Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur...STIMMEN: –– Die Bilder sind alle da. Man sieht ihn,...

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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature Der Kunstkopf-Mann Letzte Reise des Tönefängers Matthias von Spallart nach Amazonien Eine Radiogeschichte von Helmut Kopetzky Produktion: NDR/Dlf 2018 Redaktion: Ulrike Bajohr Sendung: Freitag, 16.03.2018, 20:10-21:00 Uhr Regie: Helmut Kopetzky Besetzung: Tom Vogt Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar -

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  • Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur

    Das Feature

    Der Kunstkopf-Mann

    Letzte Reise des Tönefängers Matthias von Spallart nach Amazonien

    Eine Radiogeschichte von Helmut Kopetzky

    Produktion: NDR/Dlf 2018

    Redaktion: Ulrike Bajohr

    Sendung: Freitag, 16.03.2018, 20:10-21:00 Uhr

    Regie: Helmut Kopetzky

    Besetzung:

    Tom Vogt

    Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.

    © - unkorrigiertes Exemplar -

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    Prolog: Stichwort: KUNSTKOPF-STEREOPHONIE

    Bereits in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand die

    Idee, durch naturgetreue Nachbildung der menschlichen Kopfform und

    durch Platzierung kleiner Mikrophone in den künstlichen Ohrmuscheln

    den natürlichen Höreindruck zu simulieren, aufzuzeichnen und im

    Rundfunk zu übertragen.

    Kunstkopf-Technik erzielt den stärksten Effekt bei der Verwendung von

    Kopfhörern, die wir Ihnen auch bei dieser Sendung empfehlen.

    ZWEI GITARREN-AKKORDE /

    KETTENSÄGEN / STÜRZENDER BAUMRIESE

    (aus dem nach Spallarts Tod fertiggestellten Hörstück „Brasil“, 1982)

    DARAUF:

    Ansage

    Der Kunstkopf-Mann.

    Letzte Reise des Tönefängers Matthias von Spallart nach

    Amazonien

    Eine Radiogeschichte von Helmut Kopetzky

    ZWEITER und DRITTER BAUMRIESE FÄLLT

    Erzähler Es war … gegen Ende der Magnetbandzeit. Das analoge

    Zeitalter klang aus und wechselte zum digitalen – ein gleitender

    Übergang. Wie eine lange und kaum wahrnehmbare Blende.

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    Ein Radiostück blieb mir im Gedächtnis – „Brasil“. Halb Feature, halb

    Hörspiel, zum ersten Mal gesendet 1982. Autor: Matthias von Spallart.

    Ich hatte ihn nie gesehen, seine Stimme nie gehört. Kein Foto. Kein

    Video.

    Das Internet kam erst Jahre später.

    Ich kannte seine Story nur vom bitteren Ende her. 35 Jahre hab ich sie

    mit mir herumgetragen. Bis ich diesen da begegnete. Radiomenschen

    wie er.

    STIMMEN:

    –– Die Bilder sind alle da. Man sieht ihn, man spürt ihn auch noch.

    –– Er hat sich gerne in gepflegten Bars bewegt. Er hat gern gute Zigarren geraucht.

    –– Man hat einen Kamelhaarmantel, den man nachlässig über die erstbeste

    Stuhllehne wirft… (GELÄCHTER).

    –– Er war ein hervorragender Koch. Er hat nicht Rösti und Leberli gemacht

    … (GELÄCHTER). Und ich glaube eben, dass der Matthias nicht auf der

    Erde stand, sondern der war in der Luft. Ab und zu wirklich nicht ganz auf

    dem Boden.

    –– Er war irgendwo ein Traumtänzer, aber großartiger Regisseur und

    Schauspieler. Und er hat den Schauspielern immer vorgespielt, wie die Rolle

    eigentlich angelegt sein müsste.

