneseindruck ›schwarz‹ bezieht sich auf eine Ober-flächenfarbe. Fällt überhaupt kein Licht in unser Auge, so sehen wirnicht schwarz, sondern wegen der Eigenaktivität unserer Sinneszellenein Dunkelgrau. Zum Sinneseindruck ›schwarz‹ kommt es erst, wennvon einer bestimmten wahrgenommenen Oberfläche entschieden we-niger Licht reflektiert wird als von den anderen Oberflächen im Ge-

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sichtsfeld. Entscheidend ist, dass die Wahrnehmung den Farbeindruckauf eine Oberfläche bezieht, nicht, ob das ›an sich‹, d. h. für den Phy-siker, auch stimmt. Sehen wir dagegen keine Oberfläche, sondern eindunkles Loch, sollten wir genau genommen von Dunkel und nichtvon Schwarz reden. Damit etwas als Schwarz gesehen wird, brauchtes paradoxerweise sowohl Licht als auch beleuchtete Oberflächen undunter ihnen eine schwarze, die, obwohl sie im Licht liegt, sehr wenigdavon zurückstrahlt. Den Unterschied zwischen Oberflächenfarbenund den anderen, nicht auf konkrete Oberflächen zu beziehenden –man spricht von Farben im Öffnungsmodus, Film- oder Flächenfarben,es herrscht aber keine einheitliche Terminologie – kann man sich ambesten dadurch veranschaulichen, dass graues oder schwarzes, auchbraunes oder olivfarbenes Licht nicht vorstellbar ist. Wenn eine Licht-quelle weniger intensiv ist als eine andere, sagen wir dennoch nicht,dass sie graues Licht aussendet. Entsprechendes gilt für die anderenreinen Oberflächenfarben wie Braun etc. Braunes Licht gibt es nicht.

Selbst bei den Leuchtfarben, die uns inzwischen von den Markier-stiften recht vertraut sind, handelt es sich um eine spezielle Art vonOberflächenfarben, denn nur im Vergleich mit ihrer Umgebung kanndas von ihnen stammende Licht als ungewöhnlich leuchtstark beur-teilt werden, sodass wir zu glauben geneigt sind, sie würden selberleuchten. Auch Silber und Gold müssen als Oberflächenfarben ange-sehen werden, ähnlich wie Eigenschaften wie glänzend oder matt nurkonkreten Oberflächen zukommen. Beleuchtet man Oberflächenfar-ben sehr stark, so fangen sie an zu glänzen, während die Steigerungder Intensität einer Lichtquelle diese eher heller erscheinen lässt. Die-ser letzte Sachverhalt verweist zum wiederholten Male darauf, dassdie Beweglichkeit unseres Körpers, die bei der Wahrnehmung vonGlanz recht wesentlich beteiligt ist, auch bei den Farbwahrnehmun-gen nicht außer Acht gelassen werden kann. Nicht nur, dass die Augensich ständig bewegen müssen, dass Kopf und Rumpf ins Spiel kom-men, wir erhalten Hinweise auf den Raum, in dem wir uns befinden,und damit auf die Oberflächen mit ihren Oberflächenfarben, durchdas Zusammenspiel mit der Eigenbewegung. Um zu durchschauen,dass ein Spiegel ein Spiegel ist oder eine Oberfläche silbern und nichtvielleicht grau, genügt es in der Regel, sich ein wenig vor ihnen zubewegen. Dieser Sachverhalt sollte beim Entwerfen am Monitor, derja nicht Oberflächenfarben, sondern Lichtfarben bietet, stärker be-dacht werden. Oberflächenfarben können mit den gebräuchlichenFarbkarten nicht in ihrer Gesamtheit dargestellt werden, da sie ebenalle möglichen Texturen aufweisen können. Ob eine farbige Fläche

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später als braun oder rosa, marineblau oder oliv erscheint, hängt zu-dem noch vom Kontext ab, in den sie eingebettet wird. Im Öffnungs-modus, wo wir Farben isoliert von ihrer Umgebung, eben durch einekleine Öffnung sehen, gibt es diese Oberflächenfarben nicht.

Die Wahrnehmungsleistung der Farbkonstanz ist zwar schon seitlängerem bekannt, doch erst seit kürzerer Zeit erkennen wir darineine der grundlegenden Fähigkeiten unserer Farbwahrnehmung, ohnedie sie ihren ökologischen Wert weitgehend einbüßen würde. ZumÜberlebenswert der Farbwahrnehmung gehört nicht nur ihre perzep-tuelle Salienz, d. h. dass Farben ›aus ihrer Umgebung herausstechen‹.Damit eine rote Frucht sich für uns deutlich von ihrer grünen Umge-bung abhebt, ist die Bestimmung der Lokalfarbe bzw. die Leistungder Farbkonstanz noch nicht nötig, sondern nur die Wahrnehmungeines auffälligen Kontrastes zur Umgebung. Für die Fähigkeit aber,den Reifegrad der Frucht zu bestimmen oder verschiedene Früchteähnlicher Form wie Grapefruit und Orangen aufgrund der Farbe zuunterscheiden, bedarf es einer Bestimmung der Lokalfarbe und damitder Farbkonstanz. Die Wahrnehmungsleistung der Farbkonstanz bietetÜberlebensvorteile in vielen Bereichen.

Die Bestimmung der Lokalfarbe und die damit verbundene Wahr-nehmungsleistung der Farbkonstanz sind alles andere als selbstver-ständlich. Was unseren Sinnesorganen und unserem Gehirn zur Ver-fügung steht, sind ja nicht die direkten Oberflächen der Objekte,sondern die wechselnden Muster und Zusammensetzungen der Licht-strahlen, die, von den Oberflächen reflektiert, in unsere Augen gelan-gen. Diese sind aber grundsätzlich mehrdeutig. Vor allem hängt dieZusammensetzung des ins Auge gelangenden Lichtes nicht nur vonden Reflektanzcharakteristiken der jeweils bestrahlten Oberflächen ab,sondern von der Art der Lichtquelle wie auch vom Medium, das siedurchquert haben. Ein und dieselbe Reizkonfiguration kann daherselbst unter natürlichen Bedingungen auf sehr verschiedenen Ursa-chen beruhen. Das Sonnenlicht wechselt im Verlauf eines Tages wieauch unter dem Einfluss atmosphärischer Bedingungen seinen Charak-ter, d. h. den jeweiligen Anteil seiner lang-, mittel- und kurzwelligenBestandteile. Ebenso kann die absolute Lichtstärke auch bei Tages-licht, je nach Wolkenstand und Tageszeit, im Freien oder unter Bäu-men, ganz erheblichen Schwankungen unterworfen sein. Außerdemgibt es noch die indirekte Beleuchtung durch den Himmel und dasvon benachbarten Körpern abgestrahlte Reflexlicht. Auch das trans-mittierende Medium, also in der Regel die Luft, unterliegt Schwan-kungen je nach Sonnenstand und atmosphärischen Bedingungen.

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Dennoch aber gelingt es uns unter normalen Wahrnehmungsbedin-gungen in erstaunlichem Maße, die Lokalfarbe der Gegenstände zuerkennen und zu memorieren. Ein Briefkasten erscheint uns ebensogelb im rötlichen Morgenlicht wie unter dem gelblichen Licht derMittagssonne, genauso gelb im Schatten, wenn er nur das indirektebläuliche Licht des Himmels erhält, aber auch unter Bäumen, wo ihnvorwiegend das grünliche Reflexlicht erreicht. Wir können bei unsvertrauten Menschen erkennen, ob sie blass aussehen oder nicht,obwohl der dabei bemerkte Wechsel der Reflektanzeigenschaften derHaut um ein Vielfaches geringer ist als die Schwankungen in derBeleuchtungssituation während eines Tages. Wie also kommen wirzur Überzeugung, dass die Banane vor uns reif ist und es sich nichtum ein unreifes, grünliches Exemplar im langwelligen Abendlicht han-delt? Wie können wir ein weißes Blatt Papier im Schatten als weißidentifizieren und von einem grauen Karton im Licht unterscheiden?Auf welche Weise kann der Anteil der jeweiligen Lichtquelle und derdes transmittierten Mediums »herausgerechnet« werden? Wie unsereWahrnehmung das zustande bringt, ist ein ausgesprochen komplizier-ter Vorgang, den die Forschung erst langsam zu verstehen beginnt. Esscheint auch, dass die von der Wahrnehmung schließlich erzielte Farb-konstanz nicht in einem Schritt erzielt wird, sondern mehrere Prozes-se beteiligt sind. Unter anderem spielt auch eine Rolle, ob konkreteGegenstände, deren typische Farben bekannt sind, erkannt werdenoder nicht.

Nun besteht das Problem für die Wahrnehmung darin, wie jederweiß, der einmal versucht hat, ein realistisches Bild zu malen, dasswir die Lokalfarben, die wir fest abgespeichert haben, nur in den sel-tensten Fällen auch wirklich sehen. Alle Gegenstände um mich herumsind zumindest nach Licht und Schatten abgestuft und ich hättegroße Mühe festzulegen, welche der Seiten gerade am ehesten ihrerLokalfarbe entspricht. Ist es die Lichtseite, der Halbschatten oder dieSchattenseite? Es gibt, wie angedeutet, zusätzlich noch eine ganzeReihe anderer Faktoren, die das aktuelle Aussehen der Gegenständebeeinflussen, sodass demnach das Herausfiltern einer Lokalfarbe eineIdealisierung oder Abstraktion bedeutet. Bei ihr handelt es sich umdie Feststellung einer Invarianz. Weil diese Abstraktion oder Kon-stanzleistung in einem bloßen Apparat wie einer Kamera unterbleibt,können wir aus Farbfotos nur unzureichend auf die jeweils abgebilde-ten Farben schließen. Würden wir aus einem Farbfoto ein Stückcheneines abgebildeten Kleiderstoffes ausschneiden, um die ursprünglicheFarbe danach zu bestimmen, so würden wir unser ›blaues Wunder‹

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erleben. Fotografen ist es geläufig, dass sie auf die Lichtstärke wieauch die Farbcharakteristik der jeweiligen Beleuchtung eingehen müs-sen, denn ihr Apparat weist keine Mechanismen zur Herstellung vonFarbkonstanz auf. Sie benutzen Mittel wie Belichtungsmesser, Blendenund Filter, um diesen Mangel auszugleichen.

Schaffen wir Bedingungen, in denen lediglich ein isolierter Lichtreizins Auge gelangt, indem wir, wie beim Öffnungsmodus beschrieben,durch eine enge Röhre aus schwarzem Karton gucken, so reagiert dieWahrnehmung tatsächlich einer Kamera vergleichbar und kommt zueiner Farbempfindung, die gut mit der spektralen Zusammensetzungdes jeweiligen Reizes korrespondiert. Im Öffnungsmodus der Farbewird sie eben nicht als von einer relativ nahen, gegenständlich inter-pretierbaren Oberfläche stammend konkret räumlich erlebt, weshalbdie Farbkonstanz auf einer Relation beruht. Kann eine solche Relationnicht hergestellt werden, bleibt die Farbkonstanz aus. Das archetypi-sche Beispiel dürfte der blaue Himmel darstellen.

Den Gegensatz dazu bildet der Modus der Oberflächenfarbe, dermit der Farbkonstanz verknüpft ist. Allerdings entscheiden nicht dietatsächlichen Verhältnisse darüber, sondern wie die Wahrnehmung siekonstruiert, ob wir etwas im Öffnungsmodus oder als Oberflächenfar-be wahrnehmen. So kann ein begrenztes Stück Oberfläche durch einexakt ausgerichtetes Spotlight (das dem Betrachter verborgen ist) alsselbst leuchtend erscheinen. Der (nach dem Psychologen AdhemarGelb benannte) Gelb-Effekt ist geeignet, dies zu illustrieren: Einschwarzes Papier, das von einer verborgenen Lichtquelle beleuchtetwird, sieht weiß aus. Weil wir sein Licht nicht mit anderen reflektie-renden Oberflächen in seiner Umgebung vergleichen können, er-scheint uns deshalb der Mond im Öffnungsmodus als eine weißlicheLichtquelle, obwohl er aus dunkelgrauem Gestein besteht, das ledig-lich (zu einem kleinen Teil) empfangenes Licht zurückstrahlt. DieWahrnehmung behandelt ihn als Flächenfarbe und hält ihn für selbstleuchtend. Die unausrottbare Neigung der Wahrnehmung, Farbein-drücke auf räumlich eingeordnete Oberflächen zu beziehen, kannauch das Emmert’sche Gesetz (nach dem deutschen Psychologen EmilEmmert, der dieses Gesetz 1881 beschrieben hat) verdeutlichen. Star-ren wir etwa eine Minute unverwandt auf einen starkfarbigen Fleckund blicken anschließend auf eine neutrale Fläche, so sehen wir na-türlich das bekannte Nachbild in der Komplementärfarbe. Dieses abererscheint uns größer, wenn wir es auf der Zimmerwand sehen, undkleiner, wenn wir als neutrale Projektionsfläche ein Blatt Papier neh-men.1

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Die menschliche Wahrnehmung verfügt offenbar bei der Festlegungauf eine Lokalfarbe über mindestens einen Konstanzmechanismus, deres uns erlaubt, trotz der ständig wechselnden Wahrnehmungsbedin-gungen so etwas wie unveränderliche Oberflächeneigenschaften vonObjekten festzustellen. Die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischensoliden Oberflächen und Öffnungen wird am besten klar, wenn mansich die biologische Aufgabe der Wahrnehmung vor Augen hält. Neh-men wir einen einfachen Fall, eine Welt, in der alle Oberflächen ein-heitlich sind, sagen wir aus Gips bestehen, die das Licht gleichmäßigstreuen und immer den gleichen Anteil des auftreffenden Lichtesreflektieren. In einer solchen Welt geben die beobachtbaren Hellig-keitsunterschiede stets Hinweise auf die Neigung der jeweiligenOberfläche in Bezug auf die herrschende Lichtquelle wie auch auf denBetrachter. Eine solche idealisierte Wahrnehmungs-Welt, zu derenVeranschaulichung wir uns einen klassizistischen weiß gestrichenenInnenraum voller Gipsabgüsse denken können, lässt die räumlichenBezüge, die Volumina und Zwischenräume, plastisch und ohne Verun-klärung durch andere Rücksichten in Erscheinung treten, was – ne-benbei bemerkt – den Vorstellungen der Kunsttheorie jener Zeitdurchaus entsprach. Leider ist die Wirklichkeit komplizierter als einesolche idealisierte Situation, denn die Oberflächen der Objekte habenverschiedene Reflektanzeigenschaften, d. h., sie strahlen bei gleicherBeleuchtung unterschiedlich viel Licht, auch unterschiedliches Licht,und auf unterschiedliche Weise zurück, sie können sich, selbst wennwir im Augenblick von der eigentlichen Farbwahrnehmung absehen,immer noch zwischen Weiß, Grau oder Schwarz bewegen und mattoder glänzend sein.

Wie bereits gesagt, besteht physikalisch gesehen zwischen Licht,das von einer weißen, im Halbschatten liegenden Fläche stammt, unddem einer grauen, die besser beleuchtet ist, kein Unterschied. Damitunsere affenartigen Vorfahren eine dunkle Öffnung nicht mit einemschwarzen Ast verwechseln, den sie zu ergreifen suchen, oder einschwarzes Raubtier für einen Schatten halten, was ihre Überlebens-chancen zweifellos beeinträchtigen würde, muss die Wahrnehmungalso irgendwie solide Oberflächen von Schattierungen und Öffnungenzu unterscheiden lernen, muss, physikalisch gesprochen, die unter-schiedlichen Reflektanzen von Oberflächen von bloßen Luminanz-grenzen unterscheiden. Diese Aufgabe ist keineswegs einfach. Diebestentwickelten Computerprogramme sind zur Objekterkenntnis ausHelligkeitsunterschieden noch nicht in der Lage, auch wenn sie nureine vereinfachte künstliche Welt zu erkennen haben. Dass die

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menschliche Wahrnehmung (auch bei Rot-Grün-Blinden) dies in derRegel schafft, ist klar, nicht aber, wie. Gewisse Annahmen über diephysische Welt, etwa dass es nur eine oder möglichst wenige Licht-quellen gibt, dass Schattengrenzen eher diffus und allmählich verlau-fen, während Reflektanzgrenzen zu abrupter Änderung neigen, dürf-ten eine Rolle spielen. Objekte können einander verstellen, sodass einT-förmiges Zusammenstoßen von Konturen Hinweise gibt, was vorneund hinten liegt. Eine weitere Annahme unserer Wahrnehmung be-steht darin, die Lichtquelle oben anzunehmen. Es scheint, dass dasFarbensehen – und zwar bereits bei Dichromaten – bei der Entde-ckung von Oberflächenfarben hilfreich ist. Oberflächenfarben gebenAuskunft über Reflektanzen, während wir Lichtquellen oder Farbein-drücke, die wir nicht konkreten Oberflächen zuordnen können, emp-findungsmäßig einem anderen Modus zuweisen.

Für das Erkennen von Oberflächenfarben ist also der Vergleich mitder Umgebung von zentraler Bedeutung. Wenn die Lichtquelle näm-lich ihren Charakter ändert, so ändert sich gleichzeitig das von allenObjekten einer Szenerie reflektierte Licht im selben Sinn, sodass diejeweiligen Relationen zueinander gewahrt bleiben. Ähnliches gilt,wenn ein Schatten auf mehrere Objekte fällt. Dass eine Schattengren-ze mit einer Reflektanzgrenze übereinstimmt, wäre ein Zufall. Da dieLichtquelle der Sonne nicht punktförmig ist, sie weist von der Erdeaus gesehen einen Durchmesser von 0,50 auf, sind Schattengrenzentypischerweise verwischt und bestehen aus einer Übergangszone vonHalbschatten. Dagegen neigen Objektgrenzen bzw. Grenzen vonReflektanzen auf einer Oberfläche zu eher abrupten Verläufen. DieWahrnehmung eliminiert also, so gut es geht, die Besonderheiten derzufällig herrschenden Beleuchtung, um die beschriebene Farbkonstanzzu erzielen.

Nun ist die beschriebene Farbkonstanz andererseits aber auchnicht vollkommen. Die im künstlichen Licht des Kaufhauses gekaufteKrawatte kann sich bei Tageslicht als doch nicht passend zu Anzugund Hemd erweisen, die entfernten blauen Berge verwandeln sichbeim näher Kommen in grüne, bewaldete Hügel und ein bloßer Son-nenfleck auf unserem Weg entpuppt sich vielleicht doch als ein drei-dimensionaler heller Stein. Die Leistungen der Farbkonstanz unterlie-gen gewissen natürlichen Grenzen und entwickeln sich beispielsweisenur, wenn das Licht einigermaßen gleichmäßig aus Wellenlängeneines breiten Frequenzbandes zusammengesetzt ist, sowie bei nichtübermäßig starker oder schwacher Lichtstärke. Vor allem wenn zwei(oder mehrere) unterschiedliche Lichtquellen beteiligt sind, was unter

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natürlichen Umständen allerdings nur dann eintritt, wenn direktesSonnenlicht mit dem indirekten Licht des blauen Himmels konkur-riert, ist der Mechanismus der Farbkonstanz überfordert. So beruhtdie bekannte und immer noch schlagende Demonstration der farbi-gen Schatten, die Otto von Guericke 1672 beschrieben hat (und diedurch Goethes Farbenlehre bekannt geworden ist), auf der Verwen-dung zweier Lichtquellen mit unterschiedlicher spektraler Zusammen-setzung. Dies gilt auch unter natürlichen Verhältnissen, da, wie schonLeonardo feststellte, die Lichtquelle, die den Schatten verursacht, ihnselber eben nicht erreicht. Die Schattenzone muss von woanders herihr Licht erhalten, beispielsweise als Reflexlicht, das aber die Farbeder abstrahlenden Flächen angenommen hat, oder es handelt sich umindirektes Licht vom Himmel. Aber auch im normalen, natürlichenBereich des Sonnenlichts kann es zu mehr oder weniger starken Diffe-renzen kommen. So ist das Phänomen der farbigen Schatten abhängigvon der herrschenden Lichtart. Ist das Sonnenlicht beispielsweise inder Abenddämmerung ausgeprägt in den warmen Bereich verscho-ben, so weist die Strahlung des umgebenden blauen Himmels ent-sprechend ein Übergewicht im kalten Bereich auf. Was vom direktenSonnenlicht erhellt wird, dürfte eher gelblicher aussehen als dieSchattenzonen, die ja immer noch kurzwelligeres Licht vom Himmelempfangen. Ist der Himmel bewölkt, sodass nur diffuses Licht dieErdoberfläche erreicht, gibt es auch keine ausgeprägten Schatten.

Dass die Farbkonstanz nicht so perfekt ist, wie sie technisch gese-hen sein könnte, macht biologisch gesehen auch Sinn, denn einmalist es ja auch manchmal nützlich, Änderungen des Zustands derAtmosphäre, der Beleuchtung und des Himmels zu erkennen, zumanderen kann es sinnvoll sein, doch einmal die Aufmerksamkeit aufSchatten, Öffnungen, Reflexlichter und andere flüchtige Erscheinun-gen zu richten. Da der Winkel der Sonne zum Horizont mit verant-wortlich für die Zusammensetzung des Lichts ist und die herannahen-de Dämmerung bemerkt werden sollte, ist eine perfekte Farbkonstanzfür Lebewesen wie die Primaten wahrscheinlich gar nicht erstrebens-wert. Wie so oft bietet die Wahrnehmung eine Art Designkompro-miss unter Berücksichtigung evolutionär erworbener statistischerAnnahmen. Vielleicht deshalb und zur Kompensation der dabei un-vermeidlichen Irrtümer hängen manche der Kontrastphänomene beiFarbempfindungen von der Gerichtetheit der Wahrnehmung ab. Mankann zu einem gewissen Grade trainieren, die Aufmerksamkeit auffarbige Schatten und Reflexe, Kontrastphänomene (oder Kanten oderValeurs oder noch andere Elemente der Wahrnehmung) zu richten.

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Monets Serie von Ansichten der Kathedrale von Rouen wäre ein Bei-spiel für eine willentliche Reduktion der Farbkonstanz bei einemKünstler, der damit die Aufmerksamkeit auf die Änderung der atmos-phärischen Bedingungen während eines Tages lenkt. Da der Baupraktisch monochrom ist und nur aus einer Steinsorte besteht, sindsämtliche wahrnehmbare Farbunterschiede allein auf die Beleuch-tungssituation zu beziehen. Sie wird vom Künstler übertrieben undgewissermaßen karikiert. Ein solches Training, automatische Leistun-gen der Wahrnehmung zurückzunehmen, ist natürlich keineswegs freivon historischen und kulturellen Komponenten.

Was passiert, wenn die Wahrnehmung die Zuordnung von Farb-empfindungen zu Objekten wegen der obwaltenden Umstände nichtleisten kann? Das kommt nicht nur in künstlichen Laborbedingungenvor, für die unsere Wahrnehmung nicht eingerichtet ist, sondern auchgelegentlich in der Natur selbst. Zunächst ist dazu zu sagen, dassauch dann die Farbempfindungen zumindest nach ihren Richtungensituiert werden. Wir wissen immer, wo in unserem Gesichtsfeld wireinen Farbreiz haben, auch wenn uns seine räumliche Ortung nichtgelingt. Solche Farbreize, die wir als Farben im Öffnungsmodus sehenbzw. die in der Terminologie von David Katz als Film- oder Flächen-farben bezeichnet werden, haben also einen Ort in der Fläche, abernicht im Raum. Wenn uns keine klare räumliche Orientierung gelingt,wenn Objekte nicht als Objekte isolierbar sind, dann sind wir auchnicht imstande, ihnen Oberflächenfarben zuzuordnen. Manchmal lässtsich beobachten, wie eine Farbempfindung ihren Charakter ändert,sobald wir sie einem endlich erkannten Körper zuschreiben, und esgelingt uns nicht mehr, diese Änderung willentlich rückgängig zu ma-chen. Als Faustregel mag gelten, dass beim Vorliegen von mehr alseiner Lichtquelle der Mechanismus der Farbkonstanz überfordert ist.Aber auch im Fernblick wird die Farbkonstanz nicht aufrechterhalten.Ein Tannenwald in der Nähe und einer auf einem entfernten Hügelhaben für uns verschiedene Farben, obwohl wir wissen, dass es sichum die gleiche Art Bäume handelt. Nicht selten stellt sich dann dasGefühl der Entrückung ein, ist der Bezug zur Umgebung, zum Raum,zu greifbaren Oberflächen gestört. Viele künstlerische Arbeiten, dieauf der spezifischen Farbbehandlung beruhen, beziehen ihre Wirkungaus einer solchen Behinderung der Leistungen der Farbkonstanz.

Anmerkung:

1 Vgl. Dale Purves und R. Beau Lotto, Why we see what we do: an empirical theo-

ry of vision, Sunderland, Massachusetts, 2003, S. 39.

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Die Evolution des menschlichen Farben-

sehens

Die photische Situation auf der Erde und das Farbensehen

Farbe ist kein physikalisches, sondern ein biologisches Phänomen,wenn es auch auf physikalische Gegebenheiten rekurriert. Ihre Wahr-nehmung dient dazu, biologisch wichtige Information aus unsererUmgebung zu beziehen. Eine ganze Reihe von Lebewesen, die – wiedie Bienen – uns nicht einmal sehr ähnlich sind, verfügt über die eineoder andere Form von Farbwahrnehmung, während unter den Säuge-tieren nur die großen Affen und Menschenaffen der alten Welt Far-ben auf eine Weise sehen, die mit der unseren vergleichbar ist. Je-denfalls sind wir nicht die ersten und einzigen Lebewesen, die überdas Sehen verfügen und Farben unterscheiden können, was eineReihe tief greifender Konsequenzen hat. Sie werden in einem späte-ren Kapitel thematisiert. Hier soll es zunächst nur um die Evolutionunserer Farbwahrnehmung gehen.

Wir gehören zu den Trichromaten, da es in unseren Augen dreiRezeptortypen – die sogenannten Zapfen – gibt, mit denen wir dreiunterschiedliche Bereiche des sichtbaren Lichts miteinander verglei-chen und auseinanderhalten können. Sie werden gängigerweise alsL-Zapfen, M-Zapfen und S-Zapfen bezeichnet, wobei L für long steht,M für middle und S für short, was die Wellenbereiche ihrer maximalenEmpfindlichkeit angibt. Der vierte Rezeptortyp im menschlichenAuge, die Stäbchen, dient dem Sehen bei sehr schwachem Licht, wodie drei Sorten von Zapfen inaktiv sind. Mit ihnen allein könnenkeine Vergleiche angestellt und deshalb keine Farben unterschiedenwerden: »Nachts sind alle Katzen grau.« Hunde oder Rinder dagegensind – wie die meisten Säugetiere – nur imstande, zwischen lang- undkurzwelligem Licht zu unterscheiden, da sie (neben den Stäbchen) nurüber zwei spezialisierte Zapfen-Rezeptoren im Auge verfügen (manspricht von Dichromaten), wohingegen Tauben und viele andere Vö-gel deren vier aufweisen und entsprechend zu den Tetrachromatenzählen. Andere Säugetiere wie die Delfine sind sogar nur Monochro-maten und können mit ihrer einen Sorte von Zapfen überhaupt keineFarben unterscheiden. Dagegen haben, wie schon ihr buntes Gefiederzeigt, Vögel in der Regel eine sehr gute Farbwahrnehmung. Gegen-

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über der Farbwahrnehmung beim Menschen sind sie zumeist imstan-de, auch Licht im ultravioletten Bereich noch zu erkennen, was etwaFalken dazu verhilft, Feldmäuse anhand ihrer (für Säugetiere unsicht-baren) Urinspuren zu jagen.1 Da im Bereich der Primaten insbesonde-re die Farbwahrnehmung der Makaken der unseren recht ähnlich ist,stammen übrigens viele der Erkenntnisse aus Untersuchungen anihnen. Allerdings gibt es inzwischen eine sprunghafte Entwicklung ansogenannten nicht-invasiven Techniken, mit denen Gehirnzuständebei Menschen in vivo untersucht werden können, sodass Experimentemit Tieren in wachsendem Ausmaß verzichtbar sind. Tiere lebenwahrnehmungsmäßig also in sehr unterschiedlichen Welten und ihreSinne sind dem Habitat angepasst, das sie besetzen. Auch das Far-bensehen sollte als eine Adaption verstanden werden. Grundsätzlichist noch zu sagen, dass Gehirne nicht einfach passiv aufnehmen, wasihnen in der Welt begegnet, sondern sie mit Körpern verbunden sind,die handeln müssen und die Konsequenzen ihrer Handlungen erlei-den. Sie lernen aus den Erfahrungen, die ihre Körper machen. OhneHandlungen gibt es kein Lernen.

Bleiben wir zunächst bei der Außenwelt. Die Sonne, von der aner-kanntermaßen das Leben auf unserer Erde abhängt, sendet regel-mäßig eine Unmenge elektromagnetischer Strahlungen aus, von de-nen ein gewisser Teil die Erde erreicht, ein kleinerer Teil davon dieAtmosphäre durchdringt, sodass zumindest tagsüber, da alle sichtba-ren Körper wenigstens einen kleinen Teil dieser Strahlung reflektieren,es kaum eine Stelle auf der Erdoberfläche gibt, wo nicht solche elek-tromagnetischen Strahlen vorkommen. Die von der Sonne ausgehen-den Photonen (respektive in anderer Beschreibungsweise: elektro-magnetischen Wellen) bzw. der die Erdoberfläche erreichende Teilbilden das Energiereservoir, aus dem die Pflanzen ihre Fotosynthesespeisen. Nun finden wir am Erdboden nicht jede der möglichen elek-tromagnetischen Wellen, deren Wellenlängen von mehreren Kilome-tern bis zu wenigen Nanometern reichen können, im gleichen Um-fang vor, sondern es gibt ein deutliches Maximum in dem Bereich,den wir als (sichtbares) Licht bezeichnen, und da wieder in einemBereich um die 540 nm. Der Teil, der für Menschen sichtbar ist, d. h.elektromagnetische Wellen mit einer Wellenlänge zwischen circa 400und 700 nm, bildet also auch den Hauptanteil der ankommendenStrahlung. Durch einen glücklichen Zufall sind das gerade die Wellen-längen, die mit den Dimensionen der Atome und Moleküle und Elek-tronenhüllen gut korrespondieren, sodass bei der Interaktion vonLicht und Materie interessante Phänomene auftauchen. (Zur Erinne-

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rung: Ein Nanometer hat die Länge von 10–9 m, während ein Wasser-stoffatom einen Durchmesser von circa 10–10 m aufweist. Die Wellen-längen des sichtbaren Lichts liegen daher im Bereich recht großerMoleküle, wie sie im organischen Bereich vorkommen.) Radiowellenz. B. haben zu wenig Energie, um viel Wechselwirkung mit den Ato-men entfalten zu können, während Gamma-Strahlen so energiereichsind, dass sie Materie leicht durchdringen bzw. beim Zusammenstoßmit organischen Molekülen diese häufig zersetzen. Die Tatsache, dassauch andere Lebewesen nicht sehr viel weiter als wir im Infrarot-Bereich oder auch dem Ultraviolett-Bereich sehen können, sprichtgleichfalls dafür, dass dieser Bereich des sichtbaren Lichts biologischam relevantesten ist. Anstatt lediglich zu einer Erwärmung zu führen,können absorbierte Photonen aber auch chemische Reaktionen auslö-sen wie bei der Oxydation einer Silberschicht, was Fotografen ja gutbekannt ist. Es ist also verständlich, dass das für das Leben auf derErde wichtigste Molekül, das Chlorophyll, eben gerade elektromagne-tische Wellen etwa im Bereich des sichtbaren Lichts absorbierenkann, was in der Folge mittels des Fotosynthese genannten Prozesseszur Umwandlung von Lichtenergie in chemische Energie führt. Dabeiwird aus Kohlendioxyd und Wasser Zucker gebildet und Sauerstofffreigesetzt. In einem rückläufigen Prozess ›verbrennen‹ Tiere diesenZucker und gewinnen daraus die dem Sonnenlicht entstammendeEnergie zurück, die sie für ihre Lebensvorgänge nutzen, wobei sie wie-der Wasser und CO2 erzeugen.

Ohne Licht gäbe es kein Leben, wie wir es kennen. Gewisse Mole-küle können Photonen in einer Weise absorbieren, die zum Umbauihrer räumlichen Anordnung führt und damit katalytisch chemischeProzesse in Gang setzen, von denen manche über komplizierte Zwi-schenstufen eben zur Selbstreproduktion führen und letztlich dasLeben ausmachen. Solche Moleküle reagieren aber nicht auf jedeelektromagnetische Welle bzw. jedes Photon, sondern gezielt auf sol-che, die gerade die richtige Energiemenge zum Auslösen der für sietypischen Prozesse aufweisen. Man kann daher – und tut dies auch –die Mikroalgen, die zu den elementarsten Lebensformen zählen, nachden für sie typischen Farben einteilen, denn sie wirken wie ein Pig-ment, indem sie gezielt Photonen einer bestimmten Energie (Lichteiner gewissen Wellenlänge) absorbieren. Die charakteristische grüneFarbe des Chlorophylls beruht z. B. darauf, dass dieses Molekül Lichtmittlerer Wellenlänge nicht absorbiert, sondern reflektiert, währendes sowohl kurzwelliges als auch langwelliges Licht absorbiert. Dieselektive Empfindlichkeit für Licht bestimmter Wellenlängen (respekti-

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ve Photonen bestimmter Energie) bildet daher einen elementarenBestandteil des Lebens: Licht verschiedener Energie und darauf gezieltreagierende Moleküle gehören untrennbar zum Leben. Insofern be-ruhte und beruht das Leben schon dann auf Farben bzw. der Selekti-vität für Licht verschiedener Wellenlänge (oder Photonen verschiede-ner Energie) bei bestimmten Molekülen, lange bevor es Augen gab,sie zu sehen. Andererseits, sobald das Farbensehen sich bei einemLebewesen herausbildet, findet es diese biologischen Gegebenheitenvor. Lebewesen, die das Farbensehen entwickelt haben, können dieInformation, die beispielsweise darin liegt, dass absterbendes Chloro-phyll sein Absorptionsverhalten ändert und nicht mehr bevorzugtLicht von 540 nm reflektiert (für uns: grün), nutzen, um vielleicht fri-sches Grün von trockenem zu unterscheiden oder reife Früchte vonunreifen. Dazu passt, dass die Sehpigmente in unseren Augen, diesogenannten Opsine, sich als chemisch eng verwandt mit solchen fürdie Fotosynthese geeigneten Molekülen wie dem Chlorophyll erwei-sen. Da die Aufgabe ähnlich ist, nämlich Photonen einer bestimmtenEnergie ›einzufangen‹, die bestimmte elektrische und chemische Pro-zesse in Gang setzen, die wiederum nachgeschaltete Zellen beein-flussen, ist dies auch nicht verwunderlich.2 Der Zusammenhang vonFarbe und Leben, wie er so oft von Dichtern beschworen wurde, er-hält somit ein gewisses Fundament in sachlichen Gegebenheiten.

Wie man inzwischen aus Untersuchung der beteiligten Gene weiß,ist es im Verlauf der Evolution zwar vermutlich nicht mehrfach zurEntwicklung des Sehens und auch des Farbensehens gekommen, aberes haben sich in unterschiedlichen Gattungen und Arten sehr unter-schiedliche Formen von Augen sowie von Sehpigmenten herausgebil-det.3 Wie erwähnt, verfügen die Bienen sowie viele Fische und fastalle Vögel über ein spezifisches Farbensehen und es gibt noch weitereBesonderheiten bei einzelnen Arten. Es zeigt sich, dass die höchstunterschiedlichen Farbwahrnehmungsvermögen der Tiere jeweils prä-zise an ihre Umweltbedingungen angepasst sind. Es macht beispiels-weise wenig Sinn, uv-Licht wahrnehmen zu können, wenn dies imgegebenen Lebensraum gar nicht vorkommt, was etwa für Fische zu-trifft. Das Farbensehen des Menschen ist, im Gegensatz zu den mei-sten Säugetierarten, sehr gut ausgeprägt, wobei allerdings unter denWirbeltieren die Säugetiere das Schlusslicht bilden. Wir teilen die ge-nannte Fähigkeit des trichromatischen Farbensehens mit den meistenAffenarten unter den sogenannten Altweltaffen, während die soge-nannten Neuweltaffen mit ihrem Lebensraum in Südamerika, die sichvor vielleicht 35 bis 40 Millionen Jahren von den gemeinsamen Vor-

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fahren abgespalten haben, nur über ein reduziertes Farbunterschei-dungsvermögen verfügen. Im Folgenden werden die Entwicklungenbei anderen Wirbeltieren und Insekten nur gestreift, wir interessierenuns vor allem für die menschliche Farbwahrnehmung. Damit kannman sagen, dass die Entwicklung zum vollständigen trichromatischenFarbensehen, wie es der Mensch aufweist, (wir verfügen – abgesehenvon den Stäbchen – über drei verschiedene Arten von Rezeptoren,die jeweils für Licht verschiedener Wellenlänge besonders empfindlichsind, haben damit drei weitgehend unabhängige Parameter, was dieVoraussetzung für die Bildung dreidimensionaler Farbräume im Gehirnist), offensichtlich erst nach der Trennung der Stammbäume von Alt-welt- und Neuweltaffen erfolgt sein kann. Immerhin scheint sich auchbei manchen Neuweltaffen seitdem eine eigene Form des trichromati-schen Sehens entwickelt zu haben bzw. zu entwickeln, interessanter-weise nur bei den weiblichen Mitgliedern der Art, was auch ein Lichtauf den Evolutionsdruck wirft, dem die Farbwahrnehmung unterliegt.So ist die räumliche Orientierung, die die Farbwahrnehmung eherentbehren kann, beim männlichen Teil der Menschheit, der in Stam-mesgesellschaften beim Jagen weiter umherstreifte, bekanntlich imDurchschnitt etwas besser ausgebildet, während das Sammeln im Kul-turvergleich meist den weiblichen Angehörigen der Spezies oblag, dieauch bei uns Menschen über die weniger störungsanfällige Farbwahr-nehmung verfügen. (Natürlich liegt es mir fern, daraus normativeSchlüsse über die erstrebenswerte Rolle von Frauen in menschlichenGesellschaften abzuleiten. Dass es anatomisch aufweisbare Unter-schiede in männlichen und weiblichen Gehirnen gibt und die Ge-schlechter für unterschiedliche Aufgaben unterschiedlich gut geeignetsind, dürfte aber nicht zu bestreiten sein.) Wie dem auch sei, optima-le Farbwahrnehmung und optimale Sehschärfe oder auch Raumwahr-nehmung sind nicht gleichzeitig zu haben.

Das Farbensehen gibt es nicht umsonst. Es muss bestimmte Aufga-ben erfüllen, muss für das damit ausgestattete Lebewesen im gegebe-nen Habitat biologische Vorteile bringen, um die damit verbundenenKosten aufzuwiegen. Offenbar bietet es eine Unterscheidungsmöglich-keit zusätzlich zu Form und Helligkeit und man kann, da wir auch mitSchwarz-Weiß-Filmen und Fotos ganz gut zurechtkommen, fragen,was diese zusätzliche Unterscheidungsmöglichkeit bringt. Welchessind also die Vorteile, die bei unseren Vorfahren die Ausbildung desFarbensehens begünstigten? Zur Beantwortung dieser Frage muss einwenig weiter ausgeholt werden, denn auch Säugetiere, die nicht überdas gleiche entfaltete trichromatische Farbensehen wie der Mensch

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verfügen, haben in der Regel zumindest ein dichromatisches Farben-sehen, besitzen also zwei verschiedene Arten von Rezeptoren, mitdenen Unterschiede in der Wellenlänge des Lichts registriert werdenkönnen. Man geht davon aus, dass im Verlaufe der Evolution die Ur-Säugetiere, die vor gut 100 Millionen Jahren auftraten, an das Lebenbei Nacht angepasst waren und in der Folge das bereits bei Reptilienvorhandene gut entwickelte Farbensehen eingebüßt haben. Nur dieBeuteltiere Australiens haben dieses ursprüngliche Farbensehen derReptilien anscheinend beibehalten.

In den Augen der Ur-Wirbeltiere war demnach zunächst nur einRezeptortyp (das Ur-Stäbchen) vorhanden, mit dem nur Hell-Dunkel-Unterschiede wahrgenommen werden konnten. (Die Empfindlichkeit-scharakteristik der Stäbchen im menschlichen Auge und des Lichtre-zeptors im Froschauge sind nahezu identisch.) Daraus hat sich danneine weitere Form, der Ur-Zapfen, entwickelt, der für das Sehen beiTageslicht geeignet ist. Diese Sorte von Zapfen, die unseren S-Zapfenrecht verwandt gewesen sein dürfte, hat sich dann vor circa 200 Mil-lionen Jahren aufgespalten in eine Sorte, die für kurzwelliges Licht(von uns meist als blau wahrgenommen) empfindlich war (die direkteVorform unserer S-Zapfen), und eine andere, die eher von langwelli-gem Licht, das wir heute im Spektrum dem gelbgrünen Bereich zu-ordnen würden, maximal erregt wird. Der Vorteil lag wahrscheinlichzunächst nur darin, dass der Bereich des sichtbaren Lichts dadurcherweitert wurde, während die Verrechnung der Information beiderZapfentypen sich erst später entwickelt hat. Das ist dann die Stufeder sogenannten Dichromaten, solcher, die eben nur zwei verschiede-ne Farben unterscheiden können. Bei Wirbeltieren haben sich danndaraus Tri- und Tetrachromaten entwickelt, während die Vorfahrender Säugetiere ihr Farbensehen zunächst rückgebildet haben, ehe siedann in einem zweiten Anlauf es zumindest teilweise zurückgewon-nen haben.

Warum es bei der Entwicklung des Farbensehen bei Wirbeltierenaus einer Phase, in der nur Hell-Dunkel-Unterschiede wahrgenommenwerden konnten, zu einer Sensibilität für die Zusammensetzung desLichts nach eher langwelligen oder kurzwelligen Anteilen, denen wohldie Empfindungen gelb und blau (warm und kalt) zugrunde liegen,und warum dies den betroffenen Lebewesen biologische Vorteile bot,ist nicht mit Sicherheit zu beantworten. Einige Vermutungen könnenaber angestellt werden. Aufgrund physikalischer Gegebenheiten, unterdenen der Rayleighschen Beugung an Molekülen besondere Bedeu-tung zukommt, enthält direktes Sonnenlicht eher langwellige Anteile

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(und wirkt auf uns gelblich), während das indirekte, kurzwellige, vomHimmel abgestrahlte Licht uns eher bläulich erscheint. Deshalb ist derHimmel (für uns) blau und sehen Schatten, die nur indirekt vom Him-mel beleuchtet werden, (für uns) eher bläulich aus. Die Unterschei-dung von direktem Sonnenlicht und indirektem Licht ist mit zweiZapfentypen für lang- und kurzwelliges Licht möglich und es leuchtetunmittelbar ein, dass dies biologisch sinnvoll ist.

Die ersten Säugetiere waren anscheinend kleine, nachtaktive Tiere,die den Spitzmäusen ähnelten, und es spricht viel dafür, dass sie vorallem über eine Art Vorform der Stäbchen im Auge verfügt haben.Nach dem Sauriersterben vor ca. 65 Millionen Jahren, als die Säuge-tiere sich ausbreiteten, haben letztere offenbar zunächst zusätzlicheine und dann zwei Arten Zapfen entwickelt oder wieder zurück ent-wickelt, mit dem Sehen bei Tageslicht möglich wurde. Unsere Vorfah-ren vor gut 35 Millionen Jahren verfügten also, ebenso wie vieleandere Säugetiere, über eine Farbwahrnehmung, die in etwa der ent-spricht, die die meisten unter den sogenannten Rot-Grün-Blinden in-nerhalb der menschlichen Bevölkerung aufweisen. Genau genommensind die meisten als farbenblind bezeichneten Menschen nicht wirk-lich farbenblind, sondern nur rot-grün-blind. Sie können immer nochunterscheiden, ob eher lang- und kurzwellige Anteile im wahrgenom-menen Licht überwiegen, die sie empfindungsmäßig vermutlich nachgelb und blau sortieren. Man spricht vom Daltonismus, wenn Rotund Grün nicht unterschieden werden können, bzw. von Neuterano-malie, wenn eine geringe Effektivität des Rot-Grün-Kanals im Vergleichzum Gelb-Blau-Kanal vorliegt. Die geläufige assoziative Anmutung derFarben nach ›warm‹ oder ›kalt‹ auch bei uns Trichromaten verweistnoch auf diese ursprüngliche Dimension der Farbempfindungen.

Nun ist langwelliges Licht für Menschen (und andere Säugetiere)gut verträglich. Es wird wegen der darin meist verstärkt enthaltenenInfrarotanteile über die Haut auch leichter als warm wahrgenommen,während das ultraviolettreiche kurzwellige, bläulich wirkende Lichteher zerstörerisch wirkt. Im warmen, langwelligen Licht fühlen wiruns wohler. Unsere künstlichen Lichtquellen wie Glühbirnen enthaltenerheblich mehr langwellige Anteile als das Tageslicht. Andererseitsbeurteilen wir in erster Linie nicht die Farben von Lichtquellen, son-dern die von Objekten bzw. von deren Oberflächen. Was also bringtes für ein Lebewesen, gelbe oder blaue Oberflächen von weißen,grauen oder schwarzen zu unterscheiden? Man kann spekulieren, dassdie uns Normalsichtigen grün erscheinende Vegetation für dichroma-tisch wahrnehmende Säugetiere wie für viele Rot-Grün-Blinde eher

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gelblich aussieht. Für sie existiert ein sogenannter Neutralpunkt zwi-schen Gelb und Blau, den sie als farblos oder grau beschreiben. Dabei manchen Menschen die Rot-Grün-Blindheit auf nur ein Auge be-schränkt ist, sodass sie Normalsichtigkeit mit Daltonismus vergleichenkönnen, sind solche Vermutungen möglich. Die Verwandtschaft vonGrau und Grün, die schon Goethe konstatierte und Kandinsky über-nahm, dürfte also einer älteren Phase der Farbwahrnehmung entstam-men, in der zwischen Rot und Grün nicht unterschieden werdenkonnte. Wasserflächen, in denen der blaue Himmel sich spiegelt,dürften dagegen von erheblicher ökologischer Bedeutung sein. Esleuchtet auch ein, dass Unterschiede nach kalt/blau und warm/gelbfür Pflanzenfresser den Feuchtigkeitsgehalt der Nahrung indizierenkönnen. Früchte sind eher im warmen, gelben Bereich zu finden undHaut oder Fell von Artgenossen und anderen Tieren ebenfalls. KalteFarben weisen lebende Säugetiere jedenfalls in ihrem Äußeren nichtauf. Das Blau der Augen bei manchen Europäern beruht nicht aufeinem blauen Pigment, sondern auf der Wirkung eines trüben Medi-ums vor Dunkelheit.

Wahrscheinlich aber liegt der wesentliche Vorteil gar nicht so sehrim Auseinanderhalten von langwelligem und kurzwelligem Licht, dasvon Oberflächen reflektiert wird. Ein weiterer Evolutionsdruck könntedadurch entstanden sein, dass die spektralen Änderungen des Lichtsim Tagesverlauf zu kompensieren waren. Monochromate könnennämlich keine korrekten Helligkeitsempfindungen bilden. Wie im Ab-schnitt über Farbkonstanz ausgeführt wird, bietet ein dichromatischesSehen große Vorteile, wenn es darum geht, Reflektanzen von Lumi-nanzen (= wahrgenommenen Helligkeiten) zu unterscheiden, also bei-spielsweise ein massives Objekt von einem Beleuchtungsphänomenwie dem Schatten, sodass die räumliche Wahrnehmung gegenüberMonochromaten entscheidend verbessert wird. Oberflächen erschei-nen verschieden hell je nach Winkel, in dem sie vom Licht getroffenwerden, sodass ein helles, verschattetes Objekt und ein dunkleres,das mehr Licht empfängt, in der wahrgenommenen Helligkeit gleichsein können. Diese beiden Fälle muss die Wahrnehmung aber unter-scheiden. Wir können davon ausgehen, dass das Auseinanderhaltenvon Hohlräumen, Schatten oder Lichtreflexen einerseits und festenÄsten andererseits biologisch relevant ist. Derjenige Bäume bewoh-nende Affe, der ständig ins Leere griff, gehört wohl nicht zu unserenVorfahren. Für dieses evolutionäre Entwicklungsschema spricht übri-gens auch, dass die meisten Farbenblinden Weiß wie Normalsichtigesehen, was nicht der Fall wäre, würden sie Weiß lediglich so bilden,

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wie es unsere Schulbücher behaupten, nämlich nur bei ausgewogenerReizung aller drei Rezeptortypen.

Die Entwicklung der Trichromasie

Nehmen wir, um biologisch zu argumentieren, die Situation einesbelaubten Baumes, wie er zum Habitat unserer Vorfahren gehörthaben mochte. Wir sehen viel Grün, das alle Werte zwischen Hellgrünund Schwarz annehmen kann, sehen den Stamm, Äste und Zweige,vielleicht dazwischen den blauen Himmel. (Auch Dichromaten kön-nen die Farbe der Vegetation und die des Himmels unterscheiden.) Esgibt direktes und indirektes Licht, durchscheinende Blätter im Gegen-licht und häufig sogar glänzende Stellen vorwiegend an den Blatträn-dern, wo es zu einer Spiegelung des Sonnenlichts kommt. Die einzel-nen Blattformen mit ihren Lichtern, Schattenzonen und Glanzlichternsind von den Ästen und Zweigen vor allem wegen der Form zu unter-scheiden. In einer solchen Umgebung Früchte, insbesondere reifeFrüchte, allein an ihrer Form zu erkennen, ist nicht eben einfach(Abb. 1). Der gängige Test für Farbenblindheit, der sogenannte Ishi-hara-Test, funktioniert übrigens genau nach diesem Prinzip. Zufälligverteilte hellere und dunklere Flecken können nur im Rückgriff auffarbige Unterscheidungen von der Wahrnehmung zu einer Figur aufeinem Grund organisiert werden.

Wenn wir uns einmal in die Lage des Baumes versetzen, der Vor-teile davon hat, wenn seine Früchte von Affen verzehrt werden, wasden darin enthaltenen Samenkörnern eine bessere Verbreitung si-chert, so empfiehlt es sich für ihn, diese Früchte möglichst anlockendund erkennbar werden zu lassen, sodass sie aus der geschildertenUmgebung herausstechen. Der Vorgang der parallelen Ausbildung vonauffälligen Fruchtfarben und trichromatischem Farbensehen, das dieseAuffälligkeit auch erkennt, bei unseren Vorfahren ähnelt dem beiPflanzen, die auf Bestäubung durch Bienen setzen und ihre Blüten fürletztere auffällig und attraktiv gestaltet haben. Alles außer Grün warerlaubt, solange die Bienen die Blüten gut erkennen können. DerenFarbensehen stimmt jedoch nicht mit dem menschlichen überein. Sieverfügen über einen Rezeptor im Bereich von 340 nm (Bienenpurpur),haben aber keinen, der den menschlichen L-Zapfen entspricht. VieleBlüten reflektieren daher bevorzugt für Menschen unsichtbares uv-Licht. Setzen die Pflanzen dagegen auf eine Befruchtung durch denWind, können ihre unscheinbaren Blüten natürlich grün bleiben. Füruns ist Rot die auffälligste Farbe und entsprechend haben manche

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Pflanzen, die auf Verbreitung durch Primaten setzen, gelernt, ihre rei-fen Früchte im rötlichen Bereich auszubilden. Denn auch die Pflanzenprofitieren von der entwickelten Wahrnehmungsleistung ihrer Kun-den. Auch hier ist es eher so, dass wir gelernt haben, die Empfindung›Rot‹ zu entwickeln, um die biologisch relevanten Früchte zu erken-

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Abb. 1: Farbe hilft beim Auffinden biologisch wichtiger Objekte

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nen und attraktiv zu finden, als dass wir diese Früchte mögen, ›weil‹sie rot aussehen.

Es scheint, dass vor 35 Millionen Jahren, als einige unserer Prima-ten-Vorfahren zum trichromatischen Sehen übergingen, also einemSehen, das im Rot-Grün-Bereich feinste Farbunterschiede erkennenkann, auch die Vorfahren unserer Bananenstauden, Apfel-, Birnen-,Aprikosen-, Orangen- und Zwetschgenbäume, um von anderen Früch-ten wie Ananas oder Trauben zu schweigen, sowohl das Fruchtfleischzuckerhaltiger als auch die äußere Schale frei von Chlorophyll unddamit gelblicher und rötlicher werden ließen. Man spricht von Ko-evolution.4 Reife Früchte in Büschen oder Bäumen zu finden ist fürMenschen mit Rot-Grün-Blindheit eine schwierige Aufgabe. UnreifeFrüchte, die Tannin enthalten, sind für uns Menschen jedoch nichtbekömmlich und überreife Früchte entweder ungenießbar oder esgibt sie nicht mehr, da sie vorher schon von Fressfeinden geerntetwurden. Tannine sind Gerbstoffe, die viele Pflanzen entwickelt haben,um sich gegen das Gefressenwerden zu schützen. Die meisten Pflan-zenfresser unter den Tieren haben sich inzwischen an diese Entwick-lung angepasst und vertragen grünes Laub und unreife Früchte. DieVorfahren der Menschen konnten dies ebenso wenig wie die heuti-gen Menschen. Sie waren auf den Verzehr reifer Früchte ohne Tanni-ne angewiesen. Man kann sich leicht vorstellen, dass unsere äffischenVorfahren, für die geeignete Früchte wegen ihrer Farbe heraussta-chen, einen gewissen Überlebensvorteil genossen. Nicht nur beimraschen und sicheren Auffinden der Früchte, auch bei der Beurteilungihres Reifegrades war die Farbwahrnehmung von erheblichem Vorteil.Energiereichere Nahrung konnte wiederum für ein vergrößertesGehirnvolumen genutzt werden etc. Menschliche Farbenblinde, genaugenommen Rot-Grün-Blinde, übersehen leicht rote Dinge und wei-chen beim Früchtesammeln, wo sie deutlich schlechter als Normal-sichtige abschneiden, eher auf den Geruchssinn aus oder achten aufTexturen. Allerdings haben sie leichte Vorteile beim Sehen in derDämmerung und man kann deshalb vermuten, dass sie in nördlichenLändern, wo es zu sehr langen Dämmerungszeiten kommt, häufigerzu finden sein dürften als in Äquatornähe. Diese aus evolutionärenÜberlegungen abgeleitete Hypothese wurde inzwischen überprüft undbestätigt. Dennoch sind auch in Polargebieten über 90% der Bevölke-rung voll farbtüchtige Trichromaten, was den biologischen Nutzendieser Art von Wahrnehmung unterstreicht.

Den Übergang vom dichromatischen zum trichromatischen Sehenkann man sich so vorstellen, dass der vormals ›gelbe‹ Bereich weiter

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aufgespalten wird nach rot/grün. Dies war – wie erwähnt – vermutlichvor circa 35 Millionen Jahren der Fall, jedenfalls nachdem die Ent-wicklungslinien der Affen der alten und neuen Welt sich getrennthaben. Die Trichromatizität, dass wir (zusätzlich zu den S-Zapfen)anstelle nur eines Zapfens im langwelligen Bereich über deren zweiverfügen, die L- und M-Zapfen eben, hat sich innerhalb der Säugetie-re nur bei den größeren Affen und Primaten der alten Welt ausgebil-det. Sie bilden die phylogenetische Gruppe, der auch der homo sapi-ens angehört. Affen aus Südamerika (die Platyrrhinen) dagegen sindweiterhin Dichromaten, wenn sie nicht eine eigene interessante Formder Trichromasie ausgebildet haben, die jedoch auf die Weibchenbeschränkt ist. Dass etwa zu diesem Zeitraum sich die entsprechen-den Landmassen getrennt haben, stimmt gut mit dem geschildertenBefund überein. Es gibt im menschlichen Auge (und dem vieler Alt-weltaffen) neben den für die Detektion von kurzwelligem Licht (=›blau‹) zuständigen Zapfensorten nunmehr zwei im langwelligen, ›gel-ben‹ Bereich, deren maximale Empfindlichkeit für unterschiedlicheWellenlängen des Lichts sich ein wenig unterscheidet. Nun wird dasErkennen der Früchte im grünen Laubwerk sowie die Beurteilungihres Reifegrades durch die Rot-Grün-Differenzierung entscheidendverbessert. Nicht nur, dass Farbe die Zusammengehörigkeit vonObjekten erkennen lässt, was die Trennung von Ziel (Früchte) undHintergrund (Laub) erleichtert, sie sorgt auch für eine große perzep-tuelle Auffälligkeit. Wenn man Menschen Aufgaben der Objektein-teilung nach Farbe, Form oder Funktion stellt, so wurde über allekulturellen Grenzen hinweg gefunden, dass es eine klare Entwick-lungsordnung gibt, bei der das Sortieren nach Farbe zuerst erscheint.Ohne diese Auffälligkeit, dieses Herausstechen aus einer andersfarbi-gen Umgebung, das in Bruchteilen einer Sekunde geleistet wird, wäredas Farbensehen von wenig bzw. deutlich geringerem Wert.

Wahrscheinlich aber sind die Vorteile des trichromatischen Sehensumfassender, als dass es uns allein beim Auffinden von Früchten be-hilflich ist. Eine Reihe von natürlich in Pflanzen vorkommenden Stof-fen wie z. B. die Karotenoide, mit denen Vitamin A verwandt ist, sindfür uns lebensnotwendig und wir erkennen sie dank unseres entwi-ckelten Farbensehens anhand ihrer Farbe. Bei anderen dieser in Pflan-zen vorhandenen auffälligen Moleküle handelt es sich um Antioxy-dantien, die damit für die Gesundheit von Bedeutung sind. Einentwickeltes Farbensehen hilft, solche Stoffe zu finden. Dass die Rho-dopsine (der Sehpurpur) im Auge chemisch mit den erwähnten Karo-tenoiden zusammenhängen, fügt dem noch eine bezeichnende Note

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hinzu. Übrigens haben Pflanzen, schon lange bevor Primaten dastrichromatische Sehen entwickelt haben, durch ihre Färbung Tiere zueinem Verhalten verführt, das ihnen nützt. Andererseits können Tiere,wie z. B. die Flamingos, wenn sie über die Nahrung Karotenoide auf-nehmen, manchmal als sekundäre Folge selber eine rosa Färbungannehmen und damit für Artgenossen (die sogar Tetrachromaten sind)gesund und attraktiv erscheinen. Es scheint jedoch, dass Geruch undGeschmack, die anderen Mittel, mit denen die Pflanzen Tiere mani-pulieren können, nicht gleichzeitig mit einer Konzentration auf dieFarbigkeit optimiert werden können. Die Produktion der prächtigenfarbigen Oxykarotenoide verhindert in der Regel, wie Rosenzüchterwissen, dass die kleineren, für Geschmack und Geruch verantwortli-chen Terpen-Moleküle in gleichem Umfang produziert werden. Dasswir Menschen gegenüber anderen Säugetieren eher visuell als olfakto-risch orientiert sind, stimmt damit gut überein. Die gewisse Emotio-nalität, der anziehende und zum Verzehr anregende Charakter, dervon reifen Früchten und ihrer warmen Farbigkeit ausgeht, dürfte je-doch ähnlich wie der attraktive süße Geschmack zuckerhaltiger Früch-te auf Resten instinktgesteuerten Verhaltens beruhen. Jedenfallskonnten unsere Vorfahren vor gut 35 Millionen Jahren eine biologi-sche Umwelt vorfinden, in der farbige Signale von den unterschied-lichsten Lebewesen bereits vielfach genutzt wurden und eine Reihewichtiger Moleküle wie Hämoglobin, Chlorophyll oder eben die Karo-tenoide gerade im Bereich von 500–700 Nanometern ein unter-schiedliches Reflektanzverhalten zeigen, was den Nutzen einer Ausbil-dung oder Verfeinerung ihrer Farbwahrnehmung bei langwelligemLicht zweifellos vergrößert. Unsere subtile Unterscheidungsfähigkeit indiesem ›warmen‹ Bereich kann demnach als Anpassung an eine gege-bene Umwelt interpretiert werden.

Ein anderes Argument für die gegebene Ähnlichkeit von L- und M-Zapfen rührt von der Evolution her. Wir wissen dies aus Untersuchun-gen an Genen. Es ist inzwischen gelungen, die Gene, die für die Aus-bildung der verschiedenen Opsine, den Hauptbestandteilen der Foto-rezeptoren im Auge, zuständig sind, zu identifizieren. Sie enthaltenviele membranartig übereinanderliegende Schichten aus Rhodopsinoder Sehpurpur. Rhodopsine wiederum bestehen aus dem ProteinOpsin und aus Retinal. Die leicht verschiedenen Opsine sind für dieunterschiedlichen Empfindlichkeiten der Fotorezeptoren verantwort-lich. Die relative Nachbarschaft oder Entfernung der einzelnen Genevoneinander gibt dabei ein Indiz für den Zeitraum an, in dem sie sichvoneinander getrennt haben, ebenso wie das Maß an Übereinstim-

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mung oder Abweichung in ihrem chemischen Aufbau. Die Gene fürunsere ›roten‹ und ›grünen‹ Opsine, d. h. Teilen der L- und M- Re-zeptoren im langwelligen Bereich, liegen nebeneinander nahe demEnde auf dem langen Arm des X-Chromosoms (Xq28), haben sich alsovor noch nicht allzu langer Zeit erst auseinander entwickelt, das›blaue‹ Opsin-Gen der S-Zapfen dagegen liegt weit entfernt auf Chro-mosom Nr. 7, während das Opsin-Gen für die Stäbchen sich auf Chro-mosom Nr. 3 befindet. Der genetischen Uhr folgend entwickelte sichaus einem Ur-Rhodopsin vor circa 800 Millionen Jahren der Vorfahrdes menschlichen Farbpigments, wahrscheinlich gleichzeitig mit demEntstehen von Zapfen, vor circa 200 Millionen Jahren fand die Tren-nung des ›blauen‹ und des noch ungeschiedenen ›rot/grünen‹ Opsin-Gens bei Wirbeltieren statt, während – wie erwähnt – die Gen-Dupli-kation im langwelligen Bereich bei Catarrhinen (Schmalnasenaffen,eine Unterabteilung der Primaten), die getrennte ›Rot‹- und ›Grün‹-Opsine erzeugte, bei einem frühen Catarrhin-Primaten vor circa 35Millionen Jahren erfolgte. Die Aminosäurensequenzen, welche dieProteine für das L- und M- Pigment steuern, unterscheiden sich nuran 15 von 364 Stellen.5 Erst nach der Abspaltung der platyrrhinenNeuweltaffen von den Catarrhinen hat sich das trichromatische Sehenentwickelt und diese Entwicklung sowie der Prozess der Aufspaltungim langwelligen Bereich ist auch gegenwärtig keineswegs abgeschlos-sen. Normalsichtige Menschen mit bis zu vier verschiedenen ›roten‹und bis zu sieben verschiedenen ›grünen‹ Opsinen wurden beobach-tet. Da die Outputs dieser unterschiedlichen Opsine jedoch nicht vonentsprechenden Ganglionzellen miteinander verglichen bzw. gegen-einander verrechnet werden, führt ihr Vorhandensein nicht zu einergrundsätzlich anderen Wahrnehmung.

Als weitere Folge dieser farbigen Differenzierung sind auch Tiere –Artgenossen und mögliche Beutetiere ebenso wie gefährliche Raubtie-re – in einem solchen urwaldartigen Habitat anhand ihrer Farbe bes-ser erkennbar. Die mit der Entwicklung der Trichromatizität gegebenesubtile Unterscheidung von Farbnuancen im warmen Bereich konnteselbst bei Primaten, die sich von Blättern ernähren, wohl auch zurBeurteilung der Sukkulenz (des Wassergehalts) von mehr oder weni-ger grünem Laub genutzt werden. Daneben scheint für so sozialeLebewesen wie Affen und Hominiden auch folgender Aspekt von Be-deutung zu sein: Wir können die Haut, deren Gesundheit, den emo-tionalen Zustand von Artgenossen relativ gut beurteilen. Im Sinneeiner Exaptation dürfte als Folge der Trichchromatizität schließlich dieEmotionalität resp. Sexualität von Artgenossen (Paarungsbereitschaft,

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Erröten, blass werden) durch rosa Farbe signalisiert werden. UnterExaptation versteht man die Umnutzung eines durch Adaption ge-wonnenen Zuges zu anderen Zwecken als den, für den die ursprüngli-che Adaption erfolgte. Die Federn der Vögel z. B. haben sich zu-nächst zur Regulierung des Wärmehaushalts bei Reptilien entwickeltund wurden dann erst zum Fliegen umgenutzt. Der auffällige Einsatzvon rosafarbenen gut durchbluteten Hautpartien als sexuelles Signalbei vielen Affenarten kommt einem hier in den Sinn. Gerade für dieNuancen in der Hautfarbe von Mitmenschen haben auch wir ein be-sonders feines Empfinden. Der Bericht eines Malers, der durch einekleine Verletzung seines Kortex die Fähigkeit, Farben wahrzunehmen,verloren hat, ist hier aufschlussreich. Die mausgraue Farbe, die für ihndie Haut seiner Partnerin angenommen hatte, stellte ihn vor schwereemotionale Probleme. Aber auch beim Essen hatte er Schwierigkeiten,die grauen Substanzen, die er zu sich nahm, schmackhaft zu finden.Die unheilvolle Rolle, die wir der noch heute und wider besseresWissen der Hautfarbe eines Menschen bei der Beurteilung seinerGruppenzugehörigkeit zuweisen, scheint ebenfalls auf eine ehedembiologisch sinnvolle Differenzierung hinzuweisen.

Das Farbensehen hat demnach vitale Bedeutung für die Partner-wahl und die sozialen Beziehungen, für den Essenserwerb, das Erken-nen von Raubtieren oder Beute, die Kommunikation und Gewinnungvon Information über die Umgebung in taxonomisch unterschiedli-chen Organismen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Andrew Parker, Seven Deadly Colours. The Genius of Nature’s Palette and

how it Eluded Darwin, London 2005.

2 Ein Opsin, das von einem Photon angeregt wurde, ändert kurzfristig die räumli-

che Anordnung seiner Bestandteile, sodass andere Molekülgruppen sich dort

anlagern und zusammenfinden können, die den genannten Prozess auslösen.

Springt das Opsin nach einer kurzen Zeitspanne in den ursprünglichen Zustand

zurück, endet der Vorgang.

3 Vgl. Andrew Parker, wie Anm. 1.

4 Vgl. John D. Mollon, »Tho’ She Kneel’d in That Place Where They Grew …«: The

Uses and Origins of Primate Colour Vision, wieder abgedruckt in: Readings on

Color, Alex Byrne und David R. Hilbert (Eds.), Vol. 2 The Science of Color, Cam-

bridge und London 1997, S. 379–396.

5 Vgl. Karl R. Gegenfurtner, Gehirn und Wahrnehmung, Frankfurt/M. 2002, S. 103.

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Farbe und Kognition

Grundzüge der visuellen Wahrnehmung im Gehirn

Das Gehirn ist ein Teil des Nervensystems. Es besteht natürlich ausZellen, im Wesentlichen sind dies aber spezialisierte Nervenzellenoder Neuronen, deren Eigenheit darin besteht, dass sie elektrischeSignale ansammeln und weiterleiten können. Auch können sie sich imGegensatz zu anderen Zellen nicht (oder nur selten) regenerieren. IhreAnzahl im Gehirn ist unvorstellbar groß und beträgt circa 1010, wäh-rend die Anzahl ihrer Verknüpfungen im Bereich von 1013 liegt. Neu-ronen verfügen neben dem Zellkörper samt Zellkern über ein Axon, d.h. einen langen und dünnen Fortsatz, in dem Impulse weitergeleitetwerden können. Ein solches Axon, das über einen Meter lang werdenkann, verzweigt sich am Ende vielfach und über dessen Endungennehmen die Neuronen Verbindungen zu vielen anderen Zellen auf.Außerdem verfügt ein Neuron über die relativ kurzen astartigen Den-driten, wo umgekehrt die Axone anderer Zellen ›andocken‹ können.Die so geschaffenen Verbindungen zweier Zellen werden Synapsengenannt. Man unterscheidet wegen der nach Eingang und Ausganggerichteten Übertragung präsynaptische und postsynaptische Zellenbzw. bei Nervensträngen aufsteigende (afferente) und absteigende(efferente) Bahnen. Gewisse chemische Stoffe, die Neurotransmitter,sind imstande, diese Fähigkeit der Weiterleitung, sei es hemmendoder fördernd, zu beeinflussen, wobei sie ihre Wirkung mehr oderweniger gezielt nur bei den Synapsen bestimmter Neuronengruppenentfalten. Solche speziellen Botenstoffe, unter denen Adrenalin undDopamin vielleicht am bekanntesten sind, werden meist vom Gehirnselbst erzeugt, doch können Drogen z. B., aber auch antipsychotischeMedikamente, wie man sie seit den fünfziger Jahren des letzten Jahr-hunderts einsetzt, eine ihnen vergleichbare oder sogar stärkere Wir-kung entfalten.

Eine einzelne Nervenzelle kann nicht viel anderes tun, als ein elek-trisches Potenzial aufzubauen und, wenn ein gewisser Schwellenwertüberschritten wird, zu ›feuern‹, d. h. ihr Potenzial über die teilweisesehr langen Axone an die Dendriten anderer Nervenzellen abzugeben,wobei die Stärke der jeweiligen Synapsen, d. h. ihre Durchlässigkeit,

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von Belang ist. Die inzwischen gut untersuchten Details der Vorgängeauf molekularer Ebene brauchen uns hier nicht zu interessieren. ImWesentlichen geht es um eine Änderung der Permeabilität für be-stimmte Ionen. Nach einer solchen Entladung bildet die Neuronenaber rasch wieder ihr Ruhepotenzial aus. Damit Neuronen arbeitenkönnen, brauchen sie für ihre Stoffwechselprozesse sowohl Glucoseals auch Sauerstoff und zwar, verglichen mit anderen Körperzellen,recht viel. Obwohl das Gehirn nur 2% des Körpergewichts ausmacht,erhält es 16% der Blutversorgung. Man kann davon ausgehen, dassaktive Zellen mehr Blut benötigen als passive, sodass der regionalecerebrale Blutfluss, abgekürzt rcbf, einen Hinweis auf Gehirnaktivitä-ten in bestimmten Regionen gibt.

An der empfangenden Zelle kommen natürlich viele solcher Signalean, die erregend oder hemmend sein können. Dabei ist der Beitrageines einzelnen Axons zum Schwellenpotenzial der zu erregendenZelle gering und beträgt nur ein bis fünf Prozent. Das heißt, dass dieBeiträge vieler Axone nötig sind, um die postsynaptische Zelle zueiner Reaktion zu bringen. Deren Ausgangspotenzial ist immer dis-kret: Entweder die Zelle feuert oder sie feuert nicht, während die ein-gehenden Einzelbeiträge im Prinzip einfach addiert werden. Kommenmehrere Signale gleichzeitig an, die sich wechselseitig verstärken, istdie Chance, dass das Aktionspotenzial erreicht wird, natürlich höher.Deshalb dürfte die Rolle der Synchronizität bei Gehirnvorgängen rechterheblich sein. Sie ist zwar noch nicht gut verstanden, bildet gegen-wärtig jedoch eines der spannendsten Forschungsgebiete. Die Ge-schwindigkeit der Informationsverarbeitung schwankt. Die Übertra-gung an Synapsen und Dendriten dauert etwa 5 Millisekunden und,je nachdem ob die Axone Myeline (eine fetthaltige Isolationsschicht)besitzen oder nicht, kann das Potenzial in ihnen sich mit einer Ge-schwindigkeit von bis zu 100 m pro Sekunde ausbreiten. Ohne Myeli-ne werden nur circa 1m/sec erreicht. Während der Pubertät erfahrenübrigens gerade in den Frontallappen viele Axone eine Myelinisie-rung, was gleichzeitig auch eine Konzentration auf bestimmte Ner-venbahnen bedeutet.

Wichtig ist noch die Plastizität der Synapsen. Ihre Durchlässigkeitliegt nicht ein für alle Mal fest, sondern kann sich verbessern oderverschlechtern. Manchmal ist eine solche Veränderung nur innerhalbeines gewissen Zeitfensters möglich und ein einmal erreichter Zustandwird dann dauerhaft fixiert, manchmal bleibt die Plastizität währendder gesamten Lebensdauer der Zellen erhalten. Wenn man Menschen,die nach der Geburt an einer Trübung der Linse leiden und deshalb

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als Blinde aufwachsen, durch eine spätere Operation die Sehfähigkeitzurückgibt, können sie allerdings viele der für das Sehen erforderli-chen Verknüpfungen nicht mehr aufbauen und müssen mühsam ver-suchen, wenigstens Teile davon zu erlernen. Ein solcher Fall, der vonOliver Sacks beschrieben wurde, handelt von einem Mann, der imAlter von 50 Jahren operiert wurde, doch die neu auf ihn einstürmen-den Seheindrücke als zu verwirrend empfand und sich lieber in derDunkelheit aufhielt.1

Liegen solche Zeitfenster nicht vor, können wir auch im Alter nochmanches lernen. Dabei gilt, dass neuronale Verbindungen, die nichtbestätigt werden, verstummen, wie umgekehrt Zellen leitfähiger wer-den, wenn sie häufiger erregt sind. Man spricht von der Hebb’schenRegel, die der kanadische Psychologe Donald Hebb schon 1949 auf-gestellt hat. In den lernfähigen Netzwerken von Neuronen erfolgt alsodie Speicherung erworbener Erfahrung über die Veränderungen dersynaptischen Stärke. In sie sind eher historische und statistische Er-fahrung eingegangen, als dass sie nach logischen Prinzipien systema-tisch geordnet wären. Man geht dabei von Prozessen der Selbstorga-nisation aus und kann mittels Computer – in silico – das Verhaltenselbst adaptierender Netze untersuchen.

Das Gehirn selbst lässt sich in Hirnstamm und die Hirnrinde (oderKortex) einteilen. Letztere verdankt ihren Namen der vielfach gefalte-ten Oberfläche, in der man Windungen (Gyri) und Furchen (Sulci)unterscheiden kann. Dieser Gehirnteil hat sich beim Menschen relativzu den anderen Teilen am stärksten entwickelt und ist Sitz solcher›höherer‹ geistiger Vorgänge wie Bewusstsein und Planung. Mehr alsdie Hälfte des gesamten Kortex ist an Verarbeitungsprozessen für dasSehen zumindest mitbeteiligt. Er besteht aus zwei Hemisphären mit jevier Lappen. Sie alle weisen an ihrer Oberfläche – dem Neokortex –fast überall sechs Schichten auf, die sich im Aufbau und ihren Be-standteilen kaum unterscheiden. Ob Nervenzellen gerade eher mitvisuellen oder auditiven oder sonstigen Aufgaben befasst sind, kannman ihnen von außen nicht ansehen. Dennoch gibt es im Gehirn eineräumlich gegliederte Aufgabenverteilung, ja auch innerhalb der Regio-nen reagieren benachbarte Neuronen meist ähnlich. Durch das Studi-um von Gehirnerkrankungen, wo es beispielsweise durch Schlaganfäl-le zur Zerstörung – man spricht von Läsionen – bestimmter Regionenkommt, war schon lange bekannt, dass völlig unterschiedliche geistigeFähigkeiten von solchen Läsionen betroffen sein können. Verschiede-ne Teile des Gehirns erfüllen demnach sehr unterschiedliche Funktio-nen. Unter anderem sind Aphasien (Störungen im Sprachverständnis)

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und Agnosien (neuronal bedingte Erkenntnisstörungen ohne Beein-trächtigung des visuellen Systems) seit langem bekannt, aber eskommt auch recht häufig zu Skotomen genannten Ausfällen an be-stimmten Bereichen des Gesichtsfeldes.

Was die Farbwahrnehmung im engeren Sinn betrifft, hat man z. B.eine Farbagnosie (Unfähigkeit, einem Objekt eine Farbe zuzuordnen),eine Farbennamenaphasie (unterschiedliche Farben können zwar ge-sehen, aber nicht benannt werden) und noch andere Störungen be-schrieben, von denen die Achromatopsie (oder zerebrale Farbenblind-heit, um sie von den auf einer Störung in der Retina beruhendenFormen zu unterscheiden), die wichtigste ist. Der viel gelesene Psy-chologe Oliver Sacks hat den Fall des Malers J. I. auch einer breiterenÖffentlichkeit bekannt gemacht, der nach einem kleineren Autounfalldie Fähigkeit, Farben wahrzunehmen, verlor, ohne dass die Bewe-gungs- und Objekterkenntnis beeinträchtigt war. Es gibt auch einedurch Kohlenmonoxidvergiftung hervorgerufene Störung, wo umge-kehrt die Fähigkeit, Farben zu benennen, erhalten bleibt, aber sonstwenig anderes noch bewusst wahrgenommen wird.2

Bekannt ist die Lateralisation, nach der die linke Gehirnhälfte denrechten Teil des Körpers steuert und umgekehrt. Auch das Sprachver-mögen ist auf der linken Gehirnseite angesiedelt, während andereAufgaben wie vor allem die der räumlichen Orientierung eher von derrechten Gehirnhälfte bewältigt werden. Leider hat die Entdeckungsolcher Tatsachen zu einer Reihe unsäglich dummer Bücher geführt,wonach die linke Gehirnhälfte verteufelt und die rechte in den Him-mel gehoben wurde. Da die linke Hälfte meistens dominiert, wird sieals verantwortlich für alles Schlechte auf der Welt angesehen undalles, was diese Dominanz bricht, als segensreich. Wie aus der Unter-suchung von split-brain-Patienten hervorgeht, bei denen die Verbin-dung zwischen den beiden Gehirnhälften meist zur Behandlung einersonst unbehandelbaren Epilepsie unterbrochen wurde, ist es, im Ge-gensatz zu den Behauptungen dieser Bücher, natürlich gut und häufigauch erforderlich, dass wir beide Gehirnhälften besitzen und sie auchim permanenten Austausch benutzen. Hier sei festgestellt, dass ers-tens, wenn überhaupt, dann eher der linken Seite so etwas wie Krea-tivität zugesprochen werden muss, während die rechte eher mit derLösung von Routineaufgaben beschäftigt ist, dass zweitens im Nor-malfall ohnehin über den Balken (oder: corpus callosum) ein beständi-ger Austausch stattfindet, der zur Bewältigung vieler komplexer Auf-gaben auch erforderlich ist, sowie dass drittens Frauen, deren corpuscallosum relativ stärker als das der Männer ausgeprägt ist, über eine

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bessere Kommunikation der beiden Hälften verfügen, ohne dassihnen das zum Schaden gereicht. Die Fähigkeit, Farben wahrzuneh-men, ist jedenfalls nicht auf eine Gehirnhälfte beschränkt. Bei allerfunktionalen Trennung verschiedener Gehirnbereiche sollte noch fest-gestellt werden, dass es sich um keine Einbahnstraßen handelt, son-dern eine Fülle von Verbindungen in beide Richtungen verläuft, sowiedass bei Schädigungen einer bestimmten Stelle benachbarte Gehirnre-gionen zu einem gewissen Teil die verlorenen Funktionen überneh-men können.

Der Okzipitallappen enthält die meist als V1 (das V steht für visu-ell) bezeichnete primäre Sehrinde, die an die 15% des gesamten Kor-tex ausmacht und in der fast alle von den Augen stammenden Infor-mationen ankommen. Sie wird wegen der charakteristischen Streifenauch area striata genannt. Menschen, bei denen diese Stelle zerstörtist, gelten als blind im alltäglichen wie im legalen Sinn. GewisseSchritte der visuellen Wahrnehmung finden aber nicht nur dort, son-dern auch in den sogenannten extrastriären Bereichen statt. So ist dieObjekterkenntnis in Bereichen des Temporallappens lokalisiert, wäh-rend im Parietallappen die Stellung des Körpers im Raum verankertist. Man kennt inzwischen an die 30 solcher mit dem Sehen verbun-dener Repräsentationen in der Hirnrinde und weitere in tieferen Hirn-strukturen sind zumindest zu vermuten.

Ein wichtiges Prinzip besteht noch in der retinotopen Ordnung.Darunter ist zu verstehen, dass bereits in der Retina nebeneinander-liegende Ganglienzellen überlappende, benachbarte rezeptive Felderbesitzen, die auch zu benachbarten Neuronen der höheren Ebeneprojizieren. Diese Ordnung bleibt erhalten: Was auf der Retina be-nachbart ist, ist es zumeist auch noch in anderen visuellen Zentren.Deswegen auch kann aus Skotomen (den Ausfällen im Gesichtsfeld)auf den Ort der Schädigung geschlossen werden. Die so bestimmteretinotope Ordnung lässt sich also bis in höhere Verarbeitungsebenenverfolgen. Man spricht von neuronalen topografischen Karten. Aller-dings wird dabei die Kartierung immer gröber, wenn Objekte bei-spielsweise unabhängig von ihrer Positionierung im Gesichtsfeld er-kannt werden.

Die Informationsverarbeitung durch das Gehirn lässt sich rechtgrob und ungefähr mit der Prozessierung der Eingaben durch einenComputer vergleichen. Ging man bis vor kurzem noch davon aus,dass das Gehirn im Gegensatz zu einem Computer aber durch einemassive Parallelverarbeitung gekennzeichnet ist, die insbesondere infrüheren Stufen der Wahrnehmung auftritt, während später eine eher

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serielle Verarbeitung stattfindet, so hat sich heute das Bild erheblichverschoben. Jedenfalls muss die Idee einer strengen Modularität auf-gegeben werden. Nicht nur, dass die einzelnen relativ getrennten Ver-arbeitungswege immer auch durch ein gewisses Maß an Interaktion,an reziproker Konnektivität miteinander verbunden sind, es scheintauch weder eine strenge funktionale Trennung einzelner Kanäle nocheine wirklich hierarchische Struktur nach top-down- und bottom-up-Prozessen vorzuliegen, was zum einen bedeutet, dass die einmal auf-genommene Information praktisch sofort überall ist, zum anderen undfür die Leistungen des Farbsystems relevant, dass die Verbindung mitder Raum- und Objektwahrnehmung, wie es z. B. für die Oberflächen-farben gilt, auf mehreren Ebenen stattfindet. Die inzwischen üblichenkonnektivistischen Modelle tragen diesem Sachverhalt Rechnung. Dassdie Wahrnehmung letztlich der Vorbereitung von Handlungen imRaum dient, erweist sich auch hier als der Schlüssel zum Verständnis.

Bei der bloßen Vorstellung von Farbe, Bewegung oder Form sindteilweise die gleichen Regionen aktiv wie bei Vorliegen äußerer Reize.Ebenso verhält es sich bei Träumen, Halluzinationen oder innerenStimmen. Der Unterschied besteht darin, dass die Konfiguration ins-gesamt anders geartet ist. Weder einzelne Neuronen noch eng be-grenzte Regionen, sondern Verbände von vielleicht 100 bis 1000Neuronen, die sich über viele Regionen erstrecken können, scheinenan einem Wahrnehmungsinhalt beteiligt zu sein. Bislang sind solcheFigurationen jedoch kaum nachweisbar.

Methoden der Gehirnforschung

Die Untersuchung des Gehirns hat man als eine Art reverse enginee-ring bezeichnet. Wenn ein Ingenieur ein Instrument entwickelt, daseine bestimmte Aufgabe erfüllen soll, so haben wir umgekehrt mitdem Gehirn bereits ein fertiges Instrument und fragen nach den Auf-gaben, die es erfüllt und die es zu dem werden ließen, was es ist.Natürlich ist es manchmal hilfreich, die Erfüllung einer bestimmtenAufgabe, die unser Wahrnehmungssystem leistet, durch einen Ingeni-eur nachbauen zu lassen bzw. im Computermodell (= in silico) zu si-mulieren, um zu sehen, welche Schwierigkeiten auftreten, die unserGehirn auf seine Weise zu meistern gelernt hat. Ein solches reverseengineering hat seine eigene Tradition, wobei Charles Darwin eineSchlüsselrolle zukommt, doch sind die Methoden der Kunstwissen-schaft dem beschriebenen Vorgehen durchaus nicht unähnlich. Sie ha-

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ben allerdings den Nachteil, nicht wirklich getestet werden zu können.Im medizinischen Sinn wurde die Untersuchung spezieller kognitiverAusfälle bei Kranken aufgrund von Verletzungen bestimmter Regionenim Gehirn, welche dann post mortem bei der Autopsie bestimmtwerden können, bereits im 19. Jahrhundert genutzt und hat beispiels-weise zur Entdeckung spezieller Sprachareale mit unterschiedenen, fürsie charakteristischen Leistungen geführt. Sie bildet immer noch eineder verlässlichsten Quellen über die Aufgabenverteilung im Gehirn.Offenbar gibt es gewisse Spezialisierungen, sodass nicht jede Stelle imGehirn sich mit jeder Aufgabe befasst. Allerdings birgt die naiveZuordnung von kognitiven Ausfällen und dem Ort eines beo-bachtbaren Schadens so manche Tücken: Wenn man irgendwo ineinem Fernsehgerät die Verbindung zum Antennensignal unterbricht,kommt es zum bekannten Rauschen, aber man hat deswegen nichtein Rauschunterdrückungsmodul gefunden. Das Funktionieren einesbestimmten Gehirnbereichs mag eine notwendige, aber nicht un-bedingt auch hinreichende Bedingung für die Erfüllung einer be-stimmten kognitiven Leistung bilden. Die Beobachtung sogenannterdoppelter Dissoziationen gibt aber einen gewissen Hinweis, dass tat-sächlich eine bestimmte Funktion an einer bestimmten Gehirnstellelokalisiert ist. Oft findet man, dass bei einer Verletzung des Gehirnseine bestimmte Leistung ausfällt, während eine andere, damit ver-wandte, durchaus intakt sein kann. Wenn man nun ein Krankheitsbildfindet, wo es sich genau umgekehrt verhält, die beiden Leistungenalso an zwei Stellen getrennt voneinander auftreten, sie demnachdoppelt dissoziiert sind, spricht viel dafür, dass die beiden Stellentatsächlich getrennte Leistungen erbringen. Beispielsweise gibt esKranke, die zwar Farben gut unterscheiden können, aber nicht mehrwissen, welche davon welchem Objekt üblicherweise zukommt,während andere sich zwar sicher sind und auch sagen können, dassTomaten rot und Bananen gelb zu sein haben, aber außerstande sind,aus einer Reihe von Buntstiften die passenden auszuwählen.

Wenn wir von den Tierversuchen absehen, mit denen zwar Aussa-gen über das lebende Gehirn getroffen werden können, die naturge-mäß aber nur bedingt Aussagen über das menschliche Gehirn zulas-sen und aus ethischen und methodischen Gründen immer wenigerzum Einsatz kommen bzw. kommen sollten, wenn wir umgekehrtimmer besser die begrenzte Aussagekraft der seit alters bekanntenIntrospektion erkennen, die nur über solche Vorgänge berichtenkann, die ins Bewusstsein dringen, scheint das Gehirn als Untersu-chungsgegenstand schwerlich erforschbar. Inzwischen ist jedoch eine

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Reihe neuer Untersuchungsmethoden entwickelt worden, mit denenAussagen über die Arbeitsweise des gesunden menschlichen Gehirnsin vivo getroffen werden können. Dazu zählen schon Röntgenaufnah-men und eegs. Letztere haben eine hervorragende zeitliche Auflö-sung, erlauben aber keine genauen Aussagen über den Ort, wo diesie verursachenden Prozesse stattfinden. Natürlich lässt sich die Schä-deldecke auch teilweise entfernen, sodass bei operativen Eingriffensogar einzelne Neuronen gezielt gereizt werden können. Da dasGehirn selber keine Schmerzrezeptoren besitzt, können Patienten beidieser invasiven Technik bei Bewusstsein bleiben und Auskunft überihre Erlebnisse beim Reizen bestimmter Neuronengruppen geben.Dieses Verfahren der Ableitung einzelner Hirnzellen wird vor allemangewandt, wenn etwa wegen eines Tumors Teile des Gehirns opera-tiv entfernt werden müssen, um sicherzustellen, dass möglichst weniggesundes Gewebe entfernt wird. Auch diese Technik hat unser Wis-sen über die Arbeitsweise des Gehirns deutlich erweitert, doch ver-bietet sich natürlich ihre Anwendung bei gesunden Versuchspersonen.

Am häufigsten angewandt werden heutzutage daher Methodenwie pet und fmri, bei denen die Arbeitsweise des gesunden Gehirnsvon außen, also nicht-invasiv studiert werden kann.3 Mit ihnen kannbildlich dargestellt werden, welche Bereiche des Gehirns unter ver-schiedenen experimentellen Bedingungen, etwa beim Lesen, beimSehen oder beim Sich-Vorstellen, besonders aktiv sind. Sie gehen vondem Sachverhalt aus, dass, damit Neuronen arbeiten können, sie fürihre Stoffwechselprozesse sowohl Glucose als auch Sauerstoff brau-chen und zwar, verglichen mit anderen Körperzellen, recht viel. Mankann davon ausgehen, dass aktive Zellen mehr Blut benötigen als pas-sive, sodass der regionale cerebrale Blutfluss einen Hinweis auf gestei-gerte Gehirnaktivitäten in bestimmten Regionen gibt. Das erste Ver-fahren dieser Art war spect (= single photon emission computerizedtomography), wobei radioaktives Xenon 133 inhaliert werden muss,das aber nur relativ langsam zerfällt, was zu einer geringen zeitlichenAuflösung führt.

Eine Weiterentwicklung davon, die aber durchaus auf den gleichenPrinzipien beruht, wird als pet (= positron emission tomography) be-zeichnet. Dabei wird eine radioaktive Substanz, in der Regel eineZuckervariante, ins Blut gegeben, sodass auch hier der vermehrteBlutfluss bestimmter Gehirnregionen an der erhöhten Radioaktivitäterkennbar wird. Trotz der vielen Erkenntnisse, die durch pet-Studiengewonnen werden konnten, hat die Methode auch Nachteile. Zumeinen ist das räumliche Auflösungsvermögen eher gering. Kleinere

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Regionen als ca. 1cm3 lassen sich damit nicht bestimmen. Bereits ein1mm3 pt Gehirngewebe enthält aber bereits circa 100.000 Neuronen.Zum anderen können wegen der zwar geringen, aber doch vorhande-nen Gesundheitsgefährdung durch die Injektion einer radioaktivenSubstanz nicht gut mehrfach Untersuchungen bei den gleichen Perso-nen durchgeführt werden. Schließlich ist das Verfahren auch rechtkostspielig.

Daher wurde eine neuere Methode, die fmri (= functional magne-tic resonance imaging, oder funktionelle Kernspintomographie) ent-wickelt, bei der die unterschiedlichen magnetischen Eigenschaftenvon sauerstoffarmem gegenüber sauerstoffreichem Blut genutzt wer-den. Auch aufgrund dieser Eigenschaften lassen sich Orte mit erhöh-tem Blutfluss lokalisieren. Sie ist aus einer älteren Technik, genanntmri (= magnetic resonance imaging) hervorgegangen, mit der durchstarke magnetische Felder die dreidimensionale Struktur des Gehirnsuntersucht werden konnte. Die Technik der fmri registriert und misstebenso wie pet den erhöhten Blutfluss entsprechend der bei be-stimmten Aufgaben gestiegenen neuronalen Aktivierung in den be-troffenen Arealen. Sie verfügt jedoch über eine wesentlich bessereräumliche Auflösung, denn mit ihr können Bereiche von ca. 1mm3

bestimmt werden. Diese Methode hat inzwischen spect und pet ver-drängt. Sie ist nicht nur billiger und ungefährlicher, sodass auch mehr-fache Versuche mit der gleichen Person möglich sind, doch ist ihrzeitliches Auflösungsvermögen immer noch nicht optimal. Sie istimmer dann geeignet, wenn die Aktivierung eines Hirnareals übereinen Zeitraum von Sekunden bis zu mehreren Minuten konstant ist.Um eine fmri zu machen, wird der Kopf einer Person einem starkenmagnetischen Feld ausgesetzt, das vielleicht 80.000 Mal stärker ist alsdas magnetische Feld der Erde. Wasserstoffmoleküle in der Nähe vonsauerstoffreichem Blut verhalten sich etwas anders als solche in derNähe von sauerstoffarmem. Durch den Vergleich der jeweiligen bold

(= blood oxygen level dependent) -Signale können auch hier Regio-nen mit erhöhtem rcbf registriert werden. Im Wesentlichen wird so-wohl bei pet als auch fmri die subtraktive Methode angewandt, d. h.,es werden nicht nur die Aktivitäten bei der zu untersuchenden Aufga-be bestimmt, sondern auch diejenigen während einer Kontrollaufga-be. Sollen beispielsweise die Aktivitäten bei Wahrnehmung eines far-bigen Reizes bestimmt werden, so besteht die Kontrollaufgabe darin,eine vergleichbare Vorlage zu betrachten, die nur in Schwarz-Weißgehalten ist. Aus der Differenz beider Aktivitäten ergibt sich dann erst,was speziell für die Farbwahrnehmung kennzeichnend sein dürfte.

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Inzwischen gelingt es durch die sogenannte transcraniale Magnet-stimulation (= tms) auch, bestimmte Areale von außen durch ein star-kes Magnetfeld so zu reizen, dass sie aktiv werden, wobei man wie-der die Versuchspersonen direkt befragen kann. Es handelt sich umeine nicht-invasive Technik, die das Prinzip der elektromagnetischenInduktion nutzt. Dabei wird ein ultrakurzes Magnetfeld erzeugt, wel-ches ein ebensolches elektrisches Feld in den anvisierten stromleiten-den Neuronen hervorruft, was hinwiederum Aktionspotenziale aus-lösen kann. Allerdings gibt es auch hier Grenzen der erzielbarenräumlichen Präzision. (Schon im 19. Jahrhundert war es übrigens ge-lungen, durch starke wechselnde Magnetfelder Phosphene, also Licht-erscheinungen, ohne Reizungen der Retina auszulösen).

Die beschriebenen Verfahren haben allerdings den Nachteil, dasssie weder zeitlich noch räumlich zu so exakten Aussagen führen, wiees wünschenswert wäre. Schließlich werden nicht die Reaktionen vonNeuronen direkt gemessen, sondern aus dem Blutfluss Schlüsse gezo-gen, die immer noch Hunderttausende von Zellen betreffen. Dass bei-spielsweise in V1 (der primären Sehrinde) manche Zellen besondersgut auf Richtungen, andere auf Farbunterschiede ansprechen, wäremit fmri allein nicht zu entdecken. Auch erweist sich die Annahmeeiner strengen Modularität im Gehirn als fragwürdig. Da jedes Ge-hirnareal mehrere Aufgaben erfüllt und da immer Koalitionen ver-schiedener Neuronenverbände bei einem Perzept beteiligt sind, sollteman sich vorsehen, nicht eine lokalisierte Zellgruppe allein für dieErfüllung komplexer mentaler Aufgaben verantwortlich zu machen.Damit würde man in die phrenologische Falle tappen. Man gehtheute eher davon aus, dass es verschiedene räumlich weit verteilteSysteme gibt, die ein konzertiertes Zusammenwirken je einzelnerKomponenten erfordern. Natürlich muss auch der Laboratoriumseffektbeachtet werden, dass der Kontext eines Labors die Versuchsperso-nen beeinflusst. Vielleicht noch wichtiger ist die Beschränkung, dassbei allen diesen bildgebenden Verfahren die Probanden längere Zeitregungslos zu verharren haben, was den natürlichen Situationen, indenen die Wahrnehmung ihre Leistungen vollbringt, nur sehr einge-schränkt entspricht.

Das menschliche Auge

Seit der Jesuit und Astronom Christoph Scheiner im Jahre 1625 einOchsenauge untersucht hat und, nach Entfernung der beiden äußer-

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sten Hautschichten der Rückseite, auf der halbtransparenten Retinaein kleines, auf dem Kopf stehendes Bild der Außenwelt sehen konn-te, ein Experiment, das Descartes dann wiederholt hat, wird das Augemit einer Kamera (damals natürlich einer camera obscura) verglichen.Seitdem auch gilt die Retina oder Netzhaut als der Ort, wo Außen-welt und Gehirn zusammenkommen. Hier wird die Energie der Pho-tonen in elektrochemische Signale umgewandelt, die dann vomGehirn weiter bearbeitet und gedeutet werden. Derjenige Teil elek-tromagnetischer Strahlung, bei dem eine solche Umwandlung möglichist, wird Licht genannt.

Bekanntlich verfügen wir mit unseren Augen über Sinnesorgane,mit denen wir einen kleinen Teil der auf der Erdoberfläche vorhande-nen elektromagnetischen Wellen (oder Photonen), den wir im Gegen-satz zu etwa Röntgenstrahlen oder Radiowellen als (sichtbares) Lichtbezeichnen, wahrnehmen können. Mit diesem Vorgang fängt das Far-bensehen an, denn die Vorgänge ›da draußen‹ in der physikalischenWelt lassen sich ja beschreiben, ohne auf Begriffe wie ›türkis‹ oder›blutrot‹ zurückzugreifen. Physikalisch gesprochen umfasst der Bereichdes sichtbaren Lichts etwa die Wellenlängen von 400–700 nm. (EinNanometer entspricht einem millionsten Millimeter.) Elektromagneti-sche Wellen dicht über 700 nm können wir als infrarote Strahlungüber die Sensoren der Haut als Wärmestrahlen empfinden, währendsogenanntes ultraviolettes Licht mit Wellenlängen kürzer als 400 nmbekanntlich die Haut zu bräunen vermag. Dabei muss noch festgehal-ten werden, dass wir nur solche elektromagnetische Wellen oderPhotonen sehen können, die über die Linse direkt in unser Auge ge-langen. Ein noch so starker Photonenstrahl, der vor unseren Augenvorüberzieht, ohne dass davon – etwa durch Rauchpartikel – Teileabgelenkt werden, die unsere Rezeptoren im Auge aktivieren, ist füruns unsichtbar. Das Licht selber ist, wie schon Newton festhielt, nichtfarbig, aber, wie ein Blick auf einen Strahl des Sonnenlichts zeigt, derdurch ein Prisma nach seinen verschiedenen Wellenlängen auseinan-dergezogen wurde, empfinden wir Licht verschiedener Wellenlänge(wenn es denn ins Auge fällt) als farbig. Bei dieser Zerlegung in dassogenannte Spektrum erscheint uns kurzwelliges Licht als Blau, ehermittelwelliges als Grün und langwelliges Licht schließlich als Rot. Undbekanntermaßen empfinden wir Licht, in dem alle sichtbaren Fre-quenzen annähernd gleich stark vertreten sind, als Weiß.

Da der Aufbau des menschlichen Auges mit Hornhaut, Pupille, Lin-se, Glaskörper etc. und der optischen Gesetze, wonach in Analogie zueiner Kamera ein (auf dem Kopf stehendes) Bild auf die Augenrück-

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seite geworfen wird, weitgehend bekannt sein dürfte, sei dieser hiernur kurz rekapituliert. Es handelt sich beim menschlichen Auge umein Linsenauge, wie es für Wirbeltiere typisch ist. Licht kann über dieHornhaut, Irisblende und Linse in den mit dem Glaskörper gefülltenInnenraum des Auges eintreten, wobei es gebündelt wird und auf derRückseite, der Retina, das bereits erwähnte kleine Bild hinterlässt.Sechs Muskeln bewegen dieses Auge von außen bzw. halten es inPosition, zwei andere Muskelgruppen können in seinem Inneren dieWeite der Irisblende steuern sowie die Linse verformen, um je nachEntfernung die Tiefenschärfe zu regulieren, d. h., das auf die Retinafallende Bild scharf zu stellen. Diesen Akkomodation genannten Vor-gang simulieren wir mit den Jahren, wenn die Linse altersbedingt ihreElastizität verloren hat, schlecht und recht mit unseren Gleitsichtbril-len. Die Hauptarbeit der Lichtbündelung wird jedoch durch die Cor-nea, die Hornhaut, geleistet. Die Irisblende, die sich nur im Verhältnisvon 1 zu 16 verändern kann, ist weniger für die Anpassung an wech-selnde Lichtstärken verantwortlich, sondern dafür, wie groß der Be-reich der Retina ist, auf den die Lichtstrahlen fallen können. Dasmenschliche Auge weist ja einen fantastisch großen Bereich auf, indem es funktionsfähig ist. Es vermag sich an Intensitätsdifferenzen imAusmaß von 1013 zu 1 anzupassen. Schon die Differenz zwischeneinem gut beleuchteten Innenraum und dem Tageslicht an einemSonnentag im Freien verhält sich wie eins zu Tausend. Wir reagierenmehr auf Relationen, d. h. darauf, wie viel Licht ein Objekt im Ver-hältnis zu seiner Umgebung ausstrahlt als auf die absolute Leucht-dichte. Dieses Verhältnis bleibt auch dann relativ gleich, wenn sichdie Beleuchtung insgesamt ändert.

Die Augen sind ständig in Bewegung, bewegen sich zumeist aberruckartig in den sogenannten Sakkaden, wobei sie bestimmte Merk-male abtasten, die von der Wahrnehmung für wichtig erachtet wer-den. Suchen wir also gezielt nach bestimmten Informationen, so än-dern sich auch die von den Sakkaden aufgesuchten Orte. WerdenBilder so auf der Netzhaut fixiert, dass sie trotz der Sakkaden immerauf die gleiche Stelle fallen, so verblassen sie nach wenigen Sekun-den. Um scharf zu sehen, muss der Blick ständig hin- und herwan-dern, was natürlich auch der Fall ist. Sehen erfordert wechselndeReize, ohne Abwechslung gibt es kein Sehen. Offenbar sind möglichstausgeprägte Unterschiede, Ränder, Kanten für die Wahrnehmungwichtig und offenbar dürfen die Rezeptoren nicht ihre Reaktionsfähig-keit verlieren. Auch der Lidschlag wird vom Gehirn gesteuert undnimmt bei Stress zu, bei Aufmerksamkeit und Konzentration jedoch

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ab. Sakkaden und Lidschlag lassen sich von außen beobachten undkönnen verraten, worauf das Interesse eines Betrachters gerichtet ist.

Für unsere Zwecke wichtiger sind aber Aussagen zur Rückseite desAuges, der Netzhaut oder Retina. Bei ihr handelt es sich um nachaußen verlagerte Gehirnteile, ein ontogenetischer Vorgang, der viel-leicht für ihren ungünstig scheinenden Aufbau verantwortlich ist. Sieenthält nämlich verschiedene Schichten mehr oder weniger transpa-renter Zellen, wie Ganglien-, Amakrin-, Bipolar- und Horizontalzellen,die das Licht erst durchdringen muss, ehe die eigentliche Schichtlichtempfindlicher Zellen erreicht wird. Wie bereits erwähnt, ist dasRhodopsin (der Sehpurpur der Stäbchen) in unseren Augen chemischeng mit Chlorophyll verwandt, was nicht verwundert, da auch diesesMolekül Lichtquanten zu einem Umbau seiner Molekülstruktur be-nutzt, was über gewisse komplizierte Zwischenschritte zu einer Um-wandlung der Energie dieser absorbierten Lichtquanten in ein elektri-sches Potenzial führt. Wird ein Opsin (der wirksame Bestandteil inden Zapfen und Stäbchen) von einem Lichtquant getroffen, kann esvon einem Zustand in einen anderen umspringen, wobei es nacheiner kurzen Erholungsphase wieder in den ursprünglichen Zustandzurückspringt. In einer der beiden Formen wirkt es aber wie ein guterKatalysator, sodass es Prozesse auszulösen vermag, die eben die An-oder Abwesenheit von Photonen signalisieren. Damit findet der ent-scheidende, als Transduktion bezeichnete Vorgang statt, wo die Ener-gie der Photonen in elektrische Signale umgewandelt wird, die vonden Neuronen verwertbar sind.

Bekanntlich befinden sich in unseren Augen zwei Arten von Zellen,die dieses leisten können, und zwar einmal die außergewöhnlichsensiblen Stäbchen, die schon von einem einzigen Photon zu einerReaktion gebracht werden können und nur bei Dämmerung und Dun-kelheit aktiv sind, sowie die Zapfen, die für unser Sehen bei Tag ver-antwortlich sind und entsprechend mehr Photonen brauchen, ehe siereagieren. Mit den ersteren allein, deren maximale Empfindlichkeit fürWellenlängen im bläulich-grünen Bereich liegt, können wir, da es janur eine Sorte davon gibt, keine Farben unterscheiden und nur Hel-ligkeitsunterschiede wahrnehmen. Das von den Sternen stammendeLicht, das durchaus farbig ist, können wir wegen ihrer geringen Licht-stärke nur mit den Stäbchen und dementsprechend nur als weißlichwahrnehmen. Es liegt also nicht am Aufbau von Zapfen oder Stäb-chen, ob sie zum Farbensehen taugen, sondern an den unterschiedli-chen Möglichkeiten, in späteren Stadien ihre Signale zu verrechnen.Die vom Auge empfangenen Photonen sind also selbst nicht farbig,

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sondern unterscheiden sich nur durch ihre Energie respektive Wellen-länge. Die Stäbchen sind äußerst lichtempfindlich und vor allem imDämmerlicht beim in der Fachsprache skotopisch genannten Sehenaktiv; sie vermitteln lediglich Helligkeitsempfindungen. Die Zapfendagegen ermöglichen unser Farbensehen. Bereits im Auge werden sieüber kompliziert geschaltete Nervenfasern mit dem Sehnerv verbun-den, der die von ihnen gelieferten Informationen über die seitlichenKniehöcker und dem optischen Chiasma (einer X-förmigen Kreuzungvon Nervenbahnen) zum hinteren Kortex weiterleitet, wo sie nachweiterer Auswertung in Farbempfindungen umgesetzt werden.

Die Zapfen gibt es in drei verschiedenen Versionen, die jeweils beiLicht unterschiedlicher Wellenlänge ihre maximale Empfänglichkeitaufweisen. Schon George Palmer hatte im Jahre 1777 die Existenzdreier verschiedener Rezeptortypen vermutet, doch wurde seine An-sicht erst 1802 durch Thomas Young (1773–1829) in Wissenschafts-kreisen verbreitet. Nachdem im Verlauf des 19. Jahrhunderts ihr Vor-handensein immer mehr zur Gewissheit geworden, hatte man schon1886 die Absorptionsspektren der Zapfen recht gut abschätzen kön-nen, indem man sich auf verschiedene Sorten farbenblinder Beobach-ter stützte in der Annahme, dass ihnen jeweils genau eine Sorte vonRezeptoren fehlen würde. Unsere heutigen genaueren Messungen4

zeigen vor allem, dass die Empfindlichkeiten der jeweiligen Rezepto-ren sich insgesamt auf einen sehr großen Bereich erstrecken, sodasses zu erheblichen Überlappungen kommt (Abb. 2). Die L- und M-Zapfen, deren maximale Empfindlichkeit eng (im gelb-grünen Bereichbei circa 565 nm, respektive grün-gelben Bereich bei circa 535 nm)benachbart ist, sodass es zu besonders starken Überschneidungenkommt, sind sogar im ganzen für uns sichtbaren Bereich elektromag-netischer Wellen von circa 400–700 nm Wellenlänge nicht untätig,während die S-Zapfen am besten auf Licht im Bereich von 435–440nm ansprechen und auf Licht über 550 nm kaum ansprechen. SowohlStäbchen als auch Zapfen haben nun bei ausreichender Aktivierungdurch Photonen die Eigenschaft, über eine komplizierte Kaskade vonVorgängen ein Strompotenzial, das normalerweise an ihren Zellmem-branen vorhanden ist, zu unterbrechen und damit in ein Signal zuverwandeln, dass sie eben aktiviert worden sind. Nach einer gewissenZeit, wenn sie sich ›erholt‹ haben, springen sie wieder in ihren Aus-gangszustand zurück und der in ihrem Ruhezustand fließende ›Dun-kelstrom‹ beginnt wieder zu fließen.

Es gibt auf der Netzhaut eines einzigen Auges circa 125 Millionendieser Stäbchen und Zapfen. Die Zahl der Stäbchen überwiegt dabei

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um fast das zwanzigfache. Auch die circa 6,5 Millionen Zapfen sindkeineswegs gleichmäßig verteilt, sondern durchschnittlich gibt es vonden L-Zapfen doppelt so viele wie von den M-Zapfen, wobei abererhebliche individuelle Unterschiede in den Zahlenverhältnissen auf-treten können, ohne dass dies die Farbwahrnehmung beeinträchtigenwürde. Die S-Zapfen dagegen kommen bedeutend seltener vor undmachen nur etwa ein Prozent aller Zapfen aus. Deshalb wird für sehrkleine Sehwinkel und insbesondere, wenn wir etwas fixieren, das Far-bensehen dichromatisch. Wir sind an dieser Stelle gewissermaßenblaublind. Man spricht von einer small-field tritanopia. (Als Tritanopiewird eine seltene Form von Farbenblindheit bezeichnet, bei der dieS-Zapfen fehlen.) Abgesehen von den mengenmäßigen Unterschiedenfinden sich die verschiedenen Rezeptortypen in der Netzhaut auchkeineswegs gleichförmig verteilt. Es gibt einen Bereich, genau gegen-über der Linse, in dem wir besonders scharf und genau unterscheidenkönnen, zumal er als einziger nicht von den erwähnten Ganglion- undanderen Zellen verstellt ist. Dieser heißt Sehgrube oder Fovea. Zwarnimmt er nur einen kleinen Bereich des Sehfeldes ein (nur circa 2Bogenminuten), aber alles, was wir fixieren und scharf sehen wollen,müssen wir dort abbilden. In der Fovea mit ihren 1,5 mm Durchmes-ser finden sich fast nur Zapfen und kaum Stäbchen, sodass wir nachts,wenn nur die Stäbchen aktiv sind, einen Stern häufig deutlichersehen, wenn wir ihn nicht zu fixieren suchen, sondern ein wenig peri-

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Abb. 2: Die Absorptionsspektren der drei Zapfentypen und ihre Verschaltung

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pher betrachten. Die Dichte an Ganglienzellen beträgt hier circa50.000 pro Quadratmillimeter im Gegensatz zur Peripherie, wo es nuretwa 1000 sind. Im innersten Bereich der Fovea, der sogenanntenFoveola (circa 30 Bogenminuten, circa 0,33 mm Durchmesser), findensich dann nicht nur keine Stäbchen, sondern auch keine S-Zapfenmehr, was dazu führt, dass wir dort kein Blau wahrnehmen können.

Die Farbwahrnehmung beruht nun im Prinzip auf einem Vergleich,in welchem Verhältnis zueinander die drei Zapfentypen aktiviert sind.Dies wird Mengen- oder Populationscodierung genannt. Hier liegt einentscheidender Unterschied zu unseren Kameras etc. vor, die einzelnePixel je für sich registrieren, ohne zwischen den drei Klassen ihrerRot- Blau- und Grün-Informationen Vergleiche anzustellen. Man musssich vorher aber klar machen, dass mit der Reduktion auf drei Rezep-toren eine erhebliche Reduktion der möglichen Wahrnehmungsdi-mensionen verbunden ist. (Natürlich bedeutet auch schon die Abbil-dung eines dreidimensionalen Musters von Photonenstrahlen auf diezwei Dimensionen der Retina eine Reduktion.) Um physikalisch dasReflektanzverhalten einer Oberfläche vollständig zu beschreiben,müsste man dies für jede der möglichen Wellenlängen getrennt tunund dabei auch die unterschiedlichen Richtungen berücksichtigen.Eine erhebliche Reduktion dieses Reflektanzverhaltens wird aberselbst dann noch durch die Wahrnehmung vorgenommen, wenn mansich lediglich auf die Analyse der verschiedenen Wellenlängen des imAuge eintreffenden Lichts beschränkt. Beispielsweise fehlen im natür-lichen Sonnenlicht bestimmte Wellenlängen (die fraunhoferschen Lini-en) ganz und gar, ohne dass uns dies auffällt. Drei Zahlen also genü-gen, um die unterschiedliche Aktivierung der drei Zapfenarten aneiner bestimmten Stelle der Retina zu beschreiben. Dies ist das glei-che Prinzip wie das, auf dem unsere digitalen Kameras sowie dieelektronische Bildbearbeitung beruhen. Doch zurück zum Auge. Untergenormten Laborbedingungen gilt: Werden besonders die für kurz-welliges Licht sensiblen S-Zapfen aktiviert, während gleichzeitig diebeiden anderen Zapfentypen möglichst wenig aktiv sind, so kommt eszur Farbempfindung ›blau‹, und werden die für langwelliges Lichtempfindlichen Zapfentypen möglichst einseitig aktiviert, also so, dassgleichzeitig die M-Zapfen und die S-Zapfen nur wenig reagieren, sokommt es zur Empfindung ›rot‹. Schließlich führt die maximale Akti-vierung der M-Zapfen bei gleichzeitig minimaler Aktivierung der S-und L-Zapfen zur Empfindung ›grün‹. Alle anderen Farbempfindungenkönnen als unterschiedliche Mischungsverhältnisse der Aktivitätsmus-ter der drei Zapfentypen gedeutet werden: L-Zapfen und S-Zapfen

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maximal und M-Zapfen minimal erregt ergeben die Empfindung ›pur-pur‹ (oder: ›magenta‹), L-Zapfen und M-Zapfen maximal und S-Zapfenminimal ergeben ›gelb‹, S-Zapfen und M-Zapfen maximal bei minima-ler Erregung der L-Zapfen ergeben ›cyanblau‹. Gleichmäßige Aktivie-rung aller drei Zapfentypen führt schließlich zur Empfindung ›weiß‹(genauer: hell) und Nichtaktivierung aller drei Zapfentypen zur Emp-findung ›schwarz‹ (genauer: dunkel).

Es zeigt sich, dass nicht die Tatsache der Aktivierung einer Zapfen-sorte allein eine Farbempfindung herbeiführt, zumal sie in sich mehr-deutig ist, da ein schwacher, aber geeigneter Reiz und ein starker,aber nicht optimaler Reiz zum gleichen Erregungszustand führenkann, sondern Verrechnungen zwischen den verschiedenen Typen, dieim Wesentlichen auf Additionen und Subtraktionen hinauslaufen.Man kann sich das veranschaulichen, wenn man sich drei Auffangvor-richtungen für Regenwasser vorstellt, von denen eine zusätzlich auchSchnee auffangen kann, während eine dritte neben Regen auch Ha-gelkörner durchlässt. Um herauszufinden, ob die registrierten Nieder-schläge eher in Form von Schnee, Regen oder Hagel gefallen sind,genügt es, ihre jeweilige Füllmenge miteinander zu vergleichen. Dabeimüssen die absoluten Füllmengen ebenso wenig bekannt sein wie dieZahl der jeweiligen Messbecher übereinstimmen muss. Sind z. B.›Schnee + Regen‹ zu 80% gefüllt, während ›Regen allein‹ ebenso wie›Regen + Hagel‹ nur zu 10% gefüllt sind, heißt dies, dass sehr vielSchnee, wenig Regen und kein Hagel gefallen ist. Im Prinzip werdenalso nur die Reaktionen der drei Klassen von Zapfen miteinander ver-glichen, was zu einer weiteren Reduktion der Information führt. Ähn-lich wie in der Politik, wo aus der Kenntnis des Resultats einerAbstimmung nicht mehr auf das Verhalten eines einzelnen Abgeord-neten rückgeschlossen werden kann, ist bei Vorliegen ein und dersel-ben Farbempfindung nicht mehr eruierbar, welche Zapfen im Einzel-nen aktiviert waren.

Das also ist das Prinzip, nach dem die Wahrnehmung vorgeht,wobei es im Detail aber zu raffiniert anderen Lösungen kommt. Dieerwähnten Verrechnungen obliegen den Ganglien- und den anderenvorgeschalteten Zellen. Zunächst werden mehrere Sehzellen so mit-einander vernetzt oder verbunden, dass es nur dann zu einer Reakti-on in der entsprechenden Zelle kommt, die weitergegeben wird,wenn das Zentrum anders reagiert als die Umgebung dieses Zent-rums. Dies ist das Prinzip der lateralen Hemmung. Nur Unterschiedealso, nicht Ähnlichkeiten werden registriert. Grenzen, nicht homogeneFelder werden bemerkt. Dies hat mehrere Vorteile. Einmal ist es

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nachrichtentechnisch günstig, wie unsere Bildkomprimierungstechni-ken wie jpeg (= Joint Photographic Experts Group) zeigen, die gleich-förmig wiederkehrenden Informationen zusammenzufassen und nurdie Grenzen genau zu registrieren, zum anderen wird damit eineUnabhängigkeit von der absoluten Lichtstärke erreicht. Redundanzwird nicht weitergeleitet, nur die Information. Viele Sehzellen arbei-ten dabei einem Ganglion zu und bilden dessen rezeptives Feld. Esteilt wegen der lateralen Hemmung dem Gehirn Veränderungen undGrenzen mit, nicht was gleich bleibt. Die eigentliche Farberregungwird dabei durch kleinere, Modulatoren genannte Ganglienzellen, dieHelligkeitserregung durch die größeren Dominatoren weitergeleitet.Die technischen Details brauchen hier nicht zu interessieren, wichtigist nur, dass wegen der erwähnten lateralen Hemmung nicht dieabsolute Stärke eines Reizes für die Erregung einer Ganglionzelle aus-schlaggebend ist, sondern der relative Unterschied zwischen inneremund äußerem Bereich eines rezeptiven Feldes darüber entscheidet.Die Zellen reagieren dabei gegenüber abrupten Unterschieden vielsensitiver als gegenüber graduellen. Wenn Goethe gegen Newtondarauf bestand, dass Grenzen nötig sind, um Farben wahrnehmen zukönnen, worin ihm übrigens ein Chaostheoretiker wie Mitchell Fei-genbaum gefolgt ist, so scheint die Organisation unserer Nervenzellennach dem Prinzip der lateralen Hemmung dafür verantwortlich zusein. Eine Ganglionzelle reagiert also sensibel auf kleine Differenzenvon Reizintensitäten, nicht aber auf ihre absolute Stärke. Das erklärtauch, weshalb wir beim Sehen erhebliche Unterschiede in der Leucht-dichte tolerieren können. Die Populationscodierung ist durchauseffizient und sensibel. Wenn Schallwellen einen Frequenzbereich vonca. 20 und 20.000 aufweisen, während der Bereich des sichtbarenLichts noch nicht einmal 1 zu 2 ausmacht, so können wir doch einenUnterschied von 1% (im Grün-Gelb-Bereich bemerken, während auchfür Musiker 1% Differenz kaum zu entdecken sind.

Wichtig ist noch, dass alle diese Zellenverbände ein sogenanntesrezeptives Feld haben, womit gemeint ist, dass nur Reize, die inner-halb dieses rezeptiven Feldes fallen, zu einer Reaktion führen können.Je größer die rezeptiven Felder sind, desto empfindlicher können siesein, je kleiner, desto besser ist ihre räumliche Auflösung, also dieFähigkeit, getrennte, aber benachbarte Raumpunkte zu unterscheiden.Letztere kann mit der Pixelgröße bei Computergrafiken verglichenwerden. In der Fovea, wo die Zapfen besonders dicht gepackt sind,sind sie auch so geschaltet, dass die rezeptiven Felder besonders kleinsind und entsprechend ist dort die Auflösung gut. Umgekehrt kann

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deshalb das besonders empfindliche (und nur bei schwachen Licht-stärken aktive) skotopische System, wo viele Stäbchen eine Ganglion-zelle beschicken, nur eine geringe Auflösung haben. Ähnliches gilt fürdie Modulatoren, welche die eigentliche Farbinformation extrahieren.Nicht nur finden sich weniger von ihnen, sie verfügen auch übergrößere rezeptive Felder, weshalb ihr Auflösungsvermögen geringerist. Einige dieser Verschaltungen reagieren dann, wenn die Mitte akti-viert wird und die Umgebung nicht, bei anderen ist es genau umge-kehrt. Manchmal spricht die Mitte besonders gut an, wenn dort lang-welliges Licht auftrifft, manchmal ist es gleichgültig, ob lang- odermittelwelliges auftritt, etc. Nach den jeweiligen Gegensatzpaaren, dieeinander für eine Reaktion bedingen, können wir – vereinfacht gesagt– Ganglionzellen für ›hell/dunkel‹, ›gelb/blau‹ und ›rot/grün‹ unter-scheiden. Die Summe L+M der entsprechenden Zapfen kodiert Hellig-keit, ihre Differenz L–M dann Rot bzw. Grün, während S – (L+M)über die Frage von Blau respektive Gelb entscheidet. Zur Empfindungvon Gelb kommt es demnach, wenn die S-Zapfen wenig oder nichtaktiviert sind, während gleichzeitig die L- und M-Zapfen dies in etwagleichem Maße sind. Die übrigen Farben ergeben sich leicht aus denjeweiligen Kombinationen der drei Gegensatzpaare. Insgesamt führtdas beschriebene Muster von Ganglienzellen zu drei ›Kanälen‹, indenen drei Gegensatzpaare kodiert sind. Man kann den beschriebe-nen Prozess als eine Umkodierung bezeichnen, durch die Polaritätenentstehen. Goethe hatte die Existenz solcher Polaritäten schon 1810vermutet und Ewald Hering war ihm darin gefolgt.

Daher können wir eigentlich erst auf der Ebene der Ganglienzellenvon so etwas wie der Farbinformation sprechen. Dort findet die Tren-nung zwischen Hell/Dunkel und Buntfarben statt, die in verschiede-nen Sorten von Ganglionzellen verarbeitet werden. Dies hat nicht nurinformationstechnische Vorteile, sondern lässt sich aus der Evolutionableiten. Evolutionär älter und bei den meisten Säugetieren dominie-rend sind die großen Ganglionzellen (= Dominatoren), die Helligkeitverarbeiten. Es scheint, dass es bei der Ausbildung der Trichromati-zität bei den Altweltaffen einfacher war, dieses funktionierende Sys-tem intakt zu lassen und es nur durch neuere Systeme (mit den Mo-dulatoren) zu ergänzen. Das deutlich niedrigere Auflösungsvermögender Zellen, die Farben codieren, dürfte an der Bauweise der farbop-ponenten Modulatoren liegen. Da ein System mit hoher Auflösung jabereits vorhanden ist, leuchtet es auch ein, dass die diesbezüglichenAnforderungen beim Farbsystem geringer sein können. Fälle wie dereines Malers, der nach einem Autounfall farbenblind wurde, dafür

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aber an Sehschärfe gewann, sprechen ebenfalls dafür, dass Farbwahr-nehmung und optimale Auflösung nicht gleichzeitig zu haben sind.

Als ein Resultat der spezifischen Verschaltung der Ganglionzellenim Auge muss auch die Komplementarität betrachtet werden. Nichtsin den physikalischen Eigenschaften der Photonen oder auch derTrichromatizität weist auf sie hin. Unter Komplementarität verstehtman die Tatsache, dass zwei geeignete Farben wie etwa Rot undBlaugrün oder Blau und Gelb, wenn man sie (additiv resp. optisch)mischt, sich auslöschen oder neutralisieren. Immer wenn die Aktivitä-ten der Rot-Grün- bzw. der Blau-Gelb-Kanäle ausgeglichen sind,sehen wir Weiß oder Grau. Umgekehrt ist also ein deutliches Signal inmindestens einem der genannten Kanäle nötig, um eine Buntfarbewahrzunehmen. Ebenso entstehen die Nachbilder erst durch dieArbeitsweise der farb-opponenten Ganglionzellen oder Modulatoren.Das bekannte Phänomen der Nachbilder, dass, wenn man lange aufeinen intensivfarbigen, z. B. roten Fleck starrt und dann auf eine neu-trale weiße Fläche, man ein blaugrünes Nachbild sieht etc., lässt sichleicht über die beschriebenen Eigenschaften dieser Ganglionzellenverstehen. Sind sie über eine gewisse Zeit aktiv, so ›ermüden‹ sie,sodass bei einem kurz darauffolgenden neutralen Reiz die bislanginaktive und noch voll funktionstüchtige andere Seite der Polaritätdas Übergewicht erhält. Der Simultankontrast dagegen, der besagt,dass zwei Farben, wenn man sie mischt, sich auslöschen und als Weiß(oder Grau) erscheinen können, sich aber in ihrer Wirkung verstärken,wenn sie nebeneinander zu liegen kommen, beruht auf der Arbeits-weise sogenannter doppelt opponenter Zellen, die erst auf einer spä-teren Ebene auftreten, und wird dort behandelt.

Was ist nun der Grund für dieses komplizierte Arrangement vonStäbchen und dreierlei Zapfen, die noch dazu höchst ungleich überdie Retina mit ihrer Fovea und Foveola verteilt sind (wobei noch der›blinde Fleck‹ hinzukommt, die Stelle, wo der Sehnerv die Netzhautverlässt und sich keine Rezeptoren befinden)? Weshalb decken ihreEmpfindlichkeiten den Bereich des sichtbaren Lichts so asymmetrischab?

Zunächst muss grundsätzlich gesagt werden, dass die Wahrneh-mung nicht so funktioniert, dass da ein auf die Netzhaut geworfenesBild ins Gehirn weitergeleitet und dort gesehen und interpretiertwird. Dies würde das bereits erwähnte Problem des Homunkulus mitdem infiniten Regress hervorrufen. Die Netzhaut bildet ontogenetischeinen Teil des Gehirns und die eigentliche Verarbeitung des Netzhaut-bildes beginnt bereits in ihr. Schon in ihr nimmt ein Prozess seinen

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Anfang des Herausfilterns dessen, was biologisch wichtig ist, eineReduktion und ein Umkodieren. Würde zu viel Information weiterge-geben werden, würde schon der blinde Fleck zu viel Platz einnehmenund das Auge unbeweglich werden. Der Sehnerv, der vom Auge aus-geht, weist nur circa 800.000 Stränge auf, was gegenüber den 125Millionen Stäbchen und Zapfen eine erhebliche Komprimierung undAbstrahierung bedeutet. Sie beginnt schon bei den Horizontalzellenmit ihrer lateralen Hemmung, sodass von der absoluten Beleuch-tungsstärke unabhängige Kontraste und nicht Gebiete gleicher Infor-mation an weitere Gehirnregionen zur Auswertung gelangen.

Dass in der Fovea keine Stäbchen mehr zu finden sind, hat mit derBedeutung des Tagessehens zu tun. Man muss sich klar machen, dassdas Farbensehen nur einen und beileibe nicht den wichtigsten Teilder visuellen Wahrnehmung ausmacht. Fundamentaler ist die Unter-scheidung von Helligkeiten. Wie erinnerlich, sind für die Helligkeit sogut wie nur die M- und L-Zapfen zuständig, und die sind in der Fo-vea überrepräsentiert. Da das Auge ähnlich wie ein Prisma Licht ver-schiedener Wellenlänge durchaus unterschiedlich bricht – man sprichtvon chromatischer Aberration – kann es sich nur auf einen engenBereich davon wirklich scharf einstellen. Dies erklärt, dass die M- undL-Zapfen in ihren Empfindlichkeiten so nahe benachbart zu liegenkommen und dass die S-Zapfen, deren maximale Empfindlichkeit vonjener der M- und L-Zapfen ja sehr verschieden ist, in der Fovea wenigbis gar nicht vertreten sind. Übrigens beruht darauf das im Fernsehenbeliebte Blue-Box-Verfahren, wo agierende Menschen anscheinendnahtlos vor einem anderen Hintergrund gezeigt werden als dem, vordem sie sich tatsächlich im Studio befinden.5 Blau also ist wahrneh-mungsmäßig eine besondere Farbe wie auch Purpur oder Magenta,wo nie klar ist, ob das Auge sich eher auf die lang- oder kurzwelligenBestandteile des auftreffenden Lichts einstellen sollte. In der Regelakkomodiert das Auge so, dass die langwelligen Teile des Lichtsscharf gesehen werden. Die allermeisten Zapfen und vor allem die inder Sehgrube sind für langwelliges Licht sensibel. Überwiegen einmaldie kurzwelligen Anteile, so muss das Auge nachjustieren, was blaueObjekte als entfernter liegend erscheinen lässt und deshalb Blau alsFarbe der Ferne gilt. Der sogenannte Farbraum hängt deswegen mitdieser unterschiedlichen Akkomodation bei lang- und kurzwelligenAnteilen des Lichts zusammen. H. v. Helmholtz hatte dieses als chro-matische Aberration bezeichnete Phänomen erstmals beschrieben.

Auch andere Besonderheiten der visuellen Wahrnehmung könnenals ein Designkompromiss zwischen unterschiedlichen Anforderungen

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wie z. B. möglichst großem Gesichtsfeld und gleichzeitig möglichsthoher Auflösung betrachtet werden. Ein ausschließlich peripheresSehen, wie es bei den Impressionisten z. B. thematisiert wurde oderbei einer im Alter zu befürchtenden Makuladegeneration allein nochmöglich ist, kann nicht im Entferntesten die durch Fixierung in derFovea erreichte Detailgenauigkeit bieten. (Genau genommen gebendie Werke der Impressionisten nicht unbedingt das undeutlicheGesichtsfeld außerhalb der Fovea wieder, sondern durchaus invarianteFaktoren der Umgebung, die das Licht, die Atmosphäre oder dasWetter spezifizieren unter Weglassung anderer.)

Das periphere Sehen, in dem wir nur über eine geringe Auflösungverfügen, ist gleichwohl nicht unwichtig, sondern erfüllt spezielle Auf-gaben. Würde man durch eine Röhre gucken, hätte man den berühm-ten Tunnelblick und sähe beispielsweise Farben nur im Öffnungsmo-dus und könnte sie nicht einer räumlichen Gesamtsituation zuweisen.Das periphere Sehen steuert nicht nur die Sakkaden und erlaubt es,die Aufmerksamkeit auf andere Bereiche des Gesichtsfeldes zu rich-ten, auch der Vergleich verschiedener Raumfrequenzen wird erstdurch seine Hinzuziehung möglich. Manchmal wird ausgenutzt, dassperipheres und fokales Sehen Eindrücke liefern, die nicht in Einklangzu bringen sind. Dies trifft etwa bei Werken des Neoimpressionismuszu, wo das fokale Sehen einzelne Punkte unterscheidet, während dasperiphere Sehen mit seinem geringen Auflösungsvermögen davonunabhängige Farbschleier beiträgt, die sich zu bewegen scheinen, dasie sich nicht an ausgeprägte Luminanzgrenzen anheften können. Dasgerühmte perlende Grau bei Seurat erweist sich als abhängig von derGröße der Punkte, die im Verhältnis zum Auflösungsvermögen irgend-wo zwischen dem zentralen und dem peripheren Sehen angesiedeltsind. Auch die Werke des Impressionismus zehren davon, dass dasperiphere Sehen eine erkennbare Dreidimensionalität liefert, währenddie fokussierenden Sakkaden nur unintelligible Einzelheiten bieten.

Wichtig ist noch der Begriff der sogenannten ›Stimmung‹ desAuges, worunter eine Anpassung an die vorherrschende Leuchtdichteund Farbverteilung im Gesichtsfeld zu verstehen ist. Auch sie benutztdas periphere Sehen. Die Wahrnehmung bemüht sich also, die jeweilsherrschenden Besonderheiten der Lichtsituation ›herauszurechnen‹.Deshalb lässt sich die ›Stimmung‹ beschreiben durch die Farbe, diejeweils als unbunt empfunden wird. Eine Farbstimmung umfasst inder Regel die gesamte Netzhaut. Farbempfindungen müssen daher alsVergleiche von Vergleichen von Vergleichen angesehen werden. Set-zen wir an einem Sommertag eine getönte Sonnenbrille auf, so er-

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scheint uns einige Sekunden lang die Umwelt tatsächlich in einemanderen Farbton. Bald jedoch fällt uns nicht mehr auf, dass wir dieWelt durch eine beispielsweise gelbe Brille betrachten. Die Blaus un-terscheiden sich immer noch von den Grüns.

Es gibt neben dem photopischen Bereich bei Tageslichtverhältnis-sen, wo die Zapfen aktiv sind und wir Farben wahrnehmen können,noch einen mesopisch genannten Bereich, wo sowohl Stäbchen alsauch Zapfen aktiv sind. Detailgenaues foveales Sehen mittels der Zap-fen setzt bereits im Morgengrauen ein, ehe die rot-grün- und blau-gelb-Kanäle voll funktionstüchtig sind, bzw. bleibt bei der Abend-dämmerung länger erhalten. Interessant ist noch, dass das System derStäbchen, das vor allem beim skotopischen Sehen aktiv ist, durchausdas gleiche Netz an Ganglienzellen benutzt wie das System der Zap-fen beim photopischen Sehen. Es herrscht demnach eine Ökonomieim Gebrauch der Verarbeitungswege, die auch bei späteren Verarbei-tungsstufen im Gehirn zu beobachten ist. Da also je nach Helligkeitdie Mitwirkung der Stäbchen variiert, die ihre maximale Empfindlich-keit in einem Bereich haben, der mit circa 500–510 nm gegenüberden (für die Helligkeitswahrnehmung zuständigen) M- und L-Zapfenzum kurzwelligen Ende des Spektrums hin verschoben sind, führt diesdazu, dass bei abnehmender Lichtstärke rote Oberflächen immerdunkler erscheinen, während blaue strahlender und heller werden.Dieses Phänomen, das der böhmische Wissenschaftler Jan Purkinje alserster beschrieben hat, wird seitdem nach ihm Purkinje-Verschiebunggenannt. Um in Filmen, wo man ja eine gewisse Leuchtdichte nichtunterschreiten kann, anzudeuten, dass eine Szene in der Dämmerungoder Dunkelheit spielt, hat sich daher die Konvention eingebürgert,sie in einem kräftigen Blaustich und unter weitgehendem Verzicht aufandere Buntfarben und insbesondere Rottöne wiederzugeben. Es gibtnoch weitere Einflüsse der absoluten Lichtstärke auf das Farbensehen.So sind wir bei geringen Lichtstärken eher sensibel für Lichter entwe-der im roten, blauen oder grünen Bereich (Brücke-Bezoldphänomen),während bei hohen Leuchtdichten die blau-gelbe Achse dominiert(Brücke-Abneysches Phänomen).

Gene und Farbenblindheit

Die im Kapitel über die Evolution des Farbensehens beschriebeneAnordnung der Gene vermag auch gut die verschieden Arten von Far-benblindheit oder Farbenschwäche zu erklären, die in der Retina

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ihren Sitz haben. Ist, was selten vorkommt, die Entwicklung der S-Zapfen, also des ›blauen‹ Rezeptortyps gestört, so kommt es zur Trita-nopie, ist die Entwicklung der L-Zapfen (= der ›Rot‹-Rezeptoren) oderder M-Zapfen (= der ›Grün‹-Rezeptoren) gestört, handelt es sich beiden Betroffenen um Protanope oder Deuteranope. Diese beiden letz-teren Formen, die vor allem bei Männern recht häufig zu finden sind,verweisen ebenfalls auf eine evolutionär junge Entstehungszeit derRot-Grün-Differenzierung. Da Rot-Grün-Blindheit (wie sie Protanopeund Deuteranope aufweisen) von John Dalton 1798 zuerst beschrie-ben wurde, wird sie auch als Daltonismus bezeichnet. Es spricht man-ches dafür, dass die langwelligen L-Rezeptoren die evolutionär jüng-sten sind. Nicht nur die Anfälligkeit für Störungen, auch dieLeichtigkeit, mit der Rotempfindungen bewusst werden, weisen dar-auf hin. Daneben gibt es noch die Monochromasie oder totale Far-benblindheit, wo nur ein Zapfentyp vorhanden ist. Menschen, diediesen Mangel in ihrer Retina aufweisen, sehen die Farben nur alsSchwarz-Weiß-Abschattierungen. Darüber hinaus gibt es noch eineseltene genetische Erkrankung, die wiederum durch O. Sacks einerbreiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde, wo die Ausbildungvon Zapfen insgesamt unterbleibt.6 Den Betroffenen bleiben zumSehen nur noch die für geringe Lichtstärken vorgesehenen Stäbchen.Patienten, die an dieser Stäbchenmonochromasie genannten Krank-heit leiden, sind sehr blendungsempfindlich, sehen die Welt ebenfallsnur in Grautönen, haben in der Mitte des Gesichtsfeldes, wo dieFovea zu erwarten wäre, keine Rezeptoren und daher ein zentralesSkotom (einen Gesichtsfeldausfall). Sie verfügen über eine extremhohe Lichtempfindlichkeit, doch nur über eine geringes zeitliches undräumliches Auflösungsvermögen. Es überrascht wenig, wenn sie dieDämmerung schätzen, wo sie gegenüber anderen Menschen unbeein-trächtigt erscheinen.

Bekanntlich verfügen wir Menschen über 24 Chromosomen, vondenen zwei, das sogenannte X-Chromosom und das wesentlich klei-nere Y-Chromosom, über die Geschlechtzugehörigkeit entscheiden.Verfügt ein Mensch über zwei X-Chromosome, so handelt es sich umein weibliches Exemplar, während die männlichen Exemplare über jeein X und ein Y-Chromosom verfügen. Dass die beiden Gene, welchedie Erzeugung der Rezeptoren für ›rotes‹ und ›grünes‹ Licht steuern,auf dem X-Chromosom liegen, hat demnach zur Konsequenz, dassFrauen sie in doppelter Ausfertigung besitzen, während Männer nurüber ein Exemplar verfügen. Die klinisch gut bestätigte Tatsache, dassein recht großer Teil der männlichen Bevölkerung, nämlich circa 9%,

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über ein eingeschränktes Farbwahrnehmungsvermögen im Rot-Grün-Bereich verfügt, während der entsprechende Anteil bei Frauen unter1% liegt, findet hier ihre Erklärung. Da letztere über zwei X-Chromo-somen verfügen, können sie nämlich ein etwaiges defektes Gen kom-pensieren, während Männern dies nicht möglich ist. Das Gen, das dieAusbildung der L-Rezeptoren steuert, gibt es interessanterweise inzwei verschiedenen Varianten, die in der Gesamtbevölkerung etwa imMaße von 60 % zu 40% verteilt sind. Das hat zur Folge, dass es inder Tat zwei verschiedene L-Rezeptoren gibt, die sich in ihrer maxi-malen Empfindlichkeit leicht, aber merklich unterscheiden. Der eineTyp spricht vor allem auf Licht der Wellenlänge 552 nm an, währendder andere Typ seine maximale Empfindlichkeit bei 556 nm hat. Wirleben also (und nicht allein deshalb) wahrnehmungsmäßig durchausin verschiedenen Welten. Die Empfindlichkeit der zwei verschiedenenOpsine für die L-Zapfen, die unterschiedlich häufig verbreitet sind,liegt zwar nur um 4 nm auseinander, was ein zwar kleiner, aber dochspürbarer Betrag ist. Keineswegs also nehmen wir alle die Farbengleich wahr. Es gibt auch Frauen (naturgemäß nur Frauen, die ja überzwei X-Chromosomen verfügen), die beide Sorten Opsine in denRezeptoren für langwelliges Licht aufweisen. Sie zählen damit tech-nisch gesehen zu den Tetrachromaten, doch weisen sie offenbar keineanderen qualia (spezifische Sinnesqualitäten) im Rotbereich auf alsder Rest von uns. Der Besitz unterschiedlicher Arten visueller Pigmen-te im Auge ist zwar notwendig, aber nicht hinreichend für das Far-bensehen. Das visuelle System müsste ihre Aktivität durch speziali-sierte Ganglionzellen auch vergleichen können und dies ist im Fall derbeiden unterschiedlichen ›Rot‹-Opsine nicht der Fall.

Abgesehen von den erwähnten genetisch bestimmten Differenzengibt es noch Faktoren wie die Trübung der Hornhaut und damit aucheine altersbedingt abnehmende Empfindlichkeit für kurzwellige Fre-quenzen. Mit zunehmendem Alter verfärbt sich die Hornhaut insBräunliche, was die Wahrnehmung von Blau behindert. Das Alters-werk von Monet, der sich mit 80 Jahren die Hornhaut operieren ließ,zeigt, welches die Effekte dieser Trübung sind. Daneben ist in Regio-nen mit starkem Licht in Äquatornähe eine Form von Farbenblindheitverbreitet, die gleichfalls auf einer fehlenden oder eingeschränktenWahrnehmung von Blautönen beruht. Um die Augen vor zu starkerEinstrahlung von schädlichem ultraviolettem Licht zu schützen,kommt es dort, ähnlich wie bei der Ausbildung schwarzer Hautfarbe,bei manchen Völkern zu einer starken Pigmentierung der Hornhautim Auge, die jedoch auch das kurzwellige, ›blaue‹ bzw. ›blauviolette‹

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Licht ausfiltert. Möglicherweise ist die unterschiedliche Einteilung desFarbraums bei ihnen also Folge dieser durch recht äußerliche Faktorenverursachten Unfähigkeit, Blau wahrzunehmen. Dadurch entsteht eineForm eingeschränkten Farbensehens, die der Tritanopie vergleichbarist, obwohl die S-Zapfen im Auge vorhanden und funktionstüchtigsind. Dass wir alle bei kleinen Sehwinkeln bzw. im Bereich der Foveo-la kein Blau wahrnehmen können, wurde bereits erwähnt.

Vom Auge zum visuellen Kortex

Die in den Zapfen ermittelte Information wird also in den Ganglien-zellen umgeformt. Deren Axone leiten sie gebündelt im Sehnervweiter zum corpus geniculatum laterale (= cgl), dem seitlichen Knie-körper, der wiederum einen Teil des Thalamus (ein Teil des Zwischen-hirns) darstellt. Die Sehnerven der beiden Augen treffen und über-kreuzen sich aber vorher im chiasma opticum, der Sehnervenkreuzung,und zwar so, dass die Information aus der jeweils linken Hälfte unse-res Sehfeldes auf der rechten Gehirnseite weiter verarbeitet werdenund umgekehrt. (Die Stränge werden also so geteilt, dass jeweils undnur die von der inneren, ›nasalen‹ Seite der Netzhaut stammendeInformation auf die andere Körperseite wechselt (Abb. 3). Die derartneu zusammengesetzten linken und rechten Stränge des Sehnervserreichen dann zunächst den jeweiligen seitlichen Kniekörper. Wasdie genaue Rolle dieser Zwischenstation in einem Bereich des Thala-mus ist (den übrigens alle Sinneswahrnehmungen aufweisen), ist nochunbekannt. Anscheinend befand sich evolutionär gesehen in dieserGehirnregion vor der Ausbildung der Großhirnrinde das eigentlichevisuelle Zentrum. Es scheint, dass von dort zum einen bestimmte In-formationen direkt, d. h. unter Umgehung des Kortex, an Gehirn-areale wie dem limbischen System weitergegeben werden, was beiemotional wichtigen Reizen zu einer beschleunigten Reaktion führenkönnte, zum anderen, dass aufgrund von Rückmeldungen höhererGehirnregionen bereits hier die Aufmerksamkeit auf bestimmte Merk-male gerichtet werden kann. Die genannten Verbindungen zu extra-kortikalen Regionen verlaufen über die colliculi superiores (die oberenHügel), einem Teil des Tectums, das als phylogenetisch älter angese-hen wird. Von dort aus werden unter anderem die Augenbewegun-gen wie die erwähnten Sakkaden gesteuert, es gibt aber auch Verbin-dungen zu anderen Gehirnteilen, denen etwa bei der Regulierungunseres Tag-und-Nacht-Rhythmus eine gewisse Rolle zukommt.

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Abb. 3: Die Sehbahn; schematische Darstellung der neuronalen Verschaltung des

menschlichen Sehsystems in der Ansicht von unten

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Interessanterweise gibt es zum Kniekörper mehr absteigende (=efferente) Bahnen, die – aus ›höheren‹ Regionen stammend – in ihneinmünden, als solche, die von ihm aufsteigen. Der Kniekörper be-steht aus sechs Zellschichten, von denen die beiden ersten, inneren,und entwicklungsgeschichtlich älteren, aus größeren Zellen bestehen,die auch ein größeres Rezeptionsfeld aufweisen. Sie werden deshalbals magnozellulär bezeichnet. Die vier äußeren heißen dagegen parvo-zellulär. Diese Unterscheidung nach Größe lässt sich bis in die Gang-lienzellen der Retina zurückverfolgen. Alle sechs Schichten sind reti-notop organisiert. Die magnozellulären Zellen gelten als weitgehendfarbenblind und enthalten Information über die Helligkeit, aber, dasie rascher reagieren können, auch über die Bewegung. Das Magno-system kann höhere Frequenzen (an die 50 pro Sekunde) erkennen,während die Grenze des Parvo-Systems bei höchstens 12 Hertz liegt,eine Tatsache, die für die Film- und Fernsehtechnik nicht ohne Be-deutung ist.

Eine Zerstörung der parvozellulären Zellen im Kniekörper führt da-gegen zu einem Verlust des Farbensehens sowie zu einer gewissen Be-einträchtigung der Sehschärfe. Die von ihnen gebildeten vier Schich-ten enthalten Information über Helligkeit und Rot-Grün-Unterschiede.Jede Schicht enthält aber nur Informationen aus einem Auge. EineVermischung der Informationen aus beiden Augen findet erst später,im visuellen Kortex, statt. Die Informationen über Blau-Gelb-Unter-schiede werden dagegen nicht über die parvozellulären, sondern überdie koniozellulären Schichten des geniculatum weiter gegeben. Diesedünnen Zwischenschichten sind erst kürzlich entdeckt worden. Jedochwerden alle für Farbe empfindlichen Zellen, sei es in den parvo- oderkoniozellulären Schichten, maximal von einem Reiz in einer der soge-nannten Kardinalrichtungen erregt. Welche das sind, wird im Folgen-den erläutert.

Man hat herausgefunden, dass die Codierung der Informationen imoptischen Nerv sehr effizient ist. Dazu müssen die drei ›Kanäle‹, de-nen die Informationsübermittlung obliegt, möglichst wenig korrelie-ren. Man hat ihre Existenz mit dem von Statistikern angewandtenVerfahren der Faktorenanalyse theoretisch ermittelt, inzwischen aberauch in elektrophysiologischen Experimenten nachweisen können. Esgibt einen Kanal, der die Luminanz-Information (also über wahrge-nommene Hell-Dunkel-Unterschiede) weitergibt, einen weiteren, derdie Farbgegensätze von Rot und Grün weiterleitet, und einen dritten,der dies für die Farbgegensätze von Blau und Gelb tut. Hier also istder Ort, um die Komplementarität zu verstehen sowie teilweise auch

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die Tatsache, dass wir farbige Nachbilder sehen. Starren wir z. B. eineMinute lang unverwandt auf einen kräftig roten Fleck und blickenanschließend auf eine weiße Wand, so erscheint ein blaugrünes Nach-bild in der Form des ursprünglichen Flecks. Wichtig ist aber, dass dieHauptachsen oder Kardinalrichtungen des in den Kniekörpern vorlie-genden Farbenraums nicht genau mit den Grundfarben übereinstim-men, die wir als das optimale Rot, Blau, Grün oder Gelb ansehenwürden. Die Rot-Grün-Achse beispielsweise reagiert am stärksten aufein Rot, das ein wenig in den gelblichen Bereich verschoben ist, bzw.auf ein Grün, das deutlich näher an Cyanblau liegt als an dem, wasdie meisten unter uns als Grün bezeichnen würden. Bei der Blau-Gelb-Achse ist es ähnlich: Ihr optimales Blau ist in Richtung Violettverschoben und das ihm opponierende Gelb ähnelt eher dem FarbtonChartreuse (einem Grüngelb) als einem reinen Gelb. Man weiß dasaus Experimenten zur Adaption. Adaptiert man die Wahrnehmungz. B. an die Rot-Grün-Achse, so bedarf es zwar stärkerer Reize, umdort noch eine Reaktion auszulösen, während die Reizschwelle beider Blau-Gelb-Achse davon unbeeinflusst bleibt. Es fällt auf, dass jezwei Enden der genannten Gegensatzpaare, nämlich einerseits Gelbund Rot, andererseits Blau und Grün als warm bzw. kalt, als positivund anziehend oder negativ und zurückweichend empfunden werden.Deshalb dürfte bereits auf dieser Ebene eine unterschiedliche Codie-rung der jeweiligen Pole nach aktiv und passiv stattfinden. Sie würdeder gefühlsmäßigen Polarität von Licht und Dunkel im magnozellulä-ren Kanal entsprechen.

Wie in späteren Gehirnzentren aus den vier Grundfarben der Ebe-ne der Ganglienzellen und der beiden seitlichen Kniekörpers dannunsere geläufigen Grundfarben Rot, Blau, Grün und Gelb werden, istnoch unklar, dass da aber eine Verbindung bestehen muss, ergibt sichaus der Tatsache, dass wir uns kein grünliches Rot (oder rötlichesGrün) und kein bläuliches Gelb (oder gelbliches Blau) vorstellen kön-nen. Auch diese Farben sind also oppositionell organisiert. Dies hatteder Psychologe Ewald Hering bereits 1878 festgestellt. Man sprichtdaher auch von den Heringschen Grundfarben. (Sie sind mit den so-genannten ›reinen‹ Farben verbunden. Fordert man Versuchspersonenauf, dasjenige Gelb anzugeben, das keinerlei Grün oder Rot enthält –oder Rot, das keinerlei Gelb oder Blau enthält, etc. –, so stimmen dieResultate bemerkenswert gut überein.) Von den seitlichen Kniekör-pern wird die Information dann über die radiatio optica, die Sehstrah-lung, weitergeleitet in den primären visuellen Kortex, der einen Teildes Hinterhauptlappens bildet.

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Farbe im Kortex

Die Information aus den Sehnerven der Augen gelangt also schließlichan einen Bereich des Okzipitallappens (oder Hinterhauptlappens), derin der Fachsprache als V1 (V steht für visuell) bezeichnet wird. DieseRegion wird wegen ihrer charakteristischen Streifen auch als areastriata bezeichnet (und die späteren Verarbeitungsschichten entspre-chend als extrastriär). Sie besteht, wie alle Bereiche des Neokortex,aus sechs Schichten. Man konnte nun nachweisen, dass die Projektio-nen aus den magnozellulären, den parvozellulären und den (erst kürz-lich entdeckten) koniozellulären Strängen schließlich verschiedeneSchichten dieses primären visuellen Kortex erreichen. Auch sie sindretinotop organisiert, wobei allerdings der Bereich der Fovea erheb-lich überrepräsentiert ist. Von V1 gibt es viele Verbindungen zurnächsten Schicht V2. Strittig ist, ob die im Kniekörper ebenso wienoch in V1 beobachtete Segregation auch in weiteren Schichten wieV2 und darüber hinaus durchgehalten wird. Die Autoren, die dieseMeinung vertreten, nehmen an, dass den anatomisch unterscheidba-ren Kanälen auch eine funktional unterschiedene Rolle zukommt,sodass in einem von ihnen Bewegung und Tiefe, in einem zweitenForm und einem dritten Farbe prozessiert wird, ehe, nach der SchichtV2, eine Aufspaltung in einen ventralen ›Was-Kanal‹ und einen dorsa-len ›Wo-Kanal‹ stattfindet. Diesem Schema entsprechend würde Farbedann so gut wie nur im ›Was-Kanal‹ weiter prozessiert werden. Esgeht also darum, wie unverbunden bzw. in welch enger Verbindungmit anderen visuellen Attributen wie Form, Bewegung oder Tiefe dieFarbsignale behandelt werden.