    PASSAGE AUS DER ARBEIT AN EINER RADIOFASSUNG VON

    GEORG BÜCHNERS „DANTONS TOD“ MIT v. SPALLART ALS

    REGISSEUR UND DEM SCHAUSPIELER WOLFGANG REICHMANN

    IN DER ROLLE DES ST. JUST

    (1981 KURZ VOR SPALLARTS TOD MITGESCHNITTEN)

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    SPALLART / REICHMANN IN RASCHEM WECHSEL: Was ist das

    Resultat? ––– Was ist das Resultat? ––– Meine Damen und Herren: Was ist

    das Resultat? –––

    Rhetorische Frage: Was ist das Resultat? Ja? ––– Ja! –––

    (MIT GRÖSSEREM DRUCK) Was ist das Resultat? ––– Was ist das

    Resultat? Sagen Sie ’s mir, Monsieur Le Gergues: Was ist das Resultat??

    Erzähler Die von Spallarts: Eine Künstlerfamilie – Maler, Musiker,

    Bühnenbildner, Schauspieler seit dem frühen 19. Jahrhundert.

    Die Eltern von Matthias stehen bis zum Kriegsjahr 1944 auf der Bühne

    in Berlin. Dann wird der Vater zwangsverpflichtet.

    O-Ton Mareile Grieder Der sollte Nazipropaganda mitmachen, und das

    wollte er nicht.

    Erzähler Mareile, Spallarts Halbschwester.

    O-Ton Grieder Am 6. Dezember 1944 sind wir über die Grenze in Riehen

    bei Basel in die Schweiz geflohen. Matthias war da ein Baby und ich drei

    Jahre alt.

    Erzähler Der Flüchtlingsjunge wird Schauspieler. Und später

    Hörspielregisseur.

    STIMMEN:

    - Matthias von Spallart kam mir vom ersten Kennenlernen an eigentlich

    vor wie eine Figur aus dem neunzehnten Jahrhundert. Möglicherweise

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    hing das zusammen mit der aristokratischen Herkunft seines Vaters

    und auch seiner Mutter. Er schien mir wie kopfschüttelnd in die Welt

    zu blicken. Ein seltsames Erstaunen: „Ist denn das überhaupt möglich

    ?“

    –– Es hieß mal, er würde unter dem Ruhm seiner Eltern leiden – weil die

    so bekannt waren. Ob das nun stimmt ?

    –– Kann schon sein! Zwei so starke Figuren: Der strenge ater und die

    Mutter, die ihn vergöttert hat

    –– Unter so einem Vater hätte ich gelitten.

    –– Matthias ist irgendwo an seinen eigenen Ansprüchen zerbrochen,

    gescheitert. Dass er dann irgendwann sein Bergseil in seinen Citroen

    gepackt hat und losgefahren ist...

    –– Macht der ’ne erfolgreiche Sache und hängt sich uff!

    GESCHÄFTIGES UMHERGEHEN / EINPACK-GERÄUSCHE:

    DRUCKKNÖPFE, REISSVERSCHLÜSSE, SCHNALLEN,

    SCHACHTELN, BÜCHSEN

    DARAUF:

    Erzähler Oktober 1980. Mathias von Spallart ist jetzt 36 Jahre alt.

    An diesem Herbsttag packt er seinen Rucksack, den Koffer und eine

    Metallkiste – 120 Spulen Tonband sind darin. Auch Batterien. Er prüft

    die silbernen Regler und Schalter des Aufnahmegeräts. Und die

    Kopfmikrophone.

    Reiseziel: Brasilien.

    Von Spallart hat Blut geleckt: Eine Landschaft – ein Land ––

    dreidimensional –– im Radio! Und keine Zeile Text.

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    Die neue Technik macht es möglich.

    Eine Demo-Schallplatte:

    DEMO

    MANN Hallo Ivonne! … FRAU I can see you … MANN Ich bin ungefähr 10

    Meter von dem Tonbandgerät entfernt … (KOMMT NÄHER) … Wie geht ’s

    Dir? Herzlich willkommen, liebe Freunde der Kopfstereophonie !

    DARAUF:

    Erzähler Die erste Kunstkopfsendung in deutscher Sprache liegt ein

    Jahrzehnt zurück. Sie hieß „demolition“ nach einem

    nordamerikanischen Science-Fiction-Roman: „The Demolished Man“,

    etwa „Der dekonstruierte Mann“.

    Aber auch: „Der zerstörte Mann“. Das Hörspiel war die Sensation der

    Berliner Funkausstellung 1973.

    Was von Spallart sieben Jahre später in den Schalenkoffer legt, ist

    nicht die Urform jenes „Dummy Head“ aus Hartgummi; nicht diese

    gruselige Nachbildung eines menschlichen Kopfes mit Kunstohren und

    heraushängenden Kabelenden.

    Es gibt eine Reiseversion, gerade erst erfunden. Sie heißt MKE 2002.

    Die beiden Mikrophone trägt man dort, wo unsere eigenen Mikros

    wachsen: Ohrmuschel und Trommelfell.

    So wird der Träger selbst ein Kunstkopf-Mensch.

    DEMO HOCH

    MANN Ich stehe halb links, Sie rechts … Ich bin jetzt nur noch ungefähr 10

    Zentimeter von Ihrer Kopfhaut entfernt … Und nun komme ich noch näher …

    noch näher … an Ihr linkes Ohr heran. Und anschließend … ebenso nah an

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    Ihr rechtes Ohr …

    ÜBERGEHEND IN FLUGHAFEN-ATMO

    DARAUF:

    Erzähler Als er sich in Genf zum Flug nach Rio de Janeiro von seiner

    Freundin Christine verabschiedet, ist Spallart bereit.

    Etwas wird geschehen. Eine mediale Pioniertat. Paukenschlag.

    Er hat die Stelle im Sender gekündigt. Er hat ein Testament gemacht.

    Alles auf Anfang!

    DIE FLUGZEUGGERÄUSCHE VERKLINGEN

    O-Ton Christoph Buggert Ich hab in Erinnerung, dass da jemand bei uns in

    der Redaktion auftauchte, dem man anmerkte: Der fordert sich etwas ab.

    Gab diesem Projekt in seinem Leben eine ganz große Bedeutung. Und

    dieser herausfordernde Aspekt hat uns interessiert.

    Erzähler Christoph Buggert, der federführende Programmmacher in

    Frankfurt am Main. Funkanstalten in vier Ländern unterstützen

    Spallarts Abenteuer.

    O-Ton Buggert Man muss träumen dürfen ... Es ging um eine große

    existentielle Bewährung. Und das sind Voraussetzungen, wo was ganz

    Großes entstehen kann. Wo auch Scheitern möglich ist. Aber wir haben

    schon dieses Risiko, das er persönlich einzugehen bereit war, brutal

    ausgenutzt.

    Erzähler Natürlich gab es auch ein Exposé:

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    „Als roter Faden dient das akustische Eindringen in einen fremden Kontinent

    von den Rändern her durch verschiedene Zwischenzonen bis ins mythische

    Herz dieses Erdteils. Am Ende die Entdeckung von Industrieanlagen inmitten

    einer noch urweltlich zugeschnittenen Natur“.

    O-Ton Buggert Man merkte ihm von Anfang an an: Junge, das ist ein

    gigantisches Projekt. Also hoffentlich überforderst du dich nicht selber! Wir

    gehen dieses Risiko ein, schaffen die Voraussetzungen – Reisekosten,

    technische Ausrüstung und so weiter. Aber dann hing alles an ihm.

    ANFANGSSZENE VON „BRASIL“ > IM FAHRENDEN BUS

    DARAUF:

    Erzähler Brasilien. Oktober 1980. Von Spallart notiert:

    „Die Transamazonica: ein Staubtunnel im Urwald. Der Bus überfüllt.

    Dunkelhäutige Männer mit Flinten und Leinensäcken. Tag und Nacht auf

    dieser Straße…“

    Ich stelle mir vor:

    Der Mann mit dem South American Handbook im Koffer – geistreicher

    Träumer, Hobby-Koch – der Joyce- und Herman-Melville- und Joseph-

    Conrad-Kenner – sensibler Hörspielregisseur. Er sitzt schwitzend,

    ungewaschen, eingeklemmt zwischen Männern, die seit Tagen

    unterwegs sind. Arme Teufel, Abenteurer aus Not. Er lässt kein Auge

    von der Kiste mit den Kunstkopf-Mikrophonen.