Die Theorie einer funktionalen Trennung, die in den 1980er-Jahrenentwickelt wurde, geht also von einer strengen Modularität und einermassiven Parallelverarbeitung aus, ähnlich wie es die damals aktuell-sten Experimente im Bereich der künstlichen Intelligenz untersuchten.Wäre unser Gehirn aber so organisiert, würde sich das ›Bindungspro-blem‹ in aller Schärfe stellen, nämlich die Frage, wie die getrenntprozessierten Attribute wie Farbe, Form, Größe, Richtung, Raum,Bewegung etc. wieder zu einem einheitlichen Wahrnehmungsbildzusammengefügt werden. Deshalb geht man heute eher von konnek-tivistischen Modellen aus.

Die Schicht V1 ist bekannt geworden, seit Torsten Wiesel und Da-vid Hubel im Jahr 1959 in einer Serie bahnbrechender Experimente,für die sie 1981 den Nobelpreis erhielten, nachweisen konnten, dassdort Zellen existieren, die auf gerichtete Reize reagieren. Nicht punkt-

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förmige Reize, wie in der Retina und dem Kniekörper, sondern kurzeLichtstreifen konnten sie am besten aktivieren, wobei je nach Rich-tung andere der übereinanderliegenden Zellverbände reagierten. Eini-ge Zellen sprachen auf die Länge der Balken an, wieder andere aufWinkel. Man sah und sieht in diesen Zellen den Anfang der Analysevon Formelementen, die schließlich zu Konturen und zum Erfassenvon Objekten weiter prozessiert würden. Es war daher eine Überra-schung, als durch die fmri nachgewiesen wurde, dass die gleicheSchicht V 1 auch bei Aufgaben, in denen besonders stark die Farbwahr-nehmung involviert ist, eine starke Aktivität aufweist. Inzwischenweiß man, dass die meisten Zellen in V1 und in V2 auf unterschiedli-che Reize bzw. mehrere visuelle Attribute ansprechen. Eine strikteModularität in verschiedenen parallelen Verarbeitungsbahnen ist alsonicht gegeben. Auch durch andere Untersuchungen ist klar geworden,dass selbst bei Vorliegen äquiluminanter (oder auch: isoluminanter)Reize, also solcher, die keinerlei Helligkeitsunterschiede, wohl aberFarbunterschiede aufweisen, die Wahrnehmung von Form und Bewe-gung nicht völlig unterbunden ist. Einer der Vorteile des beschriebe-nen Arrangements ist, dass die visuellen Attribute nicht wieder aufeiner weiteren Verarbeitungsebene zusammengeführt werden müssen.

Die Zellen in V1 und V2 nun verhalten sich ziemlich ähnlich. Etwa50% von ihnen reagieren selektiv auf farbliche Reize. Fast alle Zellen,die auf Farbunterschiede reagieren, sprechen aber auch auf Hellig-keitsunterschiede an, eine Eigenschaft, die im visuellen Kortex an-scheinend durchgängig anzutreffen ist. Bei solchen Zellen, die stärkerauf äquiluminante (in der Helligkeit ununterscheidbare) Reize als aufHelligkeitsunterschiede reagieren, kann man aber annehmen, dass sieInput von den farbopponenten Kanälen erhalten. In V2 gibt es dann– neben einer Mehrheit von Zellen, die sich in ihrem Verhalten nichtvon solchen in V1 unterscheiden – auch solche, die nur auf einen ver-gleichsweise engen Bereich farbiger Reize ansprechen. Es gibt jedochgewisse Unterschiede zu den Zellen im seitlichen Kniekörper. So rea-gieren viele von ihnen besonders gut auf Farbreize, die nicht – wiedie letzteren – mit den oben beschriebenen kardinalen Richtungenübereinstimmen, sondern dazwischen liegen. Möglicherweise hängtdies mit der Ausbildung von Farbkategorien zusammen (siehe imKapitel über Farbe und Sprache). Es gibt anscheinend ein Kontinuuman Zellen, wonach manche fast nur auf Farbunterschiede und kaumauf Helligkeitsunterschiede ansprechen, andere im Gegensatz dazufast nur auf Helligkeitsunterschiede und kaum auf Farbunterschiedeund die Mehrheit der Zellen irgendwo dazwischen liegt.

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Man hat auch doppelt opponente Zellen nachweisen können, alsosolche, die eine Farbgrenze weitgehend unabhängig von der Zusam-mensetzung des Lichts, das auf sie fällt, kodieren können, sodassbereits in der Schicht V1 die Anfänge der Farbkonstanz zu vermutensind. Doppelt opponente Zellen haben die Eigenschaft, dass Farben,die in einer Mischung einander aufheben würden, sich verstärken,wenn sie aneinanderanstoßen. Wird beispielsweise eine solche Zelleangeregt, wenn sie im Zentrum ihres rezeptiven Feldes einen rotenReiz erhält (und von einem grünen Reiz im Zentrum deaktiviert), sowird sie gleichfalls durch einen grünen Reiz im Umfeld angeregt (unddurch Rot im Umfeld abgeschwächt). Solche Zellen dienen also zurEntdeckung von Farbgrenzen und sind für das Phänomen der indu-zierten Farben sowie des Simultankontrastes verantwortlich. Unterdem Simultankontrast, der vom Chemiker Chevreul im 19. Jahrhun-dert beschrieben wurde, versteht man, dass zwei benachbarte Farbensich in der Wahrnehmung beeinflussen und an der Grenze in Rich-tung ihrer Gegenfarben verändern würden. So sieht ein neutralesGrau neben einem Blau heller und gelblicher aus als das gleiche Grauneben einem Gelb, was es dunkler und bläulicher erscheinen lässt.Doppelt opponente Zellen dienen der effizienten Informationsverar-beitung. Nicht jeder Punkt in einer wahrgenommenen Szene ist esgleichermaßen wert, registriert zu werden. Die Stellen eines abruptenKontrastes werden von der Wahrnehmung deutlich bevorzugt konsta-tiert in der Annahme, dass die Bereiche innerhalb einer durch Farb-grenzen bestimmten Fläche weitgehend homolog sein dürften. Esscheint also, dass Farbkonstanz und Simultankontrast zwei Seiten dergleichen Münze bilden. Durch bestimmte Färbetechniken kann manbestimmte Regionen in V1, nämlich die sogenannten blobs, von ihrerUmgebung absondern. Sie dürften die farbopponenten Zellen enthal-ten. In V2 unterscheidet man dann Regionen von dicken, dünnenund blassen Streifen. Ungerichtet, selektiv auf Farben ansprechendeZellen hat man bevorzugt in den blobs bzw. den dünnen Streifengefunden. Allerdings widersprechen neuere Resultate der Annahmeeiner streng ausgeprägten Modularität. Auch die Zellen in den blobsund den dünnen Streifen reagieren in gewissem Umfang auf Bewe-gungsreize und auf Form. Zudem hat man einen bemerkenswert akti-ven Austausch zwischen den parvo-, magno- und koniozellulärenKanälen in V1 nachweisen können.

Der Neurologe Semir Zeki hat in einer Serie von einflussreichenArtikeln und Büchern die Existenz eines speziellen Farbenzentrumspostuliert und dafür die kortikale Zone V4 im Gehirn von Makaken

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ausgemacht. Die entsprechende Stelle im menschlichen Gehirn wirdmeist ebenfalls als V4, manchmal als hV4 (das h steht für human)bzw. auch Hadjikhani et alii folgend7 als V8 bezeichnet. Zeki zufolgewürden die Zellen in V1 noch direkt mit dem vorliegenden physikali-schen Reiz korrelieren, während in V4 dann die sogenannte Farbkon-stanz vorliegen würde, die Reaktion der Zellen also mit dem, wasmenschliche Beobachter als ihre Empfindung angeben, übereinstim-men würde. Es scheint jedoch, dass die Zellen in V4 keine größereSpezialisierung auf farbige Reize aufweisen als in Regionen wie V1oder V2, sondern sie allenfalls über eine geringere Auflösung verfü-gen. Zwar ist klar, dass dort eine Region des Kortex liegt, die übereinen höheren Prozentsatz an Zellen verfügt, die stärker auf Farb- alsauf Luminanzunterschiede reagieren, aber ein Ausfall dieses Zentrumsführt darüber hinaus auch zu schweren Defiziten in der Objekt- undMustererkenntnis. Wer unter zerebraler Achromatopsie leidet, alsoder Unfähigkeit, Farben wahrzunehmen, obwohl der Wahrnehmungs-apparat bis zur Ebene V1 intakt ist, sieht deshalb noch nicht die Welteinfach wie in einem Schwarz-Weiß-Film. Umgekehrt können bei ver-schiedenen Läsionen des Gehirns verschiedene Leistungen der Farb-wahrnehmung selektiv betroffen sein, z. B. das Farbgedächtnis oderdie Farbkonstanz. Dazu passt, dass vielerlei Zentren aktiviert werden,auch wenn das Gehirn ausschließlich farbige Reize zu verarbeiten hat.Entsprechend hat man nachgewiesen, dass in Zentren wie mt, deneneine große Rolle bei der Bewegungswahrnehmung nachgesagt wird,nicht wenige Zellen gleichfalls auf Farbunterschiede ansprechen. DieUnterschiede zwischen den einzelnen Zentren sind daher eher als gra-duell zu verstehen und nicht im Sinne einer strengen Spezialisierung.Die Prinzipien der Mengenkodierung, dass beständig Vergleiche vonVergleichen von Vergleichen zwischen verschiedenen Ebenen vorge-nommen werden wie auch die Nutzung gleicher Bahnen für verschie-dene Systeme, denen wir bei der Retina begegnet sind, dürften auchbei den ›höheren‹ Verarbeitungsstufen eine Rolle spielen.

Daraus ergibt sich einmal, dass über die Prozessierung der Farbin-formation im Kortex noch längst nicht alles bekannt ist. Aus Untersu-chungen mit fmri weiß man aber auch, dass bereits V1 und nicht ersteine höhere Ebene eine große Rolle bei der Farbwahrnehmung spielt.Auch die Phänomene der chromatischen Adaption (Gewöhnung anstarke farbliche Kontraste) hat man als in V1 angelegt nachweisenkönnen. Es gibt also wohl keine spezielle Population von Neuronen,die ausschließlich der Farbwahrnehmung dienen. Insgesamt muss des-halb auch die Idee einer strengen Modularität aufgegeben werden.

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Daraus kann man zum anderen folgern, dass im Gehirn kein eigenesFarbenzentrum existiert, sei es hV4, V8 oder ein anderes. Darüberhinaus scheint es so zu sein, dass vieles für die FarbempfindungenRelevante bereits in frühen Ebenen, in der Retina, in den Kniekörpernund in V1 resp. V2 passiert und ansonsten bei einer objektbezogenenFarbempfindung verschiedene Zellen in verschiedenen Zonen zusam-men aktiv sind. Die Vorstellung, dass da in der Wahrnehmung ausKonturen ein Objekt konstruiert würde, dem dann wie in den Mal-büchern unserer Kindheit irgendwie Farbe hinzugefügt würde, kannnicht aufrechterhalten werden. Allerdings ergibt sich aus Forschungenzu den neurologischen Korrelaten von Bewusstsein, dass Vorgänge inV1 ebenso wenig wie solche in der Retina oder im Kniekörper hinrei-chend sind, um ins Bewusstsein zu gelangen, während Vorgänge inV4 sehr gut mit bewussten Wahrnehmungen korrelieren.

Die Simultaneität und Modularität, die auf massiver Parallelverar-beitung beruhen, wie sie die ersten Phasen der visuellen Wahrneh-mung kennzeichnet, wird somit schrittweise zunehmend durch Inter-konnektivität ergänzt, bis auf höheren Ebenen keine hierarchischenAbhängigkeiten mehr vorliegen, sondern eine offene Verflechtung.Dies erklärt auch, weshalb Beschädigungen eines bestimmten Arealsnicht mehr zum vollständigen Ausfall entsprechender Wahrnehmungs-leistungen führen. Die Farbwahrnehmung ist ein konstruktiver Pro-zess, der nicht nur von der in einem Reiz enthaltenen Information ab-hängt, auch nicht allein von der Bauart des Gehirns, sondern von derBewertung dieses Reizes aufgrund des gegenwärtigen mentalen Zu-stands des Wahrnehmenden. Man muss von einem beständigen crosstalk zwischen den verschiedensten Zentren, ja selbst zwischen denverschiedenen Modalitäten wie dem Sehen und Hören ausgehen. Esgibt keinen privilegierten Ort, wo alle Informationen zusammenkom-men.

Die Hauptaufgabe der visuellen Wahrnehmung besteht jedochnicht in der Farbwahrnehmung, sondern in der Objekterkenntnis so-wie darin, unsere Handlungsfähigkeit im Raum zu gewährleisten. Umeine so hochkomplexe Aufgabe zu lösen wie die zu erkennen, ob eineAbbildung ein Tier zeigt oder nicht, brauchen Menschen nur wenigeMillisekunden, sodass angesichts der Geschwindigkeit unserer Neuro-nenverknüpfungen nur 5–10 Stationen beteiligt sein können. Man hatin den Schläfenlappen des Kortex (wo der von V1 resp. V2 ausgehen-de ventrale Verarbeitungsstrom des ›Was‹-Systems endet), Regionengefunden, die nur auf Gesichter ansprechen oder nur auf Hände bzw.andere Objektkategorien. Bei den Gesichtern sprechen einige nur auf

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Frontalansichten an, andere auf Profilansichten, einige auf Details,andere reagieren mehr auf einen bestimmten Gesichtsausdruck. Zwargibt es wahrscheinlich nicht ein einzelnes ›Großmutterneuron‹, aberes genügen doch wenige Neuronen bzw. deren kombinierte Reaktio-nen, um ein Individuum und seinen Gesichtsausdruck zu repräsentie-ren. Wie die Wahrnehmung in 70 bis 100 Millisekunden und sowenigen Schritten von V1 mit seiner Analyse der Orientierung undLänge von Kantensegmenten zur Erkenntnis ganzer Objekte gelangt,bildet dabei ein großes, ungelöstes Rätsel. Die dabei erforderlichenKonstanzleistungen, dass unabhängig von Entfernung, Beleuchtung,Blickwinkel etc. die Objekte sicher erkannt werden, stellt dabei daseigentliche Explanandum dar. Was die Farbe betrifft, so ergibt sichdaraus, dass das, was für die Objekterkenntnis unerheblich ist, z. B.ein zufälliges Glanzlicht, ein veränderlicher Schatten, eine leichte Ver-färbung durch Reflexlichter, von der Wahrnehmung anders behandeltwird als das, was als permanente Objektfarbe (= ›Lokalfarbe‹) gilt. Ins-gesamt jedoch stehen die angeführten Befunde der Gehirnforschunggut im Einklang mit der Erfahrung der extremen Kontextabhängigkeitder Farbwahrnehmung, wie sie z. B. beim Phänomen der Farbkon-stanz, aber auch dem Simultankontrast zu beobachten ist. Auch dassFarbe nicht getrennt von anderen visuellen Merkmalen prozessiertwird, deckt sich gut mit den Erfahrungen der Maler.

Anmerkungen:

1 Vgl. Oliver Sacks, Eine Anthropologin auf dem Mars, Reinbek bei Hamburg 1995.

2 Vgl. Michael Morgan, The space between our ears, London 2003, S. 169, und

Karl R. Gegenfurtner, Gehirn und Wahrnehmung, Frankfurt/M. 2002, S. 99.

3 Eine gute Einführung bei: John Harrison, Synaesthesia: the strangest thing,

Oxford 2001, insbes. Kapitel 6.

4 Vgl. Karl R. Gegenfurtner, wie Anm 2, Abb. 2.

5 Zur Blue-Box vgl. Claudia Blümle, Blue-Box: Künstlerische Reflexionen einer Studi-

otechnik, in: Philosophie des Fernsehens, hrsg. von Oliver Fahle und Lorenz

Engell, München 2005.

6 Vgl. Oliver Sacks, Die Insel der Farbenblinden, Reinbek bei Hamburg 1997.

7 Vgl. N. Hadjikhani et alii, Retinotopy and color sensitivity in human visual cortical

area V8, in: Nature Neuroscience Bd. 1 (3), 1998, S. 235–241.

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Qualia und Synästhesien

Von Johannes Müller (1801–1858), dem Begründer der modernenPhysiologie, stammt die explizite Formulierung der Erkenntnis, dass esnicht von der Natur der empfangenen Reize abhängt, sondern derBauart des jeweiligen Sinnesorgans, in welche Kategorie von Emp-findungen sie im Gehirn umgewandelt werden. So können die glei-chen Photonen einmal über die Haut als Wärmeempfindungen, zumanderen über das Auge als Farbempfindungen erfahren werden. JedesSinnesorgan verfügt nur über eine eigene, ihm spezifische Weise,Reize zu verarbeiten. Das Auge reagiert – wie schon Goethe beschrie-ben hat – auf anderes als Licht, z. B. auf Druck, gleichfalls mit Seh-empfindungen, weil es Reize eben nur auf die ihm eigene Weise inEmpfindungen umsetzen kann. Wie kommt es, dass Geruch undFarbe, Gehör. Schmerz etc. auf ihre je eigentümliche Weise empfun-den werden? Ihren physikalischen Ursachen in der Natur oder auchim Gehirn sind die von uns erlebten Empfindungsqualitäten jedenfallsnicht ähnlich. Obwohl die Nervenzellen überall im Gehirn ziemlichgleich aufgebaut sind und eigentlich nur aktiv oder passiv sein kön-nen, allenfalls in der Frequenz, mit der sie sich entladen, noch weite-re Informationen enthalten sind, geben sie zu Recht unterschiedlichenund untereinander unvergleichlichen Empfindungen Anlass. Sie wer-den als qualia bezeichnet. Gibt es unterschiedliche Zellentypen, dieGeschmacks- Geruchs- oder Farbempfindungen absondern? Liegt esam Ort, wo sich eine Zelle befindet, ob sie Töne oder Gerüche ver-meldet?

Heutzutage bietet sich ein Vergleich mit den digitalisierten Medienan. Was an einer silbrig glänzenden cd macht, dass in ihr entwederTexte, Bilder, bewegte Bilder und/oder Töne gespeichert sind? DasPrinzip der Digitalisierung beruht ja gerade darauf, dass qualitativeUnterschiede eingeebnet und in dieselbe Sprache übersetzt werden.Deshalb gibt die Untersuchung der digitalisierten Zahlenkolonnen aufeiner cd allein keinen Hinweise darauf, ob sie – wenn überhaupt –von Schallwellen oder Lichtstrahlen herrühren bzw. diese repräsentie-ren. Es wäre sogar denkbar, dass sie Geruchsempfindungen oder sinn-lich nicht Wahrnehmbares codieren. Immerhin muss man im genann-ten Beispiel schließlich doch eine Instanz annehmen, welche die

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gespeicherten Zahlen interpretiert und über eine Schnittstelle in Bil-der oder Töne umwandelt.

Die Situation im Gehirn ist damit vergleichbar. Wie können dieAktivitäten einfacher Nervenzellen oder auch ihrer Zusammenschlüsseüberhaupt zu Empfindungen führen, noch dazu zu so unterschiedli-chen wie ›rot‹ oder ›schmerzhaft‹ oder ›süß‹? Welche Instanz sollte siein Empfindungen umsetzen? Welche andere diese Empfindungen ha-ben? Können wir je Nervenzellen identifizieren, deren Aktivität unse-ren bewussten Empfindungen entspricht? Hätte man dann mehr alslediglich eine notwendige Bedingung erkannt und wäre dem Geheim-nis, wie es überhaupt zum Bewusstwerden von Empfindungen kom-men kann, noch keinen Schritt näher gekommen? Wie und wo ent-stehen die qualia? Bilden sie eine Vorstufe von Bewusstsein oder sindsie gar mit dem Bewusstsein identisch? Farben zählen nun zu denauffälligeren unter den qualia und ihre Wahrnehmung ist zumindestim Normalfall an das Bewusstsein gekoppelt. Der sprichwörtlicheBlinde, der über die Farbe redet, verfügt nicht über das Erleben desquale einer Farbe. Wenn wir ein Rot sehen, dann wissen wir auch,dass wir ein Rot sehen. Gehirnaktivitäten wie die elektrische Reizungeines Neurons oder die Ausschüttung von Neurotransmittern, dieelektrische und chemische Kommunikation zwischen einzelnen Neu-ronen, Neuronenpopulationen oder auch verschiedener Regionen imGehirn lassen aber nicht erkennen, ob sie von einem Bewusstseinszu-stand begleitet sind oder nicht. Die Theorie einer speziellen Sekretionmancher Zellen kann wohl als äußerst unwahrscheinlich ad acta ge-legt werden, doch nehmen wir immer noch gern an, dass, wenn dieAktivität bestimmter Nervenzellen bekannt ist, damit auch die beglei-tenden Empfindungen wie ›rot‹ oder ›blau‹ irgendwie bestimmt seien.Trotz erheblicher Anstrengungen der Philosophen und entsprechendumfangreicher Literatur zum Problem der qualia ist im Augenblickkeine Lösung in Sicht, ja es erscheint im Moment keine auch nurdenkbar. Die reduktive Einstellung, im jeweiligen quale eine unentzif-ferbare und evidente Botschaft zu sehen, von der man, hat man sieeinmal empfangen, alles weiß, was man von ihr wissen kann undüber die es letzten Endes nichts zu sagen gibt, dürfte eine gesundeReaktion auf die genannten Schwierigkeiten darstellen, wenn sie auchnicht wirklich zu befriedigen vermag.1

Vielleicht stoßen wir hier an eine systematische Grenze, nämlich andie Grenze dessen, was ein System wie das Gehirn über sich selbstaussagen kann. Jedenfalls wird mit den qualia auch das ›problem ofother minds‹ berührt, wonach zwei Individuen nie die Erfahrungen

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des anderen wirklich teilen können. Wie können wir wissen, ob einanderer ein Bewusstsein hat, so wie wir? Wann würden wir einerMaschine Bewusstsein zuschreiben? Dies erinnert an das vergleichba-re Problem, wie ich wissen kann, ob ein anderer eine Farbe so emp-findet wie ich. Es gibt allerdings inzwischen Evidenz dafür, dass diemeisten Menschen im Verlauf des Heranwachsens eine theory of mindentwickeln. Nicht nur, dass sie anderen Menschen ein ähnliches Be-wusstsein wie ihr eigenes unterstellen, sie können sich insoweit inden anderen hineinversetzen, dass sie das Bild, das sie selber ihm zei-gen, sich vorstellen und entsprechend manipulieren können. Wir kön-nen antizipieren, wie wir auf andere wirken. Autisten haben dabeitypischerweise Probleme, wie überhaupt die mit der ›theory of mind‹gegebene soziale Kompetenz der Einfühlung in andere bei Männerndurchschnittlich weniger gut ausgeprägt ist. Gesten, Schauspielerei,Kommunikation, aber auch die Fähigkeit zur Lüge beruhen auf diesertheory of mind. Die Entdeckung von Spiegelneuronen, d. h. von Neu-ronen, die sowohl aktiv sind, wenn ich einen anderen bei einer be-stimmten Tätigkeit beobachte, als auch, wenn ich selbst die gleicheTätigkeit tatsächlich vollführe, zeigt, dass es für die genannte theoryof mind eine neuronale Grundlage gibt. Dennoch bleibt: Ich kann nursagen, wie ich mich fühlen würde, würde ich mich verhalten wie einanderer bzw. würde ich mich in seiner Situation befinden, indem ichmich unwillkürlich in ihn hineinversetze, ich kann es nicht wirklichwissen.

Allerdings sind die Wände zwischen unseren Sinnen nicht so her-metisch gegeneinander geschlossen wie gemeinhin angenommenwird. Das war schon den Romantikern bekannt, die Zustände zwischenWachen und Schlafen, Träume, Tagträume, Halluzinationen oder vonDrogen induzierte Fantasien untersucht und geschätzt haben. Siepostulierten eine geheime Entsprechung zwischen den verschiedenenSinnesempfindungen und lieferten die Grundlage für die Beschäfti-gung mit Synästhesien. Es handelt sich dabei um ein faszinierendesGebiet, dessen Erforschung auch Aufschlüsse über das menschlicheGehirn, über qualia und Bewusstsein, über Sprache und Denkengeben dürfte. Die Fähigkeit, Analogien, Metaphern, Symbolisierungenoder Assoziationen zu bilden, scheint den Menschen auszuzeichnen.Hier sollen aber vor allem die relevanten Resultate der Synästhesiefor-schung hinsichtlich der Farbwahrnehmung diskutiert werden. Synäs-thesie heißt wörtlich ›Zusammenempfinden‹. Diese Kunstwort wurdeaus griechisch: syn (= zusammen) und aisthesis (= Empfindung) gebil-det. Synästhetiker sind demnach Menschen, die auf Reize einer Sin-

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nesmodalität unwillkürlich mit Empfindungen antworten, die eineranderen angehören. Man sollte wohl von verschiedenen Formen vonSynästhesien sprechen, denn sowohl die auslösenden Reize als auchdie mitempfundenen qualia können recht unterschiedlich sein. ImPrinzip kann jeder Sinn zu synästhetischem Mitempfinden in eineranderen Modalität führen, beispielsweise können Gerüche taktileEmpfindungen auslösen. In der bei weitem überwiegenden Mehrzahlder Fälle sind allerdings Farbwahrnehmungen beteiligt und zwar mei-stens als das induzierte Phänomen. Mit Abstand am häufigstenkommt es zur Farbe-Graphem-Synästhesie, bei der die grafische Ge-stalt von Buchstaben oder Zahlen bei den Betroffenen unwillkürlicheine korrespondierende Farbwahrnehmung auslöst (Abb. 4). Es han-delt sich also um eine zusätzliche Wahrnehmung, die ca. 5/100 sec.später als die Wahrnehmung des Graphems auftritt und die gerichtetist, d. h. wenn der Buchstabe A zur Wahrnehmung von Rot führt, giltnicht im Umkehrschluss, dass die Wahrnehmung von Rot ihrerseitsauch den Buchstaben A hervorruft. Strenggenommen handelt es sichbei diesem Zusammenempfinden von speziellen Formen wie Buchsta-ben oder Ziffern und Farben allerdings nicht um zwei Modalitäten, dabeide dem visuellen Modus angehören, aber doch um zwei verschie-dene Submodalitäten.

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Abb. 4: Darstellung der Farben, die eine Synästhetikerin mit diversen Buchstaben

verbindet

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Nun gab es zur Zeit der Romantik keine klare Unterscheidung zwi-schen bloßen Assoziationen und wirklichen Korrespondenzen. Dieswurde beim Thema der Farborgeln offensichtlich. Seit der Jesuiten-pater Louis-Bertrand Castel 1725 die Idee eines clavecin oculaire vor-gestellt hatte, gab und gibt es immer wieder Versuche, eine Art visu-eller Musik mit Farben herzustellen.2 Es zeigte sich jedoch, dass keineder vorgeschlagenen Zuordnungen zwischen Farben und Tönen zuüberzeugen vermag. Auch haben die Künstler erworbene Synästhesi-en, durch Drogen oder Migräne ausgelöste, sowie subjektive Phäno-mene wie Photismen und auch Halluzinationen nicht voneinanderbzw. von den echten Synästhesien getrennt. Photismen oder Phos-phene (flackernde Lichtblitze oder formlose farbige Erscheinungen)beim Hören von Lärm, bei einem Schlag auf den Kopf (›Sternchensehen‹) etc. wahrzunehmen ist ein gewöhnliches Phänomen. Manunterscheidet gewöhnlich die Phosphene als von der Retina durchandere als Lichtstrahlen ausgelöste Reize von den Photismen als aufinneren Reizen beruhende halluzinatorische Licht- und Farbenemp-findungen, doch ist die Terminologie recht unscharf. Es herrscht keinegenerelle Einigkeit über die genauen Grenzen der beiden Begriffe. DerBegriff Photismen geht auf die erste Buchveröffentlichung zum ThemaSynästhesie von Eugen Bleuler und Karl Lehmann im Jahre 1881 zu-rück.3 Übrigens hat der Künstler Paul Gauguin in seinem Werk ManaoTupapau von 1892 (Abb. 5) Photismen oder Phosphene zu zeigen ver-sucht. Als nicht von äußeren Reizen ausgelöst werden die Farber-scheinungen der Synästhetiker gern als eine Art halluzinatorischePhotismen angesehen. Wir können mehr sehen als das, was von derRetina stammt. Auch bei zerstörter Sehbahn, bei Blinden oder inner-halb von Skotomen (Ausfälle im Gesichtsfeld) treten solche Photismenauf und selbst wesentlich komplexere farbige Erscheinungen kommenvor, ohne dass ihnen ein äußerer Reiz entspräche.

Allerdings kennt jede Sprache synästhetische Wendungen wie eineraue Stimme, ein hoher Ton, selbst die Einteilung der Tonarten nachDur (= hart) und Moll (= weich) bringt Akustisches und Taktiles zu-sammen. Problemlos können wir sagen: ein ›scharfer Geschmack‹, ein›stechender Geruch‹, eine ›helle Stimme‹, eine ›schreiende Farbe‹ undso weiter und so fort. Um Transzendentes, Unerklärliches, Visionen,um eine Verwirrung der Sinne und dergleichen anzudeuten, habenDichter der Romantik gern auf solche Metaphern zurückgegriffen. ImBereich der Literaturwissenschaft versteht man unter Synästhesieneben auch nur eine besondere Gattung von Metaphern. Es war daherlange die Frage, ob Synästhetiker nur über eine besonders ausgepräg-

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te Metaphorik verfügen oder ob sie tatsächlich und für sie deutlichwahrnehmbar über die behaupteten Empfindungen verfügen. Jeden-falls haben alle Menschen die Fähigkeit, intermodale Analogien zubilden und es gibt auch eine Reihe von intersensoriellen Attributenwie etwa die Intensität. Immer mehr kristallisiert sich heraus, dass dasGehirn metamodal organisiert ist und einzelne Sinnesmodalitätennicht isoliert voneinander betrachtet werden sollten.4

Inzwischen gilt es als unbestrittene Tatsache, dass es echte Syn-ästhetiker gibt, also Menschen, die nicht nur assoziativ vielleichteinen Trompetenton mit der Farbe Scharlach in Verbindung bringen,sondern tatsächlich eine spezifische ununterdrückbare Gehirnaktivitätaufweisen, wenn sie etwa beim Betrachten von Zahlen über unwill-kürliche Farbempfindungen berichten. Man hat die Fibeln der Kind-heit angeführt, wo Buchstaben oder Musiknoten oft farbig unterschie-den wurden, um die These erworbener Assoziationen zu erhärten,doch vermag diese Erklärung den Tatsachen nicht gerecht zu werden.Es sind mehrere Tests entwickelt worden, um wirkliche Korrespon-denzen, also Empfindungen, die den jeweiligen Personen tatsächlichbewusst werden, von bloßen Assoziationen, wie wir sie alle kennen,

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Abb. 5: Paul Gauguin, Manao Tupapau, 1892, Öl auf Leinwand, 73 x 92 cm,

Albright-Knox-Gallery, Buffalo

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zu unterscheiden. Bei einem von Vilayanur S. Ramachandran ent-wickelten Verfahren handelt es sich um eine Art von spezialisiertemIshihara-Test (mit dem üblicherweise Farbenfehlsichtigkeit diagnosti-ziert wird). Versteckt man einige Ziffern 2 so in einer Menge von Zif-fern 5, dass Nicht-Synästhetiker Schwierigkeiten haben, sie mühelosaufzufinden, so können Synästhetiker, für die beide Ziffern sich jadurch ihre Farbe unterscheiden, diese Aufgabe wegen des farbigenPop-Out-Effekts rasch und sicher lösen und mit einem Blick erkennen,ob die versteckten Ziffern 2 vielleicht eine geometrische Anordnungbilden (Abb. 6). Ein anderer Test besteht darin, die von Synästheti-kern behaupteten Korrespondenzen anhand hunderter Beispiele nie-derzuschreiben und sie teilweise nach Jahrzehnten erneut darüber zubefragen. Die erstaunlich hohe Genauigkeit (über 90%), die echte

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Synästhetiker dabei erzielen, erweist, dass es sich dabei nicht umbloße Gedächtnisleistungen oder erworbene Assoziationen handelt,sondern um ein wirkliches, zwanghaftes Mit-Empfinden, das sich überdie Zeit gleich geblieben ist. Die Unterschiede zwischen echtenSynästhetikern und dem gewöhnlichen Rest von uns Nicht-Synästheti-kern konnten inzwischen auch über bildgebende Verfahren der Gehir-naktivitäten nachgewiesen werden.

Die erste wissenschaftliche Beschreibung des Phänomens stammtaus dem Jahre 1812, wo ein Dr. G. T. L. Sachs dieses psychologischePhänomen bei sich und seiner Schwester schildert. Seine Schilderungdürfte dennoch dem für solche Phänomene aufgeschlossenen geisti-

Abb. 6: Normalsichtige haben Schwierigkeiten, die Zweien in einem Wald von Fünfen zu

erkennen (links), während diese für manche Synästhetiker farbig herausfallen (rechts)

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gen Klima jener Zeit der Romantik zu verdanken sein, denn nur wennman nicht befürchten muss, als geisteskrank stigmatisiert zu werden,sind solche Selbstauskünfte zu erwarten. Jedenfalls war in Wissen-schaftskreisen das Thema anschließend ziemlich in Vergessenheit ge-raten, bis, Bleuler/Lehmann folgend, Sir Francis Galton im Jahr 1883in einem einflussreichen und grundlegenden Werk eidetische Bilder,Halluzinationen und eben der Sache nach auch Synästhesien be-schrieb, was einem Künstler wie Wassily Kandinsky nicht verborgengeblieben war. Der Begriff Synästhesie selbst wird allerdings erst seit1892 durch Jules Millet eingeführt und schließlich allgemein ge-bräuchlich. Gleichzeitig mit Galtons Werk erschien Arthur RimbaudsGedicht Voyelles, wo den Vokalen Farben zugeordnet werden:

» A noir, E blanc, I rouge, U vert, O bleu : voyelles,Je dirai quelque jour vos naissances latentes. « In der Folge dieser Veröffentlichung (und auch dank Paul Verlaines

Einführung, in der Rimbaud zu einer Art Seher stilisiert wurde) ent-wickelte sich die Beschäftigung mit Synästhesien zu einer regelrech-ten Mode im Fin de Siècle, der sich kaum ein Künstler entziehenkonnte. Klimt, Segantini, Khnopff oder Klinger wären stellvertretendzu nennen. Doch auch die folgende Generation zeigt sich gleicher-maßen von der Annahme gewisser Entsprechungen zwischen den Sin-nesempfindungen beeinflusst. Paul Klee, der in einem Gemälde von1922 mit dem Titel Das Vokaltuch der Kammersängerin Rosa Silber,Aquarell auf Stoff, Gips und Karton, 52 x 42 cm, New York, Museumof Modern Art) sich mit dem Thema der Synästhesien befasst, wirdan späterer Stelle eingehend behandelt werden.5 Im geistigen Klimades Symbolismus wurde auch deutlich, dass Dichter wie T. Gautier,der 1843 von Pseudosensationen von Farben berichtet, die er derEinnahme von Drogen verdankt, ähnlich wie Charles Baudelaire mitseinem Gedicht Correspondances von 1857, das die berühmte Zeile»les parfums, les couleurs et les sons se répondent« enthält, dieromantische Tradition weitergeführt hatten. Natürlich darf in diesemZusammenhang auch Richard Wagner mit seiner Theorie des Gesamt-kunstwerks nicht unerwähnt bleiben.

Unter den echten Synästhesien findet vielfach auch das Zusam-menempfinden zwischen dem Hören und Farbensehen statt, woraufältere Ausdrücke wie audition colorée oder ›Farbenhören‹ hinweisen.Am häufigsten sind jedoch, wie erwähnt, Buchstaben und Zahlen (dieFarbe-Graphem-Synästhesie) als Auslöser beteiligt bzw. Wortgruppenwie die Wochentage, Monate, Jahreszeiten, aber auch Namen. Dane-ben gibt es Farbempfindungen bei Phonemen, bestimmten Tönen

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und auch bei den Tonarten in der Musik. Synästhesien werden meistbeim Lesen, d. h. durch die Grapheme, oftmals aber auch durch dasHören der entsprechenden Phoneme ausgelöst. Andere Formen derVerknüpfung von Sinnesempfindungen, etwa zwischen Geschmacks-und Farbempfindungen, kommen zwar vor, sind aber sehr selten. Esgibt unter anderem Synästhesien bei Schmerzempfindungen, sogar beider Wahrnehmung von Gesichtern.

Die von einzelnen Synästhetikern beschriebenen Verbindungenmüssen als ausgesprochen idiosynkratisch, doch für das betroffeneIndividuum sehr dauerhaft gelten. Die Farben werden ihrer Schilde-rung nach jedoch nicht im landläufigen Sinn ›gesehen‹. Sie empfindensie nicht als Teile der Welt ›da draußen‹, nicht in räumlicher Zuord-nung, durch sie wird nicht etwa die Außenwelt gefärbt. Es gibt auchden Fall eines Synästhetikers, der im landläufigen Sinn farbenblind,d. h. wegen des Fehlens einer Zapfensorte im Auge rot-grün-blind ist,in seinen Synästhesien jedoch Farben wahrnimmt, die er ansonstennicht sehen kann. Er nennt sie seine ›Mars-Farben‹.6

Die mitempfundenen Farbwahrnehmungen werden in der Regel alsFarben innerhalb des Kopfes, vor dem geistigen Auge lokalisiert,manchmal aber auch auf einer Ebene vor dem Kopf, in ca. 1/2 m Ab-stand. Sie verhalten sich ein wenig wie Nachbilder und gehören imModus zu den Film- oder Flächenfarben, d. h., sie befinden sich ineiner unbestimmten Ebene senkrecht zur Blickachse, und zwar in derRegel vor schwarzem Hintergrund. Von den Betroffenen werden sieals ›nichtstoffliche‹ Farben von den ›stofflichen‹ Farben der gewöhnli-chen Wahrnehmung unterschieden. Synästhetiker, die beim Hörenvon Musik Farben mitempfinden, können sogar Auto fahren und Mu-sik hören, da sie die induzierten Farben getrennt vom normalenSehen als eine eigene Welt oder als eine Art Folie vor der normalenRaumwahrnehmung empfinden und von ihr zu unterscheiden wissen.Umgekehrt neigen sie dazu, wollen sie sich auf die Farbempfindungenkonzentrieren, die Augen zu schließen, um nicht durch andere Seh-eindrücke abgelenkt zu werden.

Praktisch alle echten Synästhetiker haben diesen Zustand bereits solange, seit sie sich erinnern können. Typischerweise merken sie erstvor und während der Pubertät, dass sie diesbezüglich anders sind alsdie anderen und verzichten in der Folge darauf, um sich nicht demSpott oder der Diskriminierung als unnormal oder geisteskrank auszu-setzen, von ihren Mitempfindungen zu berichten. Häufig kennen sieaber enge Verwandte mit der gleichen Disposition. Das Phänomen istentgegen älteren Schätzungen anscheinend doch verhältnismäßig ver-

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breitet, betrifft wohl mindestens 0,5 % der Bevölkerung und dürfte inhohem Maße vererbbar sein. Es gibt regelrechte Synästhetikerfamili-en. Auffallend oft sind Frauen unter den Synästhetikern zu finden,was auf einen Sitz des verantwortlichen Gens oder der Genkombina-tion auf dem X-Chromosom schließen lässt. Dieses Merkmal wirdoffenbar dominant vererbt, was zu einer Verteilung zwischen den Ge-schlechtern von 3 zu 1 führen sollte. Dies entspricht gut der Vertei-lung in der American Synesthesia Association, die 72 % weibliche Mit-glieder aufweist. Da synästhetische Veranlagung aber nach anderenUntersuchungen vielleicht 6 x häufiger von Frauen als von Männernberichtet wird, wird auch davon ausgegangen, dass das Vorliegen die-ses Gens (oder dieser Genkombination) für männliche Nachkommenmanchmal letal wirkt, eine Vermutung, die durch die Untersuchungvon Synästhetikerfamilien erhärtet wird. Unter den verschiedenenBerufsgruppen ist echte Synästhesie anscheinend bei Künstlern beson-ders häufig verbreitet.

Es gibt bei den Synästhesien demnach merkwürdige Koppelungen,vielleicht Fehlschaltungen zwischen Gehirnbereichen, die normaler-weise getrennt sind. Bei den auslösenden Graphemen und Phonemen,ja auch bei induzierenden Tönen der Musik und den Tonarten fälltauf, dass es sich recht häufig um von Menschen gemachte Ordnungenhandelt, um Klassifikationen, Systematisierungen und Bedeutungszu-weisungen an Elemente. Jedenfalls handelt es sich um eine finiteMenge an Elementen. Manche Theoretiker unterscheiden deshalbeine kognitive Synästhesie von einer sensoriellen, aber diese Unter-scheidung vermag nicht zu überzeugen, da eben auch die auslösen-den Sinnesempfindungen bereits kategoriell unterschieden sind. EineDistinktivität von Reizen je nach biologischer Relevanz bildet dieGrundlage für die Sprache und wird nicht von ihr hergestellt. Nunsind das Lesen und auch die Sprache entwicklungsgeschichtlich nichtsehr alt. Gleiches gilt für die Musik. Unser Gehirn hat sich nicht fürdas Lesen entwickelt. Deshalb sollte es nicht verwundern, wenn gera-de bei solchen neu erworbenen Tätigkeiten des Gehirns gewisse Ano-malien häufiger auftreten.

Der Psychologe Vilayanur S. Ramachandran hat kürzlich eine inter-essante These aufgestellt. Ihm war aufgefallen, dass das Zentrum, wodie grafische Gestalt von Ziffern verarbeitet wird, und das Zentrum V4(oder: hV4, V8), von dem schon lang vermutet wird, dass es nichtunwesentlich mit der Farbwahrnehmung zusammenhängt, eng be-nachbart auf dem Gyrus fusiformis (= der spindelförmigen Windung),einer Stelle am unteren Schläfenlappen liegen. Auch das Lesezentrum,

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wo also Buchstaben entziffert werden, auf dem angularen (= eckigen)Gyrus liegt in der Nähe von Zentren, denen eine Rolle in der Auf-merksamkeit auf Farbe sowie der Integration von Farbe, Sprache undForm nachgesagt wird. Eines dieser Zentren, das tpo genannt wirdund die Verbindung von Schläfen-, Scheitel- und Hinterhauptslappendarstellt, gilt als ein weiterer Bereich, in dem Farbe verarbeitet wirdund das an Synästhesien häufig beteiligt ist. (Die Gruppe um SimonBaron-Cohen hatte bei ihrer Untersuchung von Synästhetikern, aller-dings solcher, die auf Phoneme ansprechen, eine verstärkte Aktivitätim linken posterioren inferioren temporalen Gyrus sowie der linkenund rechten occipital-parietalen Verbindung festgestellt, was sich gutdamit in Einklang bringen lässt.) Offenbar gibt es zwischen solchenjeweils benachbarten Gebieten im Gehirn von Synästhetikern Verbin-dungen, die möglicherweise seit früher Kindheit bestehen und beiihnen erhalten geblieben sind, ja sogar ausgebaut wurden.

Nach einer gängigen Theorie verfügen Synästhetiker auch als Er-wachsene noch über Verbindungen, die zwar ›junge‹ Gehirne aufwei-sen, aber bei anderen Menschen später zurückgebildet werden. Gene-tikern ist das Phänomen der Apoptosis bekannt, des genetischprogrammierten Zelltods. Beispielsweise bilden sich unsere Zehen undFinger embryonal heraus, indem das dazwischen liegende Gewebeabstirbt. Ein ähnlicher Vorgang findet während der Pubertät noch imFrontallappen statt, wenn die Fähigkeiten des Denkens, Handelns undPlanens sich verändern. Intuitiv macht es Sinn, wie es die von G. Edel-mann vertretene Auffassung des ›neuronalen Darwinismus‹ fordert,dass mit der durch Lernprozesse zunehmenden Spezialisierung auchein Ausmerzen der nicht benötigten Nervenverschaltungen einher-geht. Demnach skulptiert die Wahrnehmung aus der Fülle von Zufalls-verbindungen diejenigen aus, die sich bewährt haben, und lässt dieanderen absterben. Der Phänotyp wird durch die Interaktion des Ge-notyps mit der Umgebung und den dabei gemachten Erfahrungen ge-formt. Die These Ramachandrans nun besagt zum einen, dass beiSynästhetikern dieser genetisch programmierte Zelltod weniger starkausgeprägt ist als bei Nicht-Synästhetikern, sodass sie im Schläfenlap-pen ihre früher erworbenen Verschaltungen bewahren, zum anderenaber auch, dass generell beim homo sapiens die Verbindungen zwi-schen verschiedenen Gehirnzentren in stärkerem Maße erhalten blei-ben als bei unseren Vorgängern oder nächsten Verwandten, denSchimpansen.

Eine andere Theorie besagt, dass wir alle über Synästhesien verfü-gen würden, sie beim überwiegenden Rest von uns aber nicht ins

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Bewusstsein vordringen würden. Der Unterschied läge also darin, dassnur Synästhetiker Vorgänge in hV4 bzw. tpo bewusst wahrnehmenwürden. Allerdings würde das bedeuten, dass die bei ihnen messbarevermehrte Aktivität in den entsprechenden Arealen allein auf Be-wusstseinsprozesse zurückzuführen wäre. Eine schwache Form vonSynästhesie ist ja bei uns allen weit verbreitet. Die Fähigkeit zu Spra-che, Metaphernbildung oder Abstraktion dürfte an solche Vergleichezwischen Sinnesmodalitäten gebunden sein. Schon beim Erkennenvon Objekten müssen mehrere Modalitäten und Submodalitäten zu-sammengeführt werden. In der Tat vermag die angesprochene Theorieerklären, weshalb wir so leicht zu intermodalen Vergleichen fähigsind. Die Zuordnung runder Formen zum Laut ›buba‹ gegenüber demLaut ›kiki‹, der eher mit spitzen Formen einhergeht, wurde interkultu-rell bestätigt, auch dass wir das Phonem ›r‹ eher mit einer sägezahn-artigen, gerillten Oberfläche verbinden, wohingegen das Phonem›sch‹ eher mit glatten, weichen Übergängen assoziiert wird. Solchemetaphorischen Verbindungen finden sich zuhauf, wobei gerade dieÄhnlichkeit zwischen auditiven und visuellen Metaphern bemerkens-wert ist. So wurde kürzlich festgestellt, dass rote Fahrzeuge lauterwirken als etwa lindgrüne.7 Zwar haben auch Künstler wie Kandinskyund Matjushin eine kulturübergreifende Zuordnung von Farben zuFormen untersucht, doch können ihre Resultate nicht recht überzeu-gen. Kandinsky ordnete bekanntlich Gelb dem Dreieck, Rot demQuadrat und Blau dem Kreis zu, während Matjushin im Gegensatzdazu geschwungene, runde Formen mit den warmen Farben assoziier-te und spitze mit den kalten, was etwas plausibler erscheint.

Je weiter man im Gehirn voranschreitet, desto schwieriger fällt es,Funktionen zu lokalisieren. Man behilft sich mit der Rede vom Asso-ziationskortex. An der Stelle, wo Hinterhaupt-, Scheitel- und Schlä-fenlappen zusammentreffen, also am tpo, das übrigens in der Näheauditiver Zentren liegt, finden sich beispielsweise gehäuft bimodaleNeuronen, solche, die sowohl auf visuelle als auch auf andere Reizeantworten. Zahlen, die ja das Paradebeispiel für abstrakte Ordnungs-beziehungen bilden, werden ganz in der Nähe verarbeitet. Die Ab-straktionsleistung, die nötig ist, um zwischen fünf Eiern, fünf Bäumen,Menschen, Schafen oder Hütten eine Gemeinsamkeit festzustellen,scheint mir in der Farbwahrnehmung jedenfalls vorbereitet zu sein.Konzepte für Farbe gehen der Versprachlichung anscheinend voraus.Rote Objekte haben bei allen Assoziationen an Feuer oder Blut in derRegel nur die Tatsache gemein, dass sie eben rot sind und gleichesgilt für gelbe, graue oder blaue, woran übrigens auch die gängigen

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Versuche scheitern, eine natürliche Farbikonografie aufzustellen. DieHartnäckigkeit, mit der wir Farbkategorien zum Systematisieren undOrdnen einsetzen bei Fahnen, Wappen, Farbleitsystemen, Karteikar-ten, Wasserhähnen, Wegemarkierungen und leider auch Menschen-rassen, dürfte in dieser ihrer Verfügbarkeit und Abstraktionsleistungliegen. Ich würde deshalb die Vermutung wagen, dass bereits dieFarbwahrnehmung mit der Fähigkeit zur Klassifikation und Abstrakti-on verknüpft ist. Dies würde auch den Hang zur Systematik erklären,der in der Liturgie, bei der Esoterik, der Zuordnung von Jahreszeiten,Altersstufen, Charaktertypen oder beim Umsetzen des Namens odersonst eines Wortes in Farben fassbar wird. Was ›kategorielle Wahr-nehmung‹ genannt wird – dass wir z. B. Laute, die an sich ein Konti-nuum bilden (wie etwa ›ba‹ und ›da‹), unterschiedlichen Kategorien,nämlich den entsprechenden Phonemen, nicht aber Zwischenstufenzuordnen –, scheint wenigstens ansatzweise auch bei der Farbwahr-nehmung der Fall zu sein. Obwohl sie gleichfalls ein Kontinuum bil-den, bilden wir Kategorien wie ›blau‹ oder ›grün‹ etc. aus.

Halten wir fest: Synästhesien sind relativ einfach aufgebaut, ab-strakt und kontextunabhängig. Sie gehören damit eher zu den niede-ren Leistungen der Wahrnehmung, wo es um die Vorverarbeitung vonMerkmalen bzw. das Erkennen von Mustern geht. Offenbar werdenMerkmale in einer Modalität oder Submodalität extrahiert, dann inein Gehirnzentrum projiziert, das sie normalerweise nicht erreichen,und dort in Empfindungen umgesetzt, die für das empfangende Arealtypisch sind und die ins Bewusstsein dringen. Vieles spricht alsodafür, dass die qualia nicht von der Art des Inputs, sondern vom Ortim Gehirn abhängen. Welche induzierenden Merkmale mit welcheninduzierten verknüpft werden, ist dabei großen individuellen Schwan-kungen unterworfen, doch steht fest, dass eine einmal erfolgte Zuord-nung bei Synästhetikern sehr stabil ist und sogar gemeinsam im Ge-dächtnis abgespeichert wird, sodass sie beispielsweise (bei einerbestimmten Form der Musik-Farbe-Synästhesie, wo die Klangfarbenvon Instrumenten zu Farbempfindungen führen) an der induziertenFarbe sicherer erkennen können, um welches Instrument es sich han-delt, als beim Hören selber. Sehr häufig findet sich auch die Notati-onssynästhesie, wo die induzierten Bilder eine Art Übersetzung desakustischen Materials in visuelles darstellen. Wenn wir an die Sprachedenken, wo ähnlich willkürliche Zuordnungen von Klängen oder Gra-phemen an Bedeutungen vorgenommen werden, oder an unser Ob-jektwissen, wo alle möglichen Attribute vereint sind, erkennen wir,dass unser Gehirn ständig an eine Digitalisierung gemahnende Opera-

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tionen vollzieht, die den Synästhesien recht nahe kommen. Die Spei-cherung der synästhetisch erlebten Farben erfolgt ähnlich wie beiObjektkategorien.

Dass die ungewöhnlichen Verknüpfungen bei Synästhesien denUmweg über das limbische System nehmen, wie Richard E. Cytowicbei seiner einflussreichen ersten Veröffentlichung im Jahr 19898

annahm, wird allerdings nicht mehr ernsthaft vertreten. Da die Neo-cortexschichten praktisch überall ähnlich aus sechs Schichten aufge-baut sind, sodass zwischen auditivem, visuellem oder motorischemKortex kaum Unterschiede festzustellen sind, liegt es nahe zu vermu-ten, die gleichen sechs Schichten aus mehr oder weniger identischenNeuronen würden überall mehr oder weniger die gleichen Verrech-nungen zur Extraktion von Merkmalen vollziehen. Die Plastizität, dassbenachbarte Gehirnzellen etwa nach einem Schlaganfall Aufgabenübernehmen können, mit denen sie bislang nicht betraut waren, deu-tet gleichfalls darauf hin. Man hat daher Experimente gemacht, woman Versuchstieren nach der Geburt den Sehnerv so umgeleitet hat,dass er Zentren erreicht, die ansonsten mit dem Hören befasst sind,und festgestellt, dass diese Areale später tatsächlich bei visuellen Rei-zen aktiv werden. Die derart behandelten Tiere kamen später ganzgut bei ihrer räumlichen Orientierung zurecht. Unser Cortexgewebescheint also tatsächlich mehr oder weniger überall die gleichen Ope-rationen zur Merkmalsextraktion zu vollziehen und sich nur je nachInput ein wenig anders zu organisieren. Zu ihnen dürften Kontraster-mittlung, Vergleiche und Vergleiche von Vergleichen zählen. Die Fra-ge, ob bei den erwähnten Experimenten auch die qualia des Sehensan den neuen Verarbeitungsort gewandert sind oder ob diese Tierevielleicht eher wie die Wale oder auch wir bei akustischen Parkhilfengelernt haben, akustische Signale räumlich zu interpretieren, kannallerdings, solange wir nicht mehr über das Bewusstsein und die qua-lia wissen, niemand beantworten.

Neuere Untersuchungen der kognitiven Neurowissenschaften wei-sen darauf hin, dass verschiedene Gehirnbereiche ein großes Maß anPlastizität aufweisen und beispielsweise bei Menschen, die in jungenJahren erblinden, Teile des visuellen Kortex sich mit der Verarbeitungauditiver Signale befassen. Auch sonst mehren sich die Hinweise, dasses wesentlich stärkere Interaktionen zwischen verschiedenen Sinnes-modalitäten gibt als bislang angenommen, ja dass dies geradezu alsder Regelfall angenommen werden muss. Gesehenes kann Gehörteswie etwa beim McGurk-Effekt beeinflussen, Klänge können Aspektedes Gesehenen modifizieren etc. Der McGurk-Effekt, der für die Syn-

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chronisation von Filmen wichtig ist, beschreibt, was bei einem Wahr-nehmungskonflikt passiert, wenn wir etwa ein Gesicht sehen, das dieSilbe ›ba‹ äußert, während gleichzeitig die damit inkompatible Silbe›ga‹ zu hören ist: Wir nehmen einen dazwischen liegenden Ton wie›da‹ wahr. Treten zwei Reize in verschiedenen Modalitäten gleichzei-tig auf, so beeinflussen sie sich gegenseitig, wobei der zeitlich abrupteinsetzende, flüchtige, vergängliche, gleichgültig, in welcher Modali-tät, die permanenten Wahrnehmungen modifiziert.9

Was bislang in der Literatur zu Synästhesien jedoch nicht themati-siert wurde, ist der Sachverhalt, dass die Farbempfindungen, über dieberichtet wird, kaum in unseren gängigen Farbsystemen wie demhsb-Raum unterzubringen sind. Viele Synästhetiker liefern gern ge-naue und nuancenreiche Beschreibungen – ein Sachverhalt, der be-reits Galton aufgefallen war – und sind mit den zum Vergleich ange-botenen Farbkarten wie z. B. den Munsellchips wenig zufrieden. Nurnäherungsweise und ungefähr wollen sie ihre Empfindungen mitihnen umschrieben wissen. Der Dichter Vladimir Nabokov (1899–1977) empfand beim Hören eines englischen ›a‹ beispielsweise ver-wittertes Holz, bei einem französische ›a‹ dagegen poliertes Ebenholz.Im Schwarzbereich differenzierte er noch bei einem harten ›g‹ dieEmpfindung von vulkanisiertem Gummi, während ein ›r‹ ihn dieSchwärze rußiger Lappen, die zerrissen werden, empfinden ließ.10

Auch wenn man dies als dichterische Hyperbole ansieht, ist klar, dassbei den mitempfundenen Farben auch solche Abschattierungen vonetwa Blau vorkommen, die wir nicht als Farb-, sondern als Valeurun-terschiede bezeichnen würden, sowie dass auch Oberflächeneigen-schaften wie glänzend, matt oder silbrig eine große Rolle spielen.

Manche Synästhetiker berichten, dass ein Name wie ›Meredith‹eine Art Schottenmuster aus tiefen Grüntönen und Violett heraufbe-schwört,11 es gibt flammende Zungen in Rot-Gelb etc. Typische Be-schreibungen sind: ›Braungelb, die Farbe einer reifen englischen Wal-nuss‹, oder ›gelblich, wenig gesättigt wie altes Bienenwachs‹ oder ›einsehr reiches, tiefes Schwarz, eher vom bläulichen Typ, mit braunenFlecken und Streifen, mit ausstrahlenden Flammen‹.12 Vor allem tre-ten die wahrgenommenen Farben nicht unabhängig von Formen auf.Von einer reinen Modularität kann also nicht die Rede sein. Auf eineVerknüpfung der Verarbeitung von Formen und Farben im Gehirnweist daneben auch der McCollough-Effekt hin, eine spezielle Formvon Nachbildern, die stundenlang anhalten kann. Bei ihm wechselnFarben, die in gerichteten Streifen auftreten, im Nachbild zwar zuihrem Komplement, aber es ist keine Fixierung der Vorlage erforder-

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lich, sodass andere, ›höhere‹ Gehirnareale beteiligt sind als bei dennormalen Nachbildern. Die Nähe der Empfindungen von Synästheti-kern zu Photismen ist unverkennbar. Ähnliche Erscheinungen tretenim Halbschlaf auf bzw. vor und nach dem Schlaf, nicht selten auch beidrogeninduzierten Halluzinationen. Bei erworbener Blindheit bzw.Gesichtsausfällen wird ebenfalls häufig von solchen Photismen berich-tet. Man hat sie als endogene Bildmuster bezeichnet, wie sie auch inder steinzeitlichen Keramik, in Ritzzeichnungen an Felsen oder auchin Kinderzeichnungen zu beobachten sind, ohne dass allerdings derAspekt der Farbe dabei berücksichtigt würde. Anscheinend handelt essich um Grundformen der Wahrnehmung, die zum Aufbau komplexerBilder benötigt werden, in der Regel aber nicht ins Bewusstsein drin-gen. Da in den meisten Fällen die visuelle Form der Zeichen unmittel-bar als Stimulus agiert bzw. bei Phonemen ihre bereits kategoriellgefassten distinkten Merkmale bzw. bei der kognitiven Synästhesiegeordnete Entitäten wie Tage, Klangfarben, Tonarten etc., handelt essich offensichtlich um eine Interaktion mit der Symbolebene. Mankann Synästhesien als eine Art Übersetzung eines Codes in einenanderen interpretieren, ähnlich wie Grapheme und Phoneme willkür-lich aufeinander bezogen sind. Deshalb sind sie für sich allein künstle-risch wertlos, sondern können nur als Material einer weitergeführtenkünstlerischen Bearbeitung Bedeutung erlangen. Das in der Neurolo-gie übliche Verfahren, Farbzentren dadurch zu ermitteln, dass einmalschwarz-weiße Reize, zum anderen äquiluminante Farbreize gebotenwerden, ist für die auf V1 folgenden Farbzentren anscheinend nurbedingt geeignet. Zumindest einige enthalten nämlich auch Dimen-sionen wie Materialität, Textur oder Glanz und vor allem Formen, dieunter anderem die Verarbeitung von Helligkeitsunterschieden voraus-setzen. Wenn bei manchen Formen wie etwa der Notationssynästhe-sie die induzierten Farben und Formen sich auch nach zeitlich struk-turierten Vorgaben richten, so spricht dies ebenfalls gegen dieExistenz eines reinen Farbareals im Gehirn. Dazu passt, dass eine Zer-störung von hV4 nur zu einer Dyschromatopsie, einer Beeinträchti-gung der Farbwahrnehmung, führt, aber nicht zu einer zerebralen Far-benblindheit. Memorierbar sind jedenfalls aber nicht die unendlichvielen Farbempfindungen, die wir haben können, sondern nur die›objektivierten‹ unter ihnen bzw. die kategoriell gefassten.13

Anmerkungen:

1 Sie kann sich auf Goethe berufen: »Man suche nur nichts hinter den Phänome-

nen.«

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2 Vgl. jüngst: Farbe-Licht-Musik: Synästhesie und Farblichtmusik, hrsg. von Jörg

Jewanski und Natalia Sidler, Bern 2006.

3 Vgl. Eugen Bleuler/Karl Lehmann, Zwangsmäßige Lichtempfindungen durch Schall

und verwandte Erscheinungen auf dem Gebiet der anderen Sinnesempfindungen,

Leipzig 1881.

4 Vgl. z. B. Alvaro Pascual-Leone und Roy H. Hamilton, The Metamodal Organizati-

on of the Brain, in: Progress in Brain Research, 2001, Bd. 134, 427–445, oder

Shinsuke Shimojo u. a., What You See Is What You Hear, in: Nature 2000, Bd.

408, 788.

5 Zu Paul Klee und seinem Verhältnis zu Farbe und Musik vgl. Karl Schawelka,

Kanon der Farben, Krebs und Umkehrung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift. Hoch-

schule für Architektur und Bauwesen Weimar-Universität, Heft 2/1994, S. 27–37,

zu Itten vgl. Karl Schawelka, Johannes Itten und die Musik, in: Johannes Itten und

die Moderne, hrsg. von Christa Lichtenstern/Christoph Wagner, Ostfildern-Ruit

2003, S. 156–177.

6 Vgl. Vilaynur S. Ramachandran, A Brief Tour of Human Consciousness, New York

2004, 60–82.

7 Vgl. Burkhard Strassmann, Rot schreit am lautesten, in: Die Zeit, Nr. 35 vom

19.8.2004.

8 Vgl. Richard E. Cytowic, Synesthesia. A Union of the Senses, New York 1989.

9 Vgl. Shinsuke Shimojo und Ladan Shams, Sensory modalities are not separate

modalities: plasticity and interactions, in: Current opinion in neurobiology, Bd. 11,

H. 4, 2001, 505–509.

10 Vgl. John Harrison, Synaesthesia: the strangest thing, Oxford and New York 2001,

131.

11 Ebd., S. 234.

12 Vgl. Kevin T. Dann, Bright colors falsely seen: synaesthesia and the search for

transcendental knowledge, New Haven und London 1998, 12.

13 Vgl. Michael Morgan, The Space Between our Ears, London 2003, 170, 178ff.,

220.

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Das Problem der Grundfarben

Die Grundfarben der additiven und der subtraktiven Mischung

Im Bereich von Grundfarben und ihren möglichen Mischungenherrscht im populären Schrifttum eine gewisse Konfusion, die daherrührt, dass nicht streng genug auseinandergehalten wird, wovon dieRede ist. Ist von Lichtern, von Pigmenten mit ihren Reflektanzen undRückstrahlkurven oder von Empfindungen die Rede? Und werdenphysikalische, physiologische oder psychologische Sachverhalte be-schrieben? Jedenfalls sollte inzwischen klar geworden sein, dassGrundfarben – wenn es sie denn gibt – nicht ›da draußen‹ in denPhotonen oder Reflektanzen existieren, sondern Eigenschaften unsererneuronalen Schaltkreise beschreiben. Nichts in den verschiedenenphysikalisch messbaren Parametern der Photonen oder auch der Re-flektanzen weist darauf hin, dass es sich um Grundfarben handelnmüsse. Thomas Young war der erste, der erkannt hat, dass die Ursa-che der Grundfarben in der menschlichen Konstitution und nicht inder Natur des Lichtes gesucht werden muss. Die populären Mi-schungsgesetze additiv, optisch und subtraktiv betreffen aber physika-lisch beschreibbare Sachverhalte und ziehen Schlüsse daraus für denBereich der Psychologie oder der Farbempfindungen. Für sie giltsämtlich, was für das Verhältnis von Physik und Empfindungen bereitsausgeführt wurde, dass zwischen der Beschaffenheit von Reizen undden ihnen korrespondierenden Empfindungen kein linearer Zusam-menhang besteht. Beginnen wir mit den physikalisch einfachstenSachverhalten, den Lichtern. Vorher sollte aber festgestellt werden,dass im Gegensatz zum Ohr, wo zwei einzelne Töne als gleichzeitigund dennoch getrennt voneinander wahrnehmbar sind, das Augeimmer eine Mischung vollzieht. Zwei Farben an ein und derselbenStelle des Gesichtsfeldes werden als eine einzige (Misch-)Farbe wahr-genommen. Dies liegt – wie beschrieben – nicht an der Physik, alsoden Photonen, sondern an der speziellen Informationsverarbeitung,der Populationscodierung, durch die Zapfen im Auge.

Da es nur drei Sorten von Zapfen auf der Retina gibt, liegt esnahe, solche physikalischen Reize zu suchen, die möglichst jeweilsnur die S-, oder die M- oder die L-Zapfen aktivieren. Gelänge dies, so

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hätte man – zumindest auf der Input-Ebene – die drei Grundfarbengefunden, mit denen durch geeignete Mischung alle anderen zu er-zeugen sind. Eine solche Überlegung hatte bereits Thomas Youngangestellt, der schließlich auch die hierfür nötigen Farbreize ziemlichgenau angeben konnte. In der Realität ist diese Reduktion auf drei›Urfarben‹ jedoch wegen der starken Überlappung der glockenförmi-gen Empfindlichkeitskurven der drei Zapfentypen nicht grundsätzlich,sondern nur annäherungsweise möglich. Es lässt sich zeigen, dass dreiReize nicht ausreichen, um alle in der Natur möglichen Reize zu imi-tieren. Nehmen wir ein monochromatisches Licht (Licht, das nur eineeinzige Wellenlänge aufweist) von vielleicht 580 nm. Es erscheint unsGelb, da die L- und M- Zapfen in gleichem Maß erregt werden. Wür-de man dieses Gelb mischen aus Licht von circa 500 nm und 700 nm,also Licht, das möglichst nur die M- und die L-Zapfen isoliert akti-viert, so würde man zwar denselben Gelbton, aber in geringerer Sätti-gung erzielen, denn das aus dem Licht zweier unterschiedlicher Wel-lenlängen erzeugte Gelb erschiene als stärker mit Weißanteilenvermischt. Ähnliches gilt für jede andere monochromatische Licht-quelle. Wie immer man also drei Farbtöne auswählt, es gibt Bereichehoher Sättigung, die mit ihnen nicht simuliert werden können. Nunsind in der Natur monochromatische Lichtquellen mit ihrer maxima-len Sättigung ja ausgesprochen selten, sodass zumindest brauchbareAnnäherungen an die drei Grundfarben gefunden werden können.Umgekehrt kann mit drei beliebigen verschiedenen monochromati-schen Lichtquellen eine große Vielzahl von Mischungen hervorgerufenwerden. Welche als die optimalen Grundfarben anzusehen sind, hängtdaher von pragmatischen Zielvorstellungen ab.

In der Praxis gibt es aber weitere Beschränkungen, da die entspre-chenden Lichtquellen einigermaßen billig in der Herstellung sein müs-sen, und auch dadurch, dass die Empfindlichkeit der entsprechendenZapfen an beiden Enden des Spektrums, also sowohl im Bereich be-sonders kurzer als auch besonders langer Wellenlängen, rasch ab-nimmt. Für technisch-praktische Anwendungen macht es nicht vielSinn, drei Grundfarben zu wählen, von denen zwei, um zu wirken,um ein Vielfaches energiereicher sein müssen als die dritte. Wie allge-mein bekannt, haben sich als Grundfarben solche Lichtquellen be-währt, deren Licht wir als ein Rot, das leicht in den gelblichen Be-reich hineinreicht, sowie als ein Grün bzw. als ein violettstichiges Blaubezeichnen würden. Sie entsprechen also etwa dem, was die drei Sor-ten von Leuchtdioden des Farbfernsehers produzieren. Dessen Diodensind nämlich so ausgelegt, dass sie Licht aussenden, welches mög-

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lichst nur eine Sorte Zapfen aktiviert. Ähnliches gilt für unsere Flach-bildschirme sowie Beamer. Dass ihre jeweiligen Lichtquellen in derFarbigkeit nicht exakt übereinstimmen, führt zu gewissen technischenÜbertragungsproblemen, etwa wenn eine Webseite auf einem Flach-bildschirm ein wenig anders aussieht als auf einem Monitor. Dieangeführten drei Farben werden auch als die Grundfarben der additi-ven Mischung bezeichnet, da man, wenn man eben ein (leicht gelb-stichiges) ›rotes‹ und ein ›grünes‹ Licht addiert, die Empfindung vonGelb erhält, bei Mischung von (violettstichigem) ›blauem‹ und ›grü-nem‹ Licht die Empfindung von Cyanblau und bei Mischung von(leicht gelbstichigem) ›rotem‹ und (violettstichigem) ›blauem‹ Lichtdie Empfindung von Purpur bzw. Magentarot und entsprechend dieübrigen Farben durch geeignete Kombinationen. Alle drei Lichtquel-len zusammen führen zum Eindruck von Weiß. Diese drei könnendemnach mit einem gewissen Recht als Grundfarben angesehen wer-den, wenn man es mit Lichtquellen zu tun hat wie bei unseren mo-dernen Medien, die in der Tat auf dieselbe Stelle gerichtet, alsoaddiert werden können. Man spricht von rgb-Farben oder einemrgb-Raum (rgb steht für Rot, Grün, Blau). Diese drei Grundfarben deradditiven Mischung werden manchmal auch als Urfarben bezeichnet.Man beachte, dass die durch Addition aus ihnen entstehenden Far-ben sämtlich heller erscheinen als jede der Ausgangsfarben, was nichtweiter verwundert, schließlich gibt es bei der Addition ja mehr Licht-quanten pro Flächeneinheit als vorher. Dass aber die Mischung vonBlau und Rot nicht zum dunklen Violett führt, sondern zum aggressivleuchtenden Magenta, verblüfft viele Kunsterzieher und Hobbymalernoch heute, ebenso wie auch die Tatsache, dass Cyanblau heller istals Blau oder Grün. Farbige Lichter sind aber zur Wiedergabe vonOberflächenfarben nur bedingt geeignet. Weiterhin ist noch zu be-achten, dass die Verhältnisse beim Gebrauch farbiger Lichtquelleneigentlich nur gelten, wenn das Tageslicht ausgeschlossen, zumindestdeutlich reduziert wurde. Auf einem im Freien von der sommerlichenMittagssonne bestrahlten Fernseher kann man wenig erkennen.

Nun haben wir es in der Natur äußerst selten direkt mit farbigenLichtquellen zu tun. Farbige Lichter können in einem sehr engen Fre-quenzbereich gewählt werden, also ganz ›rein‹ sein, während farbigeOberflächen recht breitbandig Licht zurückwerfen. Wir sind aber, wieausgeführt, in der Regel eher an den verschiedenen Oberflächen in-teressiert und es gibt dort eine Mischungsart, die bei weitem häufigervorkommt und entschieden wichtiger ist als die additive, nämlich dieoptische Mischung. Haben wir es nicht mit Lichtern, sondern mit

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Oberflächen und ihren Reflektanzen in einer räumlichen Situation zutun, wo sie von einer einheitlichen Lichtquelle beleuchtet werden,dann greift in der Regel die sogenannte optische Mischung. Kann dasvon zwei oder mehreren Oberflächen reflektierte Licht nicht mehrauseinandergehalten werden, so sieht man an dieser Stelle eben eineeinheitlich gefärbte Oberfläche. Unter der optischen Mischung istdemnach zu verstehen, dass das Auflösungsvermögen des Auges – seies zeitlich oder räumlich – nicht hinreicht, physikalisch unterschiedli-che Reize auseinanderzuhalten und diese sozusagen in einen Topfgeworfen werden. (Dies passiert ja bereits bei den einzelnen Rezep-torzellen im Auge, denn deren Reaktion kann man nicht ansehen, obsie durch viel Licht einer ungeeigneten Wellenlänge oder wenigerLicht einer besser geeigneten angeregt wurden.) Sind die physikali-schen Unterschiede zu klein, um von den rezeptiven Feldern im Augeunterschieden werden zu können, so reagieren sie so, als läge eingemischter Reiz vor.

Was bei der optischen Mischung zweier Farben herauskommt,kann man leicht durch einen Kreisel herausfinden, der eine Scheibemit den beiden Ausgangsfarben trägt, indem man ihn in rasche Dre-hung versetzt. Die optische Mischung ähnelt der additiven Mischung,da eben Lichtstrahlen der Sorte a mit solchen der Sorte b vermischtwerden, nur dass im Gegensatz zur additiven Mischung die Helligkeitder resultierenden Farbe irgendwo zwischen den beiden Ausgangsfar-ben liegt. Grün und Rot führen daher nicht zu Gelb, sondern zu einerArt stumpfen Braun bzw. Rot und Blau zu einer Art stumpfem Violett,nicht dem strahlenden Magenta. Dieser vergleichsweise starke Verlustan Sättigung und Intensität bei der optischen Mischung rührt aberauch daher, dass die beiden in einen Topf geworfenen Gemenge anLichtstrahlen, da sie ja von konkreten Oberflächen reflektiert wurden,ohnehin schon aus Licht recht verschiedener Wellenlängen zusammen-gesetzt waren.

Die optische Mischungsart beruht also auf der Überforderung desAuflösungsvermögens unserer Augen. Nehmen wir z. B. eine Kreisflä-che, die aus abwechselnden – sagen wir roten und blauen – Segmen-ten besteht. In der Nähe können wir sie gut unterscheiden, weil dasvon ihnen reflektierte Licht auf jeweils verschiedene Zellgruppen derRetina fällt. Ändern wir den Abstand (oder versetzen wir die Kreis-scheibe in rasche Drehbewegung, was nicht das räumliche, wohl aberdas zeitliche Auflösungsvermögen der Augen überfordert), so sehenwir, ähnlich wie bei der additiven Mischung, einen Magentaton, derjedoch in seiner Helligkeit zwischen den beiden Ausgangstönen liegt

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(ein wenig näher am helleren der beiden). Dies muss nicht überra-schen, denn die durchschnittliche Menge an Photonen, die von denbeiden unterschiedlichen Flächen reflektiert wird, hat sich ja nichtverändert. Daraus ergibt sich aber, dass die drei Farbtöne Cyanblau,Magenta und Gelb, die ja im maximal gesättigten Zustand heller sindals ihre unmittelbare Nachbarschaft, durch optische Mischung nicht,d. h. nicht in optimaler Sättigung erzeugt werden können. Ähnlichesgilt für die Grundfarben der additiven Mischung (Orange)-Rot, (Vio-lett)-Blau und Grün, die im Bereich maximaler Sättigung dunkler alsihre Umgebung im Farbkreis ausfallen. Mittels Gelb und Cyan kanndaher optisch kein reines, maximal gesättigtes Grün entstehen, son-dern nur ein hellerer, weniger gesättigter Grünton. Bei der optischenMischung braucht man daher im Prinzip sechs Grundfarben sowieSchwarz und Weiß. Mischt man die Buntfarben optisch, so erhält manein neutrales Grau. Die optische Mischung bildet die unter natürli-chen Bedingungen weitaus am häufigsten vorkommende Mischungs-art. Der grau aussehende Staub zeigt sich unter dem Mikroskop alsaus bunten Partikeln zusammengesetzt und pointillistische Bilder ausblauen und gelben Pinselstrichen sehen aus gewisser Entfernung grauaus, nicht grün. Auch die Mischung der aufgerasterten Farben beimVierfarbendruck gehorcht zumindest teilweise der optischen, nichtder subtraktiven Mischung, zu der wir gleich kommen werden, näm-lich an den Stellen, wo sich die einzelnen Punkte nicht überlagern.Auch bei der Mischung von Malerfarben ist die optische Mischungbeteiligt. Mischt man nämlich Pigmente – fein zermahlene feste Farb-partikel – rein mechanisch, was bei deckenden Farben annähernd derFall ist, so verhalten sie sich im Gegensatz zu den in Bindemitteln ge-lösten Farbstoffen nach den Gesetzen der optischen Mischung, alsowie Staub oder die farbigen Segmente auf dem Farbkreisel. Blaue undgelbe Pigmente ergeben also grau, nicht grün. Maler sollten dahertunlichst mindestens sechs Grundfarben (neben Weiß und Schwarz)verwenden, wenn sie alle Buntfarben in guter Sättigung verwendenwollen, denn die mit Malerfarben auf der Palette erzielbaren Mi-schungen können keineswegs als rein subtraktiv beschrieben werden.

Worum geht es bei der subtraktiven Mischung? Genau genommensollte man von der Gruppe der subtraktiven Mischungen im Pluralreden, da mehrere nicht ganz identische Mischungsarten darunterverstanden werden. In ihnen geht es im Wesentlichen um Filterwir-kungen. Wenn wir einen Photonenstrahl aus Photonen unterschiedli-cher Energie vor uns haben, dann kann man manche davon herausfil-tern, also wegnehmen oder subtrahieren, daher der Name subtraktive

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Mischung. Der verbleibende Strahl, der ursprünglich vielleicht farblos(= weiß) war, ändert, wenn etwa die langwelligen Anteile herausge-filtert werden, sein Aussehen, wird aber auch zwangsläufig wenigerintensiv und erscheint lichtschwächer. Als Filter kann dabei jedetransparente Schicht dienen, die eben nicht alle Photonen durchlässt,sondern einige davon absorbiert. Wie bereits erwähnt, gebührt Her-mann von Helmholtz dabei das Verdienst, die Unterschiede zwischenadditiver und subtraktiver Mischung erkannt und die herrschendeKonfusion aufgelöst zu haben, weil bis dahin zwischen dem Verhaltenvon Lichtern und den als Filter wirkenden Pigmenten nicht oder nurunzureichend unterschieden wurde. Die sogenannte subtraktive Mi-schung sucht nun zu beschreiben, was passiert, wenn zwei oder meh-rere solcher Filter übereinandergelegt werden: Ein gelber und einblauer Filter übereinandergelegt lassen – das ist eine bekannte Er-scheinung – Licht durch, das wir als grün empfinden.

Dies führt zu einer zur additiven Mischung analogen Überlegung:Gibt es drei optimale Filter, die aus dem Sonnenlicht gerade solcheAnteile herausdestillieren, dass sie in ihrer Kombination das Reflek-tanzverhalten einer beliebigen Oberfläche simulieren können? Dasmüssten drei Filter sein, die jeweils getrennt voneinander alles Lichtausfiltern, das die L- bzw. die M- resp. die S- Zapfen aktiviert. Darausergibt sich, dass sie in etwa nur Licht passieren lassen dürfen, das füruns Cyanblau, Gelb oder Magentarot aussieht. Legt man zwei dieserFilter dann übereinander, etwa den gelben und den magentaroten, sobliebe nur noch Licht übrig, das dem der additiven Grundfarbe (leichtgelbliches) Rot nahe kommt. Klar ist, dass zwei Filter weniger Lichtdurchlassen als je einer, sodass die resultierenden Farben dunkler seinmüssen als die Ausgangsfarben. So weit also das Prinzip der subtrakti-ven Mischung. Mathematisch gesprochen wäre es übrigens korrekter,von multiplikativer Mischung zu reden, denn legt man beispielsweisezwei Filter übereinander, die jeweils 50% einer gegebenen Wellenlän-ge durchlassen, so erhält man als Resultat 25%, was 50% von 50%entspricht (1/2 x 1/2 = 1/4), nicht 0% (100% – 50% – 50% = 0 %).

Nun ist schon das Sonnenlicht nicht besonders gleichförmig, abge-sehen davon, dass es je nach Tageszeit, geografischer Breite undatmosphärischen Bedingungen anders ausfällt, aber durch eine Nor-mierung könnte man vielleicht doch zu einer Festlegung optimalerGrundfarben der subtraktiven Mischung gelangen. Die Metamerie,dass bei anderen Lichtverhältnissen die Originalfarbe und die nach-gemischte Farbe unterschiedlich aussehen, lässt sich aber nicht aus-schalten. In der Praxis gibt es darüber hinaus noch weitere Schwierig-

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keiten, die vor allem darin liegen, dass die verfügbaren Farbstoffe kei-neswegs alles ungehindert durchlassen, was sie durchlassen sollen,bzw. umgekehrt die unerwünschten Wellenlängen nicht wirklich kom-plett herausfiltern. Wegen der starken Überlappung der Rezeptions-kurven unser Zapfen ist dies auch nur annäherungsweise möglich.Unter anderem kann es vorkommen, dass mehrere Schichten des glei-chen, z. B. gelben Filters nicht nur zu einer Verdunklung führen(schon diese sollte idealerweise nicht auftreten), sondern zu einerFarbverschiebung z. B. ins Rötliche. Bei der Anwendung solcher sub-traktiver Filter als Druckfarben hängt das Resultat natürlich auch vomPapier, auf das gedruckt wird, und dessen Reflektanzeigenschaften ab.Außerdem gilt, wie bereits bei der additiven Mischung, dass ausgrundsätzlichen Erwägungen keine drei Grundfarben der subtraktivenMischung gefunden werden können, mit denen alle in der Natur vor-kommenden Sättigungsgrade zu simulieren sind. Gleichwohl bildenCyanblau, Magenta und Gelb die im Augenblick besten Grundfarbenfür unsere Druckindustrie, für Farbkopierer, Diapositive und Farbfilme.Man spricht von den cmyk-Farben oder vom cmyk-Raum. C steht fürCyan, M für Magenta und Y für Yellow. Das K (von blacK) beziehtsich auf die Tatsache, dass meist ein vierter Druckvorgang mitSchwarz eingeschaltet wird, um das Resultat zu verbessern, da sichmit den drei übereinandergedruckten Buntfarben nur ein Dunkelgrauerzielen lässt. Es gibt dennoch beeindruckende Fortschritte in derGenauigkeit von Farbkopierern, die Vorlagen immer besser reprodu-zieren können. Schwierigkeiten bereitet allerdings die Umwandlungvon Bildern auf dem Bildschirm (d. h. im rgb-Raum) in die gedruckteVersion (den cmyk-Raum), die man am besten der Druckerei über-lässt, denn was rechnerisch zutrifft, kann von den konkret vorhande-nen Pigmenten resp. Farbstoffen nicht eingelöst werden. Ein Grafiker,der auf dem Bildschirm entwirft, braucht daher gehörige Erfahrung.

In den gängigen Farbenlehren wird behauptet, dass die Gesetzeder subtraktiven Mischung für den Umgang mit den Malfarben gel-ten, also nicht nur für die lösbaren Farbmittel, sondern auch für Far-ben aus unlösbaren Pigmenten oder Farben als Substanzen. Entspre-chend wären Cyanblau, Gelb und Magenta, unabhängig von derFrage, ob als Pigmente oder Farbstoff vorliegend, als die Grundfarbender Maler anzusehen, denn aus ihnen ließen sich alle anderen ermi-schen. Für die Praxis der Maler ist die Beschränkung auf drei Grund-farben aber ohnehin unerheblich. Warum sollte sich jemand dieMühe machen, ein Grün oder Rot zu mischen, wenn diese Farbenihm direkt (und gesättigter) als Tubenfarbe zur Verfügung stehen?

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De facto haben sie seit dem 18. Jahrhundert, also seit die Erkenntnis-se Newtons sich zu verbreiten begannen, auch meist eine erweiterte,›prismatische‹ Palette verwendet, wo sie neben Weiß und Schwarz fürjede der wichtigsten Buntfarben im Farbkreis mindestens ein Exem-plar vorgesehen haben. Dies gilt in besonderem Maße für die Palet-ten der Impressionisten und Neoimpressionisten. Auch muss gesagtwerden, dass die gängigen Palettenfarben absolut keine idealen Filterdarstellen, denn Filter müssen – wie dargelegt – transparent sein, waserfordert, dass keine festen Pigmentpartikel vorliegen, sondern es sichum gelöste Farbstoffe handelt. Deckfarben dagegen verhalten sicheher nach den Gesetzen der optischen Mischung, da sie aus Pigmen-ten bestehen. Schon Newton hatte gängige Pigmente fein zermahlenund vermischt und daraus (wie oben beim Hausstaub beschrieben),ein Grau erhalten. Nur mit transparenten, gelösten Farben wie denAquarellfarben kommt man den Verhältnissen bei der subtraktivenMischung halbwegs nahe. Die üblichen Tempera-, Öl- bzw. Acrylfar-ben dagegen enthalten sowohl transparente als auch deckende Antei-le, und zwar je nach Sorte in verschiedenem Ausmaß. Die erzielteTönung bei einer Farbmischung hängt von der Pigmentgröße, derrelativen Brechzahl, der Art der Pigmente und Bindemittel, dem Gradihrer Lösung in Binde- und Lösungsmitteln, von Absorption, Reflexionund Transmission der beteiligten Pigmente, ihrer Selektivität, der Artder Oberflächenspiegelungen und noch manchem anderen ab. Einfa-che Malerregeln können nur grobe Richtlinien angeben. Dies istMalern durchaus geläufig, die wissen, dass manche ihrer Farbenergiebiger sind als andere, manche deckender etc. Schon Philipp OttoRunge hatte deshalb streng zwischen deckenden und transparentenFarben unterschieden, sodass die im populären Schrifttum üblichenBehauptungen über die subtraktive Mischung hinter den Erkenntnis-stand von vor 200 Jahren zurückfallen. Was beim Mischen zweier Far-ben konkret herauskommt, lässt sich aus ihrem Aussehen allein nichtvorhersagen, wie eine einfache Überlegung zeigt. Nehmen wir einentransparenten bläulichen Farbstoff, der nur Licht der Wellenlängenvon 400–550 nm durchlässt, und übermalen ihn mit einem anderengelblichen, der nur Licht von 551–600 nm durchlässt, so erhalten wirkeine grünliche Mischfarbe, sondern Schwarz.

Es ist nötig, so ausführlich auf die drei Grundfarben der subtrakti-ven Mischung einzugehen, weil ihnen im allgemeinen Bewusstseinund besonders in Künstlerkreisen ein besonderer, geradezu mythi-scher Status eingeräumt wird. Allerdings werden sie traditionell, seitLouis Savot und François d’Aguilon Anfang des 17. Jahrhunderts mit

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Rot, Blau und Gelb gleichgesetzt (und Grün, Violett und Orange alsMischfarben angesehen), wobei André Félibien und später Gérard deLairesse als Multiplikatoren eine große Rolle zukommt.1 Diese dreiFarben konnotieren dabei so etwas wie eine reductio ad elementa,eine Beschränkung auf unhintergehbar Elementares, Reines, Ursprüng-liches, Uranfängliches. Die Künstler des Bauhauses, auch Mondrianund andere Künstler der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts habenRot, Blau und Gelb in entsprechendem Sinn verwendet. Warumhaben Färber und Maler seit langem gewusst, dass im Prinzip dreiFarben ausreichen, um alle übrigen zu mischen, sie aber als Rot, Blauund Gelb angegeben, während wir heute wissen, dass Cyanblau,Magenta und Gelb viel besser geeignet sind? Wahrscheinlich hängtdas mit der Entwicklung der Farbtechnologie zusammen. LasierendeFarben, die auch beim Färben verwendet werden können, gibt es fürdie Farbtöne Magenta und Cyanblau erst ab der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts (oder sie waren wie Purpur extrem selten und kost-bar). Das über lange Jahrhunderte wichtigste lasierende Rot, derKrapplack, kommt aber dem Magenta vergleichsweise nahe, ebensowie die um 1800 verfügbaren lasierenden Blautöne wie Kobaltblauziemlich grünstichig ausfallen und damit dem Cyanblau vergleichbarersind als die gesättigten Blautöne, die uns heute zu Gebote stehen.

Das Wissen um die Gesetze der optischen Mischung ist daher vielwichtiger als das über die sogenannten Gesetze der subtraktiven Mi-schung, denn diese kommt in der Natur kaum vor, und wenn, dannallenfalls in einer Annäherung, die weit vom idealen Charakter ent-fernt ist, den der in den Lehrbüchern postulierte Gesetzescharaktersuggeriert. Gesetze der subtraktiven Mischung gelten allenfalls unge-fähr. Nur für ideale Filter, die bei manchen – erwünschten – Wellen-längen 0% und den anderen 100% durchlassen, sind sie einiger-maßen einfach. Es gibt im Allgemeinen keine Regeln, die es erlauben,das Ergebnis einer subtraktiven Mischung nicht idealer Farbstoffe vor-auszusagen. Manchmal führt sogar eine Beimischung von Weiß zueiner Sättigungszunahme oder es können mehrere Lasurschichtenübereinander aus einem Orangeton einen Violettton machen. Die Be-schränkung auf die drei Grundfarben der subtraktiven Mischung istvor allem beim Druck, bei Farbfotos, Farbkopierern etc. wichtig, weiles die Anzahl der Arbeitsgänge reduziert, nicht so sehr für Maler, diesowohl mit der subtraktiven als auch der optischen Mischung arbei-ten und im Übrigen wenig Vorteile von einer Beschränkung der Zahlihrer Farbtuben haben. Für sie ist es im Wesentlichen nur nützlich, inetwa das Resultat von Mischungen vorhersehen zu können. Sie sehen

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selbst, ob sie noch mehr Blau oder Weiß zufügen müssen, um demgewünschten Ton näher zu kommen. Außerdem verhalten sich, so-bald die Farben auf dem Bild aufgetrocknet sind, diese ohnehin nachden Gesetzen der optischen Mischung.

Drei Grundfarben oder vier Grundfarben?

Wie schon durch Beschreibungen wie ›ein leicht gelbliches Rot‹ oder›Violettblau‹ nahegelegt, würde kein unbefangener Betrachter auf dieIdee kommen, dass es sich bei diesen Farbtönen um Grundfarbenhandeln könnte. Ähnliches gilt für die Farbtöne Cyanblau und Magen-ta. Die Bezeichnung Magenta (sprich: Madschenta) geht übrigens aufden Namen einer oberitalienischen Stadt zurück, wo es – ähnlich wieim benachbarten Solferino – 1859 zu extrem blutigen Kämpfen kam,was unter anderem den Anstoß zur Gründung des Roten Kreuzes gab.Ein damals neu entwickelter synthetischer leuchtender Farbstoff imPurpurbereich wurde dann, um seinen auffälligen und aggressivenCharakter hervorzuheben, auf diesen Namen getauft, der durch einenTraktat des Grafikers Braquemond aus dem Jahr 1885 dann allgemeinbekannt wurde. Mauve, der erste auf Anilinbasis entwickelte neueFarbstoff im Bereich zwischen Rot und Blau, war 1866 vorausgegan-gen. Schon diese geschichtliche Herleitung zeigt, wie wenig dieserFarbton im psychologischen Sinn als Grundfarbe gelten kann.

Kommen wir zu den psychologischen Grundfarben, also dem, wasdie meisten von uns als reine und nicht zusammengemischte Farbtö-ne ansehen würden, so haben wir, wie Ewald Hering bereits 1868gegen Helmholtz festhielt, abgesehen von Weiß und Schwarz, nichtmehr drei, sondern vier von ihnen, nämlich Rot, Blau, Grün und Gelb.Wir sprechen hier allerdings nicht mehr von farbigen Lichtern oderFiltern, sondern von Empfindungen, also Eigenschaften unseres Ner-vensystems bzw. der Algorithmen, nach denen es Farben konstruiert.Hering definiert die psychologischen Grundfarben so, dass wir unsjede von ihnen ohne Beimischung der anderen vorstellen können,also etwa ein reines Rot ohne Beimischung von Gelb oder Blau, einreines Gelb ohne Beimischung von Grün oder Rot usw. Diese vier Far-ben sind demnach antagonistisch in Paaren angeordnet in dem Sinn,dass für uns ein rötliches Grün oder ein bläuliches Gelb unvorstellbarsind. Diese vier Grundfarben spielen – neben Schwarz und Weiß – beieigentlich allen Kulturen und in vielerlei praktischen Zusammenhän-gen, wo es um eindeutige Zuordenbarkeit geht, eine wichtige Rolle.

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Das Londoner U-Bahn-Netz kennt eine Red-Line, eine Blue-Line etc.Unsere Flaggen und Verkehrszeichen benutzen fast nur sie und dieKlassifikationen des Alltags greifen auf sie zurück. Es scheint, dass dieZahl von vier anstelle von drei eindeutig zu unterscheidenden Farbenauch noch den Vorteil bietet, dass, wie das sogenannte Landkarten-problem belegt, vier Farben ausreichen, um jeden Farbfleck von an-grenzenden anderen Flecken eindeutig abheben zu können. Bei derbiologischen Aufgabe der Farbwahrnehmung, eine Entität deutlich vonder Umgebung abgrenzen zu können, sind vier klar unterscheidbareFarben entschieden von Vorteil. Die Übereinstimmungen zwischenIndividuen derselben Kultur wie auch zwischen Vertretern verschiede-ner Kulturen, was denn als das beste Exemplar von Rot, Blau, Grünoder Gelb anzusehen sei, sind dabei so erheblich, dass man einegenetische Grundlage für die Bevorzugung gerade dieser vier psycho-logischen Grundfarben annehmen muss. Jedenfalls verträgt sich dieTatsache, dass Gelb für uns eine echte Grundempfindung ist, gut mitdem dichromatischen Stadium der Evolution unseres Farbensehens.

Die Gehirnforschung hat die angeführte Beobachtung von Heringdurch die Entdeckung opponenter Zellen und ihrer Verschaltung be-reits im Auge bestätigen können. Daraus ergibt sich, dass man in derTat – wie ausgeführt – von einem Rot-Grün- und einem Blau-Gelb-Kanal sprechen kann, die in derselben opponenten Weise organisiertsind, wie Hering es beschreibt. Bei Gelb handelt es sich also nur fürdie kleine Strecke zwischen Netzhaut und Ganglienzellen um eineMischfarbe, dann jedoch um eine Grundfarbe. Schon Wilhelm Wundthatte den Unterschied zwischen den drei Grundfarben auf der Ebeneder Retina und der psychologischen Grundfarbe Gelb konstatiert: »Esfolgt aber daraus nicht, dass nun z. B. Gelb eine aus Roth und Grüngemischte Empfindung ist oder dass bei der Reizung durch gelbesLicht nichts anderes als eine Reizung von roth- und grünempfinden-den Elementen stattfindet. Dem ersten widerspricht die Beschaffen-heit der Empfindungen, da Gelb sowohl von Roth wie von Grün qua-litativ verschieden, keineswegs aber eine Mischung aus beiden ist.«2

Allerdings werden diese opponenten Zellen im Auge von solchenFarbreizen optimal aktiviert, die nicht exakt mit den psychologischenGrundfarben identisch sind. Zur Erinnerung: Der Gelb-Blau-Kanal rea-giert am besten auf ein ins Violette verschobene Blau bzw. auf einenals Chartreuse bezeichneten Farbton, also eine Art Grüngelb. BeimRot-Grün-Kanal zeigt sich auf der Ebene des seitlichen Kniekörpersdas Grün ins Bläuliche verschoben und das Rot ist eher etwas gelbli-cher, als wir nach der Heringschen Definition erwarten würden.

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Offenbar gibt es im Gehirn weitere Transformationen, die aus denGegebenheiten im Auge und Kniekörper schließlich die vier psycholo-gischen Grundfarben entstehen lassen, wenn auch dieser Überganggegenwärtig nicht auf physiologischem Niveau dargestellt werdenkann. (Die Berlin-Kayschen Farbkategorien, also die zusätzlich zu denHeringschen weit verbreiteten fokalen Farben Grau, Braun, Orange,Violett und Rosa müssten bei diesem Transformationsprozess aberebenfalls entstehen. Hierzu siehe unten.) Die vier sogenannten psy-chologischen Grundfarben stimmen dabei weder mit den Grundfarbender additiven noch denen der subtraktiven Mischung überein. Allen-falls für das Grün der additiven oder das Gelb der subtraktiven Mi-schung kann dies in etwa gelten. Die psychologische Grundfarbe Blauenthält im Gegensatz zur Grundfarbe der additiven Mischung Violett-blau keinen Rotanteil und die psychologische Grundfarbe Rot kann imGegensatz zur Grundfarbe (leicht gelbstichiges) Rot der additivenMischung gar nicht durch eine einzige Wellenlänge des Spektrumsdargestellt werden, sondern nur durch eine Mischung lang- und kurz-welligen Lichts.

Im populären kunsthistorischen und künstlerischen Schrifttumherrscht viel Konfusion, weil die verschiedenen Arten von Grundfar-ben und die Sachverhalte, auf die sie sich beziehen, nicht klar genugauseinandergehalten werden. Anscheinend kam es besonders gern zuVerwechslungen zwischen den Grundfarben der subtraktiven Mischungund drei der psychologischen Grundfarben. Es dürfte beispielsweisedeutlich geworden sein, dass das Verhalten von Farben auf der Palet-te wenig zu tun hat mit den Prozessen im Auge oder im Gehirn. Fürdie Wahrnehmung sind Blau und Gelb komplementär, während einMischen blauer und gelber Pigmente je nach der Größe der Farbparti-kel meist nur eine Art recht vergrauten Grüns ergibt. Eigentlich müss-te man also eher erklären, weshalb die Maler Grün verstoßen habenund sich immer noch hartnäckig weigern, diese als Grundfarbe anzu-erkennen. In der Fachsprache nennt man diese Neigung den paint-bias. Die angeführte Logik, dass man Grün aus Blau und Gelb ermi-schen kann, es sich demnach nicht um eine Grundfarbe handelnkönne, ist aus zwei Gründen fragwürdig, denn zum einen wäre ausdem gleichen Grund dann auch Rot keine Grundfarbe, da es sich ausMagenta und Gelb ermischen lässt, zum anderen ist es mit derMischbarkeit von Grün aus Blau und Gelb gar nicht so gut bestellt.Optisch gemischt ergeben sie Grau und subtraktiv gemischt ergebensie – abgesehen von den anderen Unzulänglichkeiten dieser Mischungs-art – nur dann wirklich Grün, wenn Blau durch Cyanblau ersetzt wird.

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Jedenfalls sind die drei Farbtöne, welche die Moderne, das Bau-haus oder auch de Stijl als Grundfarben ansehen, nämlich ein Rotohne Blau- oder Gelbeinteile, ein Gelb ohne Grün- oder Rotanteileund ein Blau ohne Rot- oder Grünanteile, weder im Sinne der additi-ven noch der subtraktiven Mischung als Grundfarben anzusehen. Nurnoch im Sinne eines Zitats, einer Bezugnahme auf den Elementaris-mus der Moderne, können sie auf die (vermeintliche) Reduktion aufletzte Grundelemente verweisen. Eigentlich handelt es sich bei ihnenum drei der vier psychologischen Grundfarben, nur dass eine davon,das Grün, unterdrückt wird.

Anmerkungen:

1 Vgl. Bernard Teyssèdre, Roger de Piles et les débats sur le coloris au siècle de Louis

XIV, Paris 1957.

2 Vgl. Wilhelm Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, 3. bearbei-

tete Auflage, Hamburg und Leipzig 1897, S. 103.

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Farbsysteme

Farbsysteme haben die Aufgabe, sämtliche Farben so in einem Modellnach ihren Ähnlichkeiten zu ordnen, dass die diversen Verwandtschaf-ten, Beziehungen und Unterschiede erkennbar und ablesbar werden.In der Regel soll dabei jeder unterscheidbaren Farbe ein und nur einOrt im jeweiligen Modell zukommen. Die Zahl der bekannten Farb-systeme geht inzwischen in die Hunderte, was bereits einen Hinweisdarauf gibt, dass ein einziges System nicht ausreicht, sämtliche Be-dürfnisse zu befriedigen. Nicht nur kommt es wegen sich wandelnderpraktischer Erfordernisse immer wieder zu Neuentwicklungen, son-dern auch grundsätzliche Differenzen verhindern die Festlegung aufein einziges System. Insbesondere muss auch hier unterschieden wer-den, ob psychologische Sachverhalte wie die Farbempfindungen oderob physikalisch definierte Reize (Lichtfarben, Licht bestimmter Wel-lenlängen) oder ob drittens Körperfarben (Oberflächenfarben respekti-ve Farbproben) von dem jeweiligen System geordnet werden. Geradebei älteren Farbsystemen herrscht in diesem Punkt oft Unklarheit.Eine solche Konfusion ist leider besonders für die in Künstlerkreisenverbreiteten Farblehren mit ihren Kreisen, Kugeln und sonstigenräumlichen Modellen typisch. Sie sind allein schon deswegen höchstfragwürdig, da sie zwischen psychologischen und physikalischen Sach-verhalten respektive dem Verhalten von Farbmitteln oder Farbstoffengar nicht oder nur ungenügend unterscheiden. Auch werden nichtselten aus ihnen Schlüsse abgeleitet, die sie einfach nicht zu leistenvermögen. Historisch gesehen lag solchen Systemen häufig die Ideezugrunde, Regeln für eine harmonische Zusammenstellung angebenzu können, was allerdings für die gegenwärtige Praxis kaum noch eineRolle spielt. Nicht zuletzt hat die Erkenntnis, dass solche Regelnhistorisch und sozial wandelbar sind, dazu beigetragen, sie obsoletwerden zu lassen.

Zunächst ist jedoch zu bemerken, dass weite Teile der Menschheitin langen Epochen offenbar kein Bedürfnis nach der Entwicklung vonFarbsystemen verspürt haben und verspüren. Im Allgemeinen und imAlltag reicht es, sich auf fokale Farben zu beziehen, d. h. auf die gän-gigen Bezeichnungen wie Schwarz und Weiß, Rot, Grün, Gelb undBlau, vielleicht noch erweitert um Bezeichnungen wie Braun, Grau,

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Violett, Rosa und Orange, die im Bedarfsfall mit zusätzlichen Qualifi-kationen wie ›ein leicht grünliches Gelb‹, ›ein ziemlich helles Blau‹,›ein eher gedecktes Rot‹ etc. modifiziert werden können. (Zur Ent-wicklung und Verbreitung der fokalen Farben vgl. das folgende Kapi-tel, wo die Berlin-Kay-Hypothese diskutiert wird.) Natürlich sind im-mer auch Ad-hoc-Vergleiche mit Substanzen oder Entitäten wiehimmelblau oder rabenschwarz oder ›die Farbe von Entengrütze‹möglich. Auch hat man, wenn nötig, etwa bei den Handelsbörsen dasMittel der Materialproben seit langem genutzt.

Farbsysteme sind also nicht immer und überall anzutreffen, sodasseine kurze historische Betrachtung geboten erscheint. Selbst die, wieman meinen möchte, durch den Regenbogen oder das Prisma eigent-lich vorgegebene natürliche Ordnung der gesättigten Buntfarben hatgleichfalls vor Newton anscheinend niemand genau beschrieben bzw.zur Grundlage eines Ordnungssystems gemacht. Weder Anzahl nochArt der im Regenbogen sichtbaren Farben wurden von den Autoritä-ten einheitlich geschildert, ja es gab nicht selten erhebliche Abwei-chungen von der faktischen Richtigkeit. Immerhin hatten Visionäreihre Visionen nicht selten als aus den drei Farben Rot, Grün undBlauviolett (wie wir heute sagen würden: den Grundfarben der additi-ven Mischung) bestehend geschildert, die aus dem Weiß hervorge-gangen wären, was im Sinne der christlichen Trinitätslehre gedeutetwerden konnte: Vater, Sohn und Heiliger Geist sind verschieden unddoch eins. Solche psychologischen Tatsachen im Sinn der an der Farb-wahrnehmung beteiligten Gehirnprozesse zu deuten, blieb jedochunserer Gegenwart vorbehalten.

Wann also erwiesen sich Systeme als nötig und was sollen sie leis-ten? Die Aufgabe der Taxonomie, der Beschreibung und wissen-schaftlichen Klassifikation aller Naturerscheinungen, der man sich im18. Jahrhundert mit allem Nachdruck stellte, hat das Problem derexakten Bestimmung einer Farbe enorm verschärft. Damals sind auchdie ersten dreidimensionalen Ordnungen von Musterproben entstan-den. Seitdem hat die entsprechende Aufgabe bei Foto, Film undFernsehen, der Lichttechnik, beim Druck, der Architektur, Mode undvielen anderen technischen und künstlerischen Anwendungsbereichenin einem Maße zugenommen, dass wir ohne Festlegungen, Normie-rungen und der Garantie enger Toleranzbereiche nicht mehr auskom-men würden. Dabei feierte der am Bauhaus tätige Künstler LászlóMoholy-Nagy (1895–1946) noch vor gut achtzig Jahren die Möglich-keit von »Telephonbildern« als einen entscheidenden Durchbruch.Darunter verstand er, dass man telefonisch Anweisungen durchgeben

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konnte, in welchen Farben ein auf Millimeterpapier vorgegebenesKompositionsgerüst auszumalen sei, sodass zwischen dem Originalund der Kopie kein Unterschied mehr bemerkbar wäre. Eigentlichbrauchen Anrufer und Empfänger dazu nur dieselben Farbmuster-bücher, Musterproben oder Normkarten, auf die sie sich beziehen.Eine solche Aufgabe ist heute alltäglich geworden. Normkarten, die ineinem Farbatlas zusammengefasst werden, müssen aber noch nichtsonderlich geschickt geordnet sein. Anders steht es bei den Anforde-rungen an die Aufbauprinzipien, wenn – sagen wir – die verschiede-nen Sättigungsstufen oder mögliche Helligkeitsabstufungen einesbestimmten Farbtones erkennbar sein sollen. Ähnliches gilt für dieKomplementarität, aber auch dann, wenn etwa die möglichen Mi-schungen veranschaulicht werden sollen, bedarf es besonderer Kon-struktionsprinzipien. Die bereits erwähnten Unterschiede der jeweilsrelevanten Grundfarben (psychologisch, additiv, subtraktiv) schließendabei aus, sie in einem einzigen Modell optimal zu realisieren. Darü-ber hinaus ist grundsätzlich auch kein dreidimensionales Modell mög-lich, das es erlaubte, die subtraktive Mischung der real verfügbarenFarbmittel oder Farbstoffe darzustellen, was allein schon daran liegt,dass diese ja bei jedem von gut 300 Wellenbereichen jeden unter-schiedlichen Wert annehmen können.

Die frühesten Versuche, Farben zu systematisieren, sind vom Stre-ben gekennzeichnet, Grundfarben festzulegen. Darunter sind nichtunbedingt Grundfarben im modernen Sinn zu verstehen, sondernauch Zuordnungen zu den vier Elementen, vier Temperamenten etc.Typisch dafür ist die Zuweisung von Empedokles 483–423 v. u. Z.),der Weiß, Schwarz, Rot und Ockergelb als Farben der vier Elementenannte, welche vier Farben ja auch für die frühesten Stufen der Male-rei und der menschlichen Körperbemalung typisch sind. Eine erste,für unseren Kulturkreis auf Aristoteles (384–322 v. u. Z.) zurückgehen-de Ordnung der Farben ist nach Art einer Skala linear organisiert: Dieals zusammengesetzt angesehenen Buntfarben werden zwischen denExtremen Schwarz und Weiß, die allein als Grundfarben gelten, jenach ihrer Helligkeit eingeordnet. Aristoteles sah dabei die AbfolgeGelb, Scharlach, Purpur, Grün und Blau als gegeben an. Den Regen-bogen übrigens, dessen Farben er als nicht mit Malerfarben realisier-bar ansah, nahm er als aus Rot, Grün und Violett zusammengesetztan, was erstaunlich gut mit unseren Grundfarben der additiven Mi-schung übereinstimmt. Bei einer linearen Ordnung der Farben nachHelligkeit war es naheliegend, Blau näher an Schwarz und Gelb näheran Weiß heranzurücken, was den Platz in der Mitte für die entschie-

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denste und auffälligste Farbe Rot übrig lässt. Die so bestimmte Ord-nung hält sich recht lange, obwohl es problematisch ist, in ihr einenPlatz für Grün (aber auch für Grau) zu finden. Anscheinend entsprichtsie einem bestimmten elementaren Stadium der Entwicklung unsererFarbbegriffe. Auch wenn die Anzahl der zwischen Schwarz und Weißeingeschobenen Farben – wie schon bei Aristoteles – erweitert wird,lässt sich das Problem nicht lösen. Die Testbilder unserer Fernseh-geräte ordnen übrigens ihre drei + drei Grundfarben ebenfalls nachder Helligkeit, was die sprunghafte Abfolge Blau, Rot, Magenta, Grün,Cyan und Gelb entsprechend der zunehmenden Helligkeit ergibt.

Die Anordnung Schwarz, Blau, Rot, Gelb und Weiß spielt noch beiGoethe (1749–1832), bei Kandinsky (1866–1944) sowie der Ableh-nung von Grün als Grundfarbe in der Malerei der Moderne eine ge-wisse Rolle. Grün wird als irgendwie anders aus Gelb und Blau ent-stehend betrachtet als der in diesem Schema natürliche Übergang vonBlau über Violett und Purpur zu Rot und weiter über Orange zu Gelb.Dass man Licht benötigt, das auf Oberflächen fällt, um deren Farbenwahrzunehmen, bzw. bei Abwesenheit von Licht auch keine Farbenmehr zu sehen sind, liefert die Grundlage für die Ordnung nach ihrerHelligkeit. Da in der Tat Oberflächen vom auftreffenden Licht gewisseTeile absorbieren, ist die Annahme, bestimmte Mischungsverhältnissezwischen Licht und Dunkel würden das Wesen der Farben ausma-chen, auch nicht unsinnig. Würden wir optimale Farbstoffe herstellenkönnen, so würden sie bestimmte Bereiche des Sonnenlichts zu100% absorbieren und andere zu 100% reflektieren. Gelb entstündez. B., wenn der kurzwellige Anteil völlig absorbiert würde. Man hatsich die Entstehung der Farben aus einer Mischung von Licht undDunkel gern in Analogie zu den Proportionalitäten der Musik vorge-stellt, wo harmonische Teilungen eines Monochords nach demVerhältnis einfacher ganzer Zahlen wie 1 zu 2, 2 zu 3 oder 3 zu 4harmonische Akkorde erzeugen. Dementsprechend würden reine Ver-hältnisse wie 2 zu 3 auch bei der Mischung von Licht und Dunkel zureinen Farben führen, andere zu unreinen Farben. Allerdings gibt esbei Farben stetige Übergänge und nicht den Unterschied zwischenKonsonanz und Dissonanz wie bei Tönen. Die Bestimmung der Quin-te zu einem Grundton ist eindeutig, doch für die Bestimmung eineszu einem gegebenen Rot passenden Blaus gilt dies keineswegs. Zumanderen lassen sich zwei Farben nicht in der Weise eines Akkords amselben Ort erleben. Entweder erfahren wir sie räumlich getrennt, alsnebeneinanderliegend, oder, wenn sie tatsächlich an der gleichenStelle liegen, als einen einzigen resultierenden Farbton. In einem Ak-

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kord der Musik dagegen erfahren wir zwei getrennte Elemente, diegleichwohl als konsonant oder dissonant erlebt werden.

Der Jesuit und Mathematiker François d’Aguilon (lateinisch: Fran-ciscus Aguilonius, 1567–1617), der sich dabei wohl auf die Erfahrun-gen von Peter Paul Rubens (1577–1640) stützt, macht im 17. Jahr-hundert aus der linearen Ordnung von Weiß, Gelb, Rot, Blau undSchwarz schließlich ein vernünftiges System, das, nebenbei bemerkt,mittels zweier geringer Transformationen in einen dreidimensionalenPentaeder verwandelt werden könnte, wie ihn noch Paul Klee (1879–1940) benutzt. Klees Pentaeder der ›farbigen Totalität‹ weist Rot,Blau und Gelb als Eckpunkte der mittleren Ebene auf und senkrechtdazu Schwarz und Weiß als Eckpunkte unten und oben. Aguilonius’System ordnet vor allem die Mischungen. Er sieht Grün als Mischungvon Blau und Gelb an, Orange als Mischung von Gelb und Rot undViolett schließlich als Mischung von Rot und Blau. Farbdreiecke mitRot, Blau und Gelb in den Eckpunkten und den dazwischenliegendenMischungen finden sich dann vermehrt in den Malereitraktaten desausgehenden 18. Jahrhunderts.

Die Hell-Dunkel-Achse senkrecht zu den Buntfarben zu stellen, be-deutet einen weiteren wichtigen Schritt. Erst dann nämlich wird einFarbkreis der reinen Buntfarben möglich. Das allerdings wirft das Pro-blem auf, die Differenz zwischen den Oberflächenfarben wie Schwarz,Weiß und Grau sowie dem Beleuchtungsphänomen Hell/Dunkel zuerfassen. Da in der Malerei zunehmend ab dem 16. Jahrhundert dieWiedergabe der Räumlichkeit, der dreidimensionalen Körperlichkeitoder des ›Reliefs‹ mittels einer Abschattierung nach Hell-Dunkel-Wer-ten als grundlegend angesehen wurde, was mit dem Fachausdruckclair-obscur-Malerei bezeichnet wird, war die Möglichkeit einer kon-zeptionellen Trennung von Helldunkel und den Buntfarben gegeben.Leon Battista Alberti (1402–1472) hatte den Grund dafür gelegt.Gleichwohl bleibt das Problem mit Weiß und Schwarz als Oberflä-chenfarben bestehen, was Leonardo da Vinci (1452–1519) darauf be-harren lässt, sie als Farben anzusehen.

Die flächige Ordnung der gesättigten Buntfarben in einem in sichzurücklaufenden Farbkreis setzt sich erst durch Newton (1643–1727)durch. Dass die Purpurtöne in den prismatischen Farben nicht enthal-ten sind, da sie ja nicht durch Licht einer einzigen Wellenlänge dar-stellbar sind, hatte ihn nicht gehindert, doch stellt die genannte Tat-sache zumindest in den Künstlerfarblehren ein Problem dar, wosolche Purpurtöne aus roten und blauen Pigmenten gemischt werden,da man sie ja als sekundär und abgeleitet ansah. Dann nämlich erhält

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man nie einen hellen und gesättigten Magentaton, sondern nur eindunkles, stumpfes, eher bräunliches Violett. Ähnliches gilt übrigensfür Cyanblau, das aus Gelb und Blau mittels Palettenmischung nichtgut erzielt werden kann. Ignaz Schiffermüllers (von Beruf Entomologe,1727–1806) 1772 in Wien veröffentlichter Farbenkreis hat bereitsneben unzähligen anderen ihm folgenden – unter denen der Itten’scheFarbkreis wie auch die in Schulfibeln und anthroposophischen Zirkelnnoch heute verbreiteten Farblehren genannt seien – mit diesem Pro-blem zu kämpfen. Nicht umsonst gelten heutzutage Magenta undCyanblau – neben Gelb – als Grundfarben der subtraktiven Mischung.

Insgesamt bleibt die Rolle der Grundfarben, die sich ja nicht derphysikalischen Welt, sondern der Organisation des Wahrnehmungsap-parats verdanken, lange problematisch. 1502 werden in Venedig imSpeculum lapidum des Camillo Leonardo erstmals drei Grundfarben(ohne Bezug auf den Regenbogen, also, wie man annehmen darf, dersubtraktiven Mischung) als Rot, Gelb und Grün bestimmt.1 Da derheute gebräuchliche Farbton Cyan zwischen Blau und Grün liegt, istdiese Bestimmung genauso richtig wie die spätere und seit Anfangdes 17. Jahrhunderts gebräuchliche Festlegung auf Rot, Gelb undBlau. Lodovico Dolce (1508–1568) greift sie ebenso auf2 wie späterLouis Savot 1609 in Frankreich in seiner Schrift Nova-antiqua de cau-sis colorum sententia, der allerdings bereits Rot, Blau und Gelbnennt.3 Seit Le Blons (1667–1741) drucktechnischen Experimentengelten die drei letztgenannten Farben in Malereitraktaten als diekanonischen Grundfarben, bis sie eben durch Magenta, Cyanblau undGelb abgelöst wurden.4

Nun braucht man drei Dimensionen eines Farbsystems, um derTatsache Rechnung zu tragen, dass mit den drei Zapfentypen imAuge, die ja drei Freiheitsgrade aufweisen, auch drei unterschiedlicheParameter berücksichtigt werden müssen. Erst räumliche Modellekönnen daher als befriedigend angesehen werden. Sie entstehen dannim 18. Jahrhundert, wenn man von dem Astronomen Aron SigfridForsius (gest. 1637) absieht, dessen möglicherweise kugelförmigesModell von 1611 allerdings so gut wie nicht rezipiert wurde. Die(1810 veröffentlichte) Farbkugel des Malers Philipp Otto Runge(1777–1810) gilt dagegen als eines der einflussreichsten räumlichenModelle. Um den Äquator sind die gesättigten Buntfarben angeord-net, während die Erdachse von Hell nach Dunkel verläuft. Im Mittel-punkt der Kugel befindet sich also Grau, und die Breitengrade ent-sprechen in etwa den unterschiedlichen Helligkeitsstufen. VertikaleSchnitte zeigen alle Farben einer Farbart (und im Prinzip ihrer Kom-

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plementärfarbe, Abb. 7). Sein Modell geht von drei Grundfarben aus,die er als Rot, Blau und Gelb bestimmte. Allerdings hat Runge dasProblem, dass die gesättigten Buntfarben keineswegs gleich hell aus-fallen und demnach auf verschiedenen Breitengraden zu liegen hät-ten, nicht gesehen. Sucht man Farben der gleichen Bunttonart, diesich nur durch ihre Sättigung unterscheiden, so sind sie in seinemSystem kaum zu ermitteln. Runge hat zwar den Unterschied transpa-renter und opaker Farben gesehen, doch ist unklar, ob er sich auf Far-bempfindungen, Licht- oder Körperfarben beziehen wollte.

Das im amerikanischen Sprachraum aber auch in Japan noch immersehr verbreitete Munsell-System versucht, diese beiden Kritikpunkte

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Abb. 7: Philipp Otto Runge, Probedrucke der Bildbeigabe zur Farben-Kugel, 1810

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zu korrigieren. Albert H. Munsell (1858–1918) war gleichfalls Malerund berücksichtigt konkrete Farbproben. Sein zwischen 1905 und1916 entwickeltes System ist nach dem Modell eines Zylinders aufge-baut, wo ebenfalls die innere Achse die unbunten Farben zwischenSchwarz und Weiß enthält und jeder vertikale Schnitt zwei Seiten mitnur je einer Farbart aufweist. Die im Prinzip zehn horizontalenSchichten dagegen (nur acht davon sind mit Pigmenten realisierbar)enthalten nur Farben gleicher Helligkeit, d. h. genau genommen glei-cher Leuchtdichte (also der lightness, nicht der brightness, s. u.). AlsGrundfarben nahm er fünf an – neben Rot, Blau, Grün und Gelb nochPurpur –, sodass er darauf verzichten muss, die Komplementaritätoder Mischungsgesetze ablesbar zu machen. Eigentlich sind 100 Ab-stufungen des Farbkreises vorgesehen, doch auch hier begnügt mansich in der Praxis mit 20. Da Munsell auch der Tatsache Rechnungträgt, dass wir nicht bei jeder Helligkeitsstufe und in Abhängigkeitvon der jeweiligen Farbart zwischen Grau und der maximal gesättig-ten Farbe gleich viel Zwischentöne ausmachen können, sind die vominneren Stamm ausgehenden Äste verschieden lang, sodass sein Farb-körper ein sehr unregelmäßiges Aussehen annimmt (Abb. 8). Ein ge-wisser Fortschritt gegenüber Runge besteht darin, dass Munsell sich

Abb. 8: Der Munsellsche Farbenbaum

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erklärtermaßen auf reale Farbproben beschränkt, was ihn allerdingszwang, gewisse Stellen frei zu halten, da die verfügbaren Pigmentenicht hinreichend waren, den im System vorgesehenen und eigentlichnötigen Farbeindruck zu erzeugen. Was er chroma nennt, entsprichtziemlich dem, was unter Sättigung zu verstehen ist, aber nicht exakt.So fließen in sein chroma die kombinierten Effekte von lightness (alsoLeuchtdichte) und Sättigung ein, sodass der Parameter der Sättigungnicht wirklich rein dargestellt ist. Als weiterer Nachteil muss nocherwähnt werden, dass dieses System nicht gut in andere übertragbarist.

Etwa gleichzeitig mit Munsell hat auch der Chemiker und Nobel-preisträger Wilhelm Ostwald (1853–1932) sein Farbsystem entwickelt.Da dieses jedenfalls im deutschen Sprachraum zumindest bis zum 2.Weltkrieg von erheblicher Bedeutung war, soll es gleichfalls kurz vor-gestellt werden (Abb. 9). Geometrisch gesehen handelt es sich umeinen Doppelkegel. Auf der senkrechten Spindel sind wieder dieunbunten Grauwerte versammelt, während die von Ostwald als ›Voll-farben‹ bezeichneten, also mit den verfügbaren Pigmenten resp. Farb-stoffen optimal realisierbaren reinen, gesättigten Farben an der Peri-pherie des Kreises, der die beiden Kegelhälften trennt, angesiedeltsind: der ostwaldsche Vollfarbkreis. Auch Ostwald geht demnach von

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Abb. 9: Der Ostwaldsche Farbdoppelkegel; schematische Darstellung

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Körperfarben aus. Seinem Modell liegt die Vorstellung zugrunde, dassjedes bunte Pigment durch die Hinzufügung von Weiß und Schwarzso abgetönt werden kann, dass sämtliche Helligkeits- und Sättigungs-grade der gleichen Farbtonart erzielbar sind. Ungewöhnlich für dieZeit ist noch, dass er die vier psychologischen Grundfarben Rot, Blau,Grün und Gelb zugrunde legt. Rot liegt also diametral Grün gegenü-ber und Gelb entsprechend Blau gegenüber. Schneidet man seinenFarbkörper mittels einer Ebene, welche die mittlere Spindel enthält,so entstehen je eine dreieckige Fläche, an deren Eckpunkten Weiß,Schwarz und die jeweilige Vollfarbe situiert ist. Die restlichen Felderder Fläche enthalten dann systematische Ausmischungen dieser Voll-farbe mit wechselnden Anteilen von Weiß und Schwarz. (Die Summevon Weiß, Schwarz und der Vollfarbe ergibt notwendigerweise denWert 1.) Ein solches Dreieck enthält im Prinzip also alle Farben desgleichen Farbtons.

Historisch gesehen sind die Farbsysteme von Munsell, Ostwald undRunge, denen man vielleicht noch das System des Chemikers Chev-reul (1786–1889) hinzufügen sollte, am wichtigsten, wobei zumindestdas von Munsell nicht wirklich historisch geworden ist, sondern sichim angelsächsischen Sprachraum weiterhin großer Beliebtheit erfreut.

Ehe die heute gebräuchlichsten Farbsysteme vorgestellt werden,sind vielleicht ein paar grundsätzliche Bemerkungen am Platz. Mansollte die Wirkung der Farbkörper von Ostwald oder Munsell keines-wegs unterschätzen. Erstmals hatten Künstler und Designer konkreteFarbproben vor Augen, die systematisch geordnet waren und andenen sie (annähernd) ersehen konnten, wie die verschiedenen Stu-fen an Sättigung oder Helligkeit einer Farbe aussahen. Nicht wenigewie später Vasarély haben ihre Werke gestützt auf solche Körper auf-gebaut bzw. ihre Farbwahl getroffen. Dies gilt auch heute noch, wennArchitekten beispielsweise zu einer Fassadenfarbe die passende Farbedes Sockels auswählen. Zumindest gehört der Umgang mit den Para-metern Helligkeit und Sättigung seitdem für Gestalter zu den erfor-derlichen Kulturtechniken. Eingangs wurde bereits gesagt, dass manunterscheiden muss zwischen Systemen, die Empfindungen ordnen,zwischen realen Farbproben aus Pigmenten oder farbigen Lichtquel-len. Dabei ist klar, dass, wer mit Farbsubstanzen zu tun hat, sich aufdie entsprechenden Systeme beziehen wird, und wer mit Lichtquellenarbeitet, die ohnehin keine Körperfarben kennen, mit anderen.Grundsätzlich gilt jedoch, dass Oberflächen- oder Körperfarben mitihren weiteren Dimensionen nach matt/glänzend, den diversen Auf-tragsarten, Oberflächenstrukturen etc. nicht in einem dreidimensiona-

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len Modell Platz haben. In der Praxis sind daher Farbatlanten fürverschiedene Materialien wie Wolle, Seide etc., aber auch für ver-schiedene Bindemittel und Farbauftragsweisen in Gebrauch. Die übli-chen drei Dimensionen von Farbton, Helligkeit und Sättigung reichenebenso wenig wie andere dreidimensionale Modelle hin, die farbigeErscheinung von Oberflächen vollständig zu beschreiben. Dies führtzur Frage, ob es überhaupt einen dreidimensionalen Farbraum imGehirn gibt und wenn, ob dieser eher multidimensional organisiertist. Ein dreidimensionaler Farbraum im Gehirn setzt jedenfalls dieAbstraktion voraus, dass in ihm von Texturen, Strukturen, Glanz undanderen Oberflächenerscheinungen abgesehen wird. Ordnet ein sol-cher Farbraum Farben im Öffnungsmodus oder Oberflächenfarben?Sind darin bestimmte Kategorien wie Rot oder Blau oder Braun her-ausgehoben? Wo und wie sind solche Ordnungen im Gehirn implan-tiert? Beim gegenwärtigen Stand der Forschung lassen sich diese Fra-gen nicht befriedigend beantworten. Wahrscheinlich existierenverschiedene Ordnungsweisen der Farben im Gehirn nebeneinanderund wahrscheinlich ergibt sich der Farbraum eher implizit und istnicht an einer einzigen Stelle implantiert.

Dennoch gibt es Beschreibungen, die intuitiv nachvollziehbarersind als andere und eher der Organisationsweise unseres Gehirns ent-sprechen dürften. In unserer alltäglichen Bestimmung von Farben (ichspreche von der Wahrnehmung von Oberflächenfarben) ordnen wirsie nach drei verschiedenen Parametern, nach dem eigentlichen Farb-ton, ihrer Helligkeit und schließlich nach ihrer Sättigung. Wir unter-scheiden etwa das blaue vom grünen Hemd (Farbton), das hellblauevom dunkelblauen (Helligkeit) und schließlich das graublaue vomstrahlend blauen, leuchtend blauen oder vielleicht sogar schreiendblauen (Sättigung). Nach diesen drei Parametern kann man die Ober-flächenfarben in einem Farbraum anordnen, der in der Regel so ge-staltet wird, dass eine polare Achse von Schwarz über Grau zu Weißgebildet wird, die den Körper durchdringt, senkrechte Schnitte durchdiese Achse (die etwa den Breitenkreisen entsprechen) enthalten Far-ben gleicher Helligkeit respektive Oberflächen gleicher Helligkeit bzw.wahrgenommener Intensität, während der Abstand von der Grauach-se die Sättigung einer Farbe indiziert. Die Punkte auf der Außenseitedes Körpers entsprechen also den reinsten oder gesättigtsten, die beigegebener Helligkeit (genauer: Leuchtdichte) möglich sind. Die Äqua-torlinie folgt dabei der Abfolge des Farbkreises. Da wir, wie EwaldHering schon 1868 feststellte, die Buntfarben in zwei antagonisti-schen Paaren empfinden, sodass kein rötliches Grün oder gelbliches

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Blau vorstellbar ist, sollten auf dieser Linie die vier psychologischenGrundfarben Rot, Blau, Grün und Gelb vertreten sein. Nach H. v.Helmholtz werden in diesem Sinn Farbton, Sättigung und Helligkeitunterschieden und damit ein psychologischer Farbraum oder hsl-Raum (hue, saturation, lightness) für Körperfarben beschrieben. Engverwandt damit ist der hsb-Raum (hue, saturation, brightness), der imdritten Parameter die Helligkeit von Lichtquellen und nicht die Va-leurs von Oberflächen benutzt und mithin Farben im Öffnungsmodusoder Lichtfarben ordnet.

Der alltagssprachliche Ausdruck Helligkeit muss also dabei genauerdefiniert werden, denn er bezieht sich sowohl auf die Beschreibungvon Oberflächenfarben als auch auf die von Lichtquellen. Im Engli-schen hat sich die Unterscheidung von lightness für Oberflächenfar-ben und brightness für Lichtquellen eingebürgert. Da im Deutschenhell und dunkel als Bezeichnung von Lichtverhältnissen im Gegensatzzu Schwarz und Weiß als Bezeichnung von Oberflächenfarben festeingebürgert ist, sei im Folgenden der aus der Malersprachestammende Kunstausdruck Valeur zur Bezeichnung der Helligkeitsun-terschiede von Oberflächenfarben verwendet. Ein helles und ein dun-kles Grau unterscheiden sich demnach in ihrem Valeur, ebenso einhelles und dunkles Braun etc. Ein Weiteres ist in diesem Zusammen-hang noch zu bedenken: Die gängigen Farbatlanten oder Farbsystemedefinieren die Valeurgleichheit in der Regel physikalisch, d. h. nachKriterien wie der Leuchtdichte. Ein Grau und ein Blau haben dieselbeLeuchtdichte, wenn die von ihnen reflektierte Menge an Photonenpro Flächeneinheit die gleiche Summe an Energie aufweist. Nun er-scheinen uns aber gesättigte Farben als leuchtender und heller, als esihrer Leuchtdichte entspricht – man bezeichnet dies als den soge-nannten Farbbeitrag – und ein psychologischer Farbraum müsste diesin Rechnung stellen. Es fällt uns schwer, die perzeptuelle Salienz, alsodie Auffälligkeit eines Farbtons, von seiner Sättigung und Helligkeit zutrennen. Man kann davon ausgehen, dass der psychologische Farb-raum im Gehirn, um seine biologischen Aufgaben zu erfüllen, gemäßden relativen Ähnlichkeiten und Unterschieden geordnet sein muss.Die diversen Informationen in den magno-, parvo- und koniozellulä-ren Kanälen pro Ort müssen also miteinander verglichen werden undes liegt nahe, dass große Übereinstimmung geringe Aufmerksamkeiterheischt, während geringe Übereinstimmung für die Wahrnehmunggroße Auffälligkeit bedeutet. Reine und gesättigte Farben, aber auchdie Extremwerte der Helligkeitsskala weisen in diesem Sinn wenigÜbereinstimmung mit ihrer Umgebung auf. Wahrscheinlich also wer-

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den ein oder mehrere Durchschnittswerte gebildet, mit denen dieeinzelnen Punkte im Farbraum verglichen werden, sodass der jeweili-ge Abstand ein Maß für den Kontrast bzw. die Auffälligkeit abgibt.Ein solcher Farbraum, in dem die Abstände von einem Zentrum nachdrei Dimensionen eine Rolle spielen, führt von sich aus zu einemmehr oder weniger kugeligen Gebilde, in dem vielleicht bestimmteAchsen wie z. B. die Rotachse im Einklang mit ihrer biologischen Be-deutung stärker ausgebildet sind als andere.

Bei den künstlich konstruierten Farbsystemen sind die verschiede-nen Konstruktionen eines Farbraums, ob Kugel, Doppelspindel, Ku-gelpackung, Munsellbaum oder ähnliches, dabei mathematisch gleich-wertig und lassen sich ineinander transformieren. Sie haben je nachAnwendungsbereich ihre Vor- und Nachteile, sind mehr oder wenigeranschaulich etc. Es sollte jedoch immer klar sein, ob von Farbempfin-dungen die Rede ist, von als farbig empfundenen Lichtquellen, vonPigmenten, Farbmitteln oder wovon sonst. Die gängigen Umrech-nungsprogramme, die etwa die Darstellung als Leuchtpunkte beieinem Monitor in die der subtraktiven Grundfarben des Farbdruckersoder gar in die empfindungsmäßig organisierten hsl-Farbräume zuleisten vorgeben, liefern nicht mehr als Anhaltspunkte und sind nurmit Vorbehalt zu benutzen. Physikalisch gleiche Abstände werdenempfindungsmäßig durchaus recht unterschiedlich erlebt. Wir habenfokale Punkte, an denen wir zu subtileren Unterscheidungen fähigsind, und können insgesamt im Bereich der warmen Farben mehr Sät-tigungsgrade unterscheiden. Auch gibt es gewisse Änderungen derEmpfindlichkeiten für bestimmte Oberflächenfarben je nach Intensitätder Beleuchtung. Je heller es ist, desto eher nehmen wir Farben aufder Gelb-Blau-Achse wahr, je dunkler, desto eher die additivenGrundfarben Rot, Blau und Grün. Farbatlanten, Farbtabellen undFarbsysteme, die auf empfindungsmäßiger Gleichabständigkeit beru-hen, können daher streng genommen nur innerhalb eines definiertenHelligkeitsbereiches gelten. Systeme, die auf Farbproben beruhen,müssen mit dem Problem der Metamerie rechnen und können beiunterschiedlichen Lichtquellen irreführende Resultate hervorbringen.Ohnehin ist klar, dass die diversen Modifikationen, die ein Farbein-druck je nach Umgebung erfährt, in den Farbsystemen, wo gerade dieNachbarschaften streng geregelt sind, nicht zu veranschaulichen sind,was bei typischen Oberflächenfarben wie Schwarz oder Braun beson-ders ins Gewicht fällt.

Nach allen diesen Kautelen können wir uns endlich den heutegebräuchlichen Systemen zuwenden. Das für wissenschaftliche und

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vor allem farbmetrische Zwecke am meisten verbreitete Darstellungs-verfahren, die von der cie (Commission Internationale d’Éclairage)1931 entwickelte Normfarbtafel sollte zumindest in den Grundzügenverstanden sein (Abb. 10). Man kann sie sich am einfachsten alseinen dreidimensionalen Farbkörper vorstellen, dessen Hell-Dunkel-Achse zusammengedrückt wurde. Aussagen über die Helligkeit lassensich ihr also nicht entnehmen, während, wie üblich, die gesättigtstenFarben an der Peripherie liegen. In der Normwerttafel werden nichtOberflächenfarben oder Empfindungen, sondern Lichtquellen geord-net und beschreibbar gemacht. Auf psychophysischen Messungenberuhend kommt sie ohne Farbmuster aus. Sie geht von der psycho-physischen Tatsache aus, dass die farbige Erscheinung einer jedenLichtquelle durch die geeignete Mischung dreier anderer genormter

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Abb. 10: Die Normfarbtafel der cie (zur Veranschaulichung mit Druckfarben ausgefärbt)

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Lichtquellen nachgeahmt werden kann. Dies gilt zwar – wie bereitsim Abschnitt über die additive Mischung ausgeführt – nicht absolut,aber zumindest rechnerisch, wenn man negative Beträge zulässt. Inder Regel wird eine Zielfarbe vorgegeben, die von den Versuchsperso-nen nachzumischen ist. Diese müssen sich also nicht über das qualeder jeweiligen Farbe äußern, sondern können sich auf die Aussagen›gleich‹ oder ›nicht gleich‹ beschränken. Die drei Koordinaten derjeweils bei Übereinstimmung benötigten genormten lang-, mittel-und kurzwelligen Lichtquellen genügen dann zur Beschreibung desvorgegebenen Reizes. Natürlich gehören dazu eine Normierung derBetrachterreaktionen und auch sonst standardisierte Bedingungen.Die unendliche Mannigfaltigkeit der natürlich vorkommenden Licht-quellen wird damit auf drei Parameter reduziert, was ja genau demVorgang entspricht, der auf der Retina des Auges stattfindet.

Um in der Darstellung wirklich alle vorkommenden Lichtquellenerfassen zu können und um die leidigen negativen Beträge auszu-schließen, hilft man sich mit einem Trick: Man postuliert drei idealeLichtquellen, die es real gar nicht geben kann, die es jedoch erlau-ben, jede Lichtquelle als Summe dreier positiver Beiträge, x, y, und zdarzustellen. Da man sich auf eine einzige Helligkeitsstufe beschränkt,gilt weiterhin: x + y + z = 1. Es genügen also zwei Koordinaten zurDarstellung aller möglichen (Licht)-Farben der gegebenen Helligkeit.Im Grunde genommen handelt es sich um ein Farbdreieck in Formeines gleichschenklig-rechtwinkligen Dreiecks, dessen Eckpunkte vonje einem fiktiven Super-Blau, -Rot oder -Grün eingenommen werden.Es wird so in ein Koordinatennetz eingefügt, dass die beiden Kathe-ten im Nullpunkt zusammentreffen. Ihm entspricht das fiktive idealeBlau. Auf der senkrechten Achse werden die y-Werte (der fiktivensupergrünen Lichtquelle) aufgetragen, die ja von 0 bis höchstens 1reichen können, auf der waagrechten Achse die x-Werte (des fiktivenSuperrots), für die das Gleiche gilt. Die z-Werte ergeben sich automa-tisch aus der Formel: z = 1- (x + y). Innerhalb dieses Koordinatensys-tems gibt es noch den Weißpunkt, für den gilt, dass x = y = z = 1/3.Sind die drei Beiträge x, y, und z der fiktiven Lichtquelle gleich groß,so nehmen wir definitionsgemäß eine unbunte Helligkeit wahr. Weiterergibt sich aus diesem Koordinatennetz der sogenannte Spektralfar-benzug, eine hufeisenförmige Kurve, die den Ort aller Farben auf-zeigt, die nun tatsächlich real mit monochromatischem Licht erzeugtund wahrgenommen werden können. Die beiden unteren Enden wer-den gern mit der Purpurgeraden geschlossen, d. h. mit Farben, dienicht mit einer einzigen monochromatischen Lichtquelle realisierbar

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sind, sondern aus der Mischung von langwelligem und kurzwelligemLicht entstehen.

Es gilt nun, dass alle real vorkommenden Lichtfarben innerhalbdieser Figur liegen müssen und dass jede Gerade, die durch denWeißpunkt geht, die entstandene schuhsohlenförmige Figur an zweiStellen schneidet, die komplementär zueinander liegen. Darunter istzu verstehen, dass aus den entsprechenden zwei Lichtquellen ein far-blos aussehendes Weiß gemischt werden kann. Auch gilt, dass sämtli-che Resultate der additiven Mischung zweier Lichtquellen auf derStrecke, die ihre entsprechenden Punkte verbindet, zu liegen kom-men. Hier wird die Tatsache ausgenutzt, dass man bei der additivenMischung rechnen kann wie mit Vektoren, da gilt, dass zwei gleichaussehende Lichtquellen Farben auch nach Hinzufügung einer drittenzu jeder von beiden noch gleich aussehen. Dieses System mit allenseinen Varianten hat sich durchgesetzt, um Lichtfarben messen undbeschreiben zu können. Es hat sich vor allem bei der Farbmetrik, beider digitalen Bildbearbeitung, der Mess- und Nachrichtentechnik undin vielen anderen Bereichen als unverzichtbar erwiesen. Ihm ist dasfür Grafiker übliche rgb-System insofern verwandt, als es mit Lichtfar-ben arbeitet und gleichfalls drei definierte Lichtquellen im lang- mit-tel- und kurzwelligen Bereich benutzt.

Bei Benutzung eines Computers ist es üblich, eine bestimmte Farb-valenz durch die relativen Anteile der drei Grundvalenzen, die soge-nannten Farbwertanteile zu definieren. Das rgb-System ist einfach zuverstehen: Es geht von den bei einem Monitor verfügbaren Lichtfar-ben aus, also den roten, grünen und blauen Phosphoren, die jeweilseine senkrecht zueinander stehende Achse bilden, mithin einen wür-felförmigen Raum aufspannen (Abb. 11). Jeder Farbton, der mit die-

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Abb. 11: Der rgb-Farbraum; schematische

Darstellung

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sen definierten Lichtquellen realisierbar ist, findet darin seinen Ortund lässt sich durch die drei Zahlen seiner Koordinaten darstellen.Scanner rechnen die Oberflächenfarben von Bildvorlagen in die ent-sprechenden Zahlen um, während digitale Kameras diese von vorn-herein zur Verfügung stellen. Allerdings ist der rgb-Raum beschränktauf jeweils ein Wiedergabemedium, und es müsste, wenn andere far-bige Lichtquellen wie z. B. led-Dioden, Beamer oder Laserlicht be-nutzt werden, jeweils ein eigenes neues rgb-System angewandt wer-den. Abgesehen von der grundsätzlichen Einschränkung, dass mitLichtfarben Oberflächenfarben nicht wirklich erfassbar sind, hat dasSystem auch den Nachteil, dass manche Abstufungen unnötig subtilsind, d. h. von Menschen gar nicht wahrnehmbar sind, währendandere dagegen vielleicht zu grob ausfallen. Die 256 Abstufungen,die rechnerisch pro Pixel möglich sind, führen zu ca. 17 MillionenFarbnuancen (= 256 x 256 x 256). Dennoch liefert es die Grundlageunserer Bildtechniken und Medien. Nachteile der beiden zuletztgenannten Systeme, also der cie Normwerttafel und des rgb-Raums,sind, dass der Abstand zweier Punkte in beiden Darstellungen wenigdarüber aussagt, als wie entfernt die entsprechenden Farben empfun-den werden, was für den psychologischen Farbraum jedoch essenziellist. Vor allem ist der Grünbereich deutlich überrepräsentiert. Um demabzuhelfen, wurden diverse Verfahren entwickelt wie das cielab-Sys-tem. Inwieweit grundsätzlich die cie-Normwerttafeln oder rgb-Dar-stellungen in hsb-Darstellungen oder gar in hsl-Darstellungen über-führbar sind, d. h. inwieweit letztere als vektorielle Räume geltenkönnen, die lediglich nach den eigenen Parametern Farbton, Hellig-keit und Sättigung organisiert sind, ist dabei mehr als fraglich.

Der cmyk-Raum, der für unsere Drucker benutzt wird, entsteht,indem die Grundfarben des rgb-Raums in solche der subtraktivenMischung, also Cyan, Magenta und Gelb umgerechnet werden. Daswäre im Prinzip rechnerisch kein Problem, wenn es ideale Farbstoffegäbe, doch trifft dies schon nicht für die farbigen Lichtquellen desrgb-Raums zu, noch weniger für die verfügbaren Druckfarben. Zudemkommt es beim gängigen Rasterdruck sowohl zu einer optischen alsauch zu einer subtraktiven Mischung, die rechnerisch nicht wirklicherfassbar ist. Man behilft sich durch mehr oder weniger systematischeVerzerrungen bei der Umrechnung, um für die Praxis annähernd ak-zeptable Resultate zu erzielen. So wird, da die Überlagerung der dreiDruckfarben kein gutes Schwarz ergibt, für feine Linien und dunkleStellen ein vierter Druckvorgang mit Schwarz hinzugefügt (das K voncmyk steht für blacK).

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Unter den heute gebräuchlichen Farbsystemen muss noch dasschwedische ncs-System (= natural colour system) erwähnt werden. Esgeht von psychologischen Sachverhalten aus. Entsprechend werdenwie bei Ostwald die vier psychologischen Grundfarben Rot, Blau,Grün und Gelb zugrunde gelegt. Sie liegen sich in einer quadratischenAnordnung gegenüber und werden als zwei komplementäre Paarebehandelt (Abb. 12). An Ostwald knüpft auch die Anordnung ineinem Doppelkegel an. Allerdings geht das System nicht von Körper-farben aus, sondern davon, wie wir sie empfindungsmäßig beurteilen.Die Schritte zwischen den einzelnen Stufen werden so bestimmt, dasswir sie psychologisch gesehen möglichst als gleich empfinden, wasnatürlich nur innerhalb der Grenzen der Realisierbarkeit durch die

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Abb. 12: Das schwedische ncs-System; schematische Darstellung

jeweiligen Pigmente bzw. Farbstoffe gültig ist. Auch in diesem Systemsind die Resultate von Mischungen nicht ablesbar. Angesichts der perDefinition festgelegten gleichen Abstände zwischen den vier Grund-farben gibt es darüber hinaus auch Probleme mit der Vergleichbarkeitder jeweiligen Stufen – sagen wir – im Blau-Grün-Bereich mit denenim Rot-Gelb-Bereich. Sie werden psychologisch gesehen als unter-schiedlich groß empfunden. Weiterhin ist auch die psychologischeGleichabständigkeit abhängig von der absoluten Lichtstärke. Gleich-wohl hat das ncs-System enorme praktische Vorzüge, da es unseremintuitiven Verständnis entgegenkommt und einigermaßen rasch undzuverlässig erlaubt, einen Farbton zu bestimmen. Es ist in weitenAnwendungsbereichen unumstritten, wenn es auch den Nachteil hat,nicht mit den auf Lichtfarben beruhenden Systemen wie dem cie oderrgb-Systemen kompatibel zu sein.

Das in Deutschland entwickelte Ral-System versucht, genau dieBrücke zwischen den diversen cie-Systemen wie z. B. der Normfarbta-

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fel nach din 5033 und den Farbatlanten zu schlagen, doch hat es sichweltweit noch nicht wirklich durchsetzen können. Wie bereits ange-sprochen, gibt es zwischen beiden Systemen auch grundsätzliche Dif-ferenzen. Heute sind für Europa jedenfalls die cie-Normwerttafeln mitihren Varianten, das schwedische ncs-System sowie der rgb- und dercmyk-Raum am üblichsten. Als Fazit bleibt, dass kein einzelnes Sys-tem allein gültig ist und sein kann sowie dass pragmatische Erwägun-gen und nicht zuletzt die Verfügbarkeit, Verbreitung und Kommuni-zierbarkeit des jeweiligen Systems eine Rolle spielen. Sind z. B.Häuser anzustreichen, ist es von Vorteil, direkt Anstrich-Farben aus-wählen zu können, was mit Farbmusterbüchern gelingt, während sichbei der Farbmetrik, der Arbeit mit Lichtquellen oder am Computercie-Darstellungen bzw. rgb-Systeme empfehlen. Achtet man dagegeneher auf die Wirkung der Farben im Kopf, wird man zum ncs-Systemoder anderen vergleichbaren Ordnungen greifen. Gewarnt werdenmuss noch vor dem typischen Fehler, dem jeweiligen System mehr zuentnehmen, als es hergibt. Vor allem Symmetrien, die zwar das Mo-dell, aber nicht die zugehörigen Farbempfindungen aufweisen, sindverführerisch. Deshalb sind die geometrischen Regeln, die Dreiecke,Vierecke etc., die so gern in Farbkreise eingeschrieben werden, umharmonische Farbklänge anzuzeigen, ausgesprochen fragwürdig. Wennz. B. das, was als gleicher Abstand angenommen wird, durch das Mo-dell von vorneherein definiert ist, dann können sie nicht anschließendals Beweis für tatsächlich gleiche Abstände dienen.

Anmerkungen:

1 Vgl. Thomas Lersch, (Stichwort) Farbenlehre, in: Reallexikon zur deutschen Kunst-

geschichte, Bd. VII, 1974, Sp. 157–274. Hier: Sp. 186.

2 Ebd., Sp. 194.

3 Ebd., Sp. 200.

4 Vgl. Jacques Christofle Le Blon, L’harmonie du coloris dans la peinture, Otto M.

Lilien (Hrsg.), Faks. London 1725, Stuttgart 1985.

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Farbkategorien und Sprache

Newton hatte im Spektrum nur kontinuierliche Übergänge entdecktund war sich unschlüssig, wie viele Farben da eigentlich zu sehenwaren und wo ihre Grenzen lagen. Er hatte sich schließlich auf siebenfestgelegt, was ihn zwang, zwischen Blau und Violett noch den TonIndigo einzuschieben. Geleitet wurde er dabei von gewissen Spekula-tionen über die Vergleichbarkeit von Farbe und Musik. Seine siebenFarbtöne sollten ähnlich wie bei der gängigen Tonleiter zwischeneiner Oktave fünf Ganz- und zwei Halbtöne aufweisen, wobei er sichin ihrer Abfolge auf die dorische Leiter festlegte. Über die Frage, wieviele Farben der Regenbogen aufweist und wie man sie benennt, gabes auch sonst keine Übereinstimmung bei den Autoritäten.

Offenbar ist die Unterteilung des Spektrums zu einem gewissenGrad willkürlich und hängt von kulturellen Faktoren ab. Daraus undaus der unbestreitbaren Tatsache, dass viel mehr Farbnuancen unter-schieden als sprachlich bezeichnet werden können, ergibt sich an-scheinend zwingend der Schluss, dass die Einteilung des Farbraums indurch Farbwörter bezeichnete Kategorien nicht von physikalischen,sondern von kulturellen Konventionen abhängig sein muss. Hinzukam die notorische Schwierigkeit, Farbwörter zu übersetzen. Wasmeinte Homer, als er das Meer oinopos (wein- oder purpurfarben)nannte? Sahen die alten Griechen, die ja keine Bezeichnung für unserBlau hatten, die Welt mit anderen Augen?

Dies war jedenfalls die Meinung der Linguisten, welche die Auffas-sung vertraten, dass wir die Welt nur vermittels unserer Sprache ver-stehen und deshalb, je nach den Kategorien, mit denen wir vertrautsind, buchstäblich die Welt anders wahrnehmen würden. So warde Saussure der Ansicht, die Distinktivität des Wahrgenommenenwerde erst durch sprachliche Zeichen hergestellt. Die Sapir-Whorf-Hypothese, benannt nach zwei ihrer Hauptvertretern, behauptet dem-entsprechend eine radikale linguistische Relativität. Sie wird gern amBeispiel der Farbbezeichnungen für Schnee bei den Inuit (ehemals,und nicht mehr politisch korrekt: Eskimos) exemplifiziert, die angeb-lich in die Dutzende gehen würden, während wir, die wir nicht soabhängig vom Schnee sind, vielleicht gerade das Wort ›schneeweiß‹benutzen.

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Von der vergleichbaren Annahme eines radikalen kulturellen Relati-vismus ging auch Michel Foucault aus, wenn er in seinem Buch DieOrdnung der Dinge den Wandel der Klassifikationsschemata im Euro-pa der Neuzeit untersucht und damit einen einflussreichen Beitrag zurPhilosophie der Postmoderne lieferte. An den Anfang seines Buchesstellt er eine von José Luis Borges erzählte Anekdote einer angebli-chen chinesischen Enzyklopädie, in der die Welt so radikal andersklassifiziert ist als bei uns, dass wir uns in eine derart geordnete Kul-tur schlicht nicht hineinversetzen können. Die Frage der Farbbezeich-nungen liefert also den Testfall darüber, wie kulturabhängig unsereWirklichkeitskonstruktionen sind.

Ein Duo amerikanischer Ethnolinguisten, nämlich Brent Berlin undPaul Kay, kam dagegen bei der Überprüfung der Sapir-Whorf-Hypo-these (von deren Richtigkeit sie ausgingen) zu anderen Resultaten, diesie in ihrem 1969 erschienenen Werk Basic Color Terms dargestellthaben. Man spricht inzwischen von der Berlin-Kay-Hypothese. Siefanden heraus, dass in der Regel alle der von ihnen untersuchten 98Sprachgemeinschaften sich mit höchstens elf elementaren und eigen-ständigen Farbwörtern begnügen und allenfalls mit einer geringerenZahl auskommen. Jede untersuchte Sprache wies dabei mindestenszwei Wörter auf für Weiß/Hell und Schwarz/Dunkel. Als eigenständigeLexeme für Farbe definierten sie solche, die 1. allen Sprechern derjeweiligen Sprechgemeinschaft verständlich sind und von ihnen routi-nemäßig angewandt werden, die 2. auf alle Gegenstandsbereicheübertragen werden können und die 3. nicht zusammengesetzt sindund nicht als Bezeichnung einer konkreten Substanz dienen. Die Be-zeichnung ›cyanblau‹ würde wie ›dunkelblau‹ gegen die Bedingung 3und darüber hinaus wohl auch gegen Bedingung 1 verstoßen, dieBezeichnung ›orange‹ kollidiert wahrscheinlich, die Bezeichnung›anthrazit‹ sicher mit Bedingung 3, während das Adjektiv ›blond‹gegen Bedingung 2 verstößt. Im Deutschen bleiben somit Wörter wieweiß, grau, schwarz, rot, blau, grün, gelb, braun, violett (vielleichtauch lila), orange und rosa, wobei bei ›orange‹ und ›rosa‹ die Erfül-lung der Bedingung 3 strittig sein mag und umgekehrt möglicherwei-se ein Wort wie ›beige‹ Anspruch auf Hinzufügung erheben könnte.