    Nur ein Wort versteht er: Marabá. Das ist der Sammelpunkt einer

    Elends-Prozession zu den Dammbauten im Eisenerzgebiet Grande

    Carajás. Oder zur Hölle der Sierra Pellada. Dort, im Malaria-Fieber,

    wühlen Hunderttausende nach Gold.

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    Die Anderen schließlich werden weiterreisen zum Jarí, einem von

    hunderten Nebenflüssen des Amazonas, mächtiger als Rhein und

    Donau.

    Am Jarí liegt der Privatbesitz des Daniel Keith Ludwig, Multimillionär

    aus Nordamerika. Die Parzelle, groß wie Belgien, hat der reiche Mann

    gekauft – 16 000 Quadratkilometer … Wald.

    SZENE AUS „BRASIL“:

    REGENWALD-RODUNG – MOTORSÄGEN, FALLENDE BÄUME,

    WALKIE-TALKIES

    DARAUF:

    Inmitten der Rodung die Hauptstadt: „Monte Dourado“ – „Goldberg“.

    Alles Made in USA: Häuser, Maschinen, Supermarkt, Wassertürme,

    sogar die Feuerhydranten und Briefkästen. Und die Privatpolizei.

    Mittlerer Westen am Amazonas.

    Dreißigtausend Einwohner.

    In weitem Umkreis ließ der Unternehmer mit dem deutschen Namen

    Eukalyptusbäume pflanzen: schnell wachsendes Holz als Rohstoff.

    Aus Japan kam eine Papierfabrik samt Kraftwerk. Die schwamm

    schlüsselfertig hinter einem Schleppschiff 25 000 Kilometer um den

    Globus.

    VERKLINGENDE RODUNGSGERÄUSCHE / WEG

    Doch ... als Spallart an sein Ziel kommt, steht die Produktion schon

    wieder still. Nach drei Eukalyptus-Ernten ist der Urwaldboden

    ausgelaugt, verkarstet.

    Schädlinge erledigen die letzten Bäume!

  • 10

    O-Ton Aldo Gardini Er wollte eigentlich den Herrn Ludwig treffen. Und mit

    dem Mann wollte er reden.

    Erzähler Ihn herausfordern.

    O-Ton Gardini Das war eigentlich die Idee: Ein politisch engagiertes Stück

    zu machen.

    Und am Schluss war ’s ganz was anderes.

    Erzähler Vier Sender in Europa warten auf das große Ding. Den

    Scoop, „Zivilisationsschock“: Hier die Indios-wie-Gott-sie-schuf – dort

    der blasshäutige Bösewicht mit Namen und Adresse.

    Einer hat das alles vorgemacht: Henry Ford, 40 Jahre früher. Auch in

    Amazonien. Der Autokönig brauchte Latex für die Reifenproduktion,

    und der Rohstoff quoll aus zweieinhalb Millionen Morgen

    Kautschukwald am Tapajós. Doch „Fordlandia“ war ein

    Verlustgeschäft. Nach 25 Jahren zogen die Yankees weiter. Teile der

    Ruinenstadt sind heute noch zu sehen.

    O-Ton Buggert Das war die Zeit des beginnenden politisch-ökologischen

    Kampfes – Club of Rome und alles, was damals die politische Szene

    bewegte. Und es war auch eine gewisse biographisch und persönlich

    geprägte Empörung eines empörten Europäers mit einer quasi angelesenen

    Empörung. Und da hat er uns auf einer Karte gezeigt: Ich gehe gradewegs

    auf einer richtig mit dem Lineal gezogenen Linie durch den brasilianischen

    Urwald. Und am Ende stoße ich auf den Einbruch des modernen

    Industriezeitalters. Und da werde ich mich damit auseinandersetzen.

  • 11

    Erzähler Doch Mister Goldfinger, den der Reisende aus der kleinen,

    fernen Schweiz zur Rede stellen will, ist nicht zu Hause. Er lebt

    83jährig abgeschirmt in New York City und betätigt sich als

    Kunstmäzen.

    O-Ton Gardini Völlig unmöglich, an diesen Menschen heranzukommen.

    Völlig unmöglich.