Berlin und Kay vertraten nun die Auffassung, dass diese (oderihnen entsprechende) elf Farbwörter in allen entwickelten Sprachenvorhanden seien, jedoch nirgends mehr als die genannten elf vonihnen ausgebildet würden. (Dass Künstler oder Designer in ihrer Be-rufspraxis durchaus mehr Farbwörter verwenden, ist kein Gegenbe-weis, solange diese nicht Bedingung 1 genügen.) Sie waren aber auch

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der Meinung, dass die Sequenz in der Ausbildung der einzelnen Farb-wörter nicht willkürlich sei, sondern einer festen Regel folgen würde.Es gibt anscheinend eine gewisse Hierarchie zwischen ihnen – manspricht heute von der Berlin-Kay-Hierarchie. Verfügt eine Sprache nurüber zwei der oben definierten Farbwörter, so sind dies unweigerlichBezeichnungen für Weiß/Hell und Schwarz/Dunkel. Sind es derendrei, so kommt eine Bezeichnung für Rot bzw. für den gesamten Be-reich der warmen Farben, also Rot, Orange und Gelb, dazu. Bei dernächsten Stufe handelt es sich um eine Bezeichnung für Grün (dieauch die blauen Töne mit umfasst) oder Gelb, der auf der übernäch-sten dann entsprechend Gelb oder Grün folgt. Das sechste Farbwort,das hinzukommt, muss dann Blau sein. Auf der nächsten Stufe kommtdann eine Bezeichnung für Braun hinzu und im letzten Schritt schließ-lich, ohne dass eine hierarchische Reihenfolge feststellbar wäre, jeweitere für Grau, Violett, Orange und Rosa.

Diese Berlin-Kay-Hypothese war heftig umstritten und wird immernoch kontrovers diskutiert, denn schließlich besagt sie, dass unseresprachliche Kategorienbildung und damit auch unsere Weisen derWelterfassung weit weniger frei sind als angenommen. Im engerenSinne würde die Richtigkeit ihrer These bedeuten, dass genetischeund biologische Faktoren bei der Weise, wie wir den Farbraum wahr-nehmen und organisieren, eine erhebliche Rolle spielen. Kritiker ha-ben auf manche Ausnahmen hingewiesen, dass etwa im Russischenmit goluboj (hellblau) und sinii (blau bis dunkelblau) zwei Wörter fürBlau existieren. (Auch das heutige Italienisch kennt die Wörter azzuround blu, während im Französischen mit marron und brun zwei Be-zeichnungen für Braun existieren.) Es wurde des Weiteren kritisiert,dass, wenn eine Sprache beispielsweise nicht über Wörter für Orangeund Rosa verfügt, ihr Wort für Rot nicht identisch mit dem Bedeu-tungsumfang unseres Wortes für Rot sein könne, da es dann ebenauch die Orange- und Rosatöne mit umfassen würde. In der Tat decktdas alte bretonische Wort glas sowohl Bereiche, die wir als grün, alsauch solche, die wir als blau bezeichnen würden, ab und paralleleBeispiele für grue (also Wörter, die green und blue umfassen) hat manin vielen Sprachgemeinschaften gefunden. Man kann diese Wörterder Stufe 3 oder 4 im Entwicklungsschema von Berlin/Kay daherstreng genommen nicht mit unserem Grün gleichsetzen.

Ein weiterer Kritikpunkt betraf die Abgrenzung der verschiedenenFarbbezeichnungen, wo es selbst zwischen Sprechern derselben Spra-che teilweise zu erheblichen Abweichungen kommt. Auch gibt es –wie im ersten Kapitel bereits ausgeführt – die Möglichkeit, ohne

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eigentliche Farbwörter auszukommen, indem auf Substanzen mit oderohne Verbindung zu ihren Texturen, dem Glanz etc. als Referenzob-jekte zurückgegriffen wird. In manchen Sprachen wird subtil zwischenreifen und unreifen Früchten einer Sorte unterschieden, ohne dasseigentliche Farbwörter von sonderlicher Bedeutung wären.

Dies führte zu gewissen Modifikationen der Berlin-Kay-Hypothese,von denen die wichtigste ist, dass die Farbwörter nicht mehr ganzeBereiche abgrenzen, sondern eher einen Fokus bezeichnen. Wir grup-pieren die wahrgenommenen Farben nach so etwas wie der Nähe zuidealen Prototypen. Dabei sind wir uns bei der Frage, was ein beson-ders typisches Rot (oder Braun, Gelb etc.) ist, bemerkenswert einig.Diese idealen Prototypen sind in allen Kulturen mehr oder wenigergleich und auch recht unabhängig davon, ob die jeweilige Spracheüber Wörter verfügt, sie zu bezeichnen. Trotz des Fehlens mancherFarbnamen kategorisieren die Dani (ein Naturvolk auf Neuguinea) dieFarben ziemlich so wie Nordamerikaner. Schwierigkeiten der Zuord-nung treten nicht bei den ›besten‹ Exemplaren auf, sondern bei denGrenzen zwischen den Bereichen. Farbkategorien haben also un-scharfe Ränder. Es gelingt aber dagegen nicht, willkürliche Prototypenzu erlernen und sie konsistent anzuwenden. Deshalb gilt die Berlin-Kay-Hypothese trotz gewisser Kritikpunkte heute als im Prinzip allge-mein akzeptiert.1 Das Prinzip besagt in seiner allgemeinen Form, dasses eine biologische Komponente bei wahrnehmungsmäßigen Katego-rien gibt, mit denen die Sprachwörter eine Art struktureller Koppe-lung eingehen. Grundparameter wie warm/kalt entlang der Gelb-Blau-Achse, transparent/opak, glänzend/matt (= nass/trocken?), eventuellauch reif/unreif oder süß/sauer entlang der Rot-Grün-Achse undrein/schmutzig entlang der Sättigungsachse scheinen in allen Spracheneine Rolle zu spielen. Ihre biologische Relevanz dürfte unmittelbareinsichtig sein.

Natürlich ist die Wahrnehmung mit ihrer Kategorienbildung älterund fundamentaler als das Sprachvermögen, sodass es einleuchtet,wenn dieses sich auf etwas bezieht, das bereits im Gehirn vorhandenist bzw. gemeinsam mit ihm ausgebildet werden kann. SensorischeKategorien bilden die Grundlage für konzeptuelle Kategorien. Wirkönnen nur benennen, was wir wahrnehmen und wie wir es wahrneh-men. Kein Mensch sieht aber Farben grundsätzlich als ein ineinanderübergehendes Kontinuum, sondern nimmt bestimmte Farben wahr,wobei gilt, dass das, was rot ist, nicht grün sein kann oder das, wasgelb ist, nicht blau. Die kategorielle Wahrnehmung ist im Gehirnangelegt. Ohne solche wahrnehmungsmäßig gebildeten Kategorien

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wären Übersetzungen schlicht nicht möglich. Das schließt natürlichnicht aus, dass sprachlich gefasste Kategorien und kulturelle Faktoreneinen modifizierenden Einfluss etwa über die Konnotationen bzw. dieSubstanzen, mit denen ein Farbton assoziiert wird, ausüben. Deshalbwird heutzutage meist nur noch eine schwache Form der linguis-tischen Relativität vertreten, die im Einklang mit neurologischen Er-kenntnissen steht.

Inzwischen ist die wahrnehmungspsychologische Seite dieser Theo-rie gut geprüft worden mit dem Resultat, dass es die vermutete bio-logische Komponente bei der Farbkategorienbildung tatsächlich gibt.Auf die Existenz anatomisch unterscheidbarer Kanälen für Schwarz/Weiß, Rot/Grün und Blau/Gelb zwischen den Ganglionzellen im Augeund dem Okzipitallappen wurde ja bereits hingewiesen. Schon Säug-linge reagieren eher auf fokale Farben. Sie sind für Kinder auch leich-ter lernbar. Die gleiche Sequenz der Entwicklung von Farbnamen wiehell/dunkel, dann Rot, dann Grün oder Gelb, dann Gelb oder Grün,dann Blau, gefolgt von Braun, schließlich Grau, Rosa, Orange, Braunund Violett, wie sie im Kulturvergleich existierender Sprachen häufignachgewiesen wurde, spielt anscheinend auch ontogenetisch, d. h.beim Spracherwerb von Farbbezeichnungen bei Kindern, eine Rolle,wobei Wörtern wie Schwarz und Weiß sowie Rot, Blau Grün undGelb eine besondere Bedeutung zukommt. Die Zerlegung eines Farb-kontinuums in diskrete Farbwörter ist zwar nicht in allen Sprachengleich, die grundlegenden Farbwörter erfassen aber den gleichen Zen-tralbereich. Wahrscheinlich kommt man der Wahrheit am nächsten,wenn man annimmt, dass nur eine begrenzte, eventuell auch hierar-chisch abgestufte Anzahl an Kategorien möglich ist, von denen dieverschiedenen Kulturen eine je spezifische Auswahl treffen. DieAbgrenzung der reinen Farbwörter, in die ja ohnehin schon wie bei›rosa‹ oder ›braun‹ Helligkeitsunterscheidungen mit eingehen können,von solchen, die auch Oberflächenerscheinungen wie ›matt‹ und›glänzend‹ betreffen, ist allerdings ungeklärt. Ähnliches gilt für trans-parent/opak. Auch darüber, wie sich die Dimensionen von reif/unreif(rot/grün?) und rein/schmutzig (gesättigt/ungesättigt?) zu den Grund-parametern verhalten, gibt es nur Vermutungen.

Dabei ist festzustellen, wie ungleich die uns vertrauten elf Katego-rien den Farbraum aufteilen. Die warmen Farben haben ein eindeuti-ges Übergewicht. Nicht nur dass Rot, gefolgt von Gelb oder Grün,lange vor Blau eine eigenes Wort erhält, mit Orange und Violett wirdauch den Übergängen von Rot zu Gelb resp. Blau eine eigene Katego-rie zugewiesen, während z. B. der Übergang von Blau zu Grün leer

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ausgeht. Mit Rosa und Braun erhalten sogar bloße Helligkeitsstufenwarmer Farben eine eigene Kategorie. Zumindest bei Braun, Rosa undGrau handelt es sich eindeutig um Oberflächenfarben, die als farbigeLichter nicht darstellbar sind. Schwer vorstellbar, dass diese einseitigeAufteilung des Farbraums nicht Folge eines gewissen Selektionsdruckssein sollte. Die wahrnehmungspsychologischen Kategorien sind älterund fundamentaler als die Notwendigkeit, für sie Wörter zu finden.Grundlegende Farbwörter sind auch nicht durch Paraphrasierung zuerlernen, sondern beziehen sich letztlich auf eine ostentative Definiti-on: Es wird auf ein Objekt hingewiesen, auf das ein Farbwort wie rotoder blau etc. anzuwenden ist. Für die Organisation des Farbraumssind Farbnamen keineswegs erforderlich, sie folgen im Gegenteil derOrganisation der Farbwahrnehmung.

Es scheint aber, dass der innere Farbraum in unserer Kultur sprach-lich immer früher abrufbar wird. Konnten durchschnittliche Kinder im19. Jahrhundert erst im Alter von acht Jahren die vier Grundfarbensicher bezeichnen, so können dies heute bereits Vierjährige. Ähnli-ches gilt für die Verbreitung der Farbwörter selbst innerhalb der west-lichen Kulturen. Viele haben sich aus Wörtern herausgebildet, dieeinst eher Helligkeitsunterschiede oder Glanz bezeichneten. Die Fra-ge, ob die Sprache die Wahrnehmung oder ob die Wahrnehmung dieSprache formt, kann daher nicht im Sinne eines entweder/oder ent-schieden werden. Man muss von verschiedenen Arealen ausgehen,die interaktiv verknüpft sind, aber im unterschiedlichen Maß durchLernprozesse modifizierbar sind. Zumindest sollten verschiedene Pha-sen unterschieden werden, etwa wo ein abstrakter Farbraum nachden Parametern Farbton, Helligkeit und Sättigung vorliegt, wo fokaleFarbkategorien gebildet werden, wo die Zuordnung zu Objektenstattfindet und schließlich sollten die Verknüpfungen dieser jeweiligenEbenen mit der Sprache getrennt davon untersucht werden. Beispiels-weise beginnt, wie gezeigt, die Kategorienbildung bereits im visuellenSystem und ist nicht auf die sprachliche Ebene beschränkt. Auch wer-den Farbnamen nicht am gleichen Ort wie die Objektfarben gespei-chert, ebenso wenig wie Farbempfindungen und die zugehörigenObjekte.

Jedenfalls lässt die Universalität des Farbraums vermuten, dass eseine neurophysiologische Basis für ihn gibt. Farben kann man mitziemlicher Genauigkeit circa 30 Sekunden memorieren. Wahrschein-lich gibt es für sie eine Art internen Farbraum im Gehirn, denn Farb-namen sind für dieses Kurzzeitgedächtnis unwichtig, wohl aber späterfür das langzeitliche Farbgedächtnis. Die Tatsache, dass Farbbenen-

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nungen und Farbempfindungen miteinander kollidieren können, wiees der (weiter unten erläuterte) Stroop-Effekt erweist, deutet eben-falls auf die Priorität perzeptueller Kategorien hin. Im internen Far-braum spielen aber nicht alle unterscheidbaren Farben eine gleicheRolle. Auch wenn wir sehr viel mehr unterscheiden können, habenwir nur etwa ein Dutzend Farben, unter denen Rot, Grün, Gelb undBlau als erste im internen Farbraum konsolidiert werden. Man kanndavon ausgehen, dass die auf diesen internen Farbraum bezogenenFarberfahrungen praktisch bei allen Menschen identisch sind. Den-noch gibt es natürlich kulturelle Faktoren und Randbedingungen. Soist bei Japanern das beste Exemplar für Rot mehr im Orangebereichangesiedelt als das von Europäern. Auch ist die zunehmende Katego-risierung der Farben an die sprachliche und intellektuelle Entwicklunggekoppelt. Reine Farbwörter im Unterschied zu solchen, die Oberflä-cheneigenschaften (›blond‹) mit bezeichnen, setzen eine Konstruktiondes inneren Farbraums voraus, doch haben Farbwörter ebenso vielmit pragmatischen Überlegungen zu tun wie mit der bloßen Wahr-nehmung.

In europäischen Sprachen gelten Farbwörter als Adjektive, wobeiAdjektive ihrerseits als eine Art Nomen gelten und mit ihnen sachlichund entwicklungsmäßig eng zusammenhängen. Im Deutschen könnenwir durch die Groß- resp. Kleinschreibung einen nominalen voneinem adjektivischen Gebrauch der Farbwörter unterscheiden, alsoz. B. ›Blau‹ resp. ›das Blaue‹ von ›blau‹ als Attribut eines Objekts. Diejeweils üblichen Referenzobjekte für ein Farbwort (Meer, Himmel,Kornblume), an die unwillkürlich gedacht wird, können im Kulturver-gleich natürlich andere sein, sodass zumindest die Konnotationen derFarbwörter in verschiedenen Sprachen unterschiedlich sind. Als se-mantische Attribute gehört das Farbwissen zum hasa-Wissen, nichtzum isa-Wissen und wird an den entsprechenden Gehirnstellen ge-speichert, was durch spezifische Ausfälle bei Gehirnerkrankungen be-stätigt wird. Instrumentales Wissen wie ›dieses Objekt ist ein (= isa)Hammer‹ gehört zum isa-Wissen, während Wissen über Attribute –›dieses Objekt hat einen (= hasa) Henkel‹ – zum hasa-Wissen zählt.Welchen Bezug zu erlernten Erfahrungen Farbwörter aktivieren, wirdselbstverständlich durch kulturelle Faktoren beeinflusst. Ob dies undwenn ja, in welchem Umfang die wahrnehmungsmäßigen Kategorienselber betrifft, ist jedoch fraglich. Jedenfalls bilden auch dafür Farbpa-rameter wie Farbton, Helligkeit und Sättigung die Grundlage

Alles in allem darf man wohl, was das Verhältnis der wahrneh-mungspsychologischen Farbkategorien zu ihrer sprachlichen Bezeich-

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nung betrifft, gewisse Freiheitsspielräume konzedieren, sodass dieBerlin-Kay-Hypothese eher einen starken Trend als ein unumstößli-ches Gesetz beschreibt. Jedenfalls ist klar, dass das Fehlen eines Farb-worts in einer Sprache nicht bedeutet, dass die Sprecher nicht dieentsprechenden Kategorien auseinanderhalten könnten. Zwar hattendie Griechen kein Wort für ›Blau‹ und ihr Wort chloros trennt nichtzwischen Gelb und Grün, aber nach Ausweis ihrer Kunstwerke warensie alles andere als unsensibel für diese Farbtöne. Das Lateinischekennt keine Wörter für unser Braun oder Grau und ihr Wort caeru-leus, welches wir mit Blau übersetzen, wird für das dunkle Meer alsauch den Nachthimmel angewandt. Das alles ist mit der Berlin-Kay-Hypothese gut vereinbar. Lebende Sprachen entwickeln sich, sodassin ihr auch ältere Wörter weiter verwendet werden können, die eineranderen Sprachstufe angehören. So kennt und benutzt das Japanischeimmer noch den Begriff awo, der alle kühlen und dunklen Farbenumfasst. Wenn Goethe Blau dem Dunkel und Gelb dem Licht zuord-net, steht er im Einklang mit den Befunden der Linguisten. Im Gegen-satz zu diesen älteren Sprachschichten ist im Deutschen gegenwärtiganscheinend die Situation beim Gebrauch von Wörtern wie pink,rosa, purpur, magenta, lila, malvenfarbig und violett in Bewegunggeraten, ohne dass absehbar wäre, welche das Rennen machen wer-den. Im Frankreich des 18. Jahrhunderts gab es neben mauve auchdie (biologisch oder kulturell signifikative?) Bezeichnung cuisse denymphe émue (wörtlich: Schenkel einer erregten Nymphe) für einenbestimmten, von einer Rosensorte abgeleiteten Farbton im gleichenBereich, die sich allerdings nicht durchsetzen konnte.

Wichtig ist noch, sich den Gegensatz zwischen Benennen und Be-schreiben klarzumachen. Meistens benennen die Farbwörter nur.Habe ich einen rotbraunen Anzug und einen dunkelgrauen, so kannich auf die Frage meiner Frau, welchen davon ich anziehen will,durchaus antworten: den schwarzen, ohne Missverständnisse befürch-ten zu müssen. Hätte ich statt des dunkelgrauen einen dunkelbrau-nen, so wäre die Antwort ›den roten‹ zur Benennung des rotbraunengleichfalls eindeutig und korrekt. Zur Benennung genügt je nach Kon-text die einfachste Kennzeichnung. Wir sind nicht subtiler als nötig.Es ist sogar so, dass gerade die entwicklungsgeschichtlich älteren Stu-fen der Entwicklung von Farbwörtern in Verbindung mit der Objekt-erkenntnis bevorzugt zu Klassifikationen genutzt werden. Deshalbunterscheiden wir Weißwein von Rotwein, obwohl ersterer eher gelbaussieht als weiß. Drucker, die natürlich wissen, dass sie mit Cyanblauund Magenta umgehen, nennen in ihrem Arbeitsalltag ersteres ›Blau‹

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und letzteres ›Rot‹, da Missverständnisse kaum zu befürchten sind.Würden Linguisten, gestützt auf solche Beispiele, den Bedeutungsum-fang von Farbwörtern in unserer Sprache untersuchen, kämen sie zumerkwürdigen Resultaten. Wenn der späte Wittgenstein festhielt,dass die Bedeutung eines Wortes in seinem Gebrauch liegt, so trifftdies besonders für die Farbwörter zu. Wir nutzen Farbwörter, um zuraschen, sicheren und eindeutigen Zuweisungen zu bestimmten Kate-gorien zu gelangen. Dazu dürfen es nicht zu viele Kategorien sein unddiese müssen perzeptuell weit genug auseinanderliegen. Im Alltag,wo es auf eine solche rasche und eindeutige Unterscheidbarkeit an-kommt, also etwa bei Stromdrähten, U-Bahn-Linien, Flaggen, Wap-pen, Logos oder den Trikots von Sportlern, bilden die elf Grundfarbenunter Bevorzugung der ersten sechs die Grundlage. Natürlich kom-men in der Praxis durchaus verschiedene Farbnuancen vor, aber siewerden nach Maßgabe dieser elf kategorisiert. Damit bei der Tour deFrance der Träger des gelben Trikots eindeutig identifizierbar ist, müs-sen einfarbige zitronengelbe, safrangelbe, schwefelgelbe, bananengel-be Trikots etc. bei den anderen Fahrern vermieden werden. Wenn dieKönigsblauen (von Schalke 04) gegen die Himmelblauen (aus Chem-nitz) spielen, wären die Grenzen der eindeutigen Zuordenbarkeit bzw.der Farbkonstanz rasch erreicht.

Es gilt bei farblicher Kennzeichnung eher ein Prinzip der kontrasti-ven Identifikation. Die Gliederung durch Farben ist nur bei relativwenigen (fünf bis sechs) Kategorien hilfreich. Entsprechend ist auchdie Anzahl von Farben in Displays begrenzt, nur etwa fünf können vorihrem Hintergrund rasch und sicher unterschieden werden. Bei sol-chen Resultaten liegt es nahe, an die magno-, parvo- und koniozellu-lären Leitungen mit ihren drei Gegensatzpaaren von der Retina zumKortex zu denken. Bei größerer Komplexität helfen wir uns eherdurch Kombinationen von Farben als durch Differenzierung. Bei Logos,Fahnen, Metrolinien, Trikots etc. gibt es dann eher Zusammenstellun-gen wie Weiß/Grün, Gelb/Schwarz etc., als dass etwa indischgelb vonorange unterschieden werden müsste.

Wir erkennen Farben schneller als Dinge, brauchen aber länger, siezu benennen. Es gibt auch eine Kollision zwischen Farbwörtern undFarbempfindungen, die mit dem Namen Stroop-Effekt bezeichnetwird. Werden wir aufgefordert, die Farbe, in der einzelne Wörtergeschrieben sind, zu benennen, so können wir das sehr rasch undzuverlässig. Beispiel: Hund, Katze. Anders wird es, wenn es sich dabeium Farbwörter handelt, deren Bedeutung nicht mit der Farbe ihrerTypografie übereinstimmt, wie z. B.: Grün oder Gelb. Dann brauchen

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wir zur korrekten Benennung der Farben entschieden länger. DerKünstler Jasper Johns hat übrigens einer Reihe von Werken diesenStroop-Effekt zugrunde gelegt. Es scheint, dass die Prozessierung vonWörtern und Farbkategorien nicht völlig getrennt voneinander ver-läuft. Dem Stroop-Effekt korrespondiert eine Störung, die als Farban-omie bezeichnet wird und bei der es zu einer Beeinträchtigung derZuordnung von Farbwörtern und Farbkategorien kommt.

Insbesondere vermag die sprachliche Bezeichnung für einzelneFarbtöne die Assoziationen in bestimmte Bahnen lenken und unsereEinstellung zu ihnen beeinflussen. So sind die von der Bezeichnung›Chartreuse‹ hervorgerufenen Bedeutungsfelder sicherlich positiver alsdie von Senffarbe oder gar Entengrütze. Die Werbung macht sich diesinsofern zunutze, indem sie für ihre Produktbeschreibung Farbbe-zeichnungen wählt, die solche gewünschten positiven Assoziationenhervorrufen, deren Informationsgehalt dagegen in der Regel vernach-lässigbar ist. Beispiele wären: premiumweiß oder königsblau. Natür-lich ändert sich unsere gefühlsmäßige Einstellung zu gewissen Farbtö-nen entsprechend dem semantischen Wandel, dem die Farbwörterunterliegen. Der Farbton ›bismarckbraun‹ dürfte heute kaum nochähnliche Empfindungen auslösen wie um die Wende des 19. Jahrhun-derts. ›Monzarot‹ klingt entschieden exklusiver als ›tomatenrot‹ unddie schon in den 1950-Jahren gebräuchliche Bezeichnung ›havan-nabraun‹, welche nach dem Erfolg von Wim Wenders Film BuenaVista Social Club wieder lanciert wurde, transportiert inzwischen nichtmehr die Konnotation eines gut genährten Kapitalisten, der sich eineZigarre leistet, sondern solche von Genuss, Freizeit, Lebenslust etc.,die andere Bezeichnungen von Brauntönen schwerlich aufweisen.

Wie bereits erwähnt, zeigen anthropologische und linguistischeDaten, dass in vielen Kulturen über Farben nicht unabhängig von denObjekten, die sie tragen, gesprochen wird. Die Dinkas vom Oberlaufdes Nils halten, wenn sie gefragt werden, ob dem Rot des Viehfellsdie Ziegelfarbe entspricht, dies für einen Witz,2 während die Farbbe-griffe der Leute von Arawak (ein indigenes Volk im peruanischenAmazonasgebiet) stark mit dem Reifegrad von Früchten und Gemüsekorrespondieren. Gleichfalls wurde erwähnt, dass Farbwörter meistmit Gegenstandsbezeichnungen wie im Falle von bananengelb oderpechschwarz verbunden werden, die unter anderem auch ihre Textur,den Glanz etc. qualifizieren. Es scheint, dass die Semantisierung derFarben erst in einem Verarbeitungsstadium im Gehirn auftritt, wo Far-ben, Oberflächen und Substanzen fest miteinander verbunden sind.Die verbale Codierung spielt dann aber eine wichtige Rolle beim

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Farbgedächtnis, bei der Wiederidentifikation. Die Assoziationen, diewir mit Farben verknüpfen, und die damit verbundenen gefühlsmäßi-gen Reaktionen liegen häufig allein an ihrem gegenständlichen Bezug.Aber auch die individuellen Unterschiede in der emotionalen Reakti-on auf bestimmte Farbnuancen scheinen darauf zu beruhen, welcheZuordnungen zu bestimmten Gegenständen und Situationen sich beibestimmen Kulturen oder den einzelnen eingeschliffen haben.

Anmerkungen:

1 Siehe dagegen John Gage, Colour and Culture, in: Trevor Lamb und Janine Bour-

riau (Hrsg.), Colour: Art& Science, Cambridge 1995, S. 175–193.

2 Vgl. Barbara A. C. Saunders & J. van Brakel, Are there non-trivial Constraints on

Colour-Categorization? in: Behavioral and brain sciences, Bd. 20 (2), 1997, S. 187.

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Ressource Aufmerksamkeit

Das Gehirn ist kein Organ zum Denken, sondern dient dem Überle-ben. Es muss Wesentliches herausfiltern und Unwesentliches unter-drücken. Im Sinne seiner biologischen Aufgabe ist es darauf ausge-richtet, neuartige und auffallende Informationen zu erfassen, diemöglicherweise Handlungen erforderlich machen. Dabei kommt derFarbe und insbesondere der Farbe Rot, welche die Aufmerksamkeitbesonders auf sich zieht, eine ausgesprochen wichtige Rolle zu. DasWahrnehmungs- und Aufmerksamkeitssystem wird immer nur durchAbweichendes, Neues und Unbekanntes aktiviert, wobei Aufmerk-samkeit und Neugierde auch als lustvoll erlebt und vom Gehirn be-lohnt werden können. Dass Farben das Leben bunter machen undeine gewisse Beziehung mit der Emotionalität unterhalten, dürftedamit zusammenhängen. Die Wahrnehmung interessiert sich vorallem für das, was ungewöhnlich ist, was aus seiner Umgebung her-aussticht und sie widmet ihm, wie unter anderem durch Untersu-chung der Augenbewegungen bekannt, besonders viel Aufmerksam-keit. Was also sticht für sie heraus, welche farbigen Reize lenken dasAugenmerk auf sich? Die Gehirnforschung ist den Grundlagen solcher›Pop-Out Effekte‹ nachgegangen. Da wird ein Element in eine Umge-bung anderer, Distraktoren genannter, Elemente gestellt und unter-sucht, wie rasch und zuverlässig das Zielelement erkannt wird. Eineinzelnes S unter lauter T fällt sofort auf, das gleiche S wird wenigerleicht erkannt, wenn es von sämtlichen anderen Buchstaben desAlphabets umgeben ist, aber auch schon ein einzelnes p kann sichgut unter vielen q verstecken, zumal wenn alle Himmelsrichtungenzugelassen sind. Ähnlich sticht ein blaues Element B unter roten Bheraus, ein glänzendes unter matten etc. Sogar ein mittelgraues Ele-ment # fällt auf, wenn es nur von dunkelgrauen # # # umgeben ist,und selbst ein Texturunterschied, der aus Elementen gleicher Form,Helligkeit und Kontrast gebildet ist, (etwa: «, gegenüber: » » » ») wirdin der Regel mühelos bemerkt. Wir können, was wenig überraschendist, festhalten, dass ein Element umso leichter heraussticht, je gleich-förmiger seine Umgebung ist und je simpler und ausgeprägter imwahrnehmungspsychologischen Sinn das unterscheidende Merkmal.Weist die Umgebung jedoch Freiheitsgrade auf, in denen das unter-

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scheidende Merkmal enthalten ist, kann es seine diskriminierendeWirkung nicht mehr entfalten. Außerdem fällt ein zusammengesetz-tes, also wahrnehmungspsychologisch nicht mehr grundlegendes Ele-ment wie z. B. rb unter vielen rb weit weniger auf, zumal wenn beidein alle Richtungen gedreht sein können, aber auch ein mittleres Bunter dunkleren und helleren B hat es schwer, die Aufmerksamkeitauf sich zu lenken. Je vielfältiger also der Hintergrund an Formen,Richtungen, Kontrasten etc. ausfällt, desto schwieriger ist die Aufga-be, ein Element zu finden, das noch herausstechen kann, wenngleichzeitig auch das unterscheidende Merkmal einer möglichst ver-schiedenen Kategorie der grundlegenden Elemente der Wahrneh-mung angehören sollte. Was heraus sticht, weist damit Ähnlichkeitmit der Eigenschaft auf, die von Informationstheoretikern ›Prägnanz‹genannt wird, worunter sie größtmögliche Auffälligkeit bei größtmög-licher Einfachheit verstehen. Man beachte, dass die Prägnanz nichtunabhängig von der Umgebung bestimmt werden kann.

Farben sind offenbar gut geeignet, solche für die Wahrnehmungelementaren unterscheidenden Merkmale abzugeben, und wir könnenrascher und zuverlässiger auf Farbunterschiede reagieren als auf ande-re Wahrnehmungselemente wie die gegenständliche Form. Dies warja das biologische Argument gewesen, dass die Entwicklung zurTrichromatizität einen entscheidenden Vorteil brachte bei der Aufga-be, rote Früchte in einer Umgebung zu finden, die große Helligkeits-unterschiede und einen Reichtum an Formen, Richtungen etc. auf-weist. Für Menschen mit Rot-Grün-Blindheit stechen rote Früchteeben nicht aus ihrer Umgebung heraus. Umgekehrt liefert die Farbeeine Merkmalsdimension, in der sich ein Objekt sogar dann nochdeutlich von anderen absetzen kann, wenn diese in sämtlichen ande-ren Parametern wie vor allem den Helligkeitskontrasten über großeFreiheitsspielräume verfügen. Im Gegensatz dazu sind Gebiete, diesich überlappen und in denen die gleichen Farben vorkommen, nuräußerst schwer voneinander zu trennen.

Wenn Farbe also Unähnlichkeit signalisiert, kann man anders he-rum etwas verhüllen oder tarnen, indem es farblich die Merkmalebekommt, welche die Umgebung aufweist. Die Dialektik von Verber-gen und Auffallen erweist sich für die Farbe als grundlegend. Daslateinische color leitet sich von celare (= verhüllen, verbergen) ab,während das deutsche ›Farbe‹ mit indogermanisch perk zusammen-hängt, was ›auffällig, gesprenkelt oder bunt‹ bedeutet. Die Naturmacht uns beides vor: wie ein Lebewesen sich in seiner Umgebungverbirgt – man spricht von Camouflage – oder eben möglichst auffällt.

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Es gibt in ihr Signale aller Arten, sexuelle Reize wie bei buntem Ge-fieder der meist männlichen Vögel oder den Gesäßen von Pavianen,es gibt auch Signale zur Abschreckung bzw. deren Nachahmung beider Mimikry in allen ihren Formen. Solche Signale sollen die Auf-merksamkeit auf sich ziehen, was natürlich auch Nachteile hat, dennes ist nicht ausgemacht, dass nur die ›richtigen‹ Adressaten erreichtwerden – im Falle der bunten Blüten und Federn also die Bienen undVogelweibchen – und weniger die Fressfeinde, welche allerdings hin-wieder bei abschreckenden Signalen gemeint sind. Wenn das Handy-cap-Prinzip aber zutreffend ist, dass ein Lebewesen, das die Aufmerk-samkeit auf sich zieht, damit möglichen Sexualpartnern zu verstehengibt, ›seht her, ich kann mir leisten aufzufallen, weil ich schneller,stärker, geschickter oder klüger bin als die Konkurrenz‹, so machengerade das Risiko und die damit verbundenen Kosten aus dem Signalauch ein ehrliches Signal.1

In Farbempfindungen ist die akkumulierte Erfahrung in der Ge-schichte der Spezies und des Individuums mit eingeflossen. Sie stelleneine probabilistische Manifestation der Vergangenheit dar. Geben wirweitere Beispiele für das Auffallen, wie es sich bereits auf der Ebeneeinfacher Merkmale manifestiert: Im Visuellen lenkt, was sehr hell istund sich sehr schnell bewegt, die Aufmerksamkeit auf sich. Glänzen-des wird mehr beachtet als Mattes, Helles mehr als Dunkles. Beweg-tes mehr als Unbewegtes. Es fällt nicht schwer, dafür Gründe anzuge-ben. Bewegtes könnte uns gefährlich werden und sollte im Augebehalten werden. Die Detektoren für Bewegung sind entwicklungsge-schichtlich älter und wichtiger als die für unbewegte Reize. Auchmuss sich unser Auge an die hellste Lichtquelle anpassen, um nichtSchaden zu erleiden oder geblendet zu werden. Das allein würde dieAuffälligkeit von hellen und glänzenden Stellen im Gesichtsfeld be-reits rechtfertigen. Ob Glanz, den wir, wie die Werbung für Küchen-reiniger und Autos zur Genüge belegt, ausgesprochen schätzen, ur-sprünglich das lebenswichtige Element Wasser indiziert hat (nicht nurBäche und Tautropfen glänzen, auch wasserhaltige Blätter tun dieseher als trockene), mag dabei dahingestellt sein. Gegenstände ausGold, polierte Objekte, spiegelnde Oberflächen wie auch glänzendesHaar haben jedoch die Eigenschaft, in ihrer Form schwerer erfassbarzu sein und erfordern schon deswegen eine besondere Anstrengung,um sie in ihrer Lage, Größe und Richtung räumlich einzugliedern.

Bekanntlich können Menschen manche Dinge zwar sehen, die sieaber nicht ergreifen und auf die sie nicht einwirken können. Zu ihnenzählen Löcher, Schatten, Reflexlichter, vielleicht Kringel, die das durch

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das Laub fallende Licht auf den Weg wirft, möglicherweise auch Sub-stanzen, deren Grenzen und Gesamtheit nicht überschaubar sind. Sol-che flüchtigen ›unfassbaren‹ Erscheinungen interessieren uns in derRegel entschieden weniger als feste Körper in unserem Handlungs-raum. Oberflächen von Körpern sind wichtiger als Öffnungen oderentfernte Hintergründe, Rot fällt ›im Grünen‹ mehr auf, Gelbes ist inder Regel räumlich näher und muss damit eher beachtet werden alsBlaues. In der Tucano-Sprache, die vorwiegend im nordwestlichenAmazonasbecken gesprochen wird, steht ein Wort mit der Bedeutungvon ›Natur‹ für den Bereich der grün/blauen Farben und ein Wort mitder Bedeutung von ›Kontrast‹ für den rot/orangen Bereich.2 Was sichaus eigenem Antrieb bewegen kann – Tiere –, erregt mehr Aufmerk-samkeit als Pflanzen oder unbelebte Objekte. Es gibt offenbar eineGewichtung nach biologischer Relevanz bzw. nach den erworbenenErfahrungen mit den jeweiligen Entitäten. Haut, Behaarung oder Fellvon Raubtieren, von jagdbaren Tieren, von Artgenossen liegen imgelborangen, rötlichen, jedenfalls warmen Bereich, auch im Bereichvon Braun- und Rosatönen, für die wir je eine eigene Farbkategoriebesitzen und zusätzlich Sättigungsgrade besser unterscheiden könnenals im Bereich der kühlen Farben. Die Lippen, die rötlichen Schleim-häute und das Blut gehören dagegen zur Kategorie rot, die als dieFarbe par excellence gelten darf. Für die Farben der Nahrung geltenähnliche Beschränkungen. Sie kann weißlich, bräunlich, gelblich,grünlich und rötlich sein, während Blau meist ausscheidet. Aber auchandere Polaritäten farbbezogener Unterschiede werden vermutlichnicht unabhängig von biologischen Gegebenheiten von der Wahrneh-mung bewertet. Dass die Gelb-Blau-Achse mit warm/kalt korrespon-diert, dass rot/grün eine Beziehung zu reif/unreif unterhält oder dieDimension rein/unrein mit gesättigt/ungesättigt und wohl auch mitklar/trüb in Verbindung steht, während glänzend/matt mit feucht/trocken zusammenhängen dürfte, scheint zumindest intuitiv einsichtigzu sein. Wenn es zutrifft, dass Spannungszustände die Voraussetzungfür Lustempfindungen sind, wird auch die Tatsache verständlicher,dass Farben das Leben bunter machen und eine Quelle für Emotionenbilden. Dazu aber müssen sie zunächst einmal auffallen.

Einige gestalterische Grundsätze können bereits aus dem bislangAusgeführten entnommen werden. Nehmen wir eine alltägliche Auf-gabe wie die, für ein gegebenes Wohnzimmer die Farbe eines Sofasauszuwählen. (Die umgekehrte Aufgabe, ein feststehendes Objekt,wie z. B. ein Bild von Yves Klein oder auch ein Sofa zu inszenieren, d.h. ihre Umgebung so zu verändern, dass das Objekt möglichst auffällt

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oder möglichst verschwindet, wird im Anschluss besprochen.) Diehierbei geltenden Prinzipien lassen sich mutatis mutandis auf archi-tektonische Gestaltungen, Bilder, Filmsequenzen, Werbematerial undalles mögliche andere übertragen, denn die Frage, wie viel Aufmerk-samkeit einem Element zukommt, von welchen anderen Elementen essich unterscheiden und mit welchen es zusammengehen soll, gilt fürdie Kosmetik ebenso wie für die Gestaltung von Feuermeldern, U-Bahneingängen oder die Trikotwahl für Schiedsrichter. Nebenbei be-merkt hat auch das Ornament die Aufgabe, abzugrenzen, hervorzuhe-ben und zu gliedern, was es der Farbwahl verwandt macht. Bei dererwähnten Aufgabe ist es hilfreich, sich vorzustellen, was einmal dieunauffälligste Lösung wäre, was also der Camouflage in der Naturentspräche, und zum anderen, die auffälligste Lösung zu suchen, diemit dem größten Pop-Out Effekt. In beiden Fällen muss dazu natür-lich der Hintergrund berücksichtigt werden. Welche Kontraste wiehell/dunkel, rot/grün, gelb/blau, gesättigt/ungesättigt oder in denTexturen gibt es bereits? Es genügt nicht, einfach eine Durchschnitts-bildung vorzunehmen und dann nach der am meisten ausgeprägtenAbweichung zu suchen, denn wenn z. B. nur schwarze und weiße Ele-mente vorhanden sind, kann auch ein Grau auffallen. In einer Umge-bung, die zwar alle Übergänge, aber lediglich die zwischen Schwarzund Weiß aufweist, sticht jede Farbe heraus. Gibt es bereits cremigeGelbtöne aller Arten, so bietet ein kräftiges Blau einen stärkeren Kon-trast als ein Ocker etc. Und wenn ohnehin sämtliche Bunttöne insämtlichen Sättigungen schon da sind, kann man mit Farbe allein kei-nen Akzent mehr setzen.

Offensichtlich bedeutet die Wiederholung der Hintergrundfarbeinnerhalb der Objektkonturen ein probates Mittel, dem Objekt seineAuffälligkeit zu nehmen. Natürlich sind sowohl eine perfekte Camou-flage als auch ein perfektes Signal nicht allein von der Farbe, sondernauch von anderen Faktoren wie vor allem der Form abhängig. WelcheRichtungen und Lagen in welchen Raumfrequenzen herrschen vor?Solche Faktoren seien für den Augenblick einmal zurückgestellt. Dannergibt die allein durch die Wahl der Farbe erzielbare beste Mimikryim Vergleich mit der besten erzielbaren Auffälligkeit so etwas wie dasMaß an Dynamik, die durch die Farbwahl des in Rede stehendenObjektes erreicht werden kann. Das beste Verbergen in der Umge-bung entspräche vielleicht der geringsten Dynamik bzw. der harmoni-schen Einbindung in sie, die jedoch Gefahr läuft zu langweilen.

Als die Farbfotografie für breitere Publikumsschichten erschwing-lich wurde, gab es in den populären Anleitungen den – massenhaft

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befolgten – Rat, an einer Stelle eines Landschaftsbildes eine jungeDame zu postieren mit einem roten Kopftuch oder einem anderenroten Bekleidungsteil. Dieser Kontrast erst würde dem Bild Leben ver-leihen (Abb. 13). Den Landschaftsmalern war dieses Mittel seit Lan-gem vertraut. Es geht also auch um die Frage der gewünschten Span-nung, denn Aufmerksamkeit ist mit Anspannung verknüpft. Sie istselbstredend abhängig von kulturellen und individuellen Faktoren,von der gewählten Aufmerksamkeitsrichtung sowie vom jeweiligen

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Abb. 13: Claude Monet, Felsenpfad bei Pourville, 1882, Öl auf Leinwand, 65 x 81 cm,

Art Institute of Chicago

Zustand, also der Frage, ob man sich eher sich beruhigen oder aufre-gen will, wobei allerdings eine allzu ruhige Umgebung auch aufregt.Deshalb bietet eine Entspannungsmusik nicht etwa einen Dauerton,sondern eine mittlere Menge an recht vorhersehbaren und wenig auf-regenden Ereignissen, die aber doch abwechslungsreich genug sind,um nicht sofort zum Halse herauszuhängen. Ähnliches scheint auchfür die visuelle Umgebung zu gelten. Als eine erste Annäherung kannman davon ausgehen, dass ein entspannendes Ambiente geordnetgenug sein sollte, um uns nicht vor Probleme zu stellen, aber auch

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abwechslungsreich genug, um uns zu beschäftigen. Vor allem sollte esnoch in jeder Hinsicht Entfaltungsmöglichkeiten in sich bergen, alsonicht alle Möglichkeiten an Reizentzug oder umgekehrt Ausschöpfungsämtlicher gesteigerter Kontraste bereits verbraucht haben. Wenn unsetwas im wörtlichen wie im übertragenen Sinn ›zu bunt‹ wird, dannkann es in dieser Richtung nicht mehr weitergehen. Demnach wirdeine mittlere Ebene, die Spielräume lässt und allzu heftige Reizeebenso wie Reizarmut meidet, in der Regel als angenehm und ent-spannend erlebt. Für Diskotheken gelten natürlich andere Erfordernis-se. Es geht darum, das innere Milieu aufrechtzuerhalten, währendAbweichungen als Emotionen erlebt werden. Gegenüber der vonmanchen Klinikchefs vorgebrachten Auffassung, die Dominanz vonbeispielsweise Gelb in einem Krankenzimmer würde einen positivenEinfluss ausüben, sei festgestellt, dass die Einschränkung auf eineFarbe auf Dauer ermüdet und dass ein zu geringes Reizangebot eben-falls Stress auslöst. Nach zu viel Wüste sehnt man sich nach Las Vegasund umgekehrt. Ein moderates Maß an Abwechslung, wenn auchunter Berücksichtigung der jeweils besonderen physischen und räum-lichen Bedürfnisse, scheint vonnöten.

Zurück zu unserem Beispiel: In der Regel wird man sich bei dergestellten Aufgabe für eine mittlere Lösung entscheiden. Das Sofa sollschon die Blicke auf sich lenken, aber doch mit dem übrigen Mobiliarharmonieren. Nun könnten vielleicht sowohl ein strahlendes Weiß alsauch ein Hellblau oder sogar ein gedecktes Dunkelrot diesem Erfor-dernis, zwar etwas, aber nicht zuviel Spannung zu liefern, genügen.Was wäre der Unterschied? Das weiße Sofa würde mit den anderenweißen Elementen im Raum zusammengesehen werden, das hellblauemit den bläulichen und das rötliche mit den roten. Farbe ist daher einideales Mittel, Bereiche zu bezeichnen, in denen ähnliches als ver-bunden erscheinen soll. Es gibt Farben, wie vor allem Blau, mit denenes schwerer fällt, Grenzen aufrechtzuerhalten. Da wir davon ausge-hen, dass Ähnliches ähnlich erscheinen sollte und Unähnliches unähn-lich, entscheidet die Farbwahl also über die Ordnungsbeziehungen zuden anderen Objekten, zu Teppich, Tisch, den anderen Sitzgelegen-heiten, der Wand, den Vorhängen und so weiter. Sind die hergestell-ten Ordnungsbeziehungen willkürlich oder befriedigend? Dies hängtkeineswegs allein von den formalen Verhältnissen ab, sondern ebensovon der Semantik. Treten die eigentlichen Farbunterschiede zurück,so gewinnen andere Merkmale wie die Texturen an Bedeutung. Zueinem wirklichen optischen Zusammenschluss kommt es aber nur,wenn die Farbarten eng benachbart sind, während größere Unter-

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schiede in Sättigung und Helligkeit weniger problematisch sind. Beizwar benachbarten, gleichwohl als zu unterschiedlich für einen Zu-sammenschluss empfundenen Farbarten ›beißen sich‹ die Farben,etwa ein Orangerot und ein Purpur. Wenn man sich bei der Auswahlder Garderobe fragt, ob Hemd und Jacke zusammenpassen, so wirdüber genau diese Frage entschieden. Dies ist nicht absolut zu verste-hen, sondern vom Grad der Buntheit bei den restlichen Elementenabhängig. Gibt es neben den Hell-Dunkel-Unterschieden nur die bei-den benachbarten Farben, die demnach perzeptuell gut getrennt wer-den können, so ist ihre Nachbarschaft ebenso unproblematisch, wiewenn angesichts der allgemein herrschenden Buntheit sie doch wahr-nehmungsmäßig in die gleiche Kategorie gelangen. Außerdem kannder beschriebene Effekt sich beißender Farben natürlich auch gewolltsein, weil er die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Was heraussticht, istnicht nur selber isoliert, es verstärkt die Zusammengehörigkeit desRestes und mindert die Auffälligkeit anderer Elemente, die ansonstensich hervordrängen würden.

Das bislang Ausgeführte, wo der Kontext als vorgegeben und un-veränderlich behandelt wurde, findet sein Gegenstück in der Aufgabe,ein feststehendes Objekt so in Szene zu setzen, dass es optimal zurGeltung gebracht wird, oder derart in eine Umgebung zu versetzen,dass es sich unscheinbar und unbedeutend ausnimmt. Natürlich istdiese Aufgabe Ausstellungsgestaltern, Museumskuratoren, Kosmetike-rinnen, Autohändlern und vor allem Künstlern gut vertraut. Die Frage,ob das eigene Werk eine Nachbarschaft bekommt, die es verträgt,war der häufigste Streitpunkt bei Gruppen- und Gemeinschaftsaus-stellungen. Keine Hängekommission konnte es allen recht machen.Heute wird das Problem eher so gelöst, dass jeder Künstler seineneigenen Raum bekommt, der im Zweifelsfall leer und weiß gestrichen– der berühmte white cube – zu sein hat. Nebenbei bemerkt: DieEntwicklung zur Installation hat eine ihrer Wurzeln in der Aufgabe,ein Kunstwerk wirksam in Szene zu setzen.

Es ist hier nicht der Ort, eine umfassende Theorie der Inszenierungzu geben, zumal Inszenierungen nicht allein ein Objekt zur Geltungzu bringen haben, sondern auch mit anderen Inszenierungen konkur-rieren. Auch geht es nicht lediglich um die maximale Auffälligkeit,sondern darum, wie der Betrachter sich im geschaffenen Ambientefühlt, ein Aspekt, der beim Wohnzimmerbeispiel mit dem Sofa be-wusst ausgeklammert wurde. Bedarf es eines Blickfangs, um über-haupt jemanden dazu zu bringen, sich der Inszenierung auszusetzen?Der Zugang, die Schwelle, die Sakralisierung des Raums, die unge-

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wöhnliche Beleuchtungssituation, sie spielen eine bedeutsame Rolle,um einzuschüchtern – was durchaus ästhetisch genossen werden kann– oder sich als dominant der Umgebung gegenüber zu erleben. Na-türlich müssen auch formale Überlegungen wie die Symmetrie ange-stellt werden. Es gibt daneben Überinszenierungen, wo wir den ge-triebenen Aufwand als dem Objekt nicht angemessen empfinden,dieses vielleicht fehl am Platze wirkt. Grundsätzlich gilt jedoch auchhier: Züge, die hervorgehoben werden sollen, müssen isoliert werden,je isolierter, desto eher erscheinen sie als etwas Besonderes. Früherhatten Rahmen und Sockel eine solche abgrenzende Funktion zuerfüllen, heute besorgt bereits der Galeriekontext die nötige Isolation.Um besonders die Farbgebung zu behandeln, so gilt auch hier, dasseine Ansammlung gleicher Reize in der Umgebung – das crowding –hilft, bestimme Züge zu verbergen. Starke andere Reize in der Umge-bung – Distraktoren – lenken ab. Geht es um subtile Farbwirkungen,sind starke Kontraste im Umfeld natürlich schädlich. Sollen die Va-leurs hervortreten oder die Texturen, muss die Farbigkeit reduziertwerden. Soll die Wahrnehmung überfordert werden, so muss man ihrviel zu viel oder viel zu wenig zumuten.

Die Aufmerksamkeit kann aber nicht nur durch gewissermaßen reinformale und abstrakte Elemente, sondern auch durch inhaltliche, aufdas Objekt bezogene Kriterien wie einem Bruch der Prototypikalitäterzielt werden. Es gibt Objekte mit typischer Farbigkeit, andere, diein allen möglichen Farben vorkommen. Wird ein Objekt statt mit derzu erwartenden Farbe mit einer anderen versehen, so ist ihm Auf-merksamkeit sicher. Was bei einer Stradivari als unnachahmlicherOrangeton das Entzücken der Kenner hervorruft, würde in einem Bildvon Matisse als eher gedeckte Farbe wirken. Kenner in China warenbereit, für Keramik in einem blassen Grün höchste Beträge zu bezah-len, da die sonstige vergleichbare Keramik nur Schwarztöne aufwies.Es gibt also eine Beurteilung der Auffälligkeit einer Farbe je nachObjektkategorien. Unter Prototypikalität ist zu verstehen, dass wir beibestimmten Objekten und Substanzen Erwartungen hegen, welcheFarbe sie aufweisen oder aufweisen sollten bzw. aus welchem typi-schen Material mit seiner damit gegebenen Farbe es besteht. Sub-stanzen wie Tomatenmark, Schwefel oder Ruß verlieren ihre Identität,wenn sie ihre charakteristische Farbe einbüßen. Bei anderen Objektenwie Autos z. B. wissen wir, dass sie auch in anderen Farben als metal-lic-silbergrau vorkommen können und verwundern uns nicht sonder-lich, wenn dies einmal der Fall ist. Im Gegensatz dazu sind Ziegel inder Regel ziegelrot und, streicht man eine Ziegelwand blau an, so irri-

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tiert uns dies. Natürlich ist die Prototypikalität historisch wandelbar.Wir haben uns daran gewöhnt, dass Holz farbig behandelt wird. Inländlichen skandinavischen Gegenden, wo nur zwei Arten von Haus-bemalung (in ocker oder dunkelrot) verbreitet sind, würde ein grünesHaus Aufsehen erregen, obwohl es sich doch eher in der Vegetationverbirgt. Die beschriebene Prototypikalität ist bei Lebensmitteln wieauch beim menschlichen Körper besonders ausgeprägt. Blaue, grün-blaue und violette Früchte kommen zwar vor, blaue Bananen oderblaugrünes Fleisch sind jedoch zumindest gewöhnungsbedürftig.Wurstsorten ohne rötliche Farbmittel mögen politisch korrekt undgesünder sein, sie sind jedoch beim Verbraucher nur schwer abzuset-zen. Die Unverkäuflichkeit von Bier in blauen Dosen wurde bereitserwähnt, doch wäre immerhin auch vorstellbar, dass in Designerkrei-sen gerade ein solcher Bruch mit der Prototypikalität zelebriert wird.

Die natürlich vorkommenden Varianten in der Hautfarbe, Haarfar-be, der Farbe der Fingernägel, der Lippen, Brauen, Augen, Schleim-häute und Zähne unterliegen engen Grenzen. Durch Kosmetik dieLippen voller und durchbluteter erscheinen zu lassen, das Haar glän-zender und weniger ergraut, sind probate Mittel, jünger und gesün-der auszusehen und seine Attraktivität zu steigern. Die Erfahrung vonJahrtausenden steckt in der Kunst, die Aufmerksamkeit auf die ge-wünschten Züge zu lenken, sie von den weniger attraktiven abzulen-ken, die Hautfarbe zur Geltung zu bringen, rosige Wangen vorzutäu-schen, die Hände durch betonte Fingernägel schmaler und längererscheinen zu lassen, und so fort, was im Übrigen aber nur die Me-chanismen der sexuellen Auslese aufgreift und überformt. SozialeRegeln, die wie immer wandelbar sind, legen fest, was als erlaubtund was als übertrieben gilt, sie tun dies jedoch auf Grundlage biolo-gischer Faktoren. Ein Bruch der Prototypikalität liegt aber vor, wenndie Lippen schwarz oder blau geschminkt werden oder eine blaueoder grüne Hautfarbe gewählt wird. Die alten Britonen färbten dieKörper ihrer Krieger blau, um sie als schreckenerregend und beängsti-gend erscheinen zu lassen. Ebenso wird die Exotik der extraterrestri-schen ›grünen Männchen‹ durch ihre bei Säugetieren undenkbare Pig-mentierung betont. Auf die Idee, Zähne blau oder grün zu färben istmeines Wissens jedoch noch niemand verfallen. Auch bei der Kosme-tik also geht es um die gleichen Fragen, was unterstreicht, was lenktab, vor welchem Hintergrund der Haut sollen sich Brauen, Wimpern,Lippen, Augen oder Haare in Szene setzen.

Die Aufmerksamkeit, die mit einem Bruch der Prototypikalität ein-hergeht, ist den Künstlern natürlich geläufig, obschon wir die Aufre-

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gung, als Matisse einen blauen Akt malte, Le nu bleu von 1907, nichtmehr nachvollziehen können. Nach den Fauves mit ihren grünblauenInkarnattönen wären die sogenannten Anthropometrien von YvesKlein, Abdrücke weiblicher Akte, die mit Ultramarinfarbe bestrichenwaren, hier anzuführen. Natürlich kennen auch die Expressionisteneine gewollte Abweichung von der Prototypikalität, die, wie die zeit-genössischen Kritiken ausweisen, vom Publikum, wie nicht anders zuerwarten, mit Unverständnis aufgenommen wurde. Zweifellos alsogibt es einen Reiz durch den Bruch der Prototypikalität, der sichjedoch rasch erschöpft, wobei in manchen Epochen die Künstlichkeitgegenüber der Natürlichkeit bevorzugt bzw. das Nachgemachte mehrals das Echte goutiert wurde. Das Rokoko war eine solche Kultur, die60er- und 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit ihrer Pop-Kultur und ihren Plastikstühlen von Verner Panton wohl ebenfalls.Heutzutage haben wir eher die gegenteiligen Verhältnisse. Was alsnatürlich auftritt, ist mehr wert, und was seine Materialität offen zurSchau stellt, gilt als ehrlich. Naturmaterialien, ausgewaschene Jeans,ungebleichtes Leinen, ungefärbtes Papier, unbehandelte Holzplattensind ihre Insignien, wenn auch der Höhepunkt dieser Ästhetik, in dernatürlich auch eine politische Aussage steckt, bereits überschrittensein dürfte. Umgekehrt liegt der Fall bei Dachziegeln, die heutzutagein der Regel aus Beton bestehen, der jedoch ziegelrot eingefärbt ist.Hier handelt es sich eher um eine Simulation, die nicht auffallen sollund in der Regel auch nicht auffällt. Paradoxerweise würde ein mitgrauen Betonziegeln eingedecktes Reihenhaus in unseren Vorortsied-lungen nicht Ehrlichkeit, sondern Extravaganz bedeuten. Es geht umden Grad der Anpassung an Konventionen. Die Auffälligkeit, die einstKupferdächer besaßen, sei es wenn sie neu oder bereits mit Grünspanüberzogen waren, kam nur bedeutenden Gebäuden zu.

Vor allem aber gelten soziale Regeln, die erlauben, welchen Gradan Aufmerksamkeit jemand oder etwas auf sich ziehen kann und darf.Die Tatsache, dass in Westeuropa gut 50% der Bevölkerung Blau alsihre Lieblingsfarbe angeben, muss, wie der Kulturhistoriker MichelPastoureau ausführt, eher als eine soziale denn eine ästhetische Aus-sage gewertet werden. In der Tat steht die behauptete Bevorzugungvon Blau im Gegensatz zur Tatsache, dass keine 50% blaue Häuseroder Autos existieren, auch keine 50% blauen Schuhe. Höchstensbeim Siegeszug der Blue Jeans, bei der Arbeitskleidung (vgl. die chi-nesischen ›blauen Ameisen‹) oder den dunkelblauen Herrenanzügenkann von einer Dominanz blauer Stoffe gesprochen werden. Blau darfals ein Ersatzgrau gelten und signalisiert demnach die Aussage: »Ich

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bin mit meiner Position zufrieden, ich ordne mich ein und will nichtmehr Aufmerksamkeit auf mich ziehen, als mir zusteht.« Es handeltsich um eine Variante von ›mehr sein als scheinen.‹ Eine solche An-passung gilt natürlich nur je nach Kontext und unterliegt historischemWandel. Auf Beerdigungen kann man selbst in einem blauen Anzugunerwünschtes Augenmerk auf sich lenken, wohingegen einst auf denTennisplätzen alles außer Weiß verpönt war, während heute dortkeinerlei Farbcodes mehr gelten und allenfalls noch weiße Bestand-teile in der Kleidung üblich sind. Die Fragen lauten also, was mirzusteht, zugestanden wird. Wie viel Aufmerksamkeit darf ich bean-spruchen, will ich beanspruchen, soll oder muss ich heute beim gege-benen Anlass beanspruchen?

Ein Showmaster muss im Mittelpunkt stehen und bei der Arbeitentsprechende Kleidung tragen, ähnlich wie die Primaballerina,gleichfalls darf und soll die Braut beim Hochzeitsfest die Blicke aufsich ziehen und es gilt als höchst unfein, ihr an diesem Tag die Schauzu stehlen. Die Berufskleidung, zu der man auch das Kardinalsrotzählen muss, kann gleichfalls nicht nach Belieben oder momentanerStimmung gewählt werden. Bei der Zugehörigkeit zu einem Corps, beiden Angestellten einer Firma, bei einer Mannschaft, bei Soldaten,Mönchen oder Orchestermitgliedern wird ebenfalls die Freiheit derFarbwahl eingeschränkt. Unsere erfolgreichen Sportler, die ja Werbe-träger ihrer Sponsoren sind, laufen zwangsläufig in Outfits herum, diefrüher Clowns vorbehalten waren. Die Auffälligkeit einer Farbe be-misst sich nicht allein nach ihrer perzeptuellen Sonderstellung, son-dern ebenso daran, wie sehr sie den sozialen Konventionen zuwider-läuft. Das Soziale kann eine Steuerung der Wahrnehmung bewirken,kann Prozesse der selektiven Aufmerksamkeit auslösen.

Die Kenntnis der sozialen Regeln, also dessen, was einst als deco-rum, als bienséance und convenance bezeichnet wurde, gehört na-türlich zum nötigen Beurteilungswissen. Im Deutschen der Goethezeitwurden diese Wörter als ›Schicklichkeit‹, als das, was sich schickt,wiedergegeben. Es gibt auch heute dafür subtile Regeln. Man erinne-re sich, dass bei den farbigen Amateurfotos eine junge Dame denroten Akzent zu setzen hatte. Junge Damen dürfen Aufmerksamkeit ineinem Maße auf sich ziehen, das bei älteren Männern als pfauenhafteEitelkeit kritisiert würde. Weibliche Bekleidung ist heute immer nochbunter als männliche, sie ist dies jedoch erst seit 1800 und mögli-cherweise zeichnet sich sogar gegenwärtig ein Wandel ab. Das Privi-leg, durch auffällige Farbigkeit die Blicke auf sich zu lenken, war vor-her an die Macht, den Rang, also an die gesellschaftliche Stellung

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gekoppelt, weshalb Frauen selten mit den männlichen Prälaten undFürsten konkurrieren konnten. Ein König musste majestätischer ausse-hen als seine Entourage, diese prächtiger als das gemeine Volk. (Ineinem Bild Veroneses in London – Alexander der Große vor den Frauendes besiegten Darius – wird eine solche Verwechslung thematisiert.)Dazu passte, dass kräftige, gesättigte Buntfarben teuer waren undman ihnen schon deshalb eine soziale Aussage entnehmen konnte.Früher gab es Luxusgesetze, dass nur dem Adel das Tragen kostbarerStoffe erlaubt war. Die Kostbarkeit war wiederum abhängig von derVerfügbarkeit der jeweiligen Farbmittel. In der Antike galt Purpur alsdie Majestätsfarbe schlechthin, doch als dieser Farbstoff im Jahre1908 synthetisch hergestellt werden konnte, war ihm kein kommerzi-eller Erfolg beschieden. Inzwischen gab es reinere und leuchtendereFarbmittel im Violettbereich. Noch im 19. Jahrhundert konnte jedochdie Kaiserin von Frankreich Eugénie die Durchsetzung der jeweilsneuesten Farbstoffe in der Garderobe, wie insbesondere das auffälligeMauve, befördern. Sie wurden durch ihr Vorbild, dem diese Form vonAuffälligkeit zustand, als standesgemäß geadelt.

Heutzutage gibt es aber kaum noch Objekte, deren Preis durchihre Farbigkeit bestimmt ist, wenn man davon absieht, dass im Ge-genteil gedeckte, lasierende und wenig farbechte Naturfarben einegewisse Exklusivität signalisieren. Beim Sport, in der Freizeit, im Ur-laub sind dagegen kräftige Buntfarben geboten. Sie stehen für Ge-sundheit, Jugend und den Luxus, nicht arbeiten zu müssen. Allerdingsbedeuten sie, da jeder sie sich leisten kann, kein ehrliches Signalmehr. In Punkkreisen gilt als dezent, was für mittlere Bankangestellteshocking wäre. Die gleiche Auffälligkeit ist in Vorstandsriegen dafürwieder möglich. In diesem Fall lautet die Aussage: »Ich bin unkon-ventionell und kreativ und habe es geschafft, dass ich mir meineExtravaganzen leisten darf.« Gegenüber der Prototypikalität und densozialen Regeln ist das Gerede von den Lieblingsfarben (und derenUntersuchung) ziemlich unerheblich. Was für bestimmte Produkte alstypische Farbe gilt, lässt sich nicht auf andere übertragen.

Dagegen steht die immer noch recht verbreitete Chromophobieder vornehmen Schichten als eine der zu beachtenden sozialen Re-geln. Darunter ist ein freiwilliger Verzicht auf das Mittel, die Auf-merksamkeit durch Farben auf sich zu lenken, zu verstehen. Vielleichtist dieser Verzicht juristisch zum ersten Mal in Venedig zu fassen, alsdie Beschränkung der Farbigkeit der Gondeln auf Silber und Schwarzbeschlossen wurde. Im 17. Jahrhundert setzte sich in den Niederlan-den bei den reichen männlichen Patriziern eine Art schwarze Tracht

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durch, die vermutlich eine mit der calvinistischen Ethik verbundeneForm der Askese zum Ausdruck bringt. Sie war allerdings vorher be-reits am spanischen Hof aufgetreten, dort vielleicht deswegen, weilman den düsteren Monarchen Philipp II., der es liebte, sich inSchwarz zu kleiden, ja nicht übertrumpfen konnte. Aber schon gegenEnde des Mittelalters trugen die Herzöge am burgundischen HofSchwarz und von Ludwig dem Heiligen wird gleichfalls berichtet, dasser nach seiner Rückkehr vom Kreuzzug sich in Dunkelblau oderSchwarz kleidete. Noch heute gibt es viele Bereiche etwa in der Poli-tik oder Diplomatie oder bei vornehmen festlichen Anlässen, wo fürMänner dunkle Anzüge vorgeschrieben sind. Heute ist die schwarzeKleidung das Kennzeichen der Intellektuellen und anderer Gruppen,die für sich eine Sonderrolle in der Gesellschaft beanspruchen. Ähn-lich wie früher die Mönche – vor allem die Franziskaner mit ihrenungefärbten Roben – damit sich gegenüber der Farbenpracht der Rei-chen abgrenzen konnten, grenzen sie sich vom plebejischen Durch-schnittsgeschmack ab.

Die Chromophobie an sich ist nicht schwer zu verstehen und ähnli-che Verhältnisse gibt es im Kulturvergleich nicht selten. Jedes Mittel,die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, hat nämlich etwas von einemWettrüsten an sich. Womit man sich auszeichnet und höheren Statuserlangt, wird nachgeahmt, damit entwertet, perzeptuell ebenso wiesozial, also bedarf es gesteigerter Mittel, die aber wiederum nachge-ahmt werden, usw. Irgendwann ist dann ein Punkt erreicht, wo eineweitere Steigerung unmöglich oder absurd wird. Das von Ernst Hein-rich Weber im 19. Jahrhundert aufgestellte Weber’sche Gesetz, wo-nach Reize umso schlechter auseinanderzuhalten sind, je intensiversie sind, trägt dazu bei. Hat man einen bunten Blumenstrauß, so fällteine weitere hinzugefügte Blüte kaum noch auf. Ein solcher Sättigungs-punkt ist in den Fußgängerzonen oder innerhalb der Werbebeilagenin unseren Printmedien erreicht worden. Die Lösung, die dann oftgefunden wird, besteht darin, wieder zu einem schlichten, einfachenStil zurückzukehren, der allerdings eine neue Stufe der Raffinessebeinhaltet. Die Oberschichten laufen ja nicht Gefahr, mit den wirklichArmen verwechselt zu werden. Sie müssen sich vor allem von dennachdrängenden, als neureich diffamierten Schichten absetzen, undwenn dies nicht durch den offensichtlich betriebenen Aufwandgelingt, dann wird so etwas als schlechter Geschmack diffamiert unddagegen die natürliche Grazie und schlichte Eleganz als Prärogativedes wahren Adels gefeiert. Damit dieser freiwillige Verzicht auffällt,bedarf es allerdings einer ostentativen, verschwenderischen Leere.

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Man kann argumentieren, dass im Bereich der Farbe ein solcherPunkt schon öfter erreicht wurde, etwa wenn Vasari gegen die kolo-ristischen Reize der venezianischen Maler polemisiert, deren Leistungnur darin bestünde, am Rialto schöne exotische Farbmittel zu kaufen.In diesem Sinn hatte bereits Alberti gegen den exzessiven Gebrauchvon Gold und Ultramarin in den Altarbildern, die lediglich den Reich-tum des Auftraggebers erweisen würden, das Können des Malers aus-gespielt. Er greift damit aber nur einen topos auf, den schon das Mit-telalter kannte und der bereits in der Antike verbreitet war: ars auroprior – höher als der materielle Wert des Goldes steht die Kunstfertig-keit. In diesem Sinn schreibt etwa Plinius der Ältere: »Jetzt, wo derPurpur seinen Weg auch auf die Wände gefunden hat und Indien denSchlamm seiner Flüsse, das Blut der Drachen und Elefanten zur Verfü-gung stellt, ist die edle Malerei verschwunden. Alles ist demnachdamals besser gewesen, als man weniger Mittel hatte. Der Grund ist,dass man, wie gesagt, um den Wert des Materials, nicht um den desGeistes bemüht ist.«3

Dies betrifft zwar die Malerei, wo alles in allem die Chromopho-bie sich nicht sonderlich durchsetzen konnte, doch bei der Kleidungund beim Wohnen haben immer wieder puritanische Sorgfalt, raffi-nierte Schlichtheit, minimalistische Eleganz oder klassizistische Stren-ge als Kennzeichen des guten Geschmacks gedient. Das Bauhausbedeutet nur eine unter vielen derartigen Reformbewegungen. Esscheint allerdings, dass die Zurückhaltung in der Farbigkeit heutzuta-ge eher die Mittelschichten erreicht hat, während unsere Prominen-ten und Stars davon abgerückt sind. Die besonders um die Mitte desletzten Jahrhunderts beliebten, aber auch noch heute verbreitetenbetulichen Ratgeber, um Hausfrauen bei der farbigen Gestaltung ihrerWohnzimmer oder der Auswahl ihrer Garderobe zur Hand zu gehen,wo Gesetze einer Harmonie der Farben postuliert werden, verdankenihren Erfolg meist dem sozialen Tatbestand, dass die unsichere Klien-tel befürchtet, als neureich und geschmacklos abgestempelt zu wer-den. Was alle wollen, ist eine zurückhaltende, vornehme Farbigkeit,die aber doch als gewollt, als erlesen erscheint. Nicht die Anonymitätder grauen Maus wird angestrebt, auch nicht die Auffälligkeit auf denersten Blick, sondern dass sich die gekonnte, exquisite Raffinesse desArrangements erst auf den zweiten Blick und vielleicht sogar nur fürdie Kenner entfaltet. Die Figur des Dandys, der seine Vornehmheitdurch Geschmack und Stil beweist, ist hier ausschlaggebend. DerDandy war im 19. Jahrhundert aufgekommen als Antwort auf dasProblem, einerseits auf die entstehende Massengesellschaft zu reagie-

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ren und andererseits einen Ersatz für die Erosion der Standesregelnder feudalen Gesellschaft zu bieten. Es geht also darum, wie man sichtrotz penibler Einhaltung der sozialen Regeln auszeichnet. Wie wirddies erzielt?

Die ostentative verschwenderische Leere wurde bereits erwähnt.Die vornehme Zurückhaltung muss gleichwohl bemerkt werden. Dasbringt einen Größenfaktor ins Spiel. Die Werbung für Nobelkarossen,wo eine zweiseitige fast monochrom gehaltene Anzeige mit minima-lem Text oder Bildern geschaltet ist, führt das Prinzip vor. Angesichtsder Leere haben dann Elemente wie die Texturen eine Chance aufAuffälligkeit, die sonst überdeckt würden. Das Material, dem derKenner ansieht, wie besonders und wie teuer es ist, tritt dann zu-meist an die Stelle leuchtender Farben. Wie erwähnt, gibt es manch-mal auch eine Verlagerung auf bestimmte Objektkategorien, beidenen ebenfalls Kennerschaft zur Beurteilung der Seltenheit einer be-stimmten Kombination von Farbe mit Textur erforderlich ist. Manch-mal wie zur Zeit des Rokoko führt dies sogar dazu, die raffinierteKünstlichkeit in der Nachahmung von Materialien, was meist teurerkam als beispielsweise wirklichen Marmor zu verwenden, zum Erken-nungszeichen des Geschmacks zu erheben.

Solche Regeln signalisieren Distanz, eine Welt, aus der ›Krethi undPlethi‹ ausgeschlossen sind. Exquisiter Luxus liegt deshalb paradoxer-weise mehr an der sichtbaren Übereinstimmung mit der Form. DieTexturen, Gliederungen, der Rahmen, die Materialien, sie brauchenRaum, sich zu entfalten, und die vorgeführte Ordnung muss als natür-lich und selbstverständlich erscheinen. Die Kunst, die Kunst zu ver-hüllen – ars celare artem – besteht darin, die Aufmerksamkeit trotzzurückhaltender Farbigkeit richtig zu lenken. Was gleich ist, solltegleich, was unterschiedlich ist, unterschiedlich aussehen, doch was alsgleich oder verschieden zu behandeln ist, bedeutet häufig eine nurmit viel Einübung zu erlernende soziale Kategorie.

Ein völlig anders geartetes, fast entgegengesetztes Mittel, trotz all-gemeiner Buntheit im Umfeld noch eine gewisse perzeptuelle Auf-merksamkeit zu erzielen, muss noch erwähnt werden, nämlich dieKombination zweier Farben in Streifen. Zum Mittel der Kombinationzweier Farben (mit oder ohne Streifen) wird bereits gegriffen, wenndie Anzahl der zu unterscheidenden Elemente höher ist als die zurVerfügung stehenden, einigermaßen sicher zu trennenden Farb-Kate-gorien. Beispiele wären die Ikonografie der Heiligen oder auch derComic-Figuren, die Trikots von Fußballmannschaften, die Firmenlogos,die U-Bahnlinien und natürlich die Fahnen. Wenn das knappe Dut-

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zend deutlich zu unterscheidender Farben vergeben ist, braucht manZusammenstellungen wie Schwarz-Rot-Gold (Deutschland), Weiß-Blau(Bayern) im Bereich von Ländern, Weiß und Rot (Christus), Blau undRot (Maria), Gelb und Blau (Petrus) bei Heiligen bzw. Grün und Weiß,Weiß und Blau für Fußballvereine etc. Dieses Mittel allein sorgt nochnicht für größere Auffälligkeit, wenn auch die Integrität eines einheit-lichen Objekts verloren geht. Werden jedoch zwei unterschiedlicheFarben in Streifen angeordnet, so kommt es je nach Breite dieserStreifen zu einer Irritation, die besondere Aufmerksamkeit erheischt.Bei Schranken, Zebrastreifen, Markisen, einst bei der Sträflingskleidungund der Kleidung von Domestiken verwendet, heute vielleicht beiSportlern – aber auch bei gefärbten Haarsträhnen wird dieses Mittelgern eingesetzt. Einerseits ist damit eine Aufhebung der Objektgren-zen verbunden, denn die Integrität einer Oberfläche wird verletzt. Beider Mimikry, z. B. den Streifen des Tigers, geht es ja darum, dieObjektgrenzen zu überspielen. Deshalb sehen wir genauer hin, wenndas gestreifte Objekt sich vor einheitlichem Grund befindet. Streifenschaffen deshalb auch eine Unklarheit über Lage und Charakter einerOberfläche. Ist das ein rotes Objekt hinter schwarzen Ästen oder einschwarzes hinter roten? Insbesondere die bei Bienen, Wespen undanderen Tieren häufigen gelb-schwarzen Streifen sorgen für maximaleAuffälligkeit.

Die von Streifen ausgehende Irritation hängt – neben den gewähl-ten Ausgangsfarben – davon ab, ob sie breit genug sind, um im Sinnedes Simultankontrastes sich voneinander abzusetzen oder im Gegen-teil im Sinne des Bezold’schen Ausbreitungseffektes sich einanderangleichen. Sie ist am stärksten in einem Bereich, wo die Wahrneh-mung zwischen beiden Optionen schwankt und sie deshalb einer spe-ziellen Überforderung ausgesetzt ist. Ob Kontrast oder Assimilationhängt von der Größe des Musters bzw. vom Abstand des Betrachtersab. Gestreifte Stoffe signalisieren Besonderheit, Auffälligkeit, auch imSozialen. Ein Künstler wie Daniel Buren hat, indem er mit Streifenauszeichnet, rahmt, hervorhebt, daraus eine künstlerische Strategieentwickelt.

Das führt zu einem wichtigen Punkt, der bislang nicht zur Sprachekam, nämlich die Größe des Ausschnitts, in dem die Auffälligkeit oderUnauffälligkeit einer Farbe beurteilt wird. Nahsichtig kann ein Sofamit schmalen rot-grauen Streifen eine gewisse Auffälligkeit haben, diein größerem Abstand verloren geht, wo nur noch ein gedeckter Rot-ton zu erkennen ist. Ähnliches gilt natürlich für eigentlich jedes Ob-jekt. Ein Haus mag für sich zurückhaltend in der Farbigkeit sein; in

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der einheitlich im klassizistischen Gelb gehaltenen Straße, in der essteht, jedoch herausfallen. Diese selbst kann im Stadtviertel als Unge-wöhnlichkeit empfunden werden etc. Solche Beurteilungen erfordernaber das Gedächtnis.

Näher noch der in einem Blick erfahrbaren eigentlichen Wahrneh-mung und auch wichtiger sind die Orts- oder Raumfrequenzen. UnterOrtsfrequenz ist die Zahl der hellen und dunklen Streifen pro Sehwin-kel zu verstehen. Mathematisch gesehen kann jedes Muster als Über-lagerung verschiedener Ortsfrequenzen dargestellt werden und mannimmt an, dass die Wahrnehmung eine ähnliche Operation bei derAnalyse der gesehenen Muster vollzieht. Die Details brauchen hiernicht zu interessieren, doch liegt dem die Tatsache zugrunde, dasssowohl feine, detailreiche Kontraste als auch summarische Informati-on von der Wahrnehmung genutzt werden. Eine zu feine, detailreicheRegistrierung von Luminanzkontrasten könnte Wichtigeres – z. B. Ob-jektgrenzen – außer Acht lassen. Für eine rasche, grobe Orientierungreicht eine niedrige Ortsfrequenz (breite Streifen mit großem Abstand).Es gibt deshalb Zellenverbände, die auf niedere, mittlere oder hoheOrtsfrequenzen ansprechen. Die summarischen, niedrigen Raum- oderOrtsfrequenzen werden wohl vom Magno-System registriert, dasrasch reagiert und für Bewegung besonders sensibel ist. Ihm obliegtdemnach die erste Orientierung. Die Entschlüsselung von Feinheitenkann länger warten. Wenn wir zwei Fotos übereinander kopieren, dieeine Szene einmal mit sehr niedriger Raumfrequenz (durch einenlowpass-Filter), das andere mal mit sehr hoher Ortsfrequenz (durcheinen highpass-Filter) wiedergeben, so ergibt diese Kombination be-reits ein für uns recht zufriedenstellendes, realistisches Bild.

Kunstwerke des 17. Jahrhunderts etwa im Stile von Rembrandthaben diesen Effekt einer die einzelnen Objekte ebenso wie dasganze Bild übergreifenden summarischen Hell-Dunkel-Giederung inVerbindung mit einer an manchen Stellen feinen Zeichnung gerngenutzt. Im Sprachgebrauch der Künstler hat sich für eine solchesummarische Verteilung der hellen und dunklen Zonen in einem Bildtatsächlich das Wort ›Effekt‹ eingebürgert. Ihn musste man jedenfallsbei der Landschaftsmalerei rasch und spontan erfassen und skizzierenkönnen, wonach man dann in Ruhe die Details hinzufügen konnte.Kompositionell gelungene Hell-Dunkel-Ordnungen wurden in denAkademien analysiert, studiert und eingeübt. Sie gingen der gegen-ständlichen Interpretation der Szene voraus. Die grobe, summarischeGliederung, wie sie auch für das periphere Sehen jenseits der Foveatypisch ist, betrifft aber nicht nur Helligkeits- oder Luminanzunter-

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schiede. Einmal hat sich in der Malerei rasch, d. h. etwa um 1800,eine farbige Interpretation der ›Effekte‹ durchgesetzt, sodass dieSchattenzone beispielsweise eher bläulich, die Lichter eher gelblichgestaltet wurden, wofür William Turner ein Beispiel gibt, zum ande-ren ist das Auflösungsvermögen der Farbwahrnehmung geringer alsdas der detailreichen Formwahrnehmung, sodass die Ortsfrequenz beiFarben und dort insbesondere bei Blau niedriger ausfällt. Diese Diffe-renz, dass wir gleichzeitig im Zentrum des Blickes farblose Formenund in der Peripherie farbige Schleier sehen, wurde und wird bei im-pressionistischen und neoimpressionistischen Bildern, aber auch beiBridget Riley oder manchen Werken der Op-Art künstlerisch genutzt.Grenzen, die bei verschiedenen Ortsfrequenzen oder FeinheitsgradenBestand haben, werden von der Wahrnehmung privilegiert, was esumgekehrt erlaubt, Irritationen zu erzeugen, wenn sie bei unter-schiedlichen Ortsfrequenzen unterschiedlich behandelt werden. Jenach Maßstab also sind unterschiedliche Teile der Wahrnehmungbeschäftigt. Aus Adaptionsversuchen weiß man ebenfalls, dass dieAnpassung an horizontale Streifen kaum Auswirkung hat auf vertikaleoder diagonale Streifen oder dass eine Adaption an breite Streifennicht mit der Wahrnehmung schmaler Streifen interferiert.

Wie bereits ausgeführt, variiert die Sensibilität für Unterschiede dereinzelnen Rezeptorzellen resp. Verbände ebenso wie die Größe derrezeptiven Felder, für die solche Änderungen registriert werden. Diesevon unterschiedlichen Zellen und ihren Netzwerken erfassten Unter-schiede werden angesichts der retinotopen Ordnung nicht verschmol-zen, sondern getrennt verarbeitet. Außerdem gibt es ja verschiedeneKarten im Gehirn mit verschieden starker Auflösung, d. h. verschie-den großen rezeptiven Feldern. Eine Abstraktion von der Ortsfre-quenz, grob gesagt der Größe von Reizen, ist beispielsweise nötig, umObjekte zu kategorisieren.

Bestimmte Effekte wie der Craik-O’Brien-Effekt, d. h. die für dieWahrnehmung gleichmäßige Einfärbung einer geschlossenen Flächevon den Grenzen her, sind offenbar hier anzusiedeln. Die Wahrneh-mung muss unterscheiden zwischen Konturen, die eine Fläche be-grenzen, und solchen, die vernachlässigt werden können oder eineBinnengliederung markieren. Die an den Grenzen vorhandene Farbin-formation wird im ersteren Falle auf die ganze so gebildete Flächeausgedehnt. Für die Wahrnehmung genügt also manchmal ein konsi-stenter Intensitätswechsel an (geschlossenen) Grenzen, um eine sobestimmte Fläche gleichmäßig zu färben. Der Gesichtssinn füllt dieGebiete aus und richtet sich dabei nach dem, was er an der Grenzli-

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nie beobachtet. Seurats Bilder verwenden gerne eine Art farblichesAnalogon zum Craik-O’Brien-Effekt. Es gibt Beobachtungen an hirn-verletzten Personen, denen die Verknüpfung von Farb- und Objekt-wahrnehmung abhanden gekommen ist. Diese Patienten berichten,dass eine Farbe sich über ihr gesamtes Gesichtsfeld ausbreitet und siewie durch eine farbige Flüssigkeit oder einen transparenten, gefärbtenNebel hindurch den Raum und die einzelnen Objekte in ihm erfassenmüssen. So berichtet der Neurologe MacDonald Critchley (1900–1997)von Patienten, die jedes Objekt als rot oder gelb sehen und solche,für die Farben über die Objektgrenzen treten, z. B. Haut die Farbe derKleidung annimmt. Die Unfähigkeit, eine kohärente Objektgrenze zubilden, scheint dafür ursächlich zu sein. Der v. Bezold’sche Ausbrei-tungseffekt ist damit wohl verwandt, denn chromatische Reize erlau-ben nur schwache räumliche Auflösung, da die farbsensitiven Gang-lionzellen oder Modulatoren niedrigere Raumfrequenzen aufweisen.4

Anmerkungen:

1 Zu Camouflage vgl. auch Purves/Lotto, a. a. O., S. 231.

2 Vgl. Swetlana Vogt, Farbwörter im Gehirn: Eine systematische sprachwissenschaft-

liche Untersuchung, Diss. Duisburg 2004, wo auf J. Barnes, Tucano, in: R. M. W.

Dixon und A. Y. Aikhenvald, Amazonian Languages, Cambridge 1999 verwiesen

wird.

3 Vgl. C. Plinius, Secundus d. Ä., Naturkunde, Buch XXXV, hrsg. und übersetzt von

Roderich König, Zürich, Düsseldorf, 2., überarbeitete Aufl. 1997, S. 47ff.

4 Zur Craik-O’Brien-Illusion vgl.: Ein Blick ins Licht, David S. Falk u. a. (Hrsg.), Ber-

lin u. a. 1990, S. 200.

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Showing pink –

Zur Biologie der Farbe Rosa

»He who understands baboon would do more towards metaphysicsthan Locke.« (Charles Darwin, Notebook M, 16. August 1838)

Die Biologie ist die Leitwissenschaft unserer Zeit und das führt dazu,dass auch im Bereich der Farbforschung neue Fragen gestellt undmanchmal für alte Fragen neue Antworten gefunden werden. Eine derneuen Fragen geht dahin, was eigentlich der biologische Sinn dermenschlichen Farbwahrnehmung ist. Offenbar hilft sie uns, sinnvolleUnterscheidungen zu treffen, und diese müssen letztlich zu Handlun-gen führen, die zumindest unseren Vorfahren in ihrem Habitat gewis-se Vorteile verschafft haben. Unter den Säugetieren teilen wir dietrichromatische Farbwahrnehmung nur mit den meisten Altwelt-Affenund Menschenaffen, während Hund, Katze, Pferd, Schwein, Maus etc.lediglich über ein dichromatisches oder gar kein Farbwahrnehmungs-vermögen verfügen. Viele Fische, die meisten Vögel und auch mancheInsekten können gleichfalls Farben unterscheiden, aber ihr Farbense-hen weicht zum Teil erheblich von dem der Menschen ab. So sindVögel nicht selten Tetrachromaten und können auch im uv-BereichFarben wahrnehmen. Das Farbensehen steht in enger Verbindung mitder von einer Tierart jeweils besetzten ökologischen Nische.1 Bei denAffen und Menschenaffen geht man davon aus, dass unser entwickel-tes trichromatisches Farbensehen es vor allem erleichtert, reife Früch-te in einer Umgebung wie den Baumkronen zu finden. Obwohl esdort erhebliche Unterschiede im Hell-Dunkel-Bereich gibt und eineVielfalt an Formen, stechen für unsere Wahrnehmung die rötlichenFrüchte heraus und sie verraten durch ihre Färbung auch ihren Reife-grad. Das erklärt vielleicht, weshalb wir im Rot-Grün-Bereich so feineUnterschiede wahrnehmen können und weshalb Rot so sehr unsereAufmerksamkeit weckt.

Wie steht es nun mit Rosa? Die Anthropologen sind, den Untersu-chungen der Ethnolinguisten Brent Berlin und Paul Kay folgend, derMeinung, dass es elf fokale Bereiche im menschlichen Farbraum gibtund wir kulturübergreifend dazu tendieren, für genau diese elf Berei-che ein grundlegendes Farbwort auszubilden. Auch die Reihenfolge,in der diese Farbwörter sich entwickeln, erscheint alles andere als

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zufällig. Nun gehört Rosa zu den elf grundlegenden Farbwörtern bzw.privilegierten Orten im Farbraum. Alle Sprachen, welche die erwähnteSequenz abgeschlossen haben, kennen ein Wort für Rosa, auch dasJapanische, Chinesische und die europäischen Sprachen.

Die Bezeichnung ›rosa‹ hat das Deutsche, wie die meisten europäi-schen Sprachen, aus dem Lateinischen übernommen, wo roseus›rosenfarben‹, d. h. die Farbe der Rose bedeutet. Diese ursprünglichwohl aus Asien stammende Zierpflanze spielte bereits in Ägypten einebedeutende Rolle, wo sie das Symbol der Regeneration bildete.Homer kennt das Adjektiv rhododactylos (= rosenfingrig), welches, aufdie Morgenröte angewandt, noch immer als Ausweis gymnasialer Bil-dung dient. Die Insel Rhodos (d. h. Roseninsel) galt den Griechen alsOrt von Initiationsriten. Auch die jeweiligen Äquivalente für Rosa inanderen Sprachen sind in der Regel von Blütenfarben abgeleitet. Dasim Angelsächsischen geläufige pink bezieht sich auf die Nelke undhäufig können Bezeichnungen wie ›pfirsichblüte‹, ›kirschblüte‹ etc.rosa vertreten. Interessant in diesem Zusammenhang sind mythischeErzählungen zur Entstehungsgeschichte der Färbung der Rose. So lässtder seinerzeit viel gelesene Idyllendichter und Kupferstecher SalomonGeßner (1730–1788) in seinen von der Antike inspirierten Nachdich-tungen den Gott Bacchus erzählen, wie er eine schöne Nymphe aufder Flucht vor ihm nur mithilfe eines Dornbusches aufhalten kann. Alsder Gott sich ihr zu erkennen gibt, errötet die Nymphe lieblich.Bacchus berührt den Dornbusch zum Dank mit seinem Stab undgebietet ihm, sich mit Blüten zu bedecken, deren Farbe die schamhaf-te Röte auf den Wangen der Nymphe nachahmt.2 In der Tat trägteine Reihe beliebter Rosensorten die Bezeichnung blushing rose. Esgibt also eine Beziehung zwischen der Farbe der Rose und dem Errö-ten einer jungen attraktiven Frau angesichts männlicher sexuellerAvancen. Dazu passt, dass das Wort ›Nymphe‹ im Griechischen so-wohl die Rosenknospe als auch die Braut bezeichnete. Damit sindeigentlich schon alle Ingredienzien genannt, die im Bedeutungsfeldvon Rosa eine Rolle spielen.

Die Rose, in der anagrammatisch das Wort ›Eros‹ steckt, woraufMarcel Duchamp bei seinem Pseudonym Rrose Selavy (= Eros, c’est lavie) anspielt, liefert nicht nur einen in vielen Sprachen beliebtenweiblichen Vornamen, der auch in Abwandlungen wie Rosamunde (=rosenfarbiger Mund) oder Rosemarie (= Rose Mariens) verbreitet ist,sie begegnet stets in erotischen Zusammenhängen. Rosen bilden dasAttribut der Venus, deren Priesterinnen Rosen im Haar tragen undselbstverständlich kann der Liebesgarten ihrer nicht entbehren. Noch

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Gustav Klimts Umarmung im Schlussbild seines Beethovenfrieses sie-delt das Paar in einem Rosengarten an. Auch in der christlichen Um-wandlung der antiken Mythen, wo die Rose zum Symbol der JungfrauMaria geworden ist, die gern im Rosenhag sitzend dargestellt wird,gibt es kein Paradiesgärtlein ohne Rosen. Halten wir vorläufig fest,dass Paradies und Sexualität, Jugend, Weiblichkeit, Erotik, auch Jung-fräulichkeit und Unschuld (›Mädchenblüte‹) zusammen mit Rosen undRosa auftreten. Dass die Rose nicht selten auch im Totenkult auf-taucht, widerspricht dem nicht, denn hier finden, abgesehen von dertröstlichen Wirkung einer Anspielung auf die Regenerationsfähigkeitder Natur, schöne, aber kurzlebige Objekte wie Schnittblumen geradeals Grabbeigaben vielfach Verwendung. Sie können als eine Art Opferangesehen werden. Die römische Zeremonie, bei der Rosen auf einGrab gestreut werden, hieß übrigens Rosalia.

Warum ist nun Rosa für uns Menschen so wichtig? Warum genügtes nicht, hellrot oder blassrot zu sagen? Die Farbe ist im Regenbogennicht enthalten, auch nicht in den üblichen Farbkreisen und es fälltschwer, in der natürlichen Umgebung unserer Vorfahren rosa Objektezu finden, die für sie biologische Bedeutung besaßen. Dass wir rosa-farbene Blüten schön finden und häufig sogar deswegen züchten,liegt bereits an ihrer Farbe und kann nicht ursächlich erklären, wes-halb gerade diese Farbe für uns so bedeutsam ist. Immerhin stehtRosa in einem besonders starken Kontrast zu Grün und fällt auchwegen seiner Seltenheit in einer natürlichen Umgebung sehr starkauf. Um purpurn zu erscheinen, müssen Farbstoffe einen ganz engenBereich des Lichts absorbieren und den Rest reflektieren, weshalb sierecht selten sind und entsprechend kostbar. Zumindest in seinenbläulicheren Spielarten erfüllt Rosa damit die Bedingungen der Präg-nanz und eignet sich als Signal, als Auslöser von Instinktverhalten.Was nun bei Affen und Menschenaffen eine rosa Färbung aufweist,sind die Schleimhäute, also Lippen, Mundinneres, die Genitalien,auch die Brustwarzen. Sie bieten, zumindest bei vielen Affen, starkesexuelle Reize. Bei Pavianen, bei Bonobos und vielen anderen Affenwird die sexuelle Bereitschaft durch die Färbung der Hinterteile bzw.Sexualorgane, bei Schneeaffen auch durch das leuchtend rosaroteGesicht signalisiert (Abb. 14). Es wäre interessant zu untersuchen, obdie Sonderrolle von Rosa auch in der Farbwahrnehmung anderer Pri-maten nachweisbar ist. Der Einsatz von Farben im Dienste der sexuel-len Attraktivität ist in der Natur sehr verbreitet, man denke an denHahnenkamm oder das bunte Gefieder vieler Vögel. Auch die Flamin-gos nutzen übrigens Rosa zur Steigerung ihrer sexuellen Attraktivität.

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Sie zeigen damit, dass siegesund und gut genährtsind. Flamingoweibchenwürden sich nicht miteinem farblosen Männchenpaaren.

Beim homo sapiens istdie weibliche Vagina aller-dings nur selten sichtbarund im Gegensatz zu Affenverbergen die Menschender weiblichen Sorte denÖstrus, d. h. die Zeit ihrerEmpfangsbereitschaft.Gleichwohl kennen wir den

Euphemismus der pink parts für die Genitalien und zumindest inpornografischen Zusammenhängen spielen die gut durchblutetenrosafarbenen Schamlippen eine große Rolle. Der im Internetgebräuchliche Ausdruck showing pink, um Aktfotos zu bezeichnen, indenen die weiblichen Modelle Einblick in ihren Genitalbereichgewähren, weist auf den gemeinten Zusammenhang hin. Die altehr-würdige Symbolik der Rose, wo in vielen Kulturen ebenfalls das Wort›Rose‹ für das weibliche Genital stehen kann, ist damit vergleichbar.Nicht nur die im Mittelalter verbreitete durchsichtige Metaphorik,wonach die Frau eine Blume ist, die gepflückt werden will, woraufnoch Goethes Gedicht Heideröslein anspielt, stellt einen Zusammen-hang zwischen rosenfarben und der Vagina her. Auch beim Märchenvom Dornröschen geht es um eine Initiation. Die Farbe Rosa kanndemnach als eine Art natürliches Symbol angesehen werden im SinneGoethes. Seine Definition des Symbols sei deshalb hier in Erinnerunggebracht: »Es ist die Sache, ohne die Sache zu sein, und doch dieSache; ein im geistigen Spiegel zusammengezogenes Bild, und dochmit dem Gegenstand identisch.«3 Das Motiv der Verhüllung, wo gera-de die Verhüllung das Verhüllte recht eigentlich erscheinen lässt, wiees von Freud so meisterhaft analysiert wurde, wird durch die zahllo-sen rosafarbenen Tücher bestätigt, mit denen weibliche Akte sichschamhaft verdecken.

Vor allem aber kennen Menschen kein fest programmiertes In-stinktverhalten mehr. Dennoch reagieren wir noch auf die ursprüngli-chen Signale zumindest rudimentär. Sie vermögen es, uns in einenleicht entrückten Zustand zu versetzen, der uns desorientiert, wobei

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Abb. 14: Rosa gefärbtes Hinterteil bei Bonobo-

Weibchen

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wohl auch bestimmte Hormone wie Oxytocin ausgeschüttet werden.Im Falle von Rosa führt dies zu Zuständen von Intimität, Nähe, Zärt-lichkeit, Friede, Glück, also einer milden Form von Berauschtheit.Selbst die Feier der Kirschblüte in Japan kann im gleichen Zusammen-hang angeführt werden (Abb. 15). Sex entwaffnet. Beim Sex sind wirwie die meisten Lebewesen relativ wehrlos. So gut wie alle Paradies-darstellungen kommen daher nicht ohne das Syndrom von jugendli-cher Weiblichkeit, Nähe, Rosen aus. Kennzeichnend für sie ist diesystematische Ausklammerung aller Elemente, die Wachsamkeit undGefahrenabwehr bedeuten.

Dass wir Menschen kein eigentliches Instinktverhaltenmehr kennenund dass das primäre Ziel der sexuellen Vereinigung nur indirekt an-gesteuert wird, bedeutet nicht, dass die Farbe Rosa ihre diesbezügli-che Bedeutung verloren hätte. Schon im biologischen Bereich gibt esnämlich eine Verlagerung auf die sekundären Geschlechtsmerkmaleund da vor allem auf die Lippen. Gut durchblutete, pralle Lippen ste-hen auch bei uns für Gesundheit, Jugend, sexuelle Reife und derglei-chen. Sie bilden nach Meinung der Verhaltensbiologen die weiblichenLabien nach. Kein Wunder also, wenn Frauen seit alters mit kosmeti-schen Mitteln dem Aussehen der Lippen nachzuhelfen gelernt haben.(Übrigens verfärben sich die weiblichen Schamlippen bei sexuellerErregung, und zwar eher rosa bei Frauen, die noch keine Kinder aus-getragen haben, und eher ins Violette gehend bei den anderen.) DieFarbe der Lippen erscheint in der Regel weniger rot als rosa und ent-sprechend wurden sie in unzähligen Gedichten mit Rosen in Verbin-dung gebracht.

Es scheint, dass die herausragende Stelle, die Rosa im menschli-chen internen Farbraum einnimmt, auf stammesgeschichtlich ältereStrukturen zurückgeht als die erwähnte Sonderentwicklung beimMenschen, wonach die Phase der Empfangsbereitschaft der Fraukaum noch äußerlich zu erkennen ist. Was einst ein direktes sexuellesSignal darstellte, ist bei unserer Art nunmehr zu einem sekundärenZeichen gewandelt. Gleichwohl fällt auf, wie sehr die Farbe Rosa ineinem Bedeutungsfeld angesiedelt ist, das um Vorgänge der Frucht-barkeit und Prokreation zentriert ist. Dazu zählen auch Intimität, Ver-schwiegenheit und Privatheit. Bei den Römern hieß sub rosa unterdem Siegel der Verschwiegenheit.4 Dem Mythos nach offeriert Cupi-do dem Gott des Schweigens Harpokrates eine Rose, damit dieser dieLiebschaften der Venus diskret verheimliche. Auch dass, wie im Zu-sammenhang mit der Insel Rhodos angedeutet, die Mysterien derInitiation gern mit den Symbolen von Rosa und Rosen verknüpft sind,

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kann damit verglichen werden. Beim Sex sind Menschen, wie wohldie meisten Lebewesen, gegenüber ihrer Umgebung wenig wachsam.Das bringt es mit sich, dass Sex in der Regel heimlich und in einersicheren Umgebung gesucht wird. Aber auch die überzeugten Anhän-ger Luthers, für den ja die Ehe eine Lebensnotwendigkeit darstellte,erlauben ehelichen Geschlechtsverkehr nicht nur, um Kinder zu zeu-gen, sondern auch als Liebesbeweis, um »Unzucht zu vermeiden«

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Abbildung 15: Feier der Kirschblüte in Japan, Ueno-Park, Tokyo

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oder um »Kummer und Trauer zu lindern«. Die Entgegensetzung vonGewalt und Sex, wie sie im Slogan ›make love not war‹ ausgedrücktist, findet sich auch als beliebtes Bildthema der abendländischenMalerei. Der Bildvorwurf Venus entwaffnet Mars, wie er im 17. Jahr-hundert so oft dargestellt wird, gibt den Malern Gelegenheit, die mitder intimen, weiblichen Sphäre konnotierte Erotik der kriegerischenWelt der Männer entgegenzusetzen. Rosa, Rosen, Sinnlichkeit, Näheund gerötete weibliche Haut bilden dabei geradezu verpflichtendeGestaltungsmittel für den Bereich der Venus. Rosa stimmt nichtaggressiv, sondern wird als Beschwichtigung und zur Besänftigungeingesetzt.

Die an Bahnhofsbuchhandlungen zu erwerbenden Frauenromane inHeftform kennen eine ausgeprägte Farbikonografie. Ein unausge-sprochener, aber wirksamer Code signalisiert den Kundinnen den zuerwartenden Inhalt. Gold weist auf historische Romane im Adelsmi-lieu hin, Blau auf die sachliche Welt moderner Frauen in der Gegen-wart. Was die Explizitheit der Erotik angeht, steht Grün für soft, Rosafür romantische Liebe und Knallrosa oder Magenta für geradezu por-nografische Darstellungen. In Frankreich kannte man seit dem 18.Jahrhundert auch die Bezeichnung cuisse de nymphe émue (= Schenkeleiner erregten Nymphe) für eine wohl der Magenta verwandte Maler-farbe, was die Verbindung mit sexueller Erregung und Rosa/Pink/Malve/Purpur/Magenta unterstreicht.5 Rosa unterhält jedenfalls Bezie-hungen nicht nur zu Weiß und Rot, sondern auch zu Magenta/Purpurund sogar zu Lila/Violett. Das eben Ausgeführte widerspricht jedochkeineswegs der Tatsache, eher im Gegenteil, dass Rosa am menschli-chen Körper auftritt, der grundsätzlich keine blauen Pigmente auf-weist. Wie schon Goethe beschrieb, erscheint eine trübe transluzenteHelligkeit vor dunklem Grund häufig als bläulich. So wird Blut, dasdurch die Haut durchschimmert, ins Bläuliche hin verfärbt, was dieRede vom vornehmen ›blauen Blut‹ erklärbar macht. Ähnliches liegtden Hämatomen oder ›blauen Flecken‹ zu Grunde, aber auch denblauen Augen bei Menschen mit schwacher Pigmentierung. Die rosaWangen erscheinen daher nicht selten leicht bläulich, was im 18.Jahrhundert von Malern wie Boucher oder Nattier gebührend unter-strichen wurde. Die gleichzeitigen Porträts adeliger englischer Damenzelebrieren ebenfalls ein kühles Rosa, um zwischen Vornehmheit undjugendlich frischer Erotik zu vermitteln. Dass Rosa als die Fleischfarbegilt, als die Farbe des Inkarnats, muss demnach differenziert werden.Nicht die Hautfarbe an sich, sondern nur die gut durchblutete Hautan den Stellen, wo diese Durchblutung für andere sichtbar wird, weist

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rosa Färbung auf. Nun weisen aber die gleichen geröteten Stellen inder Regel starke sexuelle Bezüge auf. Der als Inkarnat bezeichneteFarbton ähnelt an sich eigentlich keiner der Varianten menschlicherHautfarbe, sondern steht für diese Partien und damit indirekt für Erre-gung, Wallung oder Entbrennen. Der bereits erwähnte Maler J. I., derals Folge eines Autounfalls unter cerebraler Achromatopsie litt, be-schreibt, dass er erhebliche Probleme hatte, die ihm mausgrau er-scheinende weibliche Haut nicht abstoßend zu finden.6

Natürlich lässt sich Rosa nicht auf die Bedeutung des weiblichenGenitals einengen, ebenso wenig wie ein symbolischer Gebrauch mitder Nennung der Sache selbst verwechselt werden sollte. Die durchbiologische Signale ausgelösten Instinktsequenzen wie z. B. der Nest-bau oder eben das Paarungsverhalten sind zwar beim Menschenwesentlich indirekter und plastischer, sie können aufgeschoben, zer-legt und rekombiniert werden. Dennoch sind sie keineswegs unwirk-sam, wie das weltweite Bevölkerungswachstum zur Genüge belegt.Jedoch signalisiert sogar im Biologischen die Farbe Rosa mehr undUmfassenderes als allein die Aufforderung zur sexuellen Vereinigung,zumal der Eros sich auf eigentlich alle Lebensbereiche erstreckenkann. Sekundäre Merkmale wie die Lippen können auffälliger undwirksamer sein als die primären. Da eine Farbe nicht für eine anderestehen kann, unterhält Rosa aber auch noch in ihrer Verbindung mitsekundären oder tertiären Geschlechtsmerkmalen eine gewisse Bezie-hung zu ihrer Fundierung.

Ein weiteres sekundäres Geschlechtsmerkmal betrifft das Erröten,das für viele Männer außerordentlich attraktiv wirkt und deshalb gernimitiert wird. Im bekannten Lied von Franz Schubert Als ich sie errö-ten sah, das ein Gedicht von Bernhard Ambros Ehrlich (ca. 1765–1827) vertont, heißt es beispielsweise:

»Wenn mit wonnetrunknen Blicken, Ach und unaussprechlich schön Meine Augen voll Entzücken Purpurn dich erröten sehn,«

Erröten im engeren Sinne, das bei beiden Geschlechtern auftritt, isteinerseits ein unwillkürlicher Vorgang, andererseits gebunden an dieTatsache, dass man sich als den Blicken anderer, zu denen allerdingsauch übernatürliche Wesen zählen können, ausgesetzt erlebt. DerVorgang selbst ist nicht besonders gut verstanden, aber einiges lässtsich doch aussagen. Einmal ist er mit dem sex flush verwandt, der

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unwillkürlichen Verfärbung von Kopf, Hals und Oberkörper beimOrgasmus, wobei die gleichen Botenstoffe wie Stickmonoxyd eineRolle spielen, die übrigens auch die männliche Erektion steuern. BeimErröten ist noch wichtig, dass die Neigung dazu im Lauf des Lebenssich verliert, weshalb es Unschuld und Jugendlichkeit konnotiert undbei älteren Menschen nicht mehr als glaubwürdig erscheint. In Kari-katuren wie der von George M. Woodward aus der Zeit der Wendevom 18. zum 19. Jahrhundert, wo eine alternde Nymphe zu errötenbehauptet, wird dann die unglaubwürdig gewordene Scharade derLiebeswerbung im Rokoko bei einem alternden Paar persifliert.Auch handelt es sich beim Erröten um eine submissive Geste, diebeschwichtigend wirkt. Inwieweit die rosafarbenen Babys, die gutdaran tun, unser Fürsorgeverhalten auszulösen, hier herangezogenwerden können, sei dahingestellt. Vor allem aber hängt Erröten davonab, dass wir uns der Tatsache bewusst sind, das Objekt von Blickenanderer zu sein. Sind wir allein, erröten wir nicht. Nun können auchMänner erröten und beide Geschlechter tun dies auch in nicht-sexu-ellen Zusammenhängen, aber am häufigsten widerfährt dies doch jun-gen Mädchen, die bemerken, dass sie sexuell begehrt werden. Sobezieht der Dichter Paul Claudel das Erröten direkt auf die Reaktioneiner Frau beim Gewahrwerden, dass sie begehrt wird: »(…) le rosequi monte au visage de la femme quand elle voit se poser sur elle leregard approbateur de celui qu’elle aime (…).«7 Es scheint, dass Män-ner daraus den Schluss ziehen, ihre Avancen hätten eine gewisse Wir-kung erzielt. Im bekannten Bild Fragonards Die Schaukel wird dieschaukelnde junge Dame gewahr, dass sie dem vor ihr in einemRosenbeet (!) kauernden Galan einen unziemlichen Einblick in ihrenIntimbereich gestattet, was dieser auch ausnützt. Sie errötet undschleudert ihm ihren Schuh entgegen, worauf auch der Ertappte errö-tet, während der nichts ahnende, die Schaukel bedienende Abbé naivsein Geschäft weiterführt. Bei einem Bild wie Bronzinos berühmterAllegorie der Liebe in der National Gallery London errötet die anson-sten makellos weiße Venus angesichts des Kusses durch Amor auffäl-lig an den Wangen, wobei ein anderer Knabe ein Bukett Rosen her-anträgt.

Schon der Pygmalionmythos lässt mit dem Erröten der Elfenbein-statue ihre Beseelung beginnen. Zwischen Farbe und Leben, d. h.geröteten Wangen als sichtbare Emotionalität und Ausweis menschli-cher Empfindungsfähigkeit, stellt auch Condorcets bekannte Schilde-rung einen Zusammenhang her, in der er in einem Gedankenexperi-ment einer Statue schrittweise geistig-seelische Fähigkeiten hinzufügt,

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bis von einem menschlichen Wesen gesprochen werden kann. Dashier obligate Goethe-Zitat lautet: »am farbigen Abglanz haben wir dasLeben.« Die Haut ist die Stelle des unmittelbaren Kontaktes zwischendem Selbst und den anderen. Deshalb wohl weist das Erröten sowohleine psychologische als auch eine soziale Komponente auf.

Gegenwärtig wird intensiv die sogenannte theory of mind disku-tiert, die Tatsache, dass wir Menschen uns in andere hineinversetzenkönnen und ein Bewusstsein dafür haben, welchen Anblick wir denanderen bieten und wie wir unsere Wirkung auf sie beeinflussen kön-nen. Dazu gehört auch die Fähigkeit des mind reading, des Erschlie-ßens der Bewusstseinszustände anderer, aber auch die Möglichkeitder Verstellung, was die Frage nach der Zuverlässigkeit der körperli-chen Signale aufwirft.

Zahllos sind die Schilderungen der Schönheit von Frauen im euro-päischen Mittelalter, wo beispielsweise Venus oder auch Maria ge-rühmt werden als blond, mit schneeweißer Haut, die an den richtigenStellen rosa erscheint. Diesem Ideal folgen jedenfalls im Westen auchspätere Maler bis weit ins 20. Jahrhundert. Für das 20. Jahrhundertmag ein Werk von Andy Warhol stehen, der das Sexsymbol der fünf-

ziger Jahre, Marilyn Mon-roe, sogar mit einer durch-gängig rosa Haut ausstattet(Abb. 16). Natürlich wirdauch bei der Wangenfarbemit Kosmetik und Schmin-ke nachgeholfen, was kei-neswegs auf die sogenann-ten Kaukasier beschränktist.

Die Sichtbarkeit desErrötens hängt jedoch vonder Pigmentierung derbetroffenen Hautpartien ab.Diese selbst bedeutet eineAnpassung an die Stärkeder Sonneneinstrahlung,aber in allen Kulturen, obin Neuguinea oder bei denAmazonasindianern, ob beiden alten Ägyptern oderden heutigen Schweden

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Abb. 16: Andy Warhol, Marilyn, 1964, Sieb-

druck auf Acryl auf Leinwand, 101,5 x 101,5 cm,

Privatsammlung

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sind Kinder etwas weniger stark pigmentiert als Erwachsene undFrauen etwas weniger stark als Männer, weshalb eine helle Haut fürJugendlichkeit und Weiblichkeit stehen kann und steht, zumal derVorgang zur Zeit der Pubertät noch nicht abgeschlossen ist. Auch einjapanischer Samurai ist wie der Ritter und auch der Westernheldidealerweise etwas dunkelhäutiger als die edle Frau, die sie erringen.Das bringt es mit sich, dass das Erröten als für junge Frauen typischangesehen wird und ein gewissermaßen permanentes Erröten als sehrattraktiv gilt.

Allerdings muss hier auf ein rassistisches Vorurteil hingewiesen wer-den. Da eben das Erröten angesichts männlicher Avancen bei geringerPigmentierung deutlicher sichtbar ist, neigen (hellhäutige) Männerdazu, Frauen mit dunklerer Haut für sexuell erfahren, vielleicht sogarschamlos oder durchtrieben zu halten, was in der Geschichte desKolonialismus eine unselige Rolle gespielt hat und noch spielt. Nunweist die Dicke der Haut, ihre Transparenz und Pigmentierung an un-terschiedlichen Stellen durchaus Unterschiede auf. Im westlichen Kul-turkreis jedoch, d. h. bei Menschen mit nur geringer Pigmentierung,kommt eine rosa Hautfärbung naturgemäß auch an Stellen vor, wo siebei Afrikanern nicht sichtbar ist, aber die physiologischen Vorgängesind bei allen Menschen mehr oder weniger gleich.

Nachdem gezeigt wurde, dass Rosa ein starkes biologisches Signalaussendet, dessen Wirkung wir uns kaum entziehen können, seienaber einige Einschränkungen gemacht. So muss auf die fundamentaleAmbivalenz hingewiesen werden, die allen biologischen Signaleninnewohnt. Handelt es sich bei Rosa um ein ehrliches Signal? AlsKommunikationsmittel innerhalb unserer Art gebraucht, stellt sich dasProblem der Glaubwürdigkeit in aller Schärfe. Soziale Regeln tretenhinzu und müssen gleichfalls berücksichtigt werden. Natürlich hat dieFundierung der Wahrnehmung von Rosa in biologischen Gegebenhei-ten nicht zu bedeuten, dass die Reaktionen auf diese Farbe immerund überall gleich sind. Die Kultur greift ein und reguliert, was je-weils und in welchen Kontexten als erlaubt oder schicklich gilt. Biolo-gie und Kultur sind nicht Gegensätze, denn die kulturellen Vorschrif-ten setzen gern da an, wo etwas vorliegt, das zu regeln sich lohnt.

Grundsätzlich und nicht nur bei der Farbe Rosa gilt, dass die Reak-tion auf einen Reiz im gleichen Maß vom Zustand dessen abhängt,der den Reiz empfängt, wie vom Reiz selbst. Wer übersättigt ist, wirdeinen Essensreiz vielleicht eher negativ erleben. Auch bei Rosa kannes einem angesichts der heute anzutreffenden Allgegenwärtigkeit syn-thetischer Farbmittel leicht zu viel werden, abgesehen davon, dass

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sich nicht jede Situation eignet, im Bedeutungsfeld dieser Farbe inter-pretiert zu werden. Wenn Rosa so oft als vulgär oder kitschig angese-hen wird und insgesamt zu den am heftigsten abgelehnten Farbenzählt, so verweist dies meines Erachtens paradoxerweise jedoch eherauf seine ungewöhnliche biologisch fundierte Wirksamkeit. Was michgleichgültig lässt, ruft auch keine intensive Abwehr hervor. Sofern ichnicht der Adressat der Verführung bin bzw. wenn sie von der falschenPerson ausgeht, mich ängstigt, mir peinlich oder unangenehm ist oderwenn der soziale Ort sie als unangemessen erscheinen lässt, stößt einReiz auf heftige Ablehnung, der in anderen Umständen vielleicht alsGlücksversprechen wirkt und uns die Welt durch die sprichwörtlicherosarote Brille sehen lässt. Der Verhaltensbiologe Irenäus Eibl-Eibes-feldt hat das sogenannte »Schamweisen« untersucht, das Entblößender Scham zur Schmähung von beispielsweise Gefangenen. Der Wer-bebranche sei’s gesagt: Eine erotische Aufforderung, der ich ange-sichts der Umstände nicht nachkommen kann, wirkt verhöhnend oderbeleidigend.

Bei Rosa also spielen die Reziprozität, das Entgegenkommen bzw.die eigene Bereitschaft, die Botschaft zu akzeptieren, eine entschei-dende Rolle. Die Ambivalenz, der Kitschvorwurf, dass es uns so leichtzu viel wird, die der Verwendung von Rosa so oft anhaften, sie habenwohl hier ihre Ursache. Nicht selten bestimmt die Grenze zwischenprivat und öffentlich, die natürlich ihrerseits von historischen und kul-turellen Faktoren abhängt, darüber, ob Rosa als schicklich oder un-schicklich angesehen wird. Da neben dem eigenen Zustand sowie derSelektivität, mit der wir mögliche Sexualpartner beurteilen, auch diesozialen Regeln, der Anstand und anderes regulierend eingreifen,kann Rosa leicht als Grenzüberschreitung, als unerwünschte Zumu-tung empfunden werden. Wie Derek Jarman feststellt: Rosa ist immerschockierend, nackt.8 Auch die vulgäre Miss Piggy der Muppet-Showist rosa. Natürlich kann der Schock auch künstlerisch gewollt sein,wie es die Pop-Art vorführt.

Es gibt Zeiten, in denen Rosa im öffentlichen Raum akzeptabler istals in anderen. Das Rokoko war unbedingt eine solche Epoche.Damals hat man gern erotische Bezeichnungen für die modischenFleischtöne verwendet wie nun’s belly, couleur de baise moi, de péchémortel, des desirs amoureaux etc.9 Wohl schon der Manierismus kann,wenn man an Künstler wie Pontormo denkt, als rosa Epoche geltenund vielleicht auch der Jugendstil, den allerdings eher eine Neigungzu Mauve- und Violettönen auszeichnete. Die 50er-Jahre des letztenJahrhunderts bildeten dann die bislang letzte Epoche, für die Rosa als

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emblematisch gelten kann. Aber auch die psychedelischen 1970er-Jahre, das war die Zeit, wo der Rocksong Think Pink von John»Twink« Alder weite Verbreitung fand, hatten eine gewisse Vorliebefür das shocking pink. Die Pop-Art amerikanischer Prägung, die aller-dings in die sechziger Jahre zurückreicht, hatte damals dann auch dieallgemeine Pop- und Jugendkultur geprägt. Zwischen high und lowgab es ungeahnte Hybridbildungen. Was camp war, und das warhäufig rosa, war in. Die Adjektive ›grell‹ oder ›schockierend‹ oder›geschmacklos‹ galten keineswegs als pejorativ. Mit einer gewissenVerzögerung reagierte sogar die Haute Couture und brachte beispiels-weise rosa Parfums auf den Markt: Shocking rose von Escada oderBaby Doll von Yves St. Laurent. Zehrten Wesselmans Great AmericanNude oder Oldenburgs soft sculptures mit ihrer schlaffen rosa Hautvon der Alltagskultur der 1950er-Jahre, so haben sie ihrerseits diePop- und Jugendkultur der 1970er befruchtet. Die Sex-Göttinnen des20. Jahrhunderts wie vor allem Marilyn Monroe – emblematisch ihrrosafarbenes Kleid, das sie 1962 bei der Geburtstagsfeier von John F.Kennedy trug – unterhalten, wie einst Venus, eine natürliche Bezie-hung zu dieser Farbe.

Masako Ohya, eine millionenschwere japanische Witwe, die sichnur in Rosa kleidet, brach das Tabu, dass diese Farbe sich nur fürjunge Mädchen, jedenfalls Frauen vor der Menopause, schickt. Dieswar auch die Zeit der großen Kämpfe im Namen der sexuellen Frei-heit. Eines der Resultate war, dass die sozial vorgeschriebenen Rollensexueller Identität gelockert wurden und weniger rigide Trennungenvorsahen, sodass sich eine deutliche Liberalisierung der öffentlichenMeinung gegenüber den Schwulen und Lesben durchsetzen konnte.Wenn sie auch den Beginn ihrer als Kunstwerk ernst zu nehmendenAuftritte erst ins Jahr 1991 setzen, so reichen die Anfänge von Evaund Adele, eines Berliner Künstlerpaares mit ungewisser sexuellerIdentität, die, stets rosa gewandet, in ihren Aktionen/Performancesdie neue Ausrichtung der Kunstwelt signalisierten, in diese Zeitzurück. Das technisch machbare Übermaß an Rosa- oder Purpurtönenführte zu einer Art künstlichen Paradieses. Die rosa Pillen von damals(»mothers little helpers«) versprachen Optimismus, wurden als Happy-macher gehandelt. So spielt die 1966 gegründete Musikgruppe PinkFloyd schon im Namen auf den poppigen und psychedelischen Cha-rakter ihrer Musik an.

Nun sollte man jedoch nicht ohne Weiteres aus den Charakteristikaeines in einer Epoche oder Kultur vorherrschenden Stils auf die Ver-fasstheit der jeweiligen Menschen schließen. Oft genug wird in der

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Kunst ein Sehnsuchtsmotiv befriedigt. Sie weist eher auf ein Defizithin, das im Alltag nicht befriedigt werden kann. So haben die Para-diesgärtlein des späten Mittelalters mit ihren Rosenhecken, Jungfrau-en und schutzbedürftigen Kindern ihr Gegenstück in der kriegerischen,männlich bestimmten Realwelt mit ihren Exzessen an Gewaltaus-übung. Die alles andere als naive und unschuldige Gesellschaft des18. Jahrhunderts, wo in Adelskreisen Kinder nicht selten um ihreKindheit gebracht wurden und praktisch getrennt von ihrer Mutteraufwuchsen, hat in ihrer Kunst gerade solche Werte der Kindheit, nai-ven Sentimentalität, Jugendfrische und reuelosen Süße gefeiert, diesie realiter entbehrte. Auch die 1950er-Jahre mit ihrer bonbonfarbe-nen Unschuld, ihrer an Eisdielen gemahnenden Frische, verspracheneinen Neuanfang, indem sie die Erinnerung an die Last und Schulddes 2. Weltkriegs zu kompensieren suchten. Edith Piafs La Vie en rose,das um 1945 entstand, wurde nicht umsonst zum beliebtesten Chan-son der Epoche. Dort heißt es:

»Quand il me prend dans ses brasQu’il me parle tout basJe vois la vie en rose«Jugendlichkeit, Frische, Süße, Kindheit, unschuldiger Sex oder

naive Sentimentalität, wie sie sich in der Vorliebe für die Farbe Rosamanifestieren, sie verweisen eher auf ein verlorenes Paradies, einnostalgisches Heraustreten aus der Gegenwart.

Im Grunde handelt es sich bei der unterschiedlichen Reaktion aufRosa um eine soziale Aussage. Der Aufforderungscharakter samt Rezi-prozität und die Abhängigkeit vom stimmigen Kontext, die mit Rosaverbunden sind, führen dazu, dass man diese Farbe scheut oder anihr Anstoß nimmt, wenn die genannten Bedingungen einer Hingabenicht erfüllt sind. Jedenfalls unterliegt die Akzeptanz bestimmter Far-ben im öffentlichen Erscheinungsbild einem kulturellen Wandel undda immerhin scheint sich neuerdings wieder eine gewisse Toleranz imUmgang mit Rosa abzuzeichnen. Die Angst, gegen geheime Farbcodeszu verstoßen und als billig und geschmacklos dazustehen, hat sichentschieden verringert. Der Eindruck von Gediegenheit gilt nicht alssexy. Wer als Mann heute rosa trägt, sagt, dass er als rara avis geltenwill und die Aufmerksamkeit, die er auf sich lenkt, gern aushält, zuverdienen meint und zu genießen versteht. Heute kann ein erfolgrei-cher junger Unternehmer, also jemand, der an der Spitze einer Hierar-chie steht, sich ohne Weiteres beispielsweise ein rosa Auto leisten.Die Botschaft, die damit ausgesendet wird, ist: »Ich bin kreativ, inno-vativ, künstlerisch und habe eine Position erreicht, wo ich mir diese

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Extravaganz leisten kann.« Das Nichtstun eines dolce vita oder dieBefreiung aus den Zwängen der Pflicht und Notwendigkeit scheinensich heute mit der Farbwahl von Rosa zu verbinden.

Rosa entfaltet seine Wirkung, ja seinen Charme, weil es nicht di-rekt die Sache beim Namen nennt, sondern suggestiv darauf anspielt,sie nicht unverblümt, sondern durch die Blume zu verstehen gibt.Rosa verdeckt und enthüllt eine andere Rose und es hängt vom Wis-sen, den gängigen Konventionen der jeweiligen Kultur und der Erfah-rung des Adressaten ab, inwieweit dieser Zusammenhang ihr oderihm bewusst ist oder nicht. Die in vielen europäischen Städten anzu-treffenden Straßennamen wie »Rosengasse« oder »Rosenstraße«, »Ro-senwinkel«, »Rosenthal«, »Rosenhagen« etc. standen einst als euphe-mistische Bezeichnung für die dort anzutreffende Prostitution. DieWirksamkeit von Rosa liegt darin, dass sie unausgesprochen bleibt.Dies gilt natürlich für die Sprache der Liebe allgemein, wo zu vielDeutlichkeit das zerstören würde, was erst aufgebaut werden soll. ImDeutschen kennen wir den Ausdruck, etwas ›durch die Blume zu sa-gen‹ und Rosa, auch der Gebrauch von Rosen und anderer rosafarbe-ner Objekte bieten eine hervorragende Möglichkeit, etwas zu sagenund gleichzeitig doch nicht zu sagen, es jedenfalls nicht so direkt zusagen, das man nicht jederzeit von seiner Aussage wieder zurücktre-ten könnte.

Anmerkungen:

1 Vgl. Andrew Parker, Seven deadly colours, London 2005.

2 Vgl. Anthony Mercatante, Der magische Garten, Zürich 1980, S. 93. Tizian gibt

dem Gott Bacchus in seinem berühmten Bild Bacchus und Ariadne (National Gal-

lery London) einen auffälligen rosa Umhang.

3 Vgl. J. W. v. Goethe, Sophienausgabe, Abt. I, Bd. 49, S. 142.

4 Vgl. Lutz Röhrich, Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten, Freiburg, Basel und

Wien, 2. Aufl. 1973, S. 778.

5 Allerdings bezeichnete man mit diesem Ausdruck bereits im 16. Jahrhundert

eine Rosensorte.

6 Vgl. Oliver Sacks, Eine Anthropologin auf dem Mars, Reinbek bei Hamburg, 1995.

7 Vgl. Paul Claudel, Commentaire du Cantique des cantiques, 1948, S. 472, zitiert

nach: Annie Mollard-Desfour, Le dictionnaire des mots et expressions de couleur

du XXe siècle/Le rose, Paris 2002, S. 104.

8 Vgl. Derek Jarman, Chroma, Berlin 1995, S. 167.

9 Vgl. Don Pavey, Colour and Humanism: Colour Expression over History, o. O.

2003, S. 185.

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Farben mit und ohne Oberfläche –

Farbe in Bildern

Unsere Wahrnehmung hat sich nicht an zweidimensionalen Bildernentwickelt, sondern über Jahrmillionen hinweg in der natürlichenraumzeitlichen Umgebung unserer Vorfahren. Dort sind Bilder ein sel-tener Spezialfall. Dass im Prozess des Sehens auf der Retina zunächstein flächiges Bild entsteht, das erst in der Folge durch das Gehirneine räumliche Interpretation erhält, ist kein Gegenbeweis, denn wirhaben keinen bewussten Zugang zu ihm. Was uns bewusst wird, istbereits eine dreidimensionale Repräsentation der Welt. Die visuelleWahrnehmung dient, wie inzwischen klar geworden sein sollte, zu-vörderst dem Ziel, uns in unserer Umwelt zu orientieren, wozu dasErkennen der räumlichen Situation und die Unterscheidung vonObjekten unerlässlich sind, und sie soll es uns erlauben, Handlungenin dieser Umwelt vorzubereiten und auszuführen. Die Umwelt ist keinzu betrachtendes Bild. Rasche Entscheidungen auf der Grundlage derbislang erworbenen Erfahrungen werden von der Wahrnehmung be-vorzugt, auch wenn sie nicht immer zutreffend sind. Schnelligkeit undGenauigkeit sind nicht gleichzeitig zu haben. Selten gibt es die Gele-genheit, in Ruhe und ohne Handlungszwang die eigenen Wahrneh-mungen zu überprüfen, wie es bei Bildern in der Regel möglich undfür deren Betrachtung typisch ist. Prinzipiell sehen wir allerdings auchBilder mit unserem uns nun einmal zur Verfügung stehenden Wahr-nehmungsapparat an und dieser versucht, möglichst auch bei demkünstlichen Wahrnehmungsangebot, das Bilder darstellen, seiner bio-logischen Aufgabe nachzukommen. Dies gilt natürlich nicht minderfür die Farbwahrnehmung.

Es gibt aber eine Reihe von Unterschieden, die nicht so sehr vomWahrnehmungsvorgang selbst als von der besonderen Art von Wahr-nehmungsangebot abhängen, das von Bildern ausgeht. Hier sei be-tont, dass die in der Lebenswelt so selten mögliche kontemplativeHaltung der eigenen Wahrnehmung gegenüber im Kunstkontext undbei der Betrachtung von Bildern eine Entfaltungsmöglichkeit findet.Auch wenn in der Gegenwart die Herstellung von Tafelbildern nichtmehr repräsentativ für das Kunstgeschehen in unseren Biennalen zusein scheint, werden hier die Verhältnisse beim Betrachten von Bil-dern behandelt, denn ihre Anwesenheit in unserem Alltag hat durch

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Fotografie, Film, Fernsehen, Video, Computer sowie die Printmedienein derartiges Ausmaß erreicht, dass man ohne Verständnis der Be-sonderheiten der Bildwahrnehmung Gefahr läuft, als visueller An-alphabet zu gelten. Bilder, unter denen die Kunstwerke heutzutagenur einen verschwindend geringen Teil ausmachen, sind von ungleichgrößerem anthropologischem Gewicht als der spezialisierte Kunstbe-trieb in den Industrienationen.

Wie beschrieben, reicht es wegen der drei verschiedenen Farbre-zeptoren im Auge im Prinzip aus, drei unabhängige Werte (für lang-,mittel- und kurzweiliges Licht) zu messen, um den Farbeindruck einerbestimmten Stelle des Gesichtsfeldes zu bestimmen. Demnach genügtein dreidimensionaler Farbraum für die Darstellung sämtlicher mögli-cher Werte. Unsere neuen Medien und Wiedergabeverfahren, dieFarbmetrik, Drucktechnik und andere technische Anwendungen ver-fahren in genau diesem Sinn. Beispielsweise ist eine digitale Kameraso aufgebaut, dass sie eben jene drei Werte pro Bildpunkt ermittelt,die dann bei der Wiedergabe je nach Medium wieder in entsprechen-de Signale etwa von Leuchtdioden oder Pigmenten umgesetzt wer-den. So also beruhen die genannten Mimesis-Maschinen auf einerAufzeichnung (und bei der Wiedergabe: einer Simulation) der photi-schen Situation, die ein Mensch am Standort der Kamera registrierthätte. Ein Bild löst im Idealfall dieselben Reize auf der Retina aus, wieder Betrachter sie in einer wirklichen Situation hätte empfangen kön-nen. Deshalb brauchen wir das Erkennen von Bildern nicht wirklichzu lernen, wenn es auch Einzelaspekte gibt, die eine gewisse Erfah-rung im Umgang mit ihnen voraussetzen. So weit die Argumentation,die davon ausgeht, dass Bilder dem (flächigen) Muster entsprechen,das sich auf unserer Retina abbildet, seine räumliche Interpretationalso erst später vom Gehirn geleistet wird, mithin Bilder einfacher alsdie Wirklichkeit zu verstehen sein müssten.

Das Problem ist, dass ein Bild nicht unsere sonstige visuelle Wahr-nehmung außer Kraft setzt, sondern wir normalerweise genau wissen,dass wir es mit einem Bild und nicht mit der Wirklichkeit zu tun ha-ben und das Bild lediglich als eine besondere Art von Objekt in unse-rem Realraum sehen. Bilder treten nicht an die Stelle des Realraums,in dem wir uns befinden, sondern werden ihm hinzugefügt, verkom-plizieren ihn. Die Fernsehbilder im Wohnzimmer, die von weit ent-fernten Ereignissen berichten, setzen die gleichzeitige Wahrnehmungdes Wohnzimmers nicht außer Kraft. Es gibt beispielsweise die Ste-reopsis (der Vergleich der beiden leicht unterschiedlichen Bilder inunseren Augen durch die Wahrnehmung, um daraus räumliche Schlüs-

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se zu ziehen) sowie die relative Bewegung, die uns mitteilen, dass wires mit einem Bild zu tun haben und nicht mit einem dreidimensiona-len Objekt. Bei der relativen Bewegung oder Parallaxe handelt es sichdarum, dass bei Eigenbewegung nahe Objekte im Verhältnis zu unsrascher ihren Ort verändern als entfernte. Beide, Stereopsis und Paral-laxe, werden übrigens vom gleichen Gehirnareal verarbeitet. Es bleibtauch bei der Wahrnehmung eines Bildes nicht untätig, sondern sorgtweiterhin für die Orientierung unseres Körpers im Raum. Hindert mansie, etwa durch Einschränkung der Bewegungsmöglichkeiten desBetrachters oder durch Unschärfe, an der Wahrnehmung der Flächig-keit, kann die Überzeugungskraft der Illusion gesteigert werden.

Was ist ein Bild? Offenbar ist die Fähigkeit, Bilder wahrzunehmen,eine menschliche Spezialität. Tiere, wenn sie denn auf Bilder reagie-ren, meinen, dass vor ihnen tatsächlich eine Pflanze oder ein Tier exi-stiert und nicht eine Darstellung. Sie lassen sich also ebenso wieMenschen manchmal täuschen. Ist ihnen jedoch klar, dass da nur einezweidimensionale Wand ohne reale Objekte vor ihnen ist, hören sieauf, sich dafür zu interessieren. Zeigt man Hunden noch so attraktiveandere Hunde im Fernsehen, so fesselt sie das keineswegs und sieschnüffeln auch nicht an ihnen herum. Wir Menschen wissen dagegeneigentlich immer, dass wir uns vor einem Bild, d. h. einer virtuellenund nicht realen Welt aufhalten, und verlieren trotzdem nicht dasInteresse. Schon im Alter von zwei Jahren wissen Kinder, was Bildersind. Sie müssen auch nicht im Gegensatz zu den Behauptungen man-cher Anthropologen den Umgang mit ihnen wie eine Sprache lernen.Allerdings wird ein Kind seine dreidimensionale Puppe jederzeit demBild seiner Puppe vorziehen.1

Wenn es sich erweisen sollte, dass zwischen der menschlichenFähigkeit, auf Bilder zu reagieren, und solchen anthropologischenPhänomenen wie der Kunst, Religion, Sprache und damit auch Philo-sophie und Wissenschaft ein sachlicher Zusammenhang besteht, sowäre dies nicht verwunderlich, denn die Fähigkeit, sich unkörperlicheoder unsichtbare Agenten vorzustellen, die uns gleichwohl beeinflus-sen, ist allen ihnen gemeinsam. Beispielsweise stellen wir uns Engelgern als unfassbare Lichtwesen vor, ohne die uns vertraute materielleKörperlichkeit. Wir können nachdenken über das, was wir sehen,auch wenn die Existenz dessen, was wir sehen, gewissermaßen einge-klammert oder zweifelhaft ist. Zeichen stehen für etwas, das geradenicht da ist, ähnlich wie Bilder etwas zeigen, das nicht wirklich andem Ort ist, wo es selbst bzw. der Bildträger als physische Entität ist.Die menschliche Fähigkeit, das eigene Spiegelbild zu erkennen, wird

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in diesem Sinne mit der theory of mind in Verbindung gebracht,wonach wir imstande sind, uns gewissermaßen von außen, mit denAugen eines anderen, zu sehen und umgekehrt ihnen ein inneres Be-wusstsein zuzugestehen, wie wir es von uns selbst aus der Innenper-spektive kennen, aber nicht direkt bei anderen beobachten können.

Natürlich sind wir uns bei Betrachtung eines Bildes, sobald es alsBild erkannt ist, jederzeit im Klaren, dass wir die abgebildeten Früch-te nicht verzehren, uns mit einer abgebildeten Waffe nicht verteidi-gen, eine abgebildete Frau nicht umarmen können, aber das hältMenschen nicht ab, sich mit solchen Virtualitäten abzugeben. Des-halb erlaubt es gerade das Immaterielle von Bildern, d. h. ihre Flä-chigkeit, transzendente Wesen zu beschwören. Schon wenn die durchEigenbewegung zu erwartenden Parallaxenbewegungen ausbleiben,sind wir sicher, dass das, was wir sehen, nicht dreidimensional seinkann und andere Informationen wie die Akkomodation, die Konver-genz bzw. der Konvergenzwinkel verhindern gleichfalls, dass wir ge-täuscht werden. Sie sind bei der Bildwahrnehmung nicht wirksam.Spätestens sobald wir uns bewegen, werden Trompe-l’oeil-Darstellun-gen unglaubwürdig. Wir bewundern sie nicht, weil wir sie mit derWirklichkeit verwechseln, sondern weil sie täuschend ähnlich ausse-hen, obwohl sie nur aus erkennbar flachen Farbflecken bestehen. Nurin seltenen und recht künstlichen Fällen verwechseln wir Bilder mitder Realität. Dazu ist vor allem nötig, dass wir den Bildträger nicht alssolchen erkennen und mit unseren realen Körperkoordinaten verrech-nen können. Deshalb hatte Leonardo gefordert, Bilder aus großemAbstand zu betrachten, um die Illusion, die sie erzeugen, möglichstperfekt zu machen. In der Ferne ist die Stereopsis außer Kraft gesetztund auch die relative Bewegung liefert kaum noch verwertbareHinweise. Bilder sind, jedenfalls für Teile der Wahrnehmung, gewis-sermaßen von Natur aus Fernbilder. Auch im Kino vergessen wir ver-gleichsweise leicht, dass da eine monochrome Leinwand einer be-stimmten Größe und Ausdehnung in einer bestimmten Lage zuunserem Körper situiert ist, die mit wechselnden Mustern farbig be-strahlt wird, denn das Filmbild im dunklen Kinosaal kollidiert nichtmehr mit anderen visuellen Informationen zum Realraum. Hier ist essogar so, dass mit zunehmender Erfahrung die Neigung schwindet,sich bei Verfolgungsjagden an seinem Sitz festzuhalten.

Unter der genannten Perspektive ist die Wahrnehmung zweidimen-sionaler Bilder nicht einfacher oder elementarer als die unserer natür-lichen Umgebung, sondern komplizierter. Es gibt im Gehirn eine Regi-on, die als Orientations-Assoziations Struktur bekannt ist. Mittels

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dieser Region sind wir imstande, uns von der Welt um uns herum zuunterscheiden und uns im Raum zu orientieren. Normalerweise neh-men wir die Leistungen dieser Region als selbstverständliche Gege-benheit hin, doch gibt es eine Reihe von Situationen, wo dies nichtzutrifft, sowie Techniken, mit denen man die genannten Leistungenschwächt oder außer Kraft setzt, unter denen eine Überforderung dessympathischen Systems am häufigsten begegnet. Nicht zufällig findenwir den Einsatz solcher Techniken häufig in religiösen Zusammenhän-gen, wo es um das Erreichen anderer Bewusstseinszustände geht,doch bereits das Betrachten von Bildern stellt für die erwähnte Orien-tations-Assoziations Struktur einen Konflikt dar.

Bilder sind zum einen Objekte in unserer Umgebung, von denenwir – wie bei anderen Objekten auch – im Allgemeinen sagen kön-nen, dass sie eine bestimmte Größe haben, eine gewisse Lage undeinen bestimmten Abstand zu unserem Körper, wie ihre Oberflächenbeschaffen ist und welche Färbung sie aufweist, dass sie von einervorherrschenden Lichtquelle beleuchtet werden, sich von anderenObjekten abheben, und was sonst noch von Objekten gewusst wer-den kann. Dies ist der Sinn der viel zitierten Aussage von MauriceDenis, wonach es sich bei einem Bild, ehe es etwas Virtuelles wie einSchlachtross oder eine nackte Frau darstellt, zunächst um ein planeFläche, bedeckt mit Farben in einer bestimmten Ordnung, handelt.Das ist der eine Tatbestand. Darüber hinaus aber sehen wir etwas Vir-tuelles auf einem Bild, etwas, von dem wir wissen, dass es gar nichtreal da ist, das wir aber dennoch unabweisbar vor Augen haben. Manspricht, dem Kunstphilosophen Richard Wollheim (1923–2003) fol-gend, von der twofoldness eines jeden Bildes.2

Die Wahrnehmung von Bildern und die Wahrnehmung der dreidi-mensionalen Wirklichkeit sind deshalb nicht identisch. Zwar ist einBild Teil der Wirklichkeit und wird normalerweise als Gegenstand indieser Wirklichkeit erkannt, aber darüber hinaus zeigt das Bild etwas,was eigentlich real nicht da ist, sondern nur virtuell, nur als Abbild.Dies gilt übrigens auch für ungegenständliche Bilder. Farbige Dreieckeoder Kreise oder andere abstrakte Elemente nebst ihren Überlagerun-gen sehen wir nicht als Teil unseres realen Raums, sondern als Teileeines fiktiven Bildraums. Erst wenn die Gattung ›Bild‹ sich auflöst undz. B. zur Gattung environment übergeht, sind die Verhältnisse anders.Es scheint, dass zeitgenössische Künstler zunehmend die Virtualitätder Bilder den Medien überlassen und uns im Sinne des Besetzenseiner ökologischen Nische für die Wahrnehmung realer Räume, indenen wir real anwesend sein müssen, sensibilisieren. Dass dennoch

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auch hier mit fiktiven Elementen gearbeitet wird und werden mussund es immer noch um eine Analyse des Charakters des eigenenMediums geht, steht auf einem anderen Blatt. Der Kampf gegen dieIllusion eines Bildes, dem die Authentizität einer taktilen Raumauffas-sung des Bildes als konkretes Objekt gegenübergestellt wird, ist fürweite Bereich der Moderne typisch, wie man etwa den Schriften vonMark Rothko entnehmen kann.3

Selbst Werke der Moderne, die sich bemühen, im Sinne des ta-bleau-objet (der Begriff geht auf die kubistischen Collagen und As-semblagen zurück) nichts zu simulieren, d. h. Bilder, die als Objekteim Realraum wie jedes andere Objekt erscheinen wollen, sind jedoch,sogar wenn sie reale, konkrete Materialien aufweisen, nicht gänzlichfrei vom genannten Doppelcharakter des Bildes. Wir interpretieren,ob wir wollen oder nicht, zumindest probeweise jeden Farbfleck undjeden Strich auf einer Fläche räumlich, sehen vielleicht einanderdurchdringende transparente Schichten oder eine Form als vor eineranderen liegend, sehen eine Andeutung von Landschaft und dies wi-der besseres Wissen, dass alle Bildelemente auf einer ebenen Flächesituiert sind. Die unwillkürlich vorgenommene räumliche Interpretati-on der Bildelemente kollidiert also mit der Interpretation eines Bildesals realem Objekt im realen Raum, was uns aber offensichtlich nichtbesonders viel ausmacht. Eigenbewegung, Disparität, Parallaxe undAkkomodation, die uns sagen, dass ein Bild ein Objekt im Realraumist, müssen unterdrückt werden, wollen wir den virtuellen Bildraumerfahren. Die Bewegungswahrnehmung ist bei Bildern gleichfalls un-terdrückt, denn nur die aus der Eigenbewegung resultierenden Infor-mationen stehen zur Verfügung und die genau informieren uns nurüber den Dingcharakter eines Bildes, nicht über die entsprechendenVerschiebungen in der virtuellen Welt der Darstellung. Dies gilt ingewissem Umfang auch für die bewegten Bildern des Films, Fernse-hens etc., wo die gesehenen Bewegungsinformationen nicht mit de-nen unserer Muskel- und Gleichgewichtssinne übereinstimmen. Fürden räumlichen Eindruck, den wir dennoch von Bildern empfangen,sind vielerlei Mechanismen verantwortlich, die natürlich je nach Dar-stellungsweise in verschiedenem Maße zum Tragen kommen. Die be-kanntesten darunter dürften die Modellierung nach Licht und Schat-ten, die perspektivische Größenabnahme und die Überdeckung vonFormen darstellen. Aber auch unser Wissen um das normale Verhal-ten realer Gegenstände in der realen Welt, d. h. unsere inhaltlicheInterpretation der Bildelemente, beeinflusst unsere räumliche Inter-pretation.

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Ein Bild ist demnach ein Objekt wie andere Objekte im Realraumdes Betrachters und die Farben auf diesen Objekten sehen wirmanchmal – vor allem aus der Nähe – im Sinne der Farbkonstanz alsdie ihnen zukommenden Oberflächenfarben. Ein roter Fleck auf einerLeinwand erscheint uns als eben die Färbung dieses Stücks Leinwand.Nun mag aber beispielsweise dieses Stück Leinwand etwas Virtuelleswie eine rote Tomate darstellen. Gehört die wahrgenommene Farbedann zur Oberfläche des Bildes oder zu der dargestellten Entität? DieErfahrung der Maler, dass es vom Raum abhängt, wie die Farbeninnerhalb eines Bildganzen zur Geltung kommen, beschreibt offenbardie Auswirkungen unterschiedlichen Akzentuierungen der beiden derSeiten der twofoldness. Künstler wie Blinky Palermo haben in ihrenWerken genau solche Mehrdeutigkeiten thematisiert, doch gibt esdas Phänomen natürlich schon, wenn wir die sichtbare Faktur, die»Mache‹ des Bildes von der damit generierten Darstellung unterschei-den. Bei Bildern des späten Tizian wurde dies wohl erstmals disku-tiert. Sie zeigen aus der Nähe unintelligible Pinselstriche, die aus derFerne gesehen zu einer überzeugenden Illusion verschmelzen. Waswir von den beiden Seiten der twofoldness gerade sehen, hängt zueinem gewissen Teil von der Einstellung ab, zum Teil auch von Fakto-ren wie dem Betrachterabstand sowie der Sichtbarkeit der Oberflä-che. Eine raue, strukturierte Oberfläche, vielleicht mit pastos aufge-tragenen sichtbaren Pinselstrichen lässt die Wahrnehmung über denObjektcharakter des Bildes wenig im Unklaren, was der dennoch sicheinstellenden Virtualität einen eigenen Charakter verleihen kann. Eineglatte Malfläche mit akademischen fini (d. h. Unterdrücken der Sicht-barkeit einzelner Pinselstriche) entspricht der entgegengesetztenOption. Bei manchen Videoskulpturen – genannt sei Gary Hill – woVideobilder auf ein Objekt projiziert werden, das trotzdem erkennbarbleibt, wird ein solcher Widerspruch künstlerisch genutzt, doch hattebereits die sichtbare, nicht mimetisch motivierte Faktur gerade in denauf Farbwirkung bedachten Spielarten der Malerei einst eine ähnlicheRolle gespielt. Das andere Ideal bestünde darin, wie Alberti geforderthatte, den Bildträger möglichst wenig in Erscheinung treten zu lassen,um nicht mit dem fiktiven, illusionären Charakter des Dargestellten zuinterferieren. Dies entspricht in etwa dem, was die neuen Medien zuleisten versuchen. Meiner Überzeugung nach und im Gegensatz zumanchen Theoretikern wie Ernst H. Gombrich gilt aber, dass selbstwenn nur jeweils eine der beiden Seiten der twofoldness ins Bewusst-sein gelangt, die andere unterschwellig den Gesamteindruck mitbeeinflusst. Die beteiligten Gehirnprozesse unterscheiden sich, wenn

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ich zumindest unterbewusst weiß, dass ich eine Fiktion sehe bzw.dies nicht weiß. Dies betrifft auch und gerade die neuen Medien.

Welcher Seite der twofoldness rechnen wir die Bildfarben zu? DieRolle der Farbe in Bildern ist durchaus problematisch. Der ingannodella pittura – die von Bildern ausgehende Täuschung – bezieht sichnicht zuletzt auf die Farben. Im Sinne der Farbkonstanz haben wirErwartungen, welche Farbe ein abgebildeter Gegenstand wie z. B.eine Tomate ›hat‹. Naiverweise würden wir also erwarten, dass die›reale‹ Farbe einer Tomate (d. h. ihre Lokalfarbe) an der entsprechen-den Bildstelle sichtbar wird. Dies ist jedoch nicht der Fall. Um aufeinem Bild die Illusion einer Tomate hervorzurufen, muss der Prozessder Farbkonstanz gewissermaßen ungeschehen gemacht werden undmuss ein Eindruck hervorgerufen werden, der weitgehend dem einerFarbe im Öffnungsmodus entspricht. Dieses Problem ist in taxonomi-schen, wissenschaftlichen Zusammenhängen schon recht früh offen-kundig geworden. Im Buch 25, Kapitel 4 seiner Naturgeschichtespricht Plinius von den ersten Griechen – Cratevas, Dionysius undMetrodorus – die Pflanzen abgebildet und ihre Eigenschaften darun-ter geschrieben hätten und kritisiert die Farbgebung: »Verum et pic-tura fallax est coloribus tam numerosis, praesertim in aemulationemnaturae, multumque degenerat transcribentium socordia.«4 (»Aberauch die Malerei trügt bei so zahlreichen Farben, zumal wenn mandie Natur nachzuahmen trachtet, und auch die Fahrlässigkeit derKopisten verdirbt viel.«) Galilei, Locke und andere haben deshalb aufdie Wiedergabe der Farben in wissenschaftlichen Werken ganz ver-zichten wollen und Farbe als eine lediglich sekundäre Qualität derWahrnehmung betrachtet. Das ist zwar eigentlich philosophisch gese-hen unhaltbar, denn jede Sinnesempfindung müsste dann gleicher-maßen als sekundär betrachtet werden, aber das Problem der korrek-ten Farbwiedergabe von Pflanzen, Steinen oder Tieren besteht auchheute noch. Grauabstufungen, Unterschiede in der Sättigung, werdenim Sinne des Illusionismus als unterschiedliche Distanzen gedeutet. Jeweniger gesättigt, je kontrastärmer ein Objekt, desto mehr weicht esoptisch zurück. Soll also eine räumlich überzeugende Illusion gegebenwerden, so muss die Lokalfarbe modifiziert werden. Kein noch sogutes Farbfoto kann zur exakten Bestimmung einer Lokalfarbe dienen.Wir behelfen uns heute in praktischen Zusammenhängen meist damit,dass ein standardisiertes Farbsample mit abfotografiert wird, an demman die jeweiligen Abweichungen durch den fotografischen Prozessbeurteilen kann. Wegen diverser anderer Phänomene wie der Schat-tierung erlaubt dies dennoch nicht, zuverlässig die Lokalfarben zu

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ermitteln. Auch kann, da die Wirkung von Farben nicht unabhängigvon ihrer Ausdehnung, also von ihrer relativen Größe im Verhältniszum gesamten Gesichtsfeld und der dort herrschenden durchschnittli-chen Farbverteilung ist, selbst die getreueste Farbwiedergabe nicht inAnspruch nehmen, einen Natureindruck korrekt zu reproduzieren.Farbeindrücke sind abhängig von der absoluten Größe. Kleinere Ob-jekte wirken in ihrer Farbigkeit weniger gesättigt als größere, währendab einem bestimmten Sehwinkel die subjektiv erlebte Sättigung wie-der abnimmt, was jedem, der aus einem Musterbuch die Farben einesWandanstrichs auszuwählen hat, schmerzlich bewusst wird.

Nun sind gerade die Farbfotografien, Dias oder Film- und Fernseh-bilder durch einen automatischen Verzicht auf die Farbkonstanzgekennzeichnet. Da der Mechanismus von Fotoapparat, Film- oderVideokamera nur mit den Lichtstrahlen befasst ist, also nur mit derphysikalischen Seite der Wahrnehmung, können Dias oder Fernsehbil-der oder Farbfotos auch nicht Verarbeitungsstufen der visuellenWahrnehmung jenseits der Retina berücksichtigen. Menschen fälltgenau dies sehr schwer: Maler wie Cézanne haben zeitlebens mitdem Problem des Verlernens einer automatischen Leistung der Wahr-nehmung gerungen. Das ›unschuldige‹ Auge, an dem seiner Generati-on gelegen war, ist eine Fiktion. Ein Anfänger in der Malerei, der sichbemüht, ein einigermaßen realistisches Bild herzustellen, meint nai-verweise, er müsse die Bildgegenstände in der ihnen zukommendenFarbe, eben der Lokalfarbe, wiedergeben. Rasch wird er aber merken,dass ein solches Vorgehen nicht zum gewünschten Resultat führt.Ganz abgesehen von der Schwierigkeit, die Lokalfarben durch Palet-tenmischung zu treffen, was wegen der unterschiedlichen Ober-flächen der Farbträger und der Bildfarben nicht wirklich geht, zeigtsich, dass die Gegenstände nicht einfach ihre Lokalfarbe zu erkennengeben.