    Erzähler Den dummen Fehler in Brasilien hat der Landkäufer längst

    abgeschrieben. Eine Milliarde Dollar Verlust. Den Brasilianern wird er

    die verrostete Papierfabrik, die Häuser und die Wassertürme und die

    nagelneue Eisenbahn am Ende ... "schenken". Auch das ruinierte

    Grundstück.

    Und von Spallart? War er angemeldet? Hat man ihm ein Interview

    verwehrt? Wollte niemand mit ihm reden? Das Stück Radio, das von

    dem übrig bleiben wird, gibt keine Auskunft.

    ZWEI GITARREN-AKKORDE >< SZENE AUS „BRASIL“ MIT RUDERGERÄUSCHEN UND STIMMEN

    DARAUF:

    Erzähler Endlich, nach Wochen, der Bescheid aus Brasilia: Die

    Indianerbehörde FUNAI genehmigt Tonaufnahmen im Ipitinga-

    Reservat.

    A Fundação Nacional do Índio dient dem "Schutz unkontaktierter

    Völker vor Eindringlingen“.

    Als Berichterstatter muss man lange warten.

    Reisenotizen:

  • 12

    „Auf der Suche nach den Bewohnern des Urwalds. Im Boot sind außer

    mir der Bootsmann und einige Jäger."

    INDIO-SIEDLUNG > ANNÄHERUNG UND ERSTER KONTAKT

    "Nach sechs Stunden erreichen wir eine Insel, mitten im Fluss gelegen.

    Sie wird von einem Indianer und seinen drei Kindern bewohnt. Auf dem

    höchsten Punkt der Insel stehen seine beiden strohgedeckten

    Bambushütten. Die Jäger sind unten am Fluss geblieben.

    Eigentlich sollte hier ein Dorf stehen, aber die Indianer sind vor einigen

    Wochen in ein anderes Reservat umgesiedelt worden. Nur er, Sohn eines

    Häuptlings, wollte seine Heimat nicht verlassen.

    Er ist scheu und meidet meinen Blick. Fühle mich gehemmt“.

    Vier Taschenmesser als Gastgeschenk.

    Ich stelle mir vor:

    Von Spallart mit den Kunstkopf-Ohren und dem umgeschnallten

    Bandgerät – befangen wie der Indio vor ihm, dem man aus der

    Hauptstadt wieder einen stummen Gast geschickt hat.

    INDIO SPRICHT MIT SEINER TOCHTER

    DARAUF:

    Erzähler Der Kunstkopf-Mann steuert behutsam die Aufnahme aus.

  • 13

    Achtet auf jede Bewegung. Die Mikrophone in den Ohren sind

    empfindlich gegen „Körperschall“. Selbst eigene Schluckgeräusche muss

    er unterdrücken. Hier entstehen die schönsten Aufnahmen der Reise.

    DIE STIMMEN FREI STEHEN LASSEN

    „In der Hütte sitzt der Indianer und erzählt. Die Kinder schaukeln sacht in

    ihren Hängematten. Sie legen ihren Kopf auf den Rand, lassen ein Bein

    heraushängen“.

    „So sparsam müsste mein Erzähltext sein“, schreibt von Spallart an den

    Rand der spärlichen Notizen. „Kein Wort zu viel“. Er streicht die letzte

    Zeile durch. „Am besten gar kein Text. Mein Hörstück muss klingen –

    nicht schwatzen“.

    WIEDERHOLTE TÖNE EINER KNOCHENFLÖTE

    KULISSE WEG

    O-Ton Salmony Durch all diese wilden und abenteuerlichen Zonen hindurch

    ist er da vorgedrungen in diese zarte Kommunikation.

    O-Ton Gardini So etwas nimmt man nur einmal im Leben auf. Ich hab' Jahre

    später mal eine Sendung gemacht in einem Berggebiet in der Schweiz. Und da

    war ich in einem Stall, und da hat der Bauer mit seinem Enkel gesprochen.

    Und als ich das geschnitten habe, dachte ich: Der spricht genau wie der

    Indianer am Amazonas…

    O-Ton Sass Ach!

    O-Ton Gardini …ohne jeden Druck, ganz fein. Mit ganz wenig Stimme. Ganz

    entspannt.

    O-Ton Sass Das ist schön!

  • 14

    O-Ton Gardini Kritiker später haben immer gesagt: Warum wird dieser

    Indianer nicht beim Namen benannt, sondern einfach: „Der Indianer“? Und

    niemand ist auf die Idee gekommen, dass die sich gar nicht verständigen

    konnten. Matthias wusste gar nicht, wie der heißt. Der wurde da hin gebracht,

    abgeladen, die sind weggegangen und haben ihn am anderen Tag wieder

    geholt … Hat einfach zugehört.

    AUS „BRASIL“ > DER RITT

    DARAUF:

    O-Ton Gardini Er hat viele gute Aufnahmen mitgebracht … Das Reiten in den

    Wald, wo der Sattel knarrt, und in der Ferne hört man Affen schreien. Ich kann

    minutenlang zuhören!

    O-Ton Buggert Solche Geräuschpanoramen gibt es in der Radiogeschichte

    nicht viele. Das war damals wirklich sensationell, weil wir Kunstkopf-

    Aufnahmen, dreidimensionale authentische Tonaufnahmen aus dieser Welt

    noch nicht kannten.

    O-Ton Baumgartner Da hast du wirklich das Gefühl, du bist mitten im Urwald.

    Und du hörst ringsrum alles – von vorne, von hinten, von links, von rechts…

    O-Ton Buggert Wir gingen ja damals davon aus: Das wird überhaupt die

    Zukunft sein!

    KULISSE ETWAS STEHEN LASSEN / DANN WEG

    Erzähler Anderntags. Nach den stummen Zwiegesprächen mit dem

    Indio ohne Namen, steigt der Tönefänger wieder in das Kanu der FUNAI.

    Wie verabredet.

  • 15

    Der Culture Clash – hier die Ureinwohner, dort der Ausbeuter des

    Regenwalds – hat vor dem Mikrophon nicht stattgefunden. Plan und Wirklichkeit wollen nicht zusammenpassen. Die Wirklichkeit sagt „Nein“.

    GLEICHMÄSSIGE SCHRITTE IM DSCHUNGEL

    LANGSAM EINBLENDEN

    Von Spallart driftet ab.

    Ich denke: Der Rock des Reporters war ihm zu eng. Was hätte ein

    Mister Ludwig zu sagen gehabt?

    „Sorry – tut mir leid“?

    Spallart ist Künstler. Die Dinge sprechen zu ihm. Kettensägen,

    gemarterte Bäume.

    Und der noch unberührte Wald.

    SCHRITTE / NATURSTIMMEN

    Erzähler Nun ist er frei, umspült von Sound. Ist nur noch

    Ohrenmensch – wehrlos in der großen amazonischen Umarmung.

    „Noch nie so etwas erlebt ––– Wie vor dem Sündenfall“, schreibt

    Spallart auf.

    Lichtjahre entfernt: Europa – und das Funkhaus – und der Studio-

    Belegplan Woche 43 – und das Grab der Mutter (neun Jahre ist sie tot

    – an Krebs gestorben).

    Kaum noch erkennbar: Der Schatten des Vaters.

  • 16

    Der Tönefänger jetzt allein mit seiner Ausrüstung. Ein kahles Zimmer in

    der Urwald-Lodge. Für Hängematte und Moskitonetz und für die

    Kleider ein paar Haken.

    Einzelheiten hat er später kaum erzählt.

    Ich sehe ihn im Halbdunkel des Regenwalds:

    Mit seinen Kunstkopf-Ohren sammelt er: Vogelschreie – Zikaden,

    Moskitos – Gewitter und leisen Regen – entfernte Stimmen und

    Arbeitsgeräusche.

    Es ruft von überall: Hör zu! Nimm auf! Da musst du hin!

    In den Mangroven bis zum Bauch im Wasser. Jagdfieber.

    Hör’ nur – Kunstkopf-Mann!

    WEITER AUF DER KULISSE:

    O-Ton Gardini Ich hab’ ihm das nicht zugetraut, dieses Stereo-Nagra, was

    sehr schwer ist, acht Kilo, plus etwa 20, 30, 40 Spulen