Aber auch, wenn diese Schwierigkeiten überwunden sind, ist damitnoch keine überzeugende Darstellung gelungen. Je nach Lage imRaum und Beleuchtungssituation erscheint eine gleichmäßig einge-färbte Oberfläche verschieden hell, sie weist unterschiedliche Textu-ren und Glanzlichter auf, es gibt Modifikationen der Lokalfarbe durchbenachbarte Farben, durch die Entfernung vom Auge, durch Reflexe,die Trübung durch Luftschichten und anderes mehr, was im Bild be-rücksichtigt werden muss. Und selbst wenn auf das Ziel einer realisti-schen Darstellung kein Wert gelegt wird, so wirken mehrere aufeinem Bild nebeneinander ausgebreitete Lokalfarben häufig alles an-dere als angenehm und harmonisch, obwohl die dreidimensionalen

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Objekte, von denen sie stammen, im Raum völlig natürlich zusam-mengehen.

Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, sei fest gestellt, dass dasPrinzip solcher technischer Mimesis-Maschinen wie der Farbfotogra-fie, die solche Muster an Photonen aufzeichnen, wie sie ein Menschan ihrer Stelle hätte empfangen können, nur unter der Annahmeeines unbeweglichen Betrachters zureichend funktioniert. UnsereWahrnehmung hat sich aber an sehr mobilen Lebewesen herausgebil-det. Deshalb bedeutet die Bildwahrnehmung für uns nur einen merk-würdigen und gerade deswegen Aufmerksamkeit heischenden Son-derfall. In den alltäglichen Wahrnehmungssituationen liefert dieEigenbeweglichkeit wichtige zusätzliche Informationen, die ein stati-sches Kamerabild, ja selbst das bewegte Bild einer Video- oder Film-kamera, nicht zur Verfügung stellt. Zwar kann man, blickt man durchein Schlüsselloch, unter Umständen nicht entscheiden, ob dahintereine zwei- oder dreidimensionale Situation zu sehen ist, doch sindwir uns, wenn wir uns frei bewegen können, darüber sofort im Kla-ren. Oder, wenn wir den Reflex auf einer Glasscheibe nehmen, so istbei Änderung unserer Position mühelos erkennbar, ob es sich umeinen Fleck auf der Scheibe selbst oder stattdessen um eine Spiege-lung handelt. In einem Bild können wir unsicher sein, ob ein Farb-wechsel – sagen wir auf einer ansonsten homogenen Wand – auf derBeleuchtungssituation beruht oder auf einer Verfärbung der Wandselbst, während in unseren natürlichen Wahrnehmungssituationen einReflexlicht oder eine Schattenzone von einem Muster auf einer Ober-fläche leicht zu unterscheiden ist. Ähnliches gilt für Spiegel. In einemabgebildeten Spiegel kann man sich nicht die Frisur richten. Deshalbsind Bilder mit Goldgründen nicht wirklich fotografisch reproduzier-bar. Bilder, und wenn sie noch so naturgetreu sind, können ebenjeweils nur einen Betrachterstandpunkt zeigen und der ist vor allemnicht identisch mit dem, den ich bei ihrer Betrachtung gerade real imWohnzimmer, in der Galerie oder im Kinosaal einnehme. Da unsereRaumwahrnehmung sowohl den Gleichgewichtssinn als auch dieMuskelsinne einbezieht, kann auch die bewegte Kamerafahrt um einObjekt nicht wirklich simulieren, was ein Betrachter unter Einbezie-hung aller seiner Sinne anstelle der Kamera erlebt hätte. Ebenso wiefür uns die Welt stabil aussieht, obwohl die Augen sich oder wir unsaus eigenem Antrieb bewegen, da die retinalen Bilder sofort neu kar-tiert werden, wirkt das Bild einer bewegten Kamera für uns viel chao-tischer als das, was wir selbst anstelle der Kamera sehen würden. Undauch und gerade wenn ich mich frei vor einem Bild bewege, erhalte

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ich keine zusätzlichen Informationen über das Dargestellte. Die halb-nackte Schöne hinter einem Baum wird bei seitlicher Betrachtung desBildes nicht sichtbarer. Übrigens ist da ein gewisser Konstanzmecha-nismus der Wahrnehmung am Werk, der die Verzerrungen ausgleicht,die eigentlich bei Schrägsicht auf Bilder auftreten sollten.

Demnach gibt es eine grundsätzliche Grenze bei der Schaffungeiner perfekten Illusion. Sie tritt dann auf, wenn ein Bild als ein be-sonderes Objekt im Realraum erkannt wird. Schon ehe jemand ver-sucht, abgebildete Objekte zu ergreifen, wird ihm klar, dass die hapti-schen Werte, das Mikrorelief, die Textur, der Glanz und ähnlichesnicht wirklich reproduziert wurden, denn die subtilen Änderungen,die seine Eigenbeweglichkeit an ihnen sonst hervorruft, bleiben beiBildern notwendig aus. Der reale Reliefauftrag von Farbe wirkt gleich-falls der Illusion entgegen, weshalb im Dienste der Illusion die Bild-fläche möglichst wenig in Erscheinung treten sollte. Es ist richtig, dassdie Entwerfer virtueller Realitäten an genau dem Problem arbeiten,wie sie die Materialität ihres Mediums zum Verschwinden bringen,und auch daran, wie sie die Parallaxe und scheinbare Bewegung in-tegrieren sowie die subtilen Änderungen bei Glanz etc., aber imAugenblick scheint der nötige Rechenaufwand noch jenseits allertechnischen Realisierbarkeit. Eine exakte Reproduktion von Oberflä-chenfarben also kann es streng genommen in Bildern nicht geben,wie sollte dies auch gehen, da der Bildträger nicht die Oberflächenei-genschaften der abgebildeten Objekte aufweist. Die Oberfläche einesFotos ändert sich nicht, ob die Haut eines alten Mannes oder einesjungen Kindes abgebildet ist, der Bildschirm bleibt in seiner Materia-lität gleich, ob Nebel oder Diamanten, eine Blumenwiese oder einMassaker gezeigt werden. Auch die Leinwand vermag nicht wirklich,die Stofflichkeit der Objekte und vor allem ihrer Zwischenräume zusimulieren.

Vieles, was die Oberflächenwirkung einer Farbe betrifft, geht ineiner Abbildung zwangsläufig verloren. Das spielt natürlich eine be-sondere Rolle bei den sogenannten Kontaktfarben, also bei Braun,Grau, Schwarz, Oliv etc., die nur in Verbindung mit der Wahrneh-mung einer Oberfläche auftreten. Die Reflexionseigenschaften ver-schiedener Texturen und das Spiel der Glanzlichter an verschiedenenOberflächen können in einem Bild grundsätzlich nicht reproduziertwerden, denn bewegen wir uns vor einem Bild, so bleiben dort dieerstarrt abgebildeten Spiegelungseffekte konstant, während in derWirklichkeit die leichteste Kopfbewegung sie zum Tanzen bringt. Da-mit sind die Farbinformationen in Bildern grundsätzlich mehrdeutig.

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Hier allerdings sind gewisse Einschränkungen nötig. Künstler habenin der Tat versucht, durch einen jeweils besonderen Farbauftrag dieTexturen und Oberflächen bestimmter Stoffe zu reproduzieren. Wasdurchsichtig ist, wird durch transparente Farbschichten simuliert, glat-tes durch glatten Farbauftrag, faseriges durch eine entsprechendeMalweise wiedergegeben. Pisanello war ein Meister in der Simulationder taktilen Werte von Oberflächen und in der niederländischen Still-lebenmalerei des 17. Jahrhunderts gab es gemalte Blüten, die, aus derNähe betrachtet, wie ein gepresstes Relief anmuten. Andere habensich bemüht, durch den pastosen Farbauftrag Effekte wie das Funkelnan starken Krümmungen zu simulieren. Durch Beimengungen wieSand oder Diamantstaub in die Farbmaterie kommt es gleichfalls zuEffekten, die fotografisch nicht reproduzierbar sind. Genau genommenverlassen sie damit den Bereich der Simulation, denn die beobachtba-ren Effekte sind nicht virtuell, sondern auch wirklich in unserem Real-raum da. Auch die Verwendung fettiger Öle oder Lasuren kann einerOberfläche zu einem realen Glanz verhelfen, der sich der Darstellbar-keit entzieht. Im Prinzip handelt es sich bei der Betrachtung originalerKunstwerke mit ihrem Mikrorelief der Bildoberfläche, dem Farbauf-trag etc. um die Wahrnehmung eines dreidimensionalen Gebildes,was vor allem zutrifft, wenn man den einstigen räumlichen Kontextberücksichtigt. Jedes Bild, auch eine Fotografie oder ein Fernsehbildkann daher als eine Art Flachrelief gelten, dessen reale Oberfläche mitin die Gesamtwirkung eingeht.

Unsere Farbwahrnehmung verarbeitet immer auch Informationen,die aus der Eigenbewegung unseres Körpers resultieren, sodass min-destens noch ein vierter Parameter, nämlich ihre Oberflächenbeschaf-fenheit, hinzugenommen werden muss. Ob eine Farbschicht glänzendoder matt, eben oder plastisch ist, erkennen wir normalerweise erst,wenn wir uns bewegen können. Auch die dokumentarischste Foto-grafie liefert immer nur einen Moment und nicht die Information, diesich aus unserem Bewegungsfluss in einer realen Situation ergibt. DerFarbauftrag ist also ein Faktor, der mit der Wahrnehmung eines Bildesals realer Gegenstand und nicht mit der Wahrnehmung einer fiktivenSituation verbunden ist. Nebenbei bemerkt, ist es wegen solcher undanderer Unterschiede in der Faktur unmöglich, ein solches Bild getreuauf einer Fläche zu reproduzieren. Viele ältere und auch neuere ge-malte Bilder sind im Grunde genommen dreidimensionale Gebilde.

Nimmt man also die Betrachtersituation hinzu, der sich in der Re-gel frei vor dem Bild bewegen kann, so ändern manche Bilder durch-aus und in Abhängigkeit davon ihren Farbeindruck, bei verschiede-

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nem Farbauftrag jedoch auf verschiedene Weise. Dies liegt vor allemdaran, dass bei Vergrößerung des Betrachterabstands unser Augekleinteilige Flächen nicht mehr trennen kann, sondern sie optisch ver-schmelzen. Da unsere Farbwahrnehmung die einzelnen Farbempfin-dungen immer in Bezug zum Gesamtdurchschnitt aller empfangenenFarbreize setzt, hängt der Farbeindruck eines Bildes auch von seinerGröße relativ zum gesamten Gesichtsfeld ab. Kunstwerke bezieheneinen Großteil ihres Lebens und ihrer Wirkung aus dieser Tatsache.Bilder, die mit verschiedenen Lasurlagen transparenter Farbe überein-ander arbeiten, ändern ihr Aussehen bereits bei leichten Kopfbewe-gungen, da die Anteile des Lichts, die von jeder der verschiedenenFarbschichten zurückgeworfen werden, je nach Einfallswinkel differie-ren. Ebenso verhält es sich bei stark pastosem Farbauftrag, wie in denBildern van Goghs, wo die Unebenheiten und der Glanz der Farbma-terie die Zusammensetzung des zurückgeworfenen Lichts ständigmodifizieren. Aber selbst deckende, stumpfe Farben, die glatt aufge-tragen sind und nur mit ihrer obersten Schicht Licht reflektieren,ändern ihr Aussehen bei Betrachterbewegung.

Gleichwohl weist das beschriebene Verfahren der Simulation vonOberflächen in der Malerei enge Grenzen auf. Nur von Haus ausflächige und nahsichtig gesehene Entitäten lassen sich so wiederge-ben, was dann aber mit der Illusion der dritten Dimension kollidiert.Die kubistischen Collagen, wo tatsächlich Texturen und andere Ober-flächenwerte auf eine Fläche aufgeklebt wurden, verdeutlichen gleich-falls Möglichkeiten und Grenzen dieses Verfahrens. Prinzipiell lässtsich eine dreidimensionale Situation, in der ich mich frei bewegenkann, auch nur in drei Dimensionen wiedergeben. Die auf konkreteOberflächen bezogene Farbkonstanz, die sich in unserer dreidimensio-nalen Realität sonst unwillkürlich einstellt, muss demnach bei Bildernsuspendiert werden, wenn die dargestellte Virtualität zählen soll. Wiegeht das zu?

Nun ist die Materialität geradezu per Definition nicht in ein ande-res Medium überführbar und der nahsichtige Tastsinn und die mitihm verbundenen Körpererfahrungen bilden das Andere der Virtua-lität. Gewissermaßen als Kompensation für die Herrschaft der Medienhaben sich die heutigen Künstler dem Material zugewandt, den subti-len Reizen der Faktur, den Textunterschieden und explorieren vorallem in den künstlerischen Installationen die reale Körpererfahrungim realen Raum. Es scheint deshalb, dass gegenwärtig der Spielraumfür Künstler und Gestalter in der Verbindung von Farbe und Materia-lität liegt. Hatten sich die Künstler der Bauhaus-Generation intensiv

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mit Farblehren befasst, um Gesetzmäßigkeiten zu finden oder Harmo-nielehren aufzustellen, so ist diese Beschäftigung heute aus der Modegekommen. Nicht zuletzt wegen der Fortschritte in der Farbmetrik,den Messtechniken und computergestützten Farbsystemen sehenKünstler in diesen Feldern offenbar immer weniger Möglichkeiten fürdie Entfaltung der eigenen Kreativität. Farben in Verbindung mit dentaktilen Werten der Bearbeitung dagegen vermögen es noch, unserVerlangen nach Integrität zum Ausdruck zu bringen oder den Charak-ter des Echten, Authentischen heraufzubeschwören. Sie verkörpern innuce eine Natur, eine Geschichte oder eine Lebensweise und verspre-chen ein eigenes, unentfremdetes Verhältnis zu den Dingen.

Das Interesse am Farbauftrag, an der Faktur, führt aber zur Mate-rialästhetik. Ein Bild eines metallenen Gegenstandes etwa kann dieOberflächeneigenschaften von Metall, die wir durch Eigenbewegun-gen erfahren, in diesem Fall etwa die Veränderungen der Spiegelbil-der, nicht wiedergeben: Auch wenn wir das Bild vor uns drehen,bleibt die abgebildete Spiegelung gleich. Wenn die Beziehung derFarbe zu ihrem materiellen Träger entscheidend wird, so ist derSchritt zur Installation nahezu erzwungen. Wird die körperliche An-wesenheit des Betrachters, d. h. seine Eigenbewegung in die künstle-rische Rechnung mit einbezogen, so bereiten sich Künstler eine drei-dimensionale Malfläche sogar dann, wenn diese eben bleibt. DieWerke Robert Rymans wären hier anzuführen. Es handelt sich beiihnen um quadratische Bilder, die immer mit der gleichen weißenFarbe gemalt sind. Was variiert, sind Elemente wie Untergrund, mehroder weniger pastose Farbauftragsweise und auch die Art, wie sie ander Wand angebracht sind. Obwohl sie auf den ersten Blick wie Bil-der aussehen, handelt es sich doch um eine Art dreidimensionalesRelief, das in einer Fotografie nicht zureichend wiederzugeben ist.

Paul Klee hat 1920 seinen Beitrag zum Sammelband SchöpferischeKonfession mit dem berühmten Satz begonnen: »Kunst gibt nicht dasSichtbare wieder, sondern macht sichtbar.«5 Wenn sogar die technischimmer perfekteren Kameras an eine unaufhebbare Grenze der Nach-ahmung stoßen, sollte man dann vielleicht in Bildern eine eigene ArtWahrnehmungsangebot sehen, mit dem direkt auf das Gehirn einge-wirkt werden kann? Das haben Maler natürlich länger schon vermutetund jedenfalls danach gehandelt. Das Bild muss in sich als ein eigen-ständiges Wahrnehmungsangebot stimmen und sich nicht an einerNachahmungsrelation zu einer vorgegebenen Wirklichkeit messen. Esmuss die Wahrnehmung des Betrachters zufriedenstellen und denstören Auslassungen, Verzerrungen, Übertreibungen keineswegs, eher

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im Gegenteil. In Bildern können Farben reiner und gesättigter sein,kann auf Schattierung verzichtet werden, und anderes mehr. Da diesder Gegenstand des folgenden Kapitels ist, sei hier nur festgestellt,was an Bildern anders wahrgenommen wird als in einem dreidimen-sionalen Raum. Im Wesentlichen sind dies bestimmte Interferenzendurch die beiden Seiten der twofoldness. Der virtuelle, abgebildeteRaum und der ichbezogene Realraum kollidieren. Deshalb wird dersogenannte Ton, eine Art farbiger Lasur über einem ganzen Bild (ver-gleichbar dem Farbstich eines Fotos), dem die Künstler im 18. und19. Jahrhundert viel Aufmerksamkeit gewidmet haben, unter Galerie-bedingungen sofort erkannt, während wir in der Natur durch die Assi-milation etwa das Tragen gefärbter Sonnenbrillen oder die unter-schiedliche Zusammensetzung des Tageslichts mühelos kompensieren,da unsere Wahrnehmung mehr an den Relationen der Farbfleckenzueinander interessiert ist als an ihrer qualitativen Zusammensetzung.Dargestelltes Licht und Standortlicht sind nicht identisch. Das aberhat ebenfalls zur Folge, dass wir anhand farbiger Abbildungen nurrecht allgemeine Anhaltspunkte über die Lokalfarbe der abgebildetenGegenstände gewinnen können. Auf Bildern ist unter anderem auchdie Leistung der Größenkonstanz beeinträchtigt. Wir empfinden viel-leicht bei einer liegenden Figur den Fuß riesengroß gegenüber demwinzigen Kopf, was in der dreidimensionalen Situation selten auffällt.

Künstler haben beispielsweise bemerkt, dass viele farbliche Kombi-nationen, die in der Wirklichkeit problemlos sein mögen, in Bildernnicht angängig sind. Das Problem der Harmonie der Farben, mit demsie sich vielfach beschäftigt haben, stellt sich ihnen nicht von unge-fähr. Kombinieren wir dreidimensionale Objekte‚ so wirken sie seltenso unangenehm für das Auge, wie es der Fall sein kann, wenn zweioder mehr Farben auf einer Fläche aneinander stoßen. Die Raum-wahrnehmung mit dem Wechsel der Ansichten, dem vereinheitlichen-den Licht, den Reflexfarben, die die Gegenstände aufeinander ab-strahlen und anderes sind dafür verantwortlich. Auf der Fläche fälltdies alles weg, vor allem macht sich das Fehlen von Reflexlichtern,das die Farben einander angleicht, störend bemerkbar. Umgekehrtgibt es eine Reihe von Erscheinungen, die eigentlich nur auf derFläche auftritt. Sehen wir von Effekten ab, die nicht direkt die Farbebetreffen, wie die Bewegungswahrnehmung oder die erwähnte Min-derung der Größenkonstanz wie auch fast alle anderen optischen Illu-sionen, so bleiben vor allem der Simultankontrast wie auch seinGegenspieler, der Bezoldeffekt. Aber auch die sonst von der Wahr-nehmung eher unterdrückten Elemente wie Schatten oder Hohlräume

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zwischen Objekten fallen auf Bildern deutlich stärker auf als sonst.Dass solche ›Negativformen‹ auf Bildern das gleiche Gewicht bekom-men wie die Formen der Objekte, die eigentlich gemeint sind, lerntman schon im Kunstunterricht. Das in der Malerei zu beobachtendeTabu des auf menschliche Körper fallenden Schlagschattens dürfteebenso wie die verblüffende Toleranz für fehlende oder auch falscheSchatten darauf zurückgehen.

Wie erinnerlich, bereitet es uns normalerweise keine Schwierigkei-ten, eine gut beleuchtete graue Fläche von einer weniger gut be-leuchteten weißen Fläche zu unterscheiden. Für die Malerei gilt diesnicht. Ein Maler muss die Schattenseite eines weißen Hauses miteiner grauen Palettenfarbe wiedergeben, die vielleicht dunkler ist alsdas Grau des Daches im Sonnenlicht. Im Bild sehen wir beide Farb-flecken als Teil der gleichen Oberfläche, nämlich der des Bildes, ver-gleichen sie direkt und haben deshalb mehr Mühe, die eine alsweiße, verschattete Lokalfarbe und die andere als graue, beleuchteteLokalfarbe zu interpretieren. Ähnliches gilt insbesondere für die ande-ren Kontaktfarben wie Braun, aber auch für die Wiedergabe glänzen-der Flächen wie Gold. Halten wir fest, dass Bilder – und sogar dieperfektesten Farbfotos – nicht die Lokalfarbe der Gegenstände zeigenund auch nicht zeigen können, wenn wir sie als halbwegs zutreffendeWiedergabe eines Farbeindrucks akzeptieren sollen. Dass das rötlicheHaar einer Marktfrau den gleichen Farbton besitzt wie die Karotte,die sie verkauft, fällt eigentlich erst einem Maler wie Degas auf, derbeides in die Pigmentfarben seiner Palette umsetzen muss.6 Hinzukommt, dass die in natürlichen Szenerien von uns bemerkbarenUnterschiede zwischen den hellsten und dunkelsten Stellen vielleichtim Faktor 1 zu 50 differieren, während das hellste Weiß und das dun-kelste Schwarz auf einem Bild, auch einem Farbfoto, sich nur um denFaktor 1 zu 10 unterscheiden. Unserer Wahrnehmung genügen aberdie Relationen der Bildfarben zueinander. Sind diese im Einklang mitden in der Natur beobachteten, so konstruieren wir uns ein zufrie-denstellendes Bild. Künstler haben diesen Sachverhalt häufig festge-stellt. So sprach Cézanne von den Äquivalenten, die dem Maler an-stelle der natürlichen Gegebenheiten zur Verfügung stünden und diein eine zur Natur parallele Ordnung gebracht werden müssten. Char-les Blanc, der eine Konversation mit Delacroix wiedergibt, behaupte-te, dass die großen Koloristen diejenigen seien, die keine Lokalfarbebenutzten, worauf Delacroix antwortete: »Vollkommen richtig, das daz. B. ist ein Farbton!«, wobei er auf das schmutzige Grau des Pflasterszeigte, »also gut, wenn man zu Paolo Veronese gesagt hätte: malt mir

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eine schöne blonde Frau, deren Fleisch diesen Farbton da hat, hätteer sie gemalt, und die Frau auf seinem Bild wäre eine schöne blondeFrau geworden.«7

Außerdem gibt es die von unserem Wahrnehmungssystem hervor-gebrachten Farberscheinungen, wie etwa die Irradiation, bestimmteKontrastphänomene wie die in früheren Kapiteln beschriebenenBezoldeffekte und den Simultankontrast oder auch Nachbilder etc.Goethe hat diese Erscheinungen als erster ausführlich untersucht undunter dem Begriff ›physiologische Farben‹ zusammengefasst. SolchePhänomene, die man als Äquivalent zu den bekannten optischen Täu-schungen im Bereich der Farbwahrnehmungen bezeichnen könnte,fallen uns jedoch üblicherweise nicht auf. Wenn doch, dann sind wiruns zumeist nicht im Unklaren, dass es sich um subjektive Phäno-mene handelt. Josef Albers, dem wir die zurzeit angesehenste Künst-lerfarbenlehre verdanken, hat seine Farbtheorie gerade auf demUnterschied zwischen dem, was wir unabweisbar als subjektives Kon-trastphänomen in unserer Farbwahrnehmung sehen (in seiner Termi-nologie actual fact) und dem, was wir gleichwohl als physikalisch vor-liegenden Sachverhalt zu erkennen meinen (in seiner Terminologiefactual fact), d. h. als objektiv gegeben erachten, aufgebaut. Solchesubjektiven Farbwahrnehmungen mögen uns zwar viel über die Funk-tionsweise unserer Farbwahrnehmung lehren und darüber hinaus inErinnerung rufen, dass jede unserer Sinneswahrnehmungen nicht ein-fach mehr oder weniger mechanisch von einem äußeren Reiz verur-sacht ist und uns die objektive Natur dieses Reizes verrät, d. h. unsunvermittelt etwas über die Außenwelt mitteilt, sondern ein Produktsowohl aus unserem körperlichen Zustand und unserer Wahrneh-mungsweise wie von einem äußeren Reiz ist. Sinneswahrnehmungensagen uns nicht nur etwas über die äußere Wirklichkeit, sondern auchdarüber, wie wichtig beim gegebenen körperlichen Zustand wir dieseReize nehmen sollen, welche Bedeutung sie für uns haben etc.

Oben war davon die Rede, dass farbige Abbildungen nicht dieLokalfarben wiedergeben können und auch nicht die Verarbeitungs-prozesse der Farbwahrnehmung im Gehirn vorwegnehmen dürfen.Dies muss nun ein wenig modifiziert werden. Es gibt den in vielenpopulären Malschulen verbreiteten Rat, die Farben der natürlichenGegenstände in einem Bild ein wenig zu übertreiben. Ähnliche Emp-fehlungen haben z. B. Gauguin und Matisse ausgesprochen, dochscheint letzten Endes dieser Rat auf Delacroix zurückzugehen. Diesermeinte, dass wegen des Anteils an Streulicht, das in jedem von einerBildoberfläche reflektierten Lichts enthalten sei, die Bildfarben blasser

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erscheinen würden, man ihre Sättigung also übertreiben müsse. Auchbei Film- und Fernsehbildern, Farbfotos oder Comics sind die von denmeisten Menschen bevorzugt Farben bunter als in der Wirklichkeit.Zwar gibt es in diesem Bereich auch eine stark kulturelle Komponen-te, aber auch in den chromophoben Subkulturen sind Abbildungen inihrer Farbigkeit meist ausgeprägter als die realen Vorbilder. Es scheintalso, dass man zweierlei unterscheiden muss: Die Vorliebe für kräfti-ge, gesättigte Farben bei vielen Menschen, die nur deshalb stellver-tretend in Bildern ausgelebt wird, weil sie in der Wirklichkeit schwe-rer zu befriedigen ist, und die Neigung, grundsätzlich Bilder farbigerzu gestalten als das, was sie abbilden.

Viele andere Elemente der Verarbeitung visueller Reize verhaltensich in Bildern ganz anders als die Farbkonstanz. Sie können dortsozusagen vorweg genommen werden. Zum Beispiel lassen wir es unsbei der Umrisszeichnung gefallen, dass die im Verlauf der Wahrneh-mung erfolgenden Abstraktionsleistungen im Bild bereits vollzogensind, sodass wir rascher das Wesentliche erkennen können. Nochimmer und aus gutem Grund verwenden medizinische LehrbücherSchemazeichnungen von Körperorganen, obwohl auch Fotografien zurVerfügung stünden, denn sie erleichtern das Erkennen der relevantenUnterschiede. Auch Comics oder Karikaturen können wir mühelosverstehen, weil die in ihnen vollzogene Abstraktionsleistung unserernormalen Gesichtswahrnehmung buchstäblich entgegenkommt. Dasheißt aber, dass wir Bilder nur bedingt auf die gleiche Weise sehenwie die dreidimensionale Wirklichkeit. Selbst eine perfekte Farbfoto-grafie kann grundsätzlich nicht so wirken wie der Wirklichkeitsaus-schnitt, den sie wiedergibt. Den Wirklichkeitsausschnitt sehen wirohne Begrenzungen in einer einheitlichen Beleuchtungssituation. DasFarbfoto dagegen bildet selbst ein begrenztes Objekt in unseremGesichtsfeld. Unsere Augen akkomodieren, um das Objekt Foto inunserer Hand scharf zu sehen, auf eine Entfernung von einigen Dezi-metern und nicht, um die vielleicht dargestellte Landschaft mit paral-lel ausgerichteten, entspannten Augen deutlich zu sehen. Die Be-leuchtungssituation des Fotos als Objekt und die wiedergegebeneBeleuchtungssituation auf dem Foto sind zwei verschiedene Dinge.Das Foto zeigt vielleicht eine Außenszene an einem hellen Sommer-tag, wo unsere Augen auf eine große Lichtmenge eingestellt waren,während es als Objekt mit geweiteten Pupillen im Innenraum ange-blickt wird. Bei der realen Szenerie wirkt die Assimilation, d. h., wirwerden nicht gewahr, dass im Licht etwa der kurzwellige Anteil domi-niert. Das Foto dagegen als kleiner Teil einer anderen Gesamtbe-

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leuchtung weist in diesem Fall deutlich einen Blaustich auf. Auchkönnen wir nicht ganz davon absehen, dass die Farben auf einemFoto Teil der Fotooberfläche sind. Ob die Bildoberfläche hoch glän-zend oder matt ist, ob auf grobem Zeitungspapier oder Stoff gedrucktbzw. hinter Glas und Rahmen auf einer Fläche ohne Mikrorelief,beeinflusst unterschwellig auch die dargestellte Fiktion. Hinzu kommt,dass die flächig nebeneinanderliegenden Bildfarben im Sinne desSimultankontrastes miteinander agieren, und zwar anders und stärkerals in der dreidimensionalen Wirklichkeit. Es gibt also merkwürdigeInteraktionen der beiden Seiten der twofoldness.

Bilder können Farben übertreiben, unrealistische Farben zeigen, aufModellierung verzichten, Konturen hervorheben, schematisieren undwas noch alles, sie können Konflikte zwischen Farben und Formen,zwischen Farben und der Konsistenz der Raumdarstellung erzeugen,die permanenten Züge eines Gedächtnisbildes mit den Lokalfarbensimulieren, sie können die Farbwahrnehmung überfordern, die Mel-dungen diverser Gehirnzentren gegeneinander ausspielen, wie es beiden subjektiven Phänomenen der Fall ist, sie können in einem sozia-len Kontext betrachtet werden, der letztere beispielsweise als ›geistig‹ansieht. Was sonst im Sinne der Imperative der Handlung zurückge-stellt wird, vielleicht alarmiert und verstört, kann miteinander vergli-chen und abgewogen werden. Das alles rührt, wie oben angedeutet,daher, dass Bilder nicht Handlungen hervorrufen, sondern studiert,kontempliert, in Ruhe betrachtet werden können. Da sie, d. h. derdargestellte, virtuelle Teil von ihnen, nicht wirklich Teil unseres ichbe-zogenen Handlungsraumes sind, eignet ihnen der Charakter eines ›alsob‹. Bilder verhalten sich wie fernsichtig wahrgenommene Erschei-nungen. Sehe ich eine Gebirgskette in der Ferne, so ändert sie, imGegensatz zu einem – sagen wir – Stuhl vor mir, ihr Aussehen nicht,auch wenn ich mich hin- und her bewege. Eine mögliche Gefahr, dieerst am Horizont auftaucht, erlaubt aber Nachdenken und Planung.Selbst Fernsehbilder in unserem Wohnzimmer, von denen wir nichtbezweifeln, dass die abgebildeten Katastrophen real irgendwo stattge-funden haben, haben Teil an diesem Charakter eines ›als ob‹ odereiner sehr entfernten Realität. Es sind eben nur Bilder und sie zwin-gen uns nicht, sofort aufzustehen und zu Hilfe zu eilen oder sich inSicherheit zu bringen.

Damit haben wir also die Zweiteilung, dass die neuen Medien,Fernsehen, Film, Video, aber auch die Printmedien den Bildträgermöglichst wenig in Erscheinung treten lassen wollen – wir sollendurch ihn hindurch das Dargestellte oder Repräsentierte sehen –

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während die Künstler sich umgekehrt um den Bildträger als materiel-les Objekt bemühen und den diversen Formen der Interaktion zwi-schen den beiden Seiten der twofoldness besondere Aufmerksamkeitwidmen. Letzteres führt zur Installation. Es gibt aber auch Kunstwer-ke, die ebenso wie die Medien den Bildträger vergessen machen wol-len und dennoch nicht an der Mimesis, der Simulation oder sonsteiner Darstellung der Wirklichkeit interessiert sind, sondern die in Bil-dern mögliche Wirklichkeit sui generis zu erzeugen suchen. Sie sindeng mit Phänomenen wie der Erzeugung von Film- oder Flächenfar-ben, d. h. dem Zusammenbruch der Farbkonstanz oder auch demFarbraum verbunden. Ihre Besonderheit ist, dass sie als losgelöst voneinem Bildträger erscheinen. Auch in der Natur gibt es Farben ohne(wahrnehmbare) Oberfläche. Es handelt sich um Objekte, die vonNatur aus schwer fassbar oder isolierbar sind, etwa Dunst, Rauchoder die Luft zwischen nahen und entfernten Bergen, doch sind wirin der Regel an ihnen weniger interessiert als an den dinghaften,greifbaren Gegenständen. In unserer natürlichen Umwelt kommt esgelegentlich vor, dass wir Farben nicht konkreten Oberflächen zuord-nen können. Die Farbkonstanz versagt z. B. bei einer strukturlosen,einzigen Fläche.

Der Kontrast in einer natürlichen Szenerie ist in der Regel um einvielfaches größer als der Kontrast, der auf einer Bildfläche mit Pig-menten oder Farbmitteln zu erreichen ist. Eine Lichtquelle wie einFenster oder eine Lampe – von der Sonne zu schweigen – dürfte eini-ge hundert Mal stärker sein als der Schatten unter dem Tisch, wäh-rend der Unterschied zwischen dem schwärzesten Schwarz und demhellsten Weiß bestenfalls um den Faktor 20 beträgt. (Allerdings kannbei transparenten Medien wie Glasfenstern oder Lichtkästen, wie sieder Künstler Jeff Wall benutzt, ein wesentlich höherer Kontrastum-fang erzielt werden.) Dies wirft für Bildhersteller gewisse Problemeauf, wie diese Beschränkungen zu kompensieren sind. Eine Möglich-keit besteht darin, die Farbigkeit zu steigern, d. h. gegenüber denValeurkontrasten die Farbkontraste zu übertreiben. Dies hatte schonDelacroix gefordert. Der erwähnte ›Farbbeitrag‹, die Tatsache, dassauffällige Farben heller und intensiver eingeschätzt werden, als sieihrem Ort im Farbraum entsprechend sein dürften, ist hier entschei-dend beteiligt. Gerade wenn der Valeurkontrast kaum eine Rollespielt, während stark gegensätzliche äquiluminante Farben auftreten,kommt es gern zu einem Flimmern, zu Bewegungsillusionen und der-gleichen, die die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und für den fehlen-den Hell-Dunkel-Kontrast eintreten. Ein gutes Beispiel für diesen

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Effekt bietet Monets Bild Impression soleil levant, wo sich die Sonnein ihrer Helligkeit so gut wie nicht vom kühlen Hintergrund unter-scheidet, wohl aber in ihrer Farbigkeit.

Anmerkungen:

1 Zur Entwicklung der Bildwahrnehmung bei Kindern vgl. Paul Bloom, Descartes’

Baby, London 2004.

2 Vgl. Richard Wollheim, Painting as an Art, London 1987.

3 Vgl. Mark Rothko, The Artist’s Reality, Yale 2004.

4 Vgl. Plinius d. Ä., Naturkunde, Tusculum-Ausgabe, Bd. 35, hrsg. und übersetzt

von R. König, Zürich 1996.

5 Vgl. Paul Klee, Schriften, Rezensionen und Aufsätze, hrsg. von Christian Geelhaar,

Köln 1976, S. 118.

6 Vgl. James Fenton, Leonardo’s Nephew, London 1999, S. 133f.

7 Vgl. Claude Lévi-Strauss, Sehen – Hören – Lesen, Frankfurt/M. 2004, S. 35f.

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Farbstile

Farbstile als Gegebenheiten der Wahrnehmung

Die Stilgeschichte zählt zu den ältesten Verfahren der Kunstgeschich-te, ja viele Jahrzehnte lang konnte man beide sogar als synonym an-sehen. Dass man allein durch Anschauen und Vergleichen, d. h. auf-grund von wahrnehmungsmäßig gewonnenen Merkmalen, Objekteund Bilder relativ zuverlässig zueinander gruppieren kann, bildet da-bei die Voraussetzung. Zwar ist auch dieser Vorgang noch nicht sorecht verstanden, denn die möglichen Ordnungskategorien sind viel-fältig und hängen nicht zuletzt von der Aufmerksamkeitsrichtung ab,wie auch die geläufigen Taxonomien und Klassifikationssysteme einegewisse Abhängigkeit von historischen und sozialen Bedingungen auf-weisen. Dennoch: hat man einmal einen bestimmten Rahmen ge-wählt, so sind die möglichen Zuordnungen keineswegs frei. Je nachInteresse und Aufmerksamkeitsrichtung kann man zwar zu höchstunterschiedlichen Zusammenstellungen kommen, doch müssen diesedann jeweils in sich konsistent sein. Letztlich handelt es sich bei derStilanalyse um eine Art von Spurenlesen, eine, wie Carlo Ginzburggezeigt hat, fundamentale Tätigkeit der Menschheit, die Jäger, Rönt-genärzte – ein Radiologe benötigt drei bis fünf Jahre, um auf dieHöhe der erforderlichen Leistungsfähigkeit zu kommen – Archäolo-gen, Detektive und Psychoanalytiker, Kunstkenner, Mediziner sowieandere Berufsgruppen vereint. Ohne Generalisierungen wären wirnicht lebens- und lernfähig. Anscheinend sind also auch bei Zu-ordnungen nach phänomenologischen Kriterien stammesgeschichtlicherworbene Erfahrungen mit ihren statistischen Annahmen am Werk.Die Wahrnehmung seligiert und kategorisiert nach eigenen Bedeutun-gen. Gerade die Kategorisierung stellt eine der fundamentalsten logi-schen Operationen dar, welche die Kognition leistet. Es gibt also einegemeinsame Basis, auf der sich die kulturellen Differenzen unsererKlassifikationen entwickeln können.

Wohl jeder Reisende hat die Erfahrung gemacht, dass ihm die Far-bigkeit an einem neuen Ort auffällt, ungewohnt und merkwürdig vor-kommt. Nicht selten wird der Versuch gemacht, diese andere Farbig-keit festzuhalten. Heutzutage erscheinen in schöner Regelmäßigkeit

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Fotobände mit Titeln wie Die Farben Afrikas, Die Farben Japans, DieFarben Frankreichs, von den Reiseberichten zu schweigen, in denender Farbenpracht am neuen Ort eine kausale Rolle für die Elation derBesucher zugeschrieben wird. Schon Goethe hatte übrigens einzelnenNationen wie den Franzosen, Italienern, Engländern und Deutschenspezifische farbige Vorlieben zugeschrieben. Und natürlich haben rei-sende Künstler auch schon vor der Erfindung des Farbfilms versucht,die für sie ungewohnte Farbigkeit anderer Orte einzufangen. Der Be-griff des Lokalkolorits, der allerdings auch kulturelle Faktoren wieKostüme etc. umfasst, geht darauf zurück. Da schon der Brauch, Wä-scheleinen zwischen den Häusern zu spannen (und sie zu nutzen), dieFarbigkeit einer Stadt verändern kann, ist dies auch nicht unsinnig.Das Licht Italiens, insbesondere das von Venedig, später das von Süd-frankreich bzw. Nordafrika, ja sogar der Südsee hat in den Überliefe-rungen der Künstler geradezu mythischen Status erhalten. Doch selbstin einem Museum ist es häufig möglich, bereits vor der Identifikationeinzelner Künstlernamen oder der Sujets zu erkennen, dass es sichum Franzosen des 18. Jahrhunderts handeln muss oder um Niederlän-der des 17. Jahrhunderts. Da ist also etwas dran. Es gibt so etwas wieFarbstile und wir verbinden manche Epochen mit den für sie charak-teristischen Farben, etwa die 1950er-Jahre mit pastellenen Eisdielen-farben oder die 1970er-Jahre mit psychedelischen Farbwirkungen.

Es fällt auch nicht schwer, Gründe anzuführen, weshalb die Farbig-keit an anderen Orten und Kulturen anders als die uns vertraute aus-fällt. Beispielsweise spielen für den Eindruck einer Landschaft dieFarbigkeit des Bodens, das Vorhandensein von Gewässern und derZustand der Vegetation eine Rolle. Der Himmel bzw. das Klima habengroßen Einfluss. In südlichen Breitengraden steht die Sonne höher, istes meistens trockener, wird das Licht weniger getrübt, fällt gerichteterund intensiver aus usw. Auch die Haut-, Haar- und Augenfarben derjeweiligen Menschen sind nicht ohne Belang, denn sie haben Einflussauf die Farben, mit denen sie sich bevorzugt kleiden. Was die Archi-tektur angeht, spielt natürlich das Baumaterial eine Rolle. In Städtenwie Toulouse, die von roten Backsteinbauten dominiert werden, istdie Farbigkeit anders als in solchen wie Weimar, in denen das Mauer-werk verputzt und sandgelb gestrichen wird. Sandstein, vielleichtdurch Ruß geschwärzt, oder gestrichenes Holz haben natürlich auchihre spezifische Auswirkung auf die Farbigkeit der gebauten Umwelt.Selbstverständlich sind kulturelle Faktoren ebenfalls nicht unwirksam,beispielsweise im kaiserlichen China, wo bestimmte Ziegelfarben anDächern nur den Staatsbauten vorbehalten waren. Auch in Europa

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signalisierten die auffälligen Kupferdächer mit ihrer dem Grünspangeschuldeten Färbung einen gewissen Repräsentationsanspruch.

In unserer Kultur gilt farbige Zurückhaltung, die auf Nuancen undMaterialien setzt, alles in allem immer noch als elegant, vornehm undgeschmackvoll, weshalb die Ästhetik der Punks als Angriff auf dieWerte der dominierenden Schicht erscheint. Auch pflegen bäuerlicheKulturen eine andere Art von Umgang mit Farbe als städtische. Inanderen Kulturen kann es sein, dass Männer bunter angezogen sindals Frauen, dass die kulturellen Regeln etwa zur Festlegung der Trau-erfarben anders ausfallen als die uns vertrauten und natürlich gibt esschlicht auch unterschiedliche Traditionen, Moden und Vorliebenoder gar den banalen Mangel an Farbmitteln. Wenn man von dervielfach konstatierten farbigen Tristesse im ehemaligen Ostblock ab-sieht, so wäre zu erwähnen, dass für viele Stammeskulturen Schwarz,Weiß sowie roter und gelber Ocker die einzigen haltbaren und ingrößerer Menge verfügbaren Pigmente darstellten, was ein Gangdurch eine ethnologische Sammlung leicht bestätigen kann. Ihnenentsprechen auch die vier Grundfarben der Griechen und man kanndas Nachleben dieser Tatsache bis in die Neuzeit verfolgen.

Das Phänomen unterschiedlicher Farbstile selber ist also zweifellosreal. Viele würden sogar der Aussage zustimmen, dass Farbempfin-dungen eine Rolle spielen, dass die Farben in unserer Umgebungeinen messbaren physiologischen und nicht-willkürlichen Einfluss aufunsere psychische Gestimmtheit bzw. Affekte haben. Allerdings habenan die hundert Jahre Forschung in diesem Bereich zu recht wenigbzw. eigentlich nur zu der gesicherten Aussage geführt, dass Roteinen aktivierenden und Blau einen dämpfenden Einfluss besitzt. Manmuss also differenzierter vorgehen. Gleichwohl fallen auch dann dieVersuche, solche Unterschiede zu fassen und zu beschreiben, meis-tens unbefriedigend aus. In der Regel handelt es sich um nicht mehrals eine subjektive Auswahl mehr oder weniger interessanter Einzel-beobachtungen. Im besten Fall werden fünf bis zehn Farben vorge-stellt, die für den jeweiligen Ort typisch sein sollen und sich besonde-rer Beliebtheit erfreuen würden. Das Verfahren ist nicht völlig von derHand zu weisen, aber doch unzureichend. Es ähnelt dem, wie Desig-ner eine Farbfamilie festlegen oder wie jedes Jahr ein Sortiment anModefarben präsentiert wird. Dabei geht es eigentlich nur um eineBeschränkung auf wenige Farben, die klar voneinander abgegrenztsind und beständig wiederkehren, was anscheinend der Wahrneh-mung entgegenkommt und von ihr als angenehm empfunden wird.Dies wusste schon Alberti, der feststellt, dass man Anmut erzielt,

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wenn eine Farbe sehr stark von den anderen in ihrer Umgebung ab-weicht.

Natürlich gehorchen die Farben in den verschiedenen Kulturkreisennicht einer solchen freiwilligen Beschränkung nach dem Muster vonpainting-by-numbers, was die erwähnten Bemühungen fragwürdigmacht. Die Identifikation von Einzelfarben ohne Berücksichtigungihrer Interaktionen kann bestenfalls den Ausgangspunkt einer Unter-suchung bilden. Nicht nur werfen die meisten Autoren die unter-schiedlichsten Dinge in einen Topf, es fehlt häufig am Willen, analy-tisch vorzugehen. Ohne lange über die Gründe für dieses – sagen wir– Desinteresse an überprüfbaren Aussagen zu spekulieren, sollen indiesem Kapitel Vorschläge gemacht werden, wie Farbstile beschriebenwerden können, um eben zu intersubjektiv gültigen Propositionen zugelangen. Dabei soll keine Systematik angestrebt werden, die alleFälle zu behandeln erlaubt, sondern bescheidener nur gezeigt wer-den, dass auch im Fall der Farbe solche überprüfbaren Aussagenmöglich sind und sie zu interessanten und zu berücksichtigenden Er-kenntnissen führen können. Es wird also eher ein Forschungsprojektvorgestellt, das zeigen soll, dass detaillierte Untersuchungen durchausmöglich und weshalb sie sinnvoll sind. Die Grundthese ist, dass sol-che stilistischen Unterschiede nicht lediglich ein Klassifikationsinstru-ment bieten, sondern die jeweiligen stilistischen Optionen auchwahrnehmungspsychologische Konsequenzen zur Folge haben, die indie Gesamtwirkung eingehen. Wenn eine Aufgabe der Kunst darinbesteht, das Vertraute fremd zu machen, dann wird sie nicht zuletztdurch die Stilwahl erfüllt, die uns zumindest zu explorativem Verhal-ten mit allen damit verbundenen psychologischen Konsequenzenzwingt.

Heutzutage gilt die Stilgeschichte allerdings nur als eine Art Hilfs-wissenschaft, als notwendige Grundlage der Kulturwissenschaften,aber nicht mehr. In der Tat bietet sie nur einen begrenzten Nutzen:Sie kann bei der Frage der Unterscheidung von Original und Kopievielleicht helfen, vermag aber nicht zu erklären, weshalb wir das eineschätzen und das andere nicht. Die Intentionalität entgeht ihr. Siekann Wertfragen nicht beantworten, denn prinzipiell sind die Stilegleichwertig. Da sie die Kontextabhängigkeit nicht genügend berück-sichtigt, entgehen ihr die sozialen Konstruktionen des Werts, das, wasKostbarkeit, Seltenheit etc. ausmacht. Die Rolle des sozialen Ortes andem ein Werk begegnet, der ästhetischen Einstellungen, der gerichte-ten Aufmerksamkeit und anderes mehr werden vernachlässigt. Auchist die Vorstellung einer strengen Abfolge der Stile nicht haltbar, man

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muss eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen konzedieren, mussanerkennen, dass verschiedene Kulturen und Subkulturen nebenei-nander existieren mit jeweils eigenen Stilentwicklungen. Selbst dieVerbindung einer Stilphysiognomie zu sozialpsychologischen Sachver-halten (›streng‹, ›heiter‹, ›frivol‹, ›verspielt‹ etc.), wie sie die Mode-journalistik noch ungebrochen praktiziert, sollte als eher gedehnt be-trachtet werden.

Gleichwohl ist eine stilkritische Untersuchung als Klassifikationsin-strument unverzichtbar, zumal wenn andere Informationen fehlen.Vielleicht haben wir das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Schließlichbedarf auch die soziale Konstruktion der Werte eines unterscheidba-ren Substrats, dem eben kulturabhängig ein Wert zu- oder abgespro-chen wird. Nimmt man die Produktionsästhetik ernst, dass, ohne dieIntentionen der Künstler zu kennen, nicht zureichend über Kunstgeurteilt werden kann, so muss man auf alle Fälle den Stilfragen wie-der entschieden mehr Aufmerksamkeit widmen, als dies im gegen-wärtigen Wissenschaftsbetrieb der Fall ist. Künstler denken am meis-ten über Aspekte nach, die auf die äußere, phänomenale Erscheinungihres Werks bezogen sind und als wahrnehmungsmäßig beschriebenwerden können, wobei gerade die Farbe bei vielen von ihnen allesandere als eine nachgeordnete Rolle spielt. Es scheint, dass die Neu-rologie mit ihren aktuellen Versuchen in Richtung einer Neuroästhetikzu einer bedeutsamen Verbesserung der Stilgeschichte und zurKlärung ihrer Grundlagen beitragen kann und bereits beiträgt. Stilesind perzeptuelle Gegebenheiten und sie haben feststellbare Effekte,die bis zu viszeralen Reaktionen reichen. Durch die Gehirnforschungist eine größere Präzisierung ihrer Rolle und der durch sie gegebenenspezifischen Wahrnehmungsangebote für das Gehirn möglich gewor-den und in Zukunft sind weitere Fortschritte in dieser Hinsicht zuerwarten. Die von Semir Zeki ins Leben gerufene Forschungsrichtungeiner neuronalen Ästhetik bewegt sich gegenwärtig (ohne dass diesden Vertretern auch bewusst wäre) in den Bahnen einer Revision undModernisierung der Stilgeschichte.1

Viele Kunstwerke haben Ähnlichkeit mit einem Verfahren, das diePsychologen eine ›funktionale Läsion‹ nennen. Wie wir aus bestimm-ten Ausfällen kognitiver Leistungen als Folge von Verletzungen imGehirn wissen, sind manche Areale mit speziellen Aufgaben betraut.Die von Goodale und Milner untersuchte Patientin Dee, deren Was-System stark beeinträchtigt ist, kann beispielsweise mit Strichzeich-nungen nichts anfangen. Nur geringfügig besser geht es ihr mitSchwarz-Weiß-Abbildungen, während sie bei Farbabbildungen manch-

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mal anhand der Farben und Texturen, insbesondere wenn sie für dasgezeigte Objekt typisch sind, erschließen kann, worum es sich han-delt.2 Wenn man nun ein Wahrnehmungsangebot macht, das be-stimmte Informationen vorenthält, kann man solche Spezialisierungenbzw. das Zusammenwirken verschiedener Teile des Gehirns studieren.Bei Bildern der Koloristen wie Tizian und vielleicht auch bei kubisti-schen Collagen sind wir alle ein wenig in die Lage von Dee versetztund müssen Schlüsse ziehen, ohne dass die globale Formwahrneh-mung uns sonderlich unterstützt. Nun sind bereits Schwarz-Weiß-Gra-fiken solche unvollständigen Wahrnehmungsangebote, auch Strich-zeichnungen, ja Bilder insgesamt, denen die reale dritte Dimensionund meist auch die Bewegung fehlen. Sie entsprechen ein wenigdem, was jemand mit cerebraler Achromatopsie erkennt. Bei dercerebralen Chromatopsie, wie sie der von Oliver Sacks beschriebeneMaler (mit den Initialen J. I.) aufwies, können Patienten ohne Weite-res Konturen und Helligkeiten unterscheiden, sind aber nicht mehr inder Lage, Farben zu erkennen. Interessanterweise jedoch können siesogar solche Konturen angeben, die ausschließlich von äquiluminan-ten Farbfeldern gebildet werden. Sie sind jedoch außerstande zusagen, an welcher Seite beispielsweise das Rot und an welcher dasGrün liegt. Man kann Darstellungen mit unscharfen oder ganz ohneerkennbare Konturen wählen, solche ohne Abschattierung etc. unddamit bestimmte Gehirnzentren mehr oder weniger ausschließen.Dadurch wird das Gehirn gezwungen, neue Koalitionen der immernoch beteiligten Zentren einzugehen, also die einzelnen Module inneue Blocks einzubinden, was, wenn es dennoch gelingt, einen ge-wissen Sinn im Wahrnehmungsangebot zu finden, vom gehirneigenenBelohnungssystem honoriert wird. Dass dies adaptiv ist, dürfte unmit-telbar einleuchten, schließlich führt es zu Lernvorgängen, die beiungewöhnlichen Bedingungen überlebensrelevant sein können. DieWerke von Mark Rothko in der Houston-Chapel in Texas haben je-denfalls laut der Umfrage von James Elkins mehr Kunstliebhaber zuTränen gerührt als andere ältere oder neuere Werke, was doch wohlauch damit zusammenhängen dürfte, dass das in ihnen realisierteWahrnehmungsangebot (im Zusammenwirken mit dem gegebenenKontext) ein Heraustreten aus Raum, Zeit und Kausalität und ein Auf-gehen in einem größeren Ganzen begünstigt, wobei dem ›unfassba-ren‹ Farbraum, verbunden mit dem Verlust der Farbkonstanz, einewichtige Rolle zukommt.3

Die Behandlung der Farbe wurde allerdings aus der älteren Stilge-schichte ausgeklammert. Dies hatte manche verständliche Gründe:

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Formale Stilmerkmale waren vergleichsweise robust, sie blieben auchin Reproduktionen erkennbar, wie sie auch in solchen Gattungen wieZeichnung und Grafik, die ohne Buntfarben auskamen, anwendbarblieben. Für das Kolorit traf dies nicht zu. Deshalb erfolgt die Be-schäftigung mit der Farbe in der Malerei im stilkritischen Schrifttumeher selten. Abgesehen vom Erbteil dieser Wissenschaften als Syste-matisierung des Kennertums, was die Farbgebung in der Malerei alsGeheimnis der Küche des Malers – der Genießer muss zwar wissen,wie ein Omelett schmeckt, nicht aber, wie man es zubereitet – zu deneher lässlichen Kenntnissen zählen lässt, sind dafür auch einige sachli-che Gründe verantwortlich. Da ist zum einen die Unsicherheit überden einstigen Zustand der Werke. Pigmente verändern sich manchmalchemisch, Firnisse werden gelb und dunkeln nach, deckende Schich-ten erscheinen im Laufe der Zeit durchscheinend und dergleichenmehr. Daneben gibt es die Eingriffe der Restauratoren – questi assas-sini – die häufig zur Verfälschung der intendierten Erscheinung einesWerks beigetragen haben. Auch der veränderte Kontext, vor allem dieveränderte Beleuchtungssituation vieler Werke, spielen eine Rolle. ImMuseum sind die Bilder aus dem einstigen Ensemble gerissen, derLichteinfall ist anders, sie sind meist zu hell beleuchtet und der Be-trachterstandpunkt wird näher gewählt als im ursprünglichen Zusam-menhang vorgesehen.

Verfälschungen der Farbwirkung durch Abbildungen erschwerenzusätzlich die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Kolorit. Auchdie besten Fotos können nur einen ungefähren Anhaltspunkt liefernund ersetzen nicht die Beschäftigung mit dem Original, denn die Wir-kung der Bildfarben hängt nicht unwesentlich von der Größe des Bil-des ab, von der Art der Beleuchtung, ja sogar von der Intensität desLichts, von der Beeinflussung durch den sozialen Kontext ganz zuschweigen. Über Farbe zu schreiben, galt daher nur vor dem Originalals statthaft. Koloritforschung verführte nicht selten zu einer Kenner-schaft, die es sich als ungehörig verbittet, wenn sie Gründe für ihr Ur-teil angeben soll. (Bei der Stilgeschichte gab es anfänglich auch diesesPhänomen.) Der in der kunsthistorischen Forschung allmählich erziel-te Konsens, dass man über Farbe als Wissenschaftler nicht schreibenkönne, ist daher nicht ganz unbegründet. Die Abkehr von der Be-schäftigung mit der Farbe führte jedoch zu der perversen und unhalt-baren Situation, dass dicke und gelehrte Bücher über Tizian geschrie-ben werden, einen seinerzeit wie auch heute als Kolorist hochgerühmten Künstler, ohne dass mit nur einem Wort auf diese seinebekannteste und am meisten geschätzte Leistung eingegangen wird.

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Nun ist heute nicht nur die Qualität der farbigen Abbildungen ent-schieden besser geworden und nicht zuletzt hat ihre Verfügbarkeitdrastisch zugenommen, es steht darüber hinaus ein Vokabular zurVerfügung, um Aussagen über einen Farbstil zu treffen, die intersub-jektiv überprüfbar sind. Auch können, wie jeder Fernsehbenutzerweiß, inzwischen Parameter wie Sättigung, Kontrast und Helligkeiteiner Bildfarbe unabhängig voneinander gesteuert und damit unter-sucht werden. Die digitale Bildbearbeitung fügt dem weitere Mög-lichkeiten hinzu. Die Erzeugung virtueller Bilder hat gleichfalls unserWissen um Wahrnehmungsfaktoren entschieden bereichert. Vor allemerlaubt dies Aussagen, die auf einer robusten Grundlage beruhen,sodass sie in weiten Grenzen auch anhand von Abbildungsmaterialgetroffen werden können. Dabei bleibt es jedem Kunstfreund natür-lich unbenommen, weiterhin seine eigene subjektive Reaktion voreinem Kunstwerk zum alleinigen Maßstab zu erheben. Einen Farbstilbeschreiben zu können bedeutet nicht die Verfügung über einen Uni-versalschlüssel für alles und jedes. In Übereinstimmung mit demHauptargument, dass Farbe nicht isoliert von den anderen Elementenbetrachtet werden kann, sodass paradoxerweise gerade die Arbeit ander Form die spezifischen Wirkungsmöglichkeiten der Farbe produ-ziert, ist es heute aber keineswegs mehr angebracht oder geboten,auf die Unterscheidung spezifischer Farbstile zu verzichten. GewisseAussagen zur Farbgebung können getroffen und über sie intersubjek-tive Einigung erzielt werden, die weder inhaltsleer noch unaufhebbarsubjektiv ausfallen. Damit sind die Grenzen, die einer rein stilge-schichtlichen Untersuchung gesetzt sind, zwar nicht aufgehoben, aberes ist doch ein verbessertes Analyseinstrument geschaffen worden. DaStil jedoch etwas mit den internen Weisen der Repräsentation vonBildinformation zu tun hat, sollte gleichwohl festzustellen sein, wel-che Stiloptionen welche Konsequenzen nach sich ziehen. Menschenkönnen die eine oder andere Weise auswählen, die eine je spezifischephysiologische Grundlage haben und damit den Reichtum der Erfah-rungsweisen vergrößern.

Wie in den Kapiteln über die visuelle Wahrnehmung ausgeführt,wird die vom Auge empfangene Information nach verschiedenenMerkmalen in verschiedenen Gehirnzentren verarbeitet, wobei einegewisse Spezialisierung stattfindet. Untersuchungen an Kranken, beidenen bestimmte Gehirnregionen geschädigt sind, geben Hinweise,welche Aufgabe welche Region zu erfüllen hat. Wie bereits ausge-führt, können wir zwar eine Vielzahl solcher visuellen Zentren unter-scheiden, doch muss die Idee einer strengen Modularität aufgegeben

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werden. Hat man ein solches Zentrum identifiziert, das bei einembestimmten Wahrnehmungsangebot aktiv ist, so bedeutet dies kei-neswegs das Ende der Kette, sondern weitere Integrationsvorgängefolgen. Unser normaler Seheindruck entsteht daher aus dem Zusam-menspiel verschiedener Regionen. Je nach Kontext werden anderekortikale Verbindungen gebildet. Ändert sich dieser, werden auch dieFarben neuronal neu eingeschätzt. Bei Gehirnschädigungen im Be-reich der visuellen Wahrnehmung, die nur die Farbwahrnehmung imengeren Sinne intakt gelassen haben, zeigt sich, dass diese alleinkaum zu einer Orientierung in der Umwelt ausreicht, während umge-kehrt ihr Ausfall ganz gut zu verkraften ist. Deshalb kann die Beurtei-lung der Farbwirkung eines Bildes oder einer Installation nicht unab-hängig von der Analyse anderer visueller Elemente wie der Konturenoder der Hell-Dunkel-Wirkung geschehen. Die Regeln der Farbmalerbetreffen daher nicht so sehr die Wahl mehr oder weniger geeigneterEinzelfarben als das Zusammenspiel ihrer Farben mit und die Beschrän-kung durch die anderen Wahrnehmungsfaktoren.

Die auf Hans Jantzen zurückgehende Unterscheidung von Eigen-und Darstellungswert der Farbe bedeutete ja bereits ein solches Ana-lyseinstrument. Sie wurde von der Fachwelt durchaus übernommen,ist aber natürlich zu undifferenziert sowie in ihrem Anwendungsbe-reich viel zu eingeschränkt und insgesamt unzureichend, der Fülle anFarbstilen gerecht zu werden. Nehmen wir allein die Modellierung,d. h. die Abwandlung nach Licht und Schatten, um einer Form Plasti-zität zu verleihen. Ob ein Werk z. B. die gesamte Spannweite an Hell-Dunkel-Unterschieden aufweist oder eher auf äquiluminanten, gleich-mäßig hellen Flächen beruht, ob die Valeurunterschiede in feinen,vielfach abgestuften Übergängen vorkommen oder auf wenige, hartnebeneinander gesetzte Werte beschränkt sind, ob solche Valeurstilestreng monochrom behandelt werden oder farbig interpretiert sind,sodass etwa die dunkleren Stellen einer Farbe ins Bläuliche, die helle-ren ins Gelbliche tendieren, was die Kunstliteratur der Renaissance alscangiantismo bezeichnet, lässt sich mindestens so sicher beurteilenwie der Stilunterschied zwischen Objekten der Früh- und Hochrenais-sance in Italien. Fein abgestufte Valeurs stehen für Dämmerung,während harte Übergänge direktes Sonnenlicht evozieren. Bei Vorlie-gen des cangiantismo kann man dann fragen, wie konsequent erangewandt wird, etwa nach dem Muster, ob die hellen Seiten immerzum Warmen hin und die dunklen immer zum Kühlen hin verändertsind, was auf fast alle impressionistischen Werke zutrifft. Sind beieinem Körper intern konsistente Luminanzabstufungen beachtet, die

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aber von einer Zone zur nächsten inkompatibel wirken? Da eineAbschattierung bei dunklen Stoffen kaum möglich ist, weisen dieseweniger Reliefwirkung auf, weshalb Leonardo sich auf Farben nur immittleren Helligkeitsbereich beschränkt hat. Wird Schwarz gemieden?Ist es der Fall, dass wie etwa bei Seurat oder der ottonischen Buch-malerei reine Farben nur mit Weiß gemischt werden dürfen, sodassihre größte Sättigung mit ihrer größten Dunkelheit zusammenfällt,oder können sie umgekehrt wie bei der gotischen Glasmalerei austechnischen Gründen nur abgedunkelt werden?4

Solche Fragen lassen sich ohne Weiteres auch an Abbildungsmate-rial feststellen. Bei welcher Helligkeitsstufe treten die größten Sätti-gungen auf? Kommt es bei der Modellierung eines Körpers zu erheb-lichen Sättigungsunterschieden, was zu einem metallenen Eindruckführt? Wie verhält es sich mit der Wiedergabe von Glanzlichtern? Derbei byzantinischen Ikonen anzutreffende und als Chrysografie bezeich-nete Brauch, sie mit Gold wiederzugeben, um den übernatürlichenCharakter der dargestellten Personen anzudeuten, bildet nur eine vonvielen Möglichkeiten. Ob Modellierung vorliegt oder ein Verzicht aufModellierung, ob wie oft bei Seurat Kontramodellierung, d. h. einegegenläufige Modellierung des Hintergrunds, hinzugefügt wird, wiedas Verhältnis zu den Konturen aussieht, zu ihrer Auflösung, dürftegleichfalls einer wissenschaftlichen Behandlung zugänglich sein. Wiesind die Schatten behandelt, gibt es Schlagschatten? Wird – wie beivielen archaischen Stilen, aber auch bei Matisse und vielen Comics –der Blickpunkt als identisch mit der Lichtquelle angesehen, wasSchatten ausschließt und reine Farbflächen beschert? Da die Schattenvon unserer Position im Raum abhängen, bietet eine schattenloseDarstellung einen Grad mehr an Invarianzen einer idealen Welt.Wenn man Polaritäten wie profan/sakral oder real/visionär hinzu-nimmt, zeigt sich, dass sie zumeist durch einen spezifischen Einsatzder Farbstile zum Ausdruck gebracht werden. Nicht nur Glanz, Trans-parenz, Reinheit, Kostbarkeit, auch Körperlosigkeit, die durch ent-sprechende Modellierung insinuiert wird, eignet sich zur Darstellungdes Unfassbaren, Unausdrückbaren, Undarstellbaren. Dass so oft an-gestrebt wurde, die Farben so gesättigt wie möglich in Erscheinungtreten zu lassen, auch dass die Verwendung von Schwarz von denunterschiedlichsten Schulen ausgeschlossen wurde, dürfte auf ver-gleichbare Zielsetzungen schließen lassen.

Wenn ein Grafiker wie der in den 1990er-Jahren gefeierte DavidCarsons eine Typografie kreiert, die dem Lesen alle erdenklichenSchwierigkeiten macht, indem unter anderem Farbunterschiede an die

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Stelle von Valeurunterschieden treten und er sich der Äquiluminanzannähert, so müsste dies zweifelsfrei konstatierbar sein und mit ähnli-chen Gestaltungsmitteln etwa bei Robert Indiana verglichen werdenkönnen. Welche Mittel der Verräumlichung sind beibehalten, welcheeskamotiert? Welcher virtuelle Raum ergibt sich daraus? Das Bestre-ben nach Flächigkeit, das weite Teile der Kunst der Moderne be-stimmt hat, wird nicht so sehr an der Farbbehandlung selbst ablesbarals daran, welche Mittel der Raumillusion in Acht und Bann geraten.Das Verhältnis der Farbe nicht einfach zum Raum, sondern insbeson-dere zu den Ortsfrequenzen, was eine der Besonderheiten Tiziansausmacht, kann beschrieben werden, ohne in den orakelhaften Tondes Sehers zu verfallen. Dass Cézanne den spreading-effect nutzt,wenn er nur an den Kanten Farben angibt und die weißen Flächendazwischen unbehandelt lässt, dass Rothko mit seinen wattigen For-men die Farbkonstanz aufhebt, was als Transzendenzerfahrung erlebtwerden kann, sollte eben so unstrittig sein wie die Frage, ob jemandeher die Blau-Gelb-Achse (wie Vermeer) oder die Rot-Grün-Achse(wie Delacroix) bevorzugt. Dies müsste dann noch mit dem jeweiligenVerhältnis zum Hell-Dunkel-Parameter in Beziehung gesetzt werden.Die Organisation der Buntfarben nach einer sie übergreifendenWarm-Kalt-Ordnung wie etwa bei Bonnard sollte ebenfalls selbst an-hand von Abbildungsmaterial zu konstatieren sein.

Da die Farbwahrnehmung dazu dient, verschiedene Objekte aus-einanderzuhalten, kann eine Darstellung wie bei Comics, wo mit kräf-tigen Farben versehene Felder mit deutlichen Konturen so voneinan-der abgesetzt werden, dass ihr Kontrast möglichst deutlich wird, alsQuintessenz dieser Leistung der Farbwahrnehmung betrachtet wer-den. Wie die Verbreitung solcher Comics bzw. ihrer Vorläufer involkskundlichen Zusammenhängen erweist, kommt die damit gegebe-ne Segregation den Bedürfnissen unserer Wahrnehmung durchausentgegen. Bei solchen Darstellungen wird auf die Modellierung so gutwie kein Wert gelegt und wird die Tatsache ausgenutzt, dass für dieWahrnehmung weiche Übergänge eher Luminanzunterschiede signali-sieren, während Reflektanzunterschiede durch abrupte Kontrastegekennzeichnet sind. Den Gegensatz zu diesem Farbstil der Comicsbilden also monochrome Darstellungen mit feinsten Hell-Dunkel-Übergängen. Wenn nun Luminanzen wie bei der Betonung farbigerSchatten farbig interpretiert sowie die Konturen überspielt werden, soist für die Wahrnehmung weder eine Segregation der Reflektanzennoch eine räumliche Interpretation der Formen einfach zu bewerkstel-ligen. Eine solche Darstellung eignet sich daher, zu vereinheitlichen,

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zu verschmelzen oder das Gefühl pantheistischer Durchströmtheitheraufzubeschwören. Beispiele findet man zuhauf in Landschafts-gemälden, angefangen bei der Begeisterung für das, was Goetheapparente Farben nennt, also Farben, die nicht Oberflächen fest zu-kommen, sondern den Einfluss atmosphärischer Bedingungen verra-ten, bis hin zu Monets Meeresbildern.

Auch sollte die Forschung ohne Mühe Konsens erzielen können,dass ein (absichtlicher) Verstoß gegen die Prototypikalität vorliegt,wie etwa bei den grünen Himmeln und rotvioletten Bäumen der Fau-ves oder den blauen Pferden Franz Marcs. Unterscheiden kann mannoch, ob wie bei Matisse trotz der ungewohnten Buntfarben dieValeurs gewahrt werden oder ob auch diese die Prototypikalität ver-letzen. Wie ist der Bezug der Farbe zu den Objekten? Werden geradesolche Phänomene wie Lichtkringel am Boden oder farbige Schattenbetont, die wir normalerweise übersehen, weil sie zu ephemer undflüchtig sind, um uns über Objekte im Raum zu informieren? Werdenumgekehrt nur Gedächtnisfarben gezeigt, solche, die wir fest mit demObjektwissen abgespeichert haben? Wenn der Eindruck entstandensein sollte, dass die vorgeschlagenen Kriterien sich nur auf realistischgegenständliche Bilder beziehen lassen, so trifft dies keineswegs zu.Wir betrachten auch Kunstwerke mit unserem normalen Wahrneh-mungsapparat, selbst wenn die Frage der ästhetischen Einstellung unddes sozialen Orts berücksichtigt wird, und die relevanten stilistischenUnterschiede in ihnen haben die Wirkung, die sie eben haben, alsTeil der biologischen Ausstattung und der erworbenen Erfahrungenmit eben diesem Wahrnehmungsapparat. Die Verhältnisse ähnelndenen beim Erinnern oder Imaginieren, wo teilweise die gleichenGehirnareale aktiv sind wie bei einer Wahrnehmung im realen Raum,ohne dass wir beide miteinander verwechseln würden. Gibt es über-haupt einen virtuellen Raum, den die Farben kennzeichnen, oder be-ziehen sie sich auf ihren materiellen Träger? Hier kommen die diver-sen Farbauftragsweisen ins Spiel. Ob Lasuren Verwendung finden, wasLeibl für ein moralisches Versagen hielt, welche Objekte, wie diemenschliche Haut, keinesfalls glänzen dürfen, ob eine stumpfe Ober-fläche gesucht wird wie bei den Impressionisten, ob wie bei Baconglänzende Ölfarbe für den menschlichen Körper, dem Gewalt angetanwird, eingesetzt wird, während stumpfe Acrylfarbe die glatten, saube-ren und teilnahmslosen Interieurs kennzeichnet, sollte in die Betrach-tung einfließen, und zwar nicht als technisches Detail, sondern weilauf genau solchen Faktoren in Zusammenwirkung mit einem gegebe-nen kulturellen Kontext die Wirkung beruht. Wird ein eigener Farb-

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raum angestrebt und die Farbkonstanz eskamotiert wie bei BridgetRiley, Mark Rothko und anderen?

Künstler, die sich mit dem Thema der Klassifikationen auseinander-setzen und Objekte nach Farben ordnen, sind in den letzten Jahrenmehrfach hervorgetreten. Matt Mullican wäre zu nennen, der denKontrast einer absoluten Ordnung und dem bric-à-brac des Alltagsausspielt. In einer ornamental-geometrischen Anordnung, die mit denreinen Farben gegliedert und eigentlich nur von oben (für die Augender Überirdischen) sichtbar ist, hat er sich mit seinen privaten Habse-ligkeiten eingenistet und diese nach eigener Willkür darin verteilt,sodass z. B. Blaues zu Blauem gesellt wird. Ein anderer Künstler istMark Dion, der die Klassifikationsschemata der Kunst- und Wunder-kammern aufgreift, während Tony Cragg den Kontrast billiger, nachFarben geordneter Abfallmaterialien mit den Inszenierungstechnikenunserer Museen ausnützt. Festzuhalten ist aber, dass Künstler nicht ander Farbe an sich in der Natur oder im Alltagsleben interessiert sind,sondern eine spezielle Aufgabe haben, nämlich die Möglichkeiten derFarbe in einem eigenen Medium, den Bildern (oder auch dreidimen-sionalen Tableaus wie z. B. in der Architektur, Innenarchitektur, derBildhauerei oder den Installationen etc.), zu erkunden. Der AusdruckKolorit hat sich eingebürgert, um speziell die Farbgebung in Bildernzu bezeichnen.

Soweit eine kleine Sammlung von Farbstilen. Man wird sagen, dassihre Unterscheidung häufig ja schon praktiziert wird. Dies ist zueinem gewissen Grad richtig, wenn es auch selten in einem systemati-schen Zusammenhang geschieht. Der entscheidende Punkt bestehtaber darin, dass die psychologischen Wirkungen dieser unterschiedli-chen Praktiken nicht bemerkt oder beschrieben werden. Jede Stilopti-on bewirkt Unterschiedliches im Gehirn. Hier ist ein kleiner Einschubam Platz, der die Beziehung der formalen Mittel zur Musik betrifft.Natürlich haben Künstler schon lange bemerkt, dass ihre formalenMittel nicht einfach neutral sind, sondern Einfluss auf die psychologi-schen und emotionalen Wirkungen haben, die sie hervorrufen wollen.In der Rhetorik, der am höchsten entwickelten Kunsttheorie der Anti-ke, wurde dies zuerst thematisiert und es wurden gewisse Modi un-terschieden, um die je nach Art, Inhalt und Anlass der Rede geeigne-ten rhetorischen Mittel einzusetzen. Ähnlich hat man in der Musikverschiedene Modi oder Tongeschlechter wie dorisch, lydisch, phry-gisch etc. unterschieden, deren Anwendung einen je unterschiedli-chen emotiven Charakter nach sich ziehen würde. In der Neuzeit hatman dann gern die einzelnen Kunstgattungen miteinander verglichen,

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um zu einer Art Rangfolge zu kommen. Dieser sogenannte paragonehat aber die Wahrnehmung ihrer jeweiligen Besonderheiten undMöglichkeiten geschärft. Spätestens seitdem und bis in die Gegen-wart haben dann immer wieder Künstler ihre formalen Mittel mitdenen der Musik in Parallele gesetzt, um eben darzulegen, dass auchsie sich auf der Höhe einer der angesehenen freien Künste bewegenwürden. Ein Brief des Malers Poussins an Fréart de Chantelou, in demer auch für die Malerei einen spezifischen Einsatz ihrer Mittel je nachSujet postuliert, ist in diesem Sinn berühmt geworden und hat nach-folgende Künstler und Theoretiker inspiriert. Er bezog sich dabei aufeinen Text des venezianischen Musikers Zarlino, der seinerseits dieantike Lehre von den Modi wieder aufgegriffen hatte. In der Folgedes paragone wurde gerade die Farbe gern und immer wieder mit derMusik in Beziehung gesetzt. Selbst der nüchterne Kant hatte den Far-ben Eigenschaften wie ›rein‹, ›keusch‹, ›zärtlich‹ etc. zuerkannt. Umein Beispiel unter vielen zu geben: Signac erklärt, dass der Maler mitden sieben Tönen der Farbskala ebenso komponiert wie der Musikermit seinen Tönen.5 Offensichtlich greift er damit auf Newton zurück,der seinerseits schon in der erwähnten Tradition steht, und weist aufKlee voraus, der dann anstrebt, mit den Farben seines Malkastens soimprovisieren zu können wie ein Musiker. Der Vergleich der Farbe mitder Musik ist noch heute virulent, ja er hat durch unser aktuellesInteresse an Synästhesie noch an Überzeugungskraft gewonnen.6

Als bloße Metapher oder Analogie ist gegen den Vergleich der for-malen Mittel der Maler mit denen der Musik nicht viel einzuwenden.Allerdings sind die Versuche, diese Analogie zu konkretisieren, alles inallem recht enttäuschend verlaufen und haben nicht zu Resultatengeführt, die allseits akzeptiert würden. Dies ist, wenn man sich dieunterschiedlichen Aufgaben des visuellen und des auditiven Systemsklarmacht, auch nicht verwunderlich. Wie ich es sehe, gibt es fürspezifische Wirkungen visueller formaler Elemente einmal eine Grund-lage in unserer natürlichen Umgebung und zum anderen in den evo-lutionär erworbenen Reaktionen unseres Gehirns auf die Umweltbe-dingungen, mit denen es sich auseinanderzusetzen hatte. Auch undgerade in der Negation der Raumwahrnehmung erweisen sich dievisuellen Elemente als auf die Interpretation der Umwelt und dieHandlungsmöglichkeiten in ihr bezogen. Bei vielen der beschriebenenStilmerkmale lässt sich eine sehr direkte Orientierung an Naturphä-nomenen feststellen. Beispielsweise gibt es im isotropen Licht keineGlanzlichter. Diese sind an das Vorhandensein einer gerichteten Licht-quelle, die eben gespiegelt wird, gebunden, wobei der Glanz mit der

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Stärke der Lichtquelle zunimmt. Verzicht auf Glanzlichter beziehenwir daher automatisch auf eine diffuse Lichtquelle, die deshalb keinestarken Schatten kennt, mit allen psychologischen Konsequenzen.Auch können wir je nach atmosphärischen Bedingungen nur kräftigeHell-Dunkel-Unterschiede sehen oder feinste Übergänge. Dient dieFarbgebung eher der Trennung der Objekte, hilft sie bei ihrer Unter-scheidbarkeit oder führt sie gerade wie bei Turner zu einer Aufhe-bung der Objektgrenzen? Auch dies hat eine natürliche Grundlagedarin, dass das transmittierende Medium, also meist Dunst, Regenoder Nebel, in Erscheinung tritt.

Hier soll nicht behauptet werden, dass Künstler unbedingt derarti-ge Naturprozesse zu studieren haben, obwohl dies de facto oft derFall war. So wurden in Kunst- und Wissenschaftskreisen im 18. Jahr-hundert die von der Wahrnehmung gern als wenig bedeutsam behan-delten Schatten obsessiv studiert, während auf Leonardo die Beach-tung der Luftperspektive zurückgeht. Immer wieder haben Maler inihren Werken solche von der Alltagswahrnehmung meist überseheneoder unterdrückte Effekte wie die Wiedergabe von Glanz oder Reflex-farben gesucht. Solche Bilder sind deswegen aber nicht wahrhaftigerals andere, selbst wenn das gezeigte Phänomen existiert und in derNatur beobachtet werden kann. Meistens handelt es sich um einegeradezu karikaturhafte Übertreibung solcher Phänomene, die damiterst richtig sichtbar gemacht werden. Beispielsweise bietet Constableeine Art Karikatur der Glanzlichter, um die feuchte englische Land-schaft wiederzugeben – es gibt sogar das schöne Fremdwort ›Hyper-prosessis‹, um eine übertriebene Aufmerksamkeit auf glänzendeObjekte zu bezeichnen – während die Impressionisten die farbigenSchatten übertreiben und ein Maler wie Seurat uns unter anderemeine Übersteigerung des Simultankontrastes vorführt. Dies ist nicht alsKritik gemeint, im Gegenteil, sondern betrifft direkt das, was Kunstleistet. Künstler benutzen bestimmte Auslöser, auf die die Wahrneh-mung auf eine spezifische Weise reagiert, isolieren sie und übertrei-ben sie, um die von ihnen angestrebte Wirkung möglichst effizientund sinnfällig zu machen. Sie heben bestimmte Weisen der Bildverar-beitung stärker heraus und unterdrücken andere. Sie kombinierenWahrnehmungsweisen, die in natura kaum zusammen vorkommen. Inder Regel ist dies nicht der Selbstzweck, sondern dient der spezifi-schen Wirkung oder Bildaussage. Wenn etwa wie bei Munchs BildDer Schrei die Angst vor der Auflösung der Psyche thematisiert wird,so dürfen Objektgrenzen nicht respektiert werden und der Körpermuss als Spielball äußerer Kräfte erscheinen, die ihn auflösen und ge-

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genüber denen er seine eigene Gestalt nicht behaupten kann. In ähn-licher Weise hängt die sogenannte Befreiung der Farbe oft – wie nochdeutlicher gemacht wird – mit Entgrenzungs- und Verschmelzungsfan-tasien zusammen.

Auch wenn Künstler nicht die Natur studieren müssen, um ihreEffekte zu finden, sondern sich direkt auf die bei der Bildherstellunggemachten Erfahrungen beziehen können, so wenden sie sich dochan Gehirne, in denen bestimmte Reize auf eine spezifische, evolutio-när und ontogenetisch erworbene Weise verarbeitet werden. Sogarwenn ohne Naturnachahmung direkt auf Wahrnehmungsprozesse ein-gegangen wird, wenn Angebote gemacht werden, auf die uns dieEvolution nicht vorbereitet hat, ist dies der Fall. Einige Beispiele: Inder Abenddämmerung oder im Morgengrauen sieht die Welt grau ausund scharfe Kontraste sowie feine Details sind schwer wahrzuneh-men. Dies liegt am beschriebenen Mechanismus des mesopischenSehens, wo die für das Farbensehen verantwortlichen Zapfen nochnicht voll einsatzfähig sind. Bilder in zurückhaltender Farbigkeit, ge-ringer Auflösung und verwischten Grenzen, wie sie Ende des 19. Jahr-hunderts als ›Stimmungsmalerei‹ beliebt waren, nutzen diese angebo-rene Disposition. Schließlich waren unsere Vorfahren unter solchenBedingungen eher zu Ruhe und Untätigkeit gezwungen. Umgekehrtbeschwören kräftige Farbgegensätze das helle mittägliche Tageslichtrespektive die Tropen. Gleichwohl kann man eine künstliche graueWelt herstellen und in gleißendes Licht tauchen, was widersprüchli-che und irritierende Empfindungen hervorruft. Man kann auch wieMarcel Duchamp in ein schwarz-weißes Kalenderblatt einer solchentrüben grauen Stimmungsmalerei einen oder zwei kräftige Farbakzen-te setzen, was die Wahrnehmung notwendig als eigene Lichtquelleninterpretiert. Das plastische Ideal, das die Formerkenntnis verabsolu-tiert, führt nicht von ungefähr zur Vorliebe für Weiß, denn nur sokann der ganze Bereich an möglichen Schattierungen ausgeschöpftwerden. Dies erklärt, weshalb Architekten und Bildhauer so häufigeine weiße Welt lieben.

Farben, die mit ihrem Pop-Out-Effekt, wenn man an das paradig-matische Beispiel der roten Früchte im Baum denkt, die Raumwahr-nehmung momentan übertönen können, bringen ein störendesElement für die Orientierung mit sich. Feine Details und kräftige Farb-kontraste sind schon deswegen nicht unter einen Hut zu bekommen,weil das Auflösungsvermögen der entsprechenden Parvo-Kanäle un-terschiedlich ist. Wer auf farbige Wirkungen in architektonischen oderplastischen Werken setzt, kann erstere entbehren. Es gibt aber auch,

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wie bei den Impressionisten und Neoimpressionisten häufig, die Kon-kurrenz zwischen detailreicher Formwahrnehmung beim fokalenSehen, wo die einzelnen Pinselstriche sichtbar werden, und dem peri-pheren Sehen, in welchem die Farbigkeit dominiert. Sie geben abernicht einfach das undeutliche Gesichtsfeld außerhalb der Fovea wie-der, sondern entdecken ansonsten eher verdrängte invariante Fakto-ren der Umgebung wie Licht, Atmosphäre oder Wetter. Diese werdenunter Weglassung anderer spezifiziert.

Die Farben sind demnach gegenüber der räumlichen Interpretationder Bildelemente indifferent bzw. dysfunktional. Wie gezeigt, ist derFarbeindruck im Gehirn im Regelfall an die Wahrnehmung vonOberflächen gebunden. Die Raumwahrnehmung kann auf Farbe weit-gehend verzichten und ist fast nur an Helligkeitsunter-schieden orien-tiert. Bilder, die auf sogenannten Iso- oder Äquiluminanzen beruhen,d. h., in denen nur Farbtöne gleicher Helligkeit verwendet werden,sind deshalb in ihrer räumlichen Wirkung stark eingeschränkt. Exaktäquliluminante Darstellungen sind übrigens aus mehreren Gründenpraktisch nicht realisierbar. Zum einen spricht das Magno-Systembereits auf feinste Helligkeitsunterschiede an, zum zweiten gibt esdurchaus Unterschiede zwischen verschiedenen Betrachtern beimPunkt, wo sie Äquiluminanz erfahren, drittens kommt es wegen derverwendeten Pigmente und ihrer Metamerie dazu, dass es je nachLichtverhältnissen Verschiebungen gibt. Da auch die absolute Licht-stärke einen Einfluss auf den Punkt der Äquiluminanz hat und dieserzu guter Letzt beim fokalen Sehen anders liegt als beim peripheren,müsste man alle diese Faktoren kontrollieren.

Dennoch lässt sich sagen, dass wir perspektivische Hinweise, virtu-elle Konturen, plastische Modellierung und dergleichen äquiluminan-ten Darstellungen kaum noch entnehmen können. Auch die Bewe-gungswahrnehmung braucht keine Farbunterschiede, sondern nurHelligkeitsunterschiede. Wir haben deshalb Mühe, sagen wir, die Be-wegung eines blauen Flecks auf einer gleich hellen grünen Fläche zuverfolgen. Duchamp hat in einem seiner Werke das Phänomen derfluttering hearts aufgegriffen, wo eine rote Form sich unsynchronisiertauf einem äquiluminanten Hintergrund zu bewegen scheint. Umge-kehrt sind wir trotz erschwerter Raumwahrnehmung gut imstande,Farben zu erkennen. Aus alledem ergibt sich, dass wir die Farbe nichteinfach der Linie entgegensetzen sollten, sondern sämtliche Zentren,in denen visuelle Wahrnehmung stattfindet, mit einbeziehen müssen.Die Wirkung der Farbe zu steigern bedeutet nicht einfach, brillantere,stärkere oder hellere Farben anzuwenden, sondern in mindestens

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gleichem Maße, die anderen an der Wahrnehmung beteiligten Zen-tren zu frustrieren, d. h., ihnen nicht genügend Information zukom-men zu lassen. Ganz lassen sich diese anderen Zentren nicht eliminie-ren, was aber für die künstlerischen Gestaltungsmöglichkeiten nur vonVorteil ist, denn so sind die Variationen nahezu unerschöpflich. Kon-turen können verschwommen gestaltet werden, das Hell-Dunkel wiebei den äquiluminanten Darstellungen unterdrückt, die perspektivi-schen Hinweise widersprüchlich gestaltet sein, Überschneidungen ver-mieden, die Erkennbarkeit von Gegenständen erschwert usw., allediese traditionell nicht zur Farbgestaltung zählenden Verfahren habenaber direkte Auswirkungen darauf, wie die Farben erscheinen. Im Fol-genden sollen also sämtliche Faktoren im Bild oder dem Ambiente,die der Raumwahrnehmung dienen, als negative Folie zur Farbwahr-nehmung mit herangezogen werden, denn die spezifische Farbwir-kung ergibt sich eben daraus, welche residuale Raumwahrnehmungmit ihr verbunden bleibt.

Die eingangs erwähnte Kritik an der Stilgeschichte muss natürlichweiterhin ernst genommen werden und ist, auch wenn, wie hier, einedurch neurologische Erkenntnisse inspirierte Revision ihrer Methodenvorgeschlagen wird, nicht gegenstandslos. Niemand wird bestreiten,dass Statusfragen oder Annahmen über die Intention des Autors eineRolle spielen. Insbesondere verdienen die gerichtete Aufmerksamkeitund die ästhetische Einstellung bzw. die sozialen Einrichtungen, diesie gewährleisten sollen, gebührende Beachtung. Allerdings sind auchsie nicht völlig losgelöst von stilistischen Sachverhalten zu behandeln.Ein paar Worte zu den Konditionen, bei denen es zur ästhetischenKontemplation kommen kann, seien daher ergänzend vermerkt. Inder Regel besteht kein Handlungszwang und wir können ruhig blei-ben. Damit hängt die ästhetische Kontemplation mit der Fernsichtzusammen. Ereignisse in der Ferne erfordern keine sofortige Reaktion.Der Kunstkontext kombiniert gern dieses entlastete, entspannte Ver-hältnis zum Sichtbaren, mit nahsichtigen Details, die uns dennochnicht zur Aktivität zwingen. Teile unserer Wahrnehmung wissen, dassdas, was wir sehen, nur virtuell ist, nicht real. Wir können DuaneHansons realistische Wärter oder Unterschichtsfrauen mit Einkaufswa-gen im Museum anstarren, wie dies in der Realität nie möglich wäre,können im Museum sogar abstoßende Vorkommnisse wie eine Kas-tration an einem Farbigen (bei Five Car Stud von Ed Kienholz) in allerRuhe studieren, was übrigens auch schon für Bilder wie GéricaultsFloß der Medusa zutrifft. Der Zwang zu handeln ist eskamotiert undwir können beispielsweise auf Feinheiten der Verteilung von Farbak-

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zenten achten, deren Registrierung, wären wir wirklich Zeugen derEreignisse, absolut unangemessen wäre. Dies gilt auch für das Theateroder das Spiel. Das Vergnügen an ihnen rührt daher, dass trotz einesan sich alarmierenden Wahrnehmungsangebots wir durch den gutenund sicheren Ausgang belohnt werden, was eben biologisch sinnvolleLernvorgänge begünstigt. Ohne sie hätte kaum ein Mensch den Wegvom Festland nach Australien gewagt. Wann im Leben wäre es mög-lich, einige Minuten vor einer nahezu schwarzen Fläche zu verbrin-gen, wie sie Ad Reinhard bietet, um zu sehen, ob da doch irgendwel-che Formen auftauchen oder wir nur etwas hinein projizieren? Wannwürden wir fast ein Stunde damit zubringen, die farbliche Verände-rung des Himmels zu konstatieren, wenn nicht in einer Turrell’schenInstallation? Schon der sozialpsychologische Rahmen, in dem wir unsauf Kunst einlassen, bewirkt Verknüpfungen von Wahrnehmungsarea-len, die sonst nie in eine nähere Verbindung geraten würden. Zweifel-los können auch ungewöhnliche und neuartige Verknüpfungen gebil-det werden, die es in der Stammesgeschichte der Menschheit niegegeben hat.

Kunst besteht, wenn man von ihren sozialen Rollen einmal absieht,in der Herstellung von Objekten oder Ereignissen, durch die im Ge-hirn bestimmte Zustände ausgelöst werden, die sich selbst belohnen.Dies bedeutet nicht, dass nur positive, angenehme Empfindungenzugelassen sind, denn ein bewältigter Stress kann besonders starkeGlücksgefühle erzeugen. Um auf die Farbe zurückzukommen, derenNähe zu Visionen, Rausch, Entgrenzungen, Verschmelzungen, zuSprachlosigkeit und einer Regression in den Ursprung ja oft konsta-tiert wurde, so ist zu sagen, dass sie ins Extrem getrieben mit Raum-losigkeit und Orientierungslosigkeit einhergeht.

Es können hier nicht sämtliche Umgangsweisen im Umgang mitFarbe, die von der Menschheit im Verlauf ihrer Geschichte entwickeltwurden, systematisch abgehandelt werden, schon gar nicht, wie siehistorisch und in den jeweiligen kulturellen Situationen interpretiertwurden und werden. Auch sei die Bedeutung der sozialen Kontexteoder von Gewöhnungsprozesse keineswegs geleugnet. Selbstverständ-lich kann, wie im Kapitel über Empfindungen dargelegt, ein Reiz nurinnerhalb eines gegebenen Kontextes sich entfalten, und selbstver-ständlich sind diese Kontexte kulturabhängig, wandelbar und relativ.Ästhetische Urteile sind nicht allein von der phänomenalen Erschei-nung, sondern mindestens von den Faktoren Erscheinung plus Kate-gorie abhängig, in die sie eingeordnet wird. Ob ein Reiz in die Kate-gorie Kunstwerk gelangt und was diese Kategorie besagt, liegt nicht

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am Reiz allein. Doch muss selbst der eingefleischteste Kulturrelativistanerkennen, dass, um etwas als Prestige fördernd und erstrebenswert,als revolutionär, klassisch, innovativ, als dernier cri, als hip oder inanzusehen, dieses etwas wahrnehmungsmäßig unterscheidbar seinmuss, damit die soziale Konstruktion von Sinn und Wert sich daranheften kann. Umso besser, wenn die entsprechenden Reize sich fürdie jeweilige Konstruktion eignen, hergeben oder sie belohnen. An-statt das eine gegen das andere auszuspielen, sollten wir die wechsel-seitigen Bedingtheiten anerkennen und gerade das Zusammenspielvon Reiz und Kontext untersuchen.

Der Einfluss neuer Farbstoffe und Pigmente

Die vielleicht wichtigste Werkgruppe in Lori Hersbergers bereitsmehrschichtigem Œuvre besteht aus wandgroßen Tableaus, die aufstrahlend weißem Untergrund Markierungen in kräftigen syntheti-schen Farben aufweisen, welche in Leuchtkraft, Konsistenz und Auf-tragsweise ihre Herkunft aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhundertsnicht verleugnen. Insbesondere verwendet er sogenannte Day-Glo-Farben, wie sie im Kunstkontext noch kaum vertraut sind und dieeher Assoziationen an die gewollte Normverletzung von Subkulturenheraufbeschwören. Es ist dem jungen Schweizer Künstler nicht zuletztwegen seiner spezifischen Adoption dieser Mittel gelungen, etwas zuerreichen, was fast unmöglich schien, nämlich der Gattung Malereieine neue, völlig eigenständige und unverwechselbare Ausdruckswei-se abzugewinnen. Von ihm ausgehend sei im Folgenden versucht,nicht so sehr die genannten Mittel und die Wirkungen, die er mitihrer Hilfe erzielt, einer genaueren Analyse zu unterziehen, sonderneine kleine historische Reflexion über die Rolle neuer Farbstoffe undPigmente vor allem im Kunstbereich anzustellen.

Nun müssen Koloristen, also Maler, die in ihren Werken in ersterLinie auf die Farbwirkung abzielen, nicht deshalb bunte Bilder malenoder besonders leuchtende und gesättigte Farben bieten. Von Tizianwird der Ausspruch berichtet, dass Weiß, Rot und Schwarz alle Far-ben seien, die ein Maler brauche, wenn man nur wisse, wie sie anzu-wenden seien.7 Auch Delacroix war der Ansicht, dass jemand wieVeronese fähig und bereit wäre, aus einer beliebigen Schmutzfarbeeinen herrlichen Akt zu zaubern, wenn man ihm nur freie Hand beider Umgebung ließe. Demnach würde nicht die Reinheit der Farbenan sich, sondern erst ihre gekonnte Kombination den Meister erwei-

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sen. In ähnlichem Sinn polemisiert bereits Vasari, dass zwar jeder-mann am Rialto schöne Farben kaufen könne, die wahre Kunst je-doch woanders zu suchen sei als in der Ausbreitung gefälliger oderneuartiger Farbreize. Er modernisiert damit aber nur einen topos, denbereits das Mittelalter kannte: ars auro prior, höher noch als derästhetische und materielle Wert des Goldes sei die gezeigte Kunstfer-tigkeit in einem Werk zu bewerten. Die unvertraute Reinheit undBuntheit der Malmaterialien, ihre Seltenheit oder ihr materieller Wertan sich also besagen – dies die orthodoxe Lesart – noch wenig überden Kunstwert. Und den locus classicus liefert Plinius der Ältere, wenner die (seinerzeit) alten Maler lobt, die mit vier Pigmenten auskämenund sie als Vorbild seiner Zeit gegenüberstellt.

Dennoch, vom gleichen Delacroix ist bekannt, dass er mit den da-mals neuesten und leuchtendsten Farben experimentierte, seinePalette fast wie ein eigenständiges Kunstwerk zusammenstellte unddie Meinung vertrat, die Kunst sei wahrhaft in Gefahr, wenn die Ma-ler aufhörten, sich für die Schönheit ihrer Materialien zu interessieren.Ähnlich begeistert hat sich später Kandinsky über die Tubenfarbengeäußert. Eine andere berühmte Äußerung von Delacroix lautet, dieerste und wichtigste Aufgabe der Malerei bestünde darin, ein Fest fürdie Augen zu bieten. Im Venedig des 16. Jahrhunderts schließlich,was Vasari mit seiner Kritik ja treffen will, haben mit Tizian und Vero-nese gerade die größten Koloristen die neuesten, exotischen undkostbarsten Pigmente wie Realgar und Orpiment gern und ausgiebigverwendet.

Ähnliches ließe sich über Turner sagen und besonders über dieImpressionisten, die die damals aktuellsten Farbmaterialien, insbeson-dere die neuen synthetischen Mauve-Töne (man warf ihnen ›Violetto-manie‹ vor) sofort in ihre Paletten und Bilder einbrachten. Der Vor-wurf der Disharmonie, des Schrillen, Billigen und Geschmacklosen,der immer auftritt, wenn man ungewohnte farbliche Reize realisiert,ist der Preis für solche Originalität. Es scheint sich bei der Adoptionneuer Materialien um einen klassischen Fall von double-bind zu han-deln, was Künstlern wie Gauguin nicht entgangen ist. Neu, unge-wöhnlich und originell soll es schon sein, was der Künstler liefert,aber gleichwohl so prestigeträchtig wie die bereits anerkannten Wer-ke, was jedoch nur um den Preis der Nachahmung zu haben ist. Seineeigenen Arbeiten weichen gerade in ihrer raffinierten Farbigkeit, diemoderne industrielle Malfarben voraussetzt, am meisten von den exo-tischen oder primitiven Vorbildern ab, denen er sich verschrieben hat.Die Erneuerung der Malerei im 19. Jahrhundert, die ja unter dem

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Stichwort einer Befreiung der Farbe firmiert, erweist sich als durchauseng an die Übernahme neuer Pigmente gebunden.

Nicht nur am Rialto und nicht nur bei van Gogh treffen sich Far-benhändler und Künstler in ihren Vorlieben. Dass Maler mit Gold-schmieden und Apothekern in einer Zunft saßen, hatte gleichfallsseine Basis im Umgang mit kostbaren Substanzen. Auch im 20. Jahr-hundert haben die Maler – man denke etwa an Frank Stella, DavidHockney oder Morris Louis – natürlicherweise und sofort neue Farb-materialien wie die Acrylfarben verwendet und auf ihre künstlerischenMöglichkeiten hin ausgelotet, wenn nicht ohnehin über Medien wieFilm, Video, Laser etc. dann ganz andere technische Möglichkeitender Farberzeugung genutzt wurden. Wenn Frank Stella sagt: »I triedto keep the paint as good as it was in the can«, so wendet er sichdamit unter anderem gegen die speziellen Künstlerfarben in den Tu-ben und bejaht die künstliche, urbane Welt der Industriefarben. AndyWarhol benutzte Siebdruckfarben gerade und vor allem auch für seineLeinwände, die er manchmal mit Diamantstaub versetzte. SchonLucio Fontana hatte ähnlich wie Giovanni Segantini um 1900 seinenFarben Glitzerstoffe beigefügt und glänzendes Aluminium, Stahl, Pla-stik wie auch Neonröhren fanden die Künstler der 1960er-Jahre aus-gesprochen faszinierend.

Allerdings sind für uns technischer und künstlerischer Fortschrittnicht mehr ohne Weiteres in Beziehung zu setzen. Es scheint, dassgegenwärtig neue Stoffe, Techniken, Verfahren und dergleichen sicheher außerhalb des Kunstkontextes durchsetzen müssen und inner-halb erst mit einer gewissen Reserve und Verzögerung Eingang fin-den, dann nämlich, wenn sie bereits einigermaßen gewöhnlich gewor-den sind. Unter dem Stichwort der Vermenschlichung von Technikfällt es anscheinend den Künstlern zu, uns mit dem Fortschritt zu ver-söhnen, wenn sie nicht die Defizite, die der technische Fortschritthinterlässt, zu kompensieren haben. Unsere Kunst verspricht unent-fremdetes Dasein, also das, was in unserer Zivilisation nicht mehrmöglich ist, vielleicht nie möglich war. Deshalb wohl findet sich so oftein bewusstes Archaisieren: Sammeln, Schichten, Auswählen, Zusam-menstellen und Archivieren gehören mittlerweile zu den gängigstenkünstlerischen Tätigkeiten. Auf unseren Biennalen dominieren Kunst-werke, die – technisch gesehen – auch ein steinzeitlicher Jäger hätteherstellen können. In diesem Sinne wurde in den letzten Dezennienauch die Schönheit der reinen Pigmente auf eine direkte und unver-blümte Weise thematisiert, die weder Plinius noch Vasari verstandenhätten. Allerdings handelt es sich dabei nicht um Industriefarben,

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ganz im Gegenteil. Insbesondere wenn es sich um altehrwürdige odernatürliche Materialien handelt, um Erdfarben, Pollen und dergleichen,wofür die Namen von Nikolaus Lang, Wolfgang Laib oder Herman deVries stehen mögen, kann sich die erwünschte Auratisierung einstel-len. Diese Farbsubstanzen sind vielleicht materiell gesehen nicht aus-gesprochen teuer, wenn auch teurer als die gewöhnlichen Industrie-farben, sie sind vor allem ideell kostbar wegen der Konnotationenihrer beschwerlichen Gewinnung. Nicht ihrer phänomenalen Eigen-schaften wegen, sondern wegen der in ihnen verkörperten Geschichtebeanspruchen sie demnach Bedeutsamkeit, womit sie sich der Reli-quie annähern, als deren moderne Ausformung sie gelten können.Nicht zufällig spielt auch Blut – neben anderen Körperflüssigkeiten –als Malmittel eine nicht unbedeutende Rolle in der Gegenwartskunst.Nun hat Ocker als Farbstoff anscheinend schon bei der Herausbildungdes modernen Menschen eine große Rolle gespielt. Unsere nomadi-schen Vorfahren haben bereits vor 100.000 Jahren Ockerklumpenüber weite Strecken mit sich geführt, diese gehören auch zu den älte-sten nachweisbaren Grabbeigaben. Und immer schon haben Kunst-handwerker ihren Ehrgeiz darein gesetzt, dem Material eine Farb-nuance abzuringen, die es aus der üblichen Ware heraushebt. Auchwenn der so erzielte Farbton an sich wenig spektakulär war, gab esKenner, die bereit waren, für eine kleine Steigerung an Reinheit etwabei einer Keramik erheblich mehr zu bezahlen. Den Pigmenten durchUntermalungen, Lasuren und dergleichen ungewöhnliche Wirkungenabzuringen, galt als schützenswertes Geheimnis einer Werkstatt, wiedas Beispiel Jan van Eycks belegt. Ob Mosaiktechnik, Glasmalereioder Ölmalerei, ihre Entwicklung wurde nicht zuletzt durch die damiteinhergehende Steigerung der farblichen Wirkungen motiviert.

Moderne synthetische Pigmente dagegen gelten nicht als Kostbar-keiten. Sie werden, wenn man einmal von Gerhard Richters ironischgemeinten nachgemalten Farbkarten absieht, nicht als Sammelobjektin den Rang von Kunstwerken erhoben. Immerhin hatte bereits Du-champ angeregt, Bilder als assisted ready-mades zu betrachten, daschließlich die Farbtuben, aus denen sie hergestellt würden, nichtvom Künstler stammten, sondern ein anonymes Industrieprodukt dar-stellten. Das Werk von Yves Klein – Spitzname: Yves le monochrome–, der ja sogar eine von ihm kreierte Farbsubstanz als »InternationalKlein Blue« (= ikb) patentieren ließ, muss aber in unserem Zusam-menhang genannt werden. Es handelt sich dabei um das seit altersgebräuchliche Ultramarinpigment, das er aber trocken mit einemneuartigen Bindemittel verarbeiten konnte, um ihm die gewünschte

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Leuchtkraft zu bewahren. Er hat bekanntermaßen in diesem Blaumonochrome Bilder, Schwammobjekte und sogenannte Anthropome-trien, d. h. Körperabdrucke weiblicher Modelle, geschaffen, die zwi-schen einer Parodie auf die Patentgesetze des Kapitalismus und aufdas Schamanentum des Künstlers changieren. Objekte, die sein ikb

tragen, werden von ihm inszeniert, auratisiert und nähern sich nichtzufällig der Rauminstallation.

Interessanterweise handelt es sich bei natürlichem Ultramarin umeinen Farbstoff, der deshalb besonders strahlt, weil er auftreffendesuv-Licht, das für Menschen ja unsichtbar ist, teilweise in für uns sicht-bares kurzwelliges Licht umsetzt. In unserer natürlichen Umgebungkennen wir eigentlich nur eine Lichtquelle, die Sonne, die wir nichtdirekt anblicken sollten, und kennen ansonsten nur das von den Kör-pern mehr oder weniger stark zurückgeworfene modifizierte Sonnen-licht. Unsere Wahrnehmung berechnet daraus Farbe, Lage und Be-leuchtung der jeweiligen Oberflächen. Strahlt nun eine Oberflächemehr Licht ab, als es eigentlich anhand dieser Faktoren sein dürfte, soerscheint sie als fluoreszierend, als magischerweise selbst leuchtend.Kein Wunder, dass Ultramarin als geradezu überirdische Farbe angese-hen wurde, die für das Gewand der Heiligen Jungfrau oder sonst fürden übernatürlichen Bereich Anwendung fand. Bekanntlich war Ultra-marin im Mittelalter ein ausgesprochen kostbarer, da auf einem rarenHalbedelstein basierender Farbstoff, der schon im Namen auf seineexotische Herkunft jenseits des Meeres (im heutigen Afghanistan) ver-weist. Die Menge Ultramarin, die ein Maler zu verarbeiten hatte, wur-de deshalb eigens vertraglich festgelegt und man sah einem Bild sofortan, welchen finanziellen Aufwand ein Auftraggeber betrieben hatte.

Auch der Begriff ›Königsblau‹ verweist auf einstige Exklusivität.Wenn man Ultramarinpigmente in Öl bindet, geht ihr schwacherfluoreszierender Effekt allerdings verloren, weshalb die Bedeutungdieses Farbmittels ab dem 16. Jahrhundert stetig abnahm. Es wirddaher verständlich, wenn Yves Klein nunmehr ein Bindemittel aufmoderner Harzbasis verwendet, das die Fluoreszenz erhält. Auffällig-keit für die Wahrnehmung und Kostbarkeit gehen bei ihm noch eineselbstverständliche Verbindung ein. Von ihm angeregt, experimentiertauch Rupprecht Geiger ab der Mitte der 1960er-Jahre mit fluoreszie-renden Farben, insbesondere den neuen industriell gefertigtenMagenta- und Rottönen. Auch für ihn haben sie in Verbindung mitihrer Transparenz und dem ›körperlosen‹ Auftrag mittels Spritzpistoleeinen höheren ontologischen Status als die pastos aufgetrageneFarbe, die als materiell angesehen wird. Leuchtfarbe vertritt farbiges

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Licht und eignet sich somit dazu, ›Geistiges‹ und Transzendenz zuverkörpern.

Im 20. Jahrhundert gibt es allerdings kaum noch Objekte, derenPreis wesentlich durch ihre Farbe bestimmt ist. Gut, Autos in Metal-lic-Lackierung kosten etwas mehr als Autos ohne und auf dem Ge-brauchtwagenmarkt sind manche Farben schwer verkäuflich, aber füruns ist in der Regel die Farbwahl bei irgendeinem Objekt keine finan-zielle Frage mehr, sondern eine der sozialen Regeln oder des Ge-schmacks. Insbesondere bedeuten leuchtende, gesättigte Farben, dieAufmerksamkeit auf sich ziehen, nichts Besonderes mehr und signali-sieren im Gegensatz etwa zum Mittelalter, wo ihnen sogar ontolo-gisch ein höherer Status als dem göttlichen Licht näherstehend zuer-kannt wurde, keineswegs mehr größeren materiellen Aufwand, eherim Gegenteil. Wenn für toskanische Maler der Frührenaissance galt,dass Heilige nicht mit den gleichen Gewändern bekleidet sein könnenwie gewöhnliche Sterbliche mit ihren schlichten Erdfarben oder coloriausteri und ihnen die colori floridi (kostbare gesättigte Farbstoffe or-ganischen Ursprungs) vorbehalten waren, so haben wir inzwischenMühe, dies nachzuvollziehen. Aggressive Buntheit konnotiert in derRegel Billiges, Vulgarität und schlechten Geschmack, während Reich-tum sich für uns in der Wahl an sich unspektakulärer Materialien aus-drückt, denen nur der Kenner ihre Kostbarkeit ansieht. Natürliches istteuer, Artifizielles billig. Die Entscheidung eines heutigen Künstlerswie Hersberger für Leuchtfarben signalisiert daher einen Bruch, eineUmwertung der Werte. Wie bereits Courbet, Leger, Warhol und, wasdie grellbunten schreienden Industriefarben betrifft, sucht vor allemmit Gerhard Richter in seinen Abstraktionen der 1980er-Jahren wie-der ein Künstler in Bereichen, die der herrschende Konsens als nied-rig einstuft, eine Vitalität, die der Hochkunst abhanden gekommenist, wobei ihm zugute kommt, dass er generationsspezifisch ein gelas-senes Verhältnis zu unserer Medienwelt pflegt. Dass er seine WerkeAnti-Landschaften nennt, unterstreicht noch den Bruch mit der eska-pistischen Naturästhetik der älteren Generation.

Dagegen steht die im Kapitel »Ressource Aufmerksamkeit« ausführ-lich beschriebene, immer noch recht verbreitete Chromophobie dervornehmen Schichten.

Wie erwähnt, gibt es heutzutage kaum noch Objekte, deren Preisdurch ihre Farbigkeit bestimmt ist, wenn man davon absieht, dass imGegenteil gedeckte, lasierende und wenig farbechte Naturfarben einegewisse Exklusivität signalisieren. Beim Sport, in der Freizeit, imUrlaub sind dagegen kräftige Buntfarben geboten. Sie stehen für

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Gesundheit, Jugend und den Luxus, nicht arbeiten zu müssen. Aller-dings bedeuten sie, da jeder sie sich leisten kann, kein ehrliches Sig-nal mehr. In Punkkreisen gilt als dezent, was für mittlere Bankange-stellte shocking wäre. Die gleiche Auffälligkeit ist in Vorstandsriegendafür wieder möglich. In diesem Fall lautet die Aussage: »Ich binunkonventionell und kreativ und habe es geschafft, dass ich mirmeine Extravaganzen leisten darf.«

Die besonders um die Mitte des letzten Jahrhunderts beliebten,aber auch noch heute verbreiteten betulichen Ratgeber, um Hausfrau-en bei der farbigen Gestaltung ihrer Wohnzimmer oder der Auswahlihrer Garderobe zur Hand zu gehen, wo Gesetze einer Harmonie derFarben postuliert werden, verdanken ihren Erfolg meist dem sozialenTatbestand, dass die unsichere Klientel befürchtet, als neureich undgeschmacklos abgestempelt zu werden. Was alle wollen, ist eine zu-rückhaltende, vornehme Farbigkeit, die aber doch als Resultat gestal-terischen Aufwands, als erlesen erscheint. Nicht die Anonymität dergrauen Maus wird angestrebt, auch nicht die Auffälligkeit auf denersten Blick, sondern dass sich die gekonnte, exquisite Raffinesse desArrangements erst auf dem zweiten Blick und vielleicht sogar nur fürdie Kenner entfaltet. Es geht also darum, wie man sich trotz peniblerEinhaltung der sozialen Regeln insgeheim dennoch auszeichnet. Wiewird das erzielt? Einmal, indem die Beurteilung von Farbe und Mate-rial auf bestimmte Objektgattungen verlagert wird. Der unnachahmli-che und unbezahlbare orangefarbene Firnis einer echten Stradivariwäre in einem Bild von Matisse ebenso unauffällig wie das bei altemchinesischem Porzellan geschätzte grünliche Celadon, was ursprüng-lich die Farbe eines schmachtenden Liebhabers bedeutete.

Jedenfalls besteht in der gegenwärtigen Alltagskultur wegen derüberall zu findenden Farbdrucke in Verbindung mit der immer mehrverbreiteten Farbfotografie ein hoher Bedarf an möglichst transparen-ten, lasierenden, ›körperlosen‹ Farben in den Farbtönen Gelb, Cyan-Blau und Magenta, die zu so etwas wie dem Signum unserer Epochegeworden sind. Sie trocknen als ein dünner Film auf, sind gleichwohlausgesprochen ergiebig und eignen sich für Farbauftragsweisen mit-tels Düsen oder Sprays, was sie nicht zuletzt zum Kennzeichen derSubkultur der Graffiti-Sprayer macht. An neuen Pigmenten oder Farb-stoffen sind, wenn man von den Fun-Farben, also Farbmitteln, diesich je nach Sonneneinfall oder Außentemperatur ändern, einmal ab-sieht, in den letzten Jahrzehnten eigentlich nur die bereits erwähntenDay-Glo-Farben dazu gekommen. Es scheint sie als preisgünstigesAngebot nur in den Farbtönen grünliches Gelb, gelbliches Grün und

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Magenta zu geben. Auch sie wandeln kurzwelliges bzw. uv-Licht teil-weise in für uns sichtbares Licht um und wahrnehmungspsychologischgilt für sie das Gleiche wie für Ultramarin. Sie stechen aus ihrer Um-gebung heraus, wirken selbst leuchtend und wie eine Störung desräumlichen Gefüges. Vor allem in der Form markierender Filzstiftehaben sie eine weite Verbreitung gefunden und müssen ähnlich wiedie Druckfarben möglichst transparent und körperlos aufgetragenwerden.

Für die Industrie der Farben und Lacke hat der Bereich der Künst-lerfarben, an die noch im 19. Jahrhundert die höchsten Ansprüchegestellt wurden, längst aufgehört, die Entwicklung zu bestimmen.Weder wirtschaftlich noch technisch stellen sie eine Herausforderungdar. Wenn Frank Stella oder Jackson Pollock wie vorher schon Le Cor-busier auf Industriefarben zurückgegriffen haben, so aus finanziellenErwägungen und vielleicht auch in der programmatischen Absicht,ihre Werke der Welt der gewöhnlichen Arbeit anzunähern. Sie nah-men dafür in Kauf, dass die billigeren Farben nur in geringerer Rein-heit und Sättigung zu haben waren. Das also ist anders geworden,was vielleicht erklärt, weshalb sich das Interesse an Farben nicht nurim Kunstbereich vielfach von den Farbtönen selbst auf die Materia-lität, die Oberflächen, Texturen, Auftragsweisen und dergleichen ver-lagert hat, wobei der sichtbare Aufwand das entscheidende Kriteriumbildet. Hier also fordern Künstler wie Lori Hersberger oder KatharinaGrosse die Konvention heraus.

Der Ehrgeiz der Hersteller geht dahin, die Industriefarben für dievon den Nutzern verlangten technischen Anwendungen ausgespro-chen ergiebig, lichtecht, gesättigt und rein zu machen, sodass sie alsMalfarben – verglichen etwa mit herkömmlichen Aquarellfarben – alseher schreiend oder grell empfunden werden. Dies trifft natürlich be-sonders auf die fluoreszierenden Day-Glo-Farben zu. Merkwürdiger-weise, wenn man an Ultramarin denkt, haben sich die Konnotationenfluoreszierender Farbmaterialien aber fast ins Gegenteil verkehrt. Mankann nur spekulieren, welchen Gebrauch im Sinne überirdischerTranszendenz ein Künstler des 15. Jahrhunderts von ihnen gemachthätte, hätten sie ihm zur Verfügung gestanden. In der Diskrepanzzwischen den Konnotationen des Billigen, Gewöhnlichen, Banalenoder Alltäglichen und den unabweisbaren phänomenalen Gegeben-heiten seiner Farbmaterialien fühlt sich Hersberger sichtlich wohl.Damit ist der Kontext für die Wahl seiner Farben und Farbstoffe um-rissen, er benutzt solche, denen man ihre Gegenwärtigkeit ansieht,auch wenn sie bislang fast nur außerhalb des Kunstkontextes Verwen-

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dung fanden. Sie wirken eher ›tintig‹, lasierend, dünnflüssig undtrocknen wegen ihrer sich verflüchtigenden Bindemittel als dünnerFilm auf, denn sie sind für die Verarbeitung in Druckerpatronen, mitAirbrush, Spray oder Düse entwickelt worden. Zu anderen Zeitenhätte man ihnen wohl, wie noch Rupprecht Geiger wollte, Immateria-lität zuerkannt, doch hat sich gegenwärtig ein semantisches Systemetabliert, demzufolge wir bei Künstlern eher den ›Körper‹ der Farbe,also die sichtbare Behandlung einer Substanz suchen, die für uns hap-tische Qualitäten vermittelt und einen außerhalb der Kunstwelt kaumnoch anzutreffenden unbezahlbaren handwerklichen Charakter, wäh-rend die Immaterialität für uns mit den neuen Medien und der inihnen realisierten Vervielfältigbarkeit zusammengeht. Hersberger da-gegen scheut weder Buntheit noch die modernen Farbstoffe, selbstwenn diese urbane Massenkultur, Künstlichkeit, Kitsch und Kommerzsignalisieren. Er will den Augen etwas bieten und da sind ihm diestärksten Effekte gerade recht. Die Betulichkeit unseres ökologischenschlechten Gewissens ist seine Sache nicht.

Die Beziehung zwischen der Intention eines Künstlers und seinenMaterialien war einstmals sehr eng. Beispielsweise wurde angesichtsder geringen Haltbarkeit der fertig angerührten Farbsubstanzen imZeitalter der Eitempera nur jeweils die für die nächsten Arbeitsschrittebenötigte Menge vorbereitet und vorgemischt. Es zeichnete denMeister aus, seine Pigmente und Farben zu kennen und ihre Streich-fähigkeit, Viskosität, Deckkraft oder auch Transparenz bis zum Letztenauszuschöpfen. Sein Können, seine Handfertigkeit erwiesen sich imUmgang mit den Mitteln. Was letztere nicht hergeben, war auchnicht anzustreben. Angesichts der Geschwindigkeit, mit der dieTempera auftrocknete, wechselten lange vorbereitende Phasen, wobeispielsweise Untermalungen festgelegt wurden, mit raschen, kon-zentrierten Arbeitsgängen. Im Gegensatz aber zur Technik der Tempe-ramalerei, die aus kleinen, parallelen Pinselstrichen bestand und mitverschiedenen Untergründen und Untermalungen die zur Verfügungstehenden Farbwirkungen zu steigern suchte, gibt es bei Hersbergerkeinerlei Untermalung oder sonstige nachträgliche Bearbeitung einmalgesetzter Farbspuren. Sie sind großflächig und enthalten ein gewolltesZufallselement, das ein mittelalterlicher Künstler nicht verstandenhätte. Die Frage des Könnens stellt sich auf eine typisch moderneWeise.

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Farbe und Ekstase

Es spricht manches dafür, die Kunst als eine Hervorbringung unsererGehirne anzusehen, mit der andere Gehirne manipuliert werden. Bei-spielsweise werden durch gemeinsame rhythmische Bewegungen,durch Singen und Tanzen oder durch Rituale die Gehirne der Beteilig-ten synchronisiert. Die Kunst enthält damit eine soziale Komponente,die den Ursprung menschlicher Aktivität bildet. Auch durch visuelleWahrnehmungsangebote, die eigens künstlich für diesen Zweck ge-schaffen werden, können bestimmte affektive Zustände bei denBetrachtern herbeigeführt oder zumindest erleichtert werden, diediese offenbar als lustvoll erleben und wiederholt sich zu verschaffensuchen. Allerdings gehört zur Betrachtung von Kunstwerken dieUnterstellung einer Intentionalität, sei es auch diejenige eines über-menschlichen oder übernatürlichen Agenten. Die theory of mind, dieZuschreibung eines menschlichen Bewusstseins an andere Entitäten,spielt bereits bei der Beurteilung von Artefakten eine Rolle und liegtauch und insbesondere der Erfahrung von Kunst zugrunde. Wir lebenin einer Welt von Artefakten und Kinder lernen mühelos, dass diesezu einem bestimmten Zweck geschaffen wurden, dass die Intention,d. h. ihr Zweck, wichtig ist und sie wenden ihre Fähigkeit des mind-reading auf die genannte Kategorie von Objekten an. Allerdings fälltes ihnen und uns sehr leicht, auch bei natürlichen Objekten zu unter-stellen, sie seien von jemandem zu einem bestimmten Zweck geschaf-fen worden.

Selbst wenn damit natürlich nur ein kleiner Teil der Erklärung des-sen berührt wird, was Kunst ausmacht, so ist doch festzustellen, dassKunstwerke offenbar geeignet sind, zumindest maßvoll das körperei-gene Belohnungssystem zu aktivieren. Die Verzauberung, die vonihnen ausgeht, die Aktivierung von Emotionen, die Tatsache, dass sieder Alltagswahrnehmung überlegen erscheinen, dass die erfahrenenEmotionen als übernatürlichen Ursprungs erlebt werden, der Enthusi-asmus, der Einbruch des Übernatürlichen, das Vorherrschen paroxysti-scher Elemente, sie weisen alle in eine ähnliche Richtung. Wie RobertMusil feststellt, bleibt von der Kunst, dass wir als Geänderte zurück-bleiben. Die Kunstwerke umgibt, wie viele Anthropologen wie z. B.Lévi-Strauss ausführen, eine Atmosphäre des Geheimnisvollen, ihnenobliegt im Sinne von Arthur Danto eine Verklärung des Gewöhnli-chen. Dinge oder Verhältnisse speziell zu machen, ihnen einen beson-deren Status zu verleihen, dürfte den allgemeinsten Nenner dessenbilden, was Kunst leistet. Sie ist – das ist zumindest die These, die

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hier verfolgt wird – geeignet, den adaptiven Bereich der kognitivenFunktionen zu erweiteren, was das Gehirn anscheinend belohnt.Gerade die Farbe hat häufig Teil an solchen Emotionen, die von Freu-de, Hingerissenheit oder Euphorie bis zu den Erfahrungen des Außer-Sich-Geratens nach dem Modell der unio mystica (oder eben derenVerneinung) reichen. Nun kann bereits stroboskopisches Licht, wie esbei der Traum-Maschine der 1960er- und 1970er-Jahre mit ihrenrhythmisierten flackernden Lichtblitzen verwendet wird, Farbempfin-dungen sowie Halluzinationen und ekstatische Erfahrungen hervorru-fen.8 Die Wirkung wird allerdings dadurch geschmälert, dass wir die-ses Gerät als ›mechanisch‹ einstufen und ihm den Status einesKunstwerks verweigern. Der soziale Kontext und andere soziale Fak-toren sind jedoch bei der Wirkung von Kunstwerken entscheidendbeteiligt, denn nicht die Stärke der ausgelösten Empfindungen allein,sondern ihre soziale Bewertung entscheiden darüber, welchen Rangwir unseren Erfahrungen beimessen.

Wie man um 1800, als die Ästhetik und Kunstwissenschaften sichetablierten, zu betonen nicht müde wurde, gehört zur Betrachtungvon Kunstwerken jedoch eine besondere Art von Einstellung, eineselektive Aufmerksamkeit, eine Haltung des Rezipienten, die von derdes Alltags verschieden ist. Wie immer sie umschrieben wird, als ›in-teresselos‹, als Befreiung vom Joch des Willens oder als Zustand rei-nen Erkennens, eine gewisse Hingabe, ein Sich-Fallen-Lassen, verbun-den mit Desorientierung gehören offenbar zur Alterität ästhetischerErfahrung. Vonnöten sind eine Fixierung der Aufmerksamkeit auf einspezielles Objekt sowie eine gewisse Passivität, ein Ausschließenablenkender Alltagsgedanken und, wenn sie gelingt, so führt dies zueinem gewissen Gefühl des Wohlbefindens, dem Kunstgenuss, dasallerdings nicht lange aufrechterhalten werden kann.

Wahrnehmungsenergie aufzuwenden, ohne sofort das Nötigste,Überlebensrelevante tun zu müssen, mag seinerseits evolutionärenUrsprungs sein, da es manchmal sinnvoll ist, sich erst ›in Ruhe‹ einenÜberblick zu verschaffen. Sich mit konzentrierter Neugierde etwaszuzuwenden, das unsere Aufmerksamkeit weckt, ohne dass es sofortgewollt oder vermieden wird, gehört wohl zu den elementarsten undfrühesten kulturellen Verhaltensweisen. Überraschung, Verwunderung,die Seltenheit und das Außerordentliche der mit Aufmerksamkeitbedachten Objekte lösen dieses Verhalten aus oder sind für es kenn-zeichnend. Auch andere Begriffe, mit denen im 19. Jahrhundert dieästhetische Kontemplation beschrieben wurde, wie ästhetischesWohlgefallen, Freude, Selbstvergessenheit, eine Anschauung, die sich

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in ihrem Gegenstand verliert oder das überwältigend Schöne sind ver-räterisch. Wahrscheinlich sind alle diese Entrückungszustände nichtlosgelöst von der sexuellen Lust als der stärksten Form körpereigenerBelohnung, die wir kennen, zu verstehen. Schon die Rede vom Kunst-genuss, von der Liebe zur Kunst oder dem reziproken und affektivenVerhältnis zu den Werken, weist auf eine emotionale Beteiligung, wiewir sie aus personifizierten Beziehungen kennen.

An dieser Stelle soll es lediglich darum gehen, dass die Farbwahr-nehmung tatsächlich eine Beziehung zu mehr oder weniger ekstati-schen Erfahrungen unterhält, zum anderen, dass sie das Einnehmender erwähnten ästhetischen Haltung oder Einstellung erleichtert. Inbeiden Fällen hängt – so die These, die hier überprüft werden soll –die Wirkung im Wesentlichen davon ab, dass der Bezug der Farb-wahrnehmung zu konkreten, im Raum lokalisierten Substanzen oderOberflächen erschwert oder behindert wird. Nun ist die Wahrneh-mung insgesamt ja auf das Erkennen der Besonderheiten gerichtet,auf das Erkennen von Information im Gegensatz zur Redundanz undgerade die Farbwahrnehmung ist so angelegt, dass sie perzeptuellsehr auffällig ist, wobei die Aufmerksamkeit unwillkürlich auf die rei-nen, gesättigten, leuchtenden und kontraststärksten, also mithin auchauf die seltensten Elemente gerichtet wird. Dass der Farbe einegewisse, starke Wirkung bei biologisch relevanten Entitäten wie derNahrung oder auch als sexuelles Signal zukommt, dürfte kaum zubestreiten sein. Welche Rolle spielt die Farbwahrnehmung aber dabei,die damit gegebene Handlungsaufforderung zu suspendieren und dieAufmerksamkeit zu fokussieren? Gut, Farbe erzwingt unwillkürlichAufmerksamkeit, es geht hier aber darum, dass unwillkürliches Ver-halten in willkürliches, gerichtetes, selektives und reflektiertes Acht-geben verwandelt wird und dass dieses konzentrierte Beachten vomGehirn belohnt wird.

Nun leuchtet unmittelbar ein, dass Farbwahrnehmungen, die nichtauf konkrete, räumlich klar erkannte Objekte zu beziehen sind, mehrverwundern, rarer und ›sensationeller‹ sind als die anderen, sie mehrAufmerksamkeit erfordern, um das Rätsel zu lösen, als eben der Nor-malfall.

Es ist wohl auch so, dass der Vorgang der gerichteten Aufmerk-samkeit auf Farbempfindungen seinerseits und per se den Bezug zurRaumkonstruktion mindert. Nicht nur muss eben selektiv von ande-rem, Ablenkendem abgesehen werden, muss der interessierende Teilherausgehoben werden, die Konzentration auf Farbe löst die Raum-wahrnehmung schon deswegen auf, weil sie eine Art Sehen der Far-

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ben im Öffnungsmodus bedeutet. Sie bewirkt eine Dissoziation vonnormalerweise verbundenen Wahrnehmungsleistungen. Deren sozusa-gen gewöhnliches Funktionieren wird unterbrochen. Die von vielenTheoretikern im 19. Jahrhundert propagierte Rückkehr zu einer inno-cence of the eye bedeutete ein solches Außer-Kraft-Setzen. Sie istnatürlich keineswegs unschuldig, sondern bedeutet im Gegenteil eineKulturtechnik, die gerade in der höchsten Konzentration auf die Farb-wahrnehmung künstlich erworben und eingeübt wird. Eine solchekontemplative Praxis ›ursprünglich‹ zu nennen, geht von einer frag-würdigen Theorie des Sehens aus, wonach wir nur mit Mühe lernen,Farben auf Objekte zu beziehen, sodass die Farbempfindungen ›ansich‹, also losgelöst von den Oberflächen, denen wir sie zuschreiben,uns unmittelbar zugänglich wären.

Die auf Hans Jantzen zurückgehende Unterscheidung von Eigen-wert resp. Darstellungswert der Farbe berührt sich mit der hier vorge-schlagenen, doch geht sie von den Sachverhalten in Bildern aus, woes um verschiedenen Weisen der Nachahmung geht, was weder dietwofoldness zureichend berücksichtigt noch den Verhältnissen in dreiDimensionen gerecht wird. Außerdem können auch abstrakte Entitä-ten konkret und illusionistisch wiedergegeben werden, sodass derDarstellungswert der Farbe nicht von der Gegenständlichkeit abhängt.Schließlich finden sich Farben auch in der Natur, die wir nicht alsGegenständen zugehörig erleben. Eine realistische Darstellung solcherPhänomene würde gleichfalls der Wirkung nach nicht mit dem Dar-stellungswert zusammengehen.

Natürlich gibt es Fälle, wo wir unabweisbar Farben sehen, gleich-zeitig aber wissen, dass es sich dabei nicht um permanente Eigen-schaften von Oberflächen handelt. Im Sprachgebrauch der Goethezeitnannte man sie apparente Farben. Vielleicht kann man schon denRegenbogen zu ihnen zählen, denn niemand hält die sichtbaren Farb-erscheinungen am Himmel für die Färbung der Wolkenformationen,vor denen er sich abzeichnet. Zu ihnen zählen die farbigen Schatten,zählt es, wenn wir durch ungewöhnliche Umstände einmal das trans-parente Medium der Luft als Entität erkennen, zählt auch der Simul-tankontrast sowie Phänomene wie die Irradiation oder der actual fact,auf den Josef Albers sein Farblehre aufbaute (im Gegensatz zum fac-tual fact, dem Wissen, dass einer bestimmten Oberfläche permanentihre Lokalfarbe zukommt). Für Kandinsky waren solche apparentenFarben ein Beweis für das ›Geistige‹ und er hat sich bemüht, Gestal-tungsmittel zu finden, sie besonders in Erscheinung treten zu lassen,doch findet sich seit jeher bereits in der Landschaftsmalerei, so realis-

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tisch sie auch vorgehen mag, ein Interesse an solchen irritierendenErscheinungen.

Die apparenten Farben, an denen Goethe lag und die er durchausin der Natur auffand, können den Zusammenhang mit ekstatischenErfahrungen erhärten. Ihnen gilt seine besondere Aufmerksamkeit, jaseine Liebe. Ihn fesselte, was von der sogenannten Farbkonstanzabweicht bzw. deren Versagen. Man kann sagen, dass die apparentenFarben für ihn Sensationen aus der Welt des Immateriellen bedeute-ten. Mit der Farbkonstanz hängen übrigens auch solche Phänomenezusammen wie die subjektiven Nachbilder, der Simultankontrast undSukzessivkontrast, denen er gleichfalls große Aufmerksamkeit widme-te. Wir hätten letztere nicht, wenn wir den erwähnten Mechanismusder Farbkonstanz nicht hätten. Damit ist eigentlich schon klar, dass es– pace Goethe – um Phänomene der Psychologie und nicht der Phy-sik geht. Im Grunde beschriebt er mit den apparenten Farben farbigeLichter, d. h. Situationen, in denen wir Farbempfindungen Lichtquel-len zuschreiben. Natürlich sind streng genommen Lichtquellen nichtfarbig, wie schon Newton festhielt, aber um umständliche Beschrei-bungen zu vermeiden, sei hier diese saloppe Ausdrucksweise beibe-halten.

Es fällt auf, dass Goethe bei seinen Naturschilderungen beständigAbweichungen von der Lokalfarbe aufgrund besonderer meteorologi-scher und sonstiger geografischen Umstände beschriebt. Ein Beispiel:»Bei klarer Sonne eine dunstreiche Atmosphäre, daher die beschatte-ten Felsenwände von Sorrent vom schönsten Blau.«9 Ein weiteres:»Indessen versäumte ich nicht, die Herrlichkeit der atmosphärischenFarben zu betrachten, wobei sich die entschiedenste Stufenfolge derLuftperspektive, die Bläue der Ferne sowie naher Schatten, auffallendbemerken ließ …«10 Auch die berühmte Schilderung der farbigenSchatten bei der ersten Harzreise gehört hierher. Man spürt eine ge-wisse Elation, eine Art Heraustreten aus dem Gewöhnlichen, dasBewusstwerden, dass der empfangene Seheindruck von der Lokalfarbeabweicht und durch sie allein nicht erklärbar scheint. Die apparentenFarben bedeuten eine gewisse Störung des sozusagen automatischenFunktionierens des Wahrnehmungsvorgangs, was sie zu Auslösernmeditativer Versenkung werden lässt. Gerade in Krisensituationen –bei der ersten Harzreise, bei Lebensgefahr während der Kampagne inFrankreich, bei Todesfällen, die ihm zumindest nahegehen sollten –entdeckte Goethe Farberscheinungen, berichtete davon oder befasstesich mit solchen. Anscheinend erlaubte das Studium der apparentenFarben es ihm, in die Nähe einer religiösen oder kontemplativen

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Andacht zu gelangen. Als Sensationen aus der Welt des Immateriellenerlauben sie ein Heraustreten aus der Alltagswahrnehmung. Nichtdass die genannten Effekte in dieser Hinsicht nicht geeignet wären,im Gegenteil, es handelt sich dabei um eine Art Schusterkugeleffekt,den Kandinsky, Itten, Albers und andere später künstlerisch ausge-beutet haben. Es spricht viel dafür, dass Goethe eine Banalisierungdieser Erfahrung nicht zulassen wollte und eine Entzauberung seinerErfahrung durch die Physik fürchtete. In seinem Text Älteres, BeinaheVeraltetes heißt es: »Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphäno-mene versetzt uns in eine Art von Angst, wir fühlen unsere Unzuläng-lichkeit; nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt erfreuen sieuns.«11 Der Mechanismus, dass etwas eigentlich Ängstigendes in dergefahrlosen Kontemplation genossen werden kann und dies zur Aus-schüttung körpereigener Hormone führt, scheint also auch hier betei-ligt zu sein.

Aus der Sicht der Kognitionsforschung lässt sich sagen, dass wohldie Zentren oder Systeme, die für Furcht zuständig sind, die entspre-chenden Zentren für die Raumorientierung und die Positionierungunseres Körpers als getrennter Entität im Raum, bei der ästhetischenKontemplation wenig aktiv sind, dass insgesamt, weil kein bedeu-tungsvoller input geliefert wird, manche Zentren ihre Beiträge einstel-len und normale Funktionen behindert werden, dass das Bindungs-problem neu gestellt wird und eben neue Koalitionen gebildetwerden müssen. Offenbar wird eine solche Neuorientierung, die Ge-wissheiten auflöst und Lernprozesse befördert, vom Gehirn belohnt,da es zu einer verbesserten Adaption führt. Dies erklärt auch, wes-halb Neues, Ungewohntes oder Verwunderliches bevorzugt wird unddie Erschütterung der Sicherheit unseres Selbstgefühls genossen wer-den kann. Das soll nicht heißen, dass bei jeder ästhetischen Kontem-plation das Gleiche passiert, im Gegenteil, es müssen immer wiederneue Konstellationen erprobt werden, wenn die alten konsolidiertsind und kein Wohlbefinden mehr auslösen, und es gibt durchausverschiedene Formen kontemplativer Praxis.

Trotz und gerade wegen der sozialen Regeln, die eine Beherr-schung und Unterwerfung der Farbe fordern, eine Unterdrückung, diecharakteristischerweise bei Kindern, Frauen, Bauern, bei vulgärenUnterschichten oder orientalischen oder prähistorischen Kulturen alsgelockert erscheint, signalisiert die Farbe etwas Undomestiziertes,Gefährliches, Verlockendes und Verführerisches. Farbe steht für dasandere, für Ekstase, das Heraustreten aus der Kultur und muss geradedeswegen in Zaum gehalten werden. Das Paradies ist farbig. In allen

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Kulturen, ob hinduistisch, buddhistisch oder jüdisch-christlich, stelltman sich vor, dass das Paradies ein sinnlicher Ort ist, wo wir in einerArt glückseliger Hingerissenheit existieren, die Farben leuchtenderund reiner sind als hienieden, die Blumen üppiger duften und eineüberirdische Weltenharmonie erklingt. Die mittelalterlichen Bilder mitihren Goldgründen und Ultramarin wurden ja schon erwähnt. Wasalso macht die Sehnsucht aus nach immer reineren und stärkeren Far-ben? Nach Transparenz und Glanz? Welches Glücksversprechen gebensie? Welche Verführung wohnt ihnen inne?

Farben stören die normale Raumwahrnehmung. Sie werden zwarrascher wahrgenommen, ›stechen heraus‹ und ziehen die Aufmerk-samkeit auf sich, aber auf Kosten der Konsistenz der Raumkonstrukti-on. Wer, wie zur Goethezeit, ein ›plastisches Ideal‹ verfolgt, tut dahergut daran, auf Farbe zu verzichten. Die valeurs, die Helligkeitsunter-schiede allein, genügen für die Raumwahrnehmung, was übrigens dieVorliebe für Weiß bei vielen Architekten und Bildhauern erklärt, danur bei weißen Objekten der volle Umfang zwischen den Lichternund Schatten ausgenutzt werden kann. Deshalb wird umgekehrt dieeigentliche Farbwirkung gesteigert, sobald die orientierenden undraumgenerierenden Elemente unterdrückt werden. Modellierung, chi-aroscuro, Perspektive, Valeurunterschiede, Überschneidungen, selbstdie Erkennbarkeit von Gegenständen und anderes wurden in derModerne eliminiert, um eben die Raumwahrnehmung zu behindernund das Element der Farbe besonders hervortreten zu lassen. Dies istder Hintergrund des im 19. Jahrhundert konstatierten Endes der Per-spektive oder der Entwicklung zur Flächigkeit bzw. zu manchen Spiel-arten der Abstraktion. Die Untersuchung der Farbgebung allein, ohneauf die jeweils eliminierten Prozesse der Formwahrnehmung einzuge-hen, führt zu unzureichenden Resultaten. Dies gilt im Prinzip auch fürInnenräume. Seit einer bahnbrechenden Untersuchung von Ungerlei-der und Mishkin aus dem Jahre 1982 unterscheiden die Neurologenein Was-System von einem Wo-System. Die Leistungen des letzterensind in der Regel unbewusst. Es wird vorwiegend vom Magno-Systembeschickt, das die Luminanz registriert, ist daher ziemlich farbenblindund eher mit Bewegung und räumlicher Tiefe befasst. Es scheint, dassOrt und Bewegung ziemlich unabhängig von Farbe und Form verar-beitet werden. Die Farbwahrnehmung dagegen ist nun eng mit demWas-System verbunden und kann wegen ihrer perzeptuellen Salienzoffenbar manchmal das Wo-System in den Hintergrund drängen.Wenn Farbe hilft, Gegenstände zu erkennen und zu memorieren, sospricht dies gleichfalls für eine enge Verknüpfung mit dem Was-

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System. Während das Wo-System bei allen Säugetieren ausgeprägt ist,findet sich das Was-System, in das vorwiegend die parvozellulärenInformationen eingehen, ausgeprägt nur bei den Primaten. Zur Fähig-keit, so wie sie Objekte zu erforschen und anhand ihrer Attribute zuunterscheiden, sind andere Säugetiere anscheinend nicht imstande.12

Farbe ängstigt so sehr, wie sie verlockt. Sie teilt diesen ihren Cha-rakter mit dem Sex, auch mit der religiösen Erfahrung, wo dastremendum, die Furcht vor Gottes Zorn und Allmacht, schließlich um-schlägt in beglückendes Einswerden. Die geänderten Bewusstseinszu-stände, von denen Mystiker berichten, haben – aus der Sicht derNeurologie gesprochen – die Gemeinsamkeit, dass das Gehirnzent-rum, das uns über die Lage unseres Körpers im Raum orientiert unduns unsere Körpergrenzen mitteilt, keine Informationen erhält unddamit außer Kraft gesetzt wird. Dies kann auf verschiedene Weisenerzielt werden, etwa durch eine Überforderung des sympathetischenSystems. Angstlust kennen wir aber auch im Alltag, bei Jahrmarkts-vergnügungen wie dem Schiffschaukeln, dem Labyrinth, den Katastro-phenfilmen bis hin zu Bergsteigen und Bungee-Jumping. Ihnen istgemein, dass sie Angst auslösen, aber auf eine Weise, die als lustvollerlebt werden kann. Schon Pascal hatte die Frage aufgeworfen, wes-halb wir eine auf Bildern dargestellte gefahrvolle Situation genießenkönnen, die wir in der Realität keineswegs als angenehm empfindendürften. Seine Beobachtung lässt sich auch auf weite Bereiche unsererMedienunterhaltung übertragen.

Merkwürdigerweise ist, was die beteiligten Gehirnprozesse betrifft,die Angst der Lust eng verwandt. So wird die glückliche Bewältigungeigentlich ängstigender Erfahrungen oft als lustvoll erlebt. Neugierdeund die Lust am Neuen haben biologische Wurzeln. Ohne ins Detailzu gehen, sei festgestellt, dass hierbei die Amygdala, eine Gehirnzone,die für die emotionale Bewertung verantwortlich ist, eine große Rollespielt. Nun gibt es zwei anatomisch unterschiedliche Pfade, sie zuaktivieren. Der eine führt zu einer sehr raschen unwillkürlichen Reak-tion, während der andere zwar zu langsameren Reaktionen führt, da-für aber Erfahrung und Wissen mit einbeziehen kann. Wenn die Akti-vierung des ersten Pfades zu einer Alarmierung führt, der zweite dannaber Entwarnung signalisiert (das ist ja nur ein Strauch, kein Mensch,der mir auflauert), so werden häufig Glücksempfindungen ausgelöst.Wenn in der Tat Entspannung die Ursache für Glücksempfindungenist, so liegt es nahe, dass vorheriger Spannungsaufbau erforderlich ist.Ohne Angst keine Lust. Picasso hat einmal gesagt, dass das, was anCézanne interessiere, seine Angst sei, sein Zögern bei jedem Pinsel-

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strich. Orientierungslosigkeit aber flößt Furcht ein. Sie führt zu allerleigut erforschten physiologischen Reaktionen. Die Verteufelungen derFarbe als ängstigend, weiblich, orientalisch, primitiv, infantil, patholo-gisch, emotional, bedrängend, überflutend, haben diesen Hintergrundeines ozeanischen Verlustes des Selbst in einem größeren, überwälti-genden Ganzen. Dagegen ist Farbe von begrenztem Nutzen, um kau-sale Interaktionen zwischen unbelebten Dingen zu verstehen.

Wie ausgeführt, verläuft der Prozess der Farbwahrnehmung zumin-dest nach der Ebene V1 über mehrere Areale verteilt, wo die einge-hende Information analysiert und integriert wird. Aber diese Arealesind interkonnektiv verknüpft und arbeiten nicht streng modular. Jenach Kontext werden andere kortikale Verknüpfungen gebildet, es giltaber auch, dass bei Änderungen des Kontextes eine Neueinschätzunginnerhalb der verbliebenen Areale stattfindet. Man kann die Wahrneh-mungsangebote der Kunst so sehen, dass sie dazu anregen, neue undungewohnte Verknüpfungen zwischen den diversen Zentren zu bilden,etwa weil die Verbindung Farbe/Objekt nicht automatisch ablaufenkann oder der Bezug der Farbe zu einer konkreten Oberfläche verhin-dert wird, was die Farbkonstanz aufhebt, oder keine Helligkeitsinfor-mationen mehr herangezogen werden können oder verschiedeneAreale zu inkompatiblen Aussagen kommen und dergleichen mehr.Es scheint, dass solche Vorgänge zu Lernprozessen führen, die dasGehirn belohnt. Exploratives Verhalten, wie es unsere Spezies aus-zeichnet, wäre ohne solche Vorgänge kaum denkbar. Die erwähnteAngstlust, d. h. die Belohnung, die sich nach dem Meistern einerängstigenden Schwierigkeit einstellt, hat sich offenbar biologisch be-währt. Wir üben uns darin, der Welt zu begegnen, um zu sehen, waswir tun können und wo unsere Grenzen liegen, indem wir uns negati-ven Erfahrungen aussetzen, die aber von uns kontrolliert werden undkeine wirkliche Bedrohung darstellen. Natürlich gilt das nicht nur fürdie Farbwahrnehmung. Da Farbe aber bei der Entscheidung, welcheNeuronenkoalitionen im Gehirn das Rennen machen und ins Bewusst-sein dringen, sich perzeptuell besonders hervortut, eignet sie sichbesonders dafür, ungewohnte Koalitionen anzuführen.

Die wohl wichtigsten Aufgaben unserer Wahrnehmung bestehendarin, uns im Raum zu situieren, die Objekte in diesem Raum zu un-terscheiden, ihre Bedeutung für uns einzuschätzen und unsere Hand-lungsmöglichkeiten in diesem Raum vorzubereiten. Es gibt durchausnatürliche räumliche Situationen, in denen diese Wahrnehmungsleis-tungen schwer zu erbringen sind: beispielsweise nachts, im dichtenUnterholz, in der Wüste, inmitten des Meeres, im Nebel, im blenden-

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den Gegenlicht etc. Fehlt uns etwa der Horizont oder können wir diewahrgenommenen Objekte nicht auf unseren Körper beziehen, wenndie Eigenbewegung keine brauchbaren Hinweise liefert, wir oben undunten nicht mehr zweifelsfrei auseinanderhalten können oder es wi-dersprüchliche räumliche Informationen gibt, wenn Realraum und vir-tueller Raum nicht mehr unterscheidbar sind, wie es bei Spiegelungenmanchmal vorkommt, so wird unser Körper in Alarmbereitschaft ver-setzt. Alle Bilder, auch Film- und Fernsehbilder, desorientieren, da siedie Wahrnehmung zwingen, mit zweierlei inkompatiblen Räumen um-zugehen. Selbst Rauminstallationen, in denen wir uns real mit unse-rem Körper aufhalten, können desorientieren, was für die Turrell’-schen Lichträume, Bruce Naumans Videoinstallationen, ja bereits fürmancherlei Architekturen vor allem in religiösen Zusammenhängenzutrifft, wo dieser Effekt häufig gesucht wird. Schon eine geläufigeRauminstallation wie die von Monets nymphéas in der Pariser Oran-gerie versetzt uns in eine gewisse Orientierungslosigkeit. Festes undFlüssiges sind nicht mehr zu unterscheiden. Kein Horizont erlaubt esuns, sich dem Bild gegenüber zu situieren, dafür gibt es ungreifbareReflexe und Spiegelungen. Wir haben buchstäblich den Boden unterden Füßen verloren. Dass die Farbe insofern mit der beschriebenenAngstlust zusammenhängt, als sie bei reduzierter Raumwahrnehmungein immer stärkeres Gewicht erhält, sollte deutlich geworden sein.Widersprüchliche, mehrdeutige Angebote oder unauflösbare Wider-sprüche in der Konstruktion eines Raums geben gleichfalls der Farbebesonderes Gewicht.

Ich möchte Bilder und Installationen, in denen die Farbwirkungdominiert, durchaus mit einer solchen optischen Intoxikation in Be-ziehung setzen, die uns desorientiert und die beschriebene Angstlustauslösen kann. Im Kunstbereich könnte man, was die Erschwerungder Raumwahrnehmung betrifft, an den barocken Illusionismus den-ken, an Giulio Romano, Pozzo und andere. So gehört die barockeDeckenmalerei, wo wegen der Entfernung vom Betrachter und derungewöhnlichen und komplizierten Gewölbeformen der reale Teil dertwofoldness nicht richtig wahrnehmbar ist, in diesem Zusammenhanggenannt. Stärker noch stellt das Innere einer gotischen Kathedralewie Chartres, wenn sie einigermaßen vollständig ihre einstige Vergla-sung besitzt, wo die Bauglieder im Zusammenhang mit der Beleuch-tungssituation nicht auszureichen scheinen, das Gebäude zu stützen,unsere Wahrnehmung vor eine Situation, auf die sie die Evolutionnicht vorbereitet hat, und führt zur erwähnten Angstlust. Angesichtsder leichten Verfügbarkeit über künstliche Lichtquellen kommt es

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etwa beim digitalen Impressionismus zu vergleichbaren Herausforde-rungen. Auch die unsere normale Orientierung vor schier unlösbareAufgaben stellenden Lichträume Turrells lassen uns ebenso wie die inein labiles Gleichgewicht gebrachten tonnenschweren EisenplattenRichard Serras eine physische Bedrohung empfinden, die paradoxer-weise genossen werden kann. Die Empfindung des Erhabenen, demweite Teile der Moderne verpflichtet sind, dürfte mit der erwähntenAngstlust zusammenhängen. Einige der amerikanischen Maler derNachkriegszeit wie Barnett Newman und Mark Rothko haben ihrenUmgang mit Farbe ja direkt in den Dienst des Erhabenen gestellt.Auch ein an Farbwirkungen interessierter Künstler wie Hersberger tutalles, die gewöhnliche Raumwahrnehmung zu behindern. Die Farbendominieren wie kaum jemals in der Natur, ohne dass wir sie auf kon-krete Gegenstände beziehen können. Seine Wände stehen nicht un-bedingt rechtwinklig zueinander, Bildflächen finden sich sogar an derDecke oder gespiegelt – er hat eine Vorliebe für zerbrochen auf demBoden liegende Spiegel, was die einzelnen Farbreize noch mehr frag-mentiert und uns die Sicherheit des festen Grundes entzieht. In dernatürlichen Umgebung herrschen selten Bedingungen, wo wir, abge-sehen von desorientierenden starkfarbigen Signalen, über ebensowenig konsistente Orientierungshinweise verfügen. Solange neue undstärkere farbige Reize – und sei es in den Light-Shows – imstandesind, wenigstens gelegentlich und im geschützten Kunstkontext dio-nysische Erfahrungen eines Kontrollverlustes herbeizuführen, werdenKünstler, die sich dieser Mittel bedienen, ihr Publikum finden.

Anmerkungen:

1 Vgl. Semir Zeki, Inner Vision: An Exploration of Art and the Brain, Oxford 1999.

2 Vgl. Melvyn Goodale und David Milner, Sight Unseen, Oxford 2004, S. 8.

3 Vgl. James Elkins, Pictures and Tears, New York 2001.

4 Vgl. Karl Schawelka, Les vitraux de Chartres, une machine à engendrer des visions,

in: La part de l’oeil, Nr. 15–16, 1999–2000, S. 319–327.

5 Zu Signac vgl. Don Pavey, Colour and Humanism: Colour Expression over History,

o. O. 2003, S. 211.

6 Vgl. Karl Schawelka, Quasi una musica, München 1993.

7 Vgl. Don Pavey, wie Anm. 5, S. 88.

8 Vgl. John Geiger, Chapel of Extreme Experience, A Short History of Stroboscopic

Light and the Dream Machine, New York 2003.

9 Vgl. Erich Trunz (Hrsg.), Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 11, München

1982, S. 225.

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10 Vgl. Erich Trunz (Hrsg.), Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 14, 10. Aufl.,

München 1981, S. 256.

11 Vgl. Älteres, Beinahe Veraltetes, Matthaei, Bd. 8, S. 362.

12 Eine neuere Veröffentlichung zu den Eigenschaften der Was- und Wo-Systeme

findet sich in: Goodale/Milner, wie Anm. 2.

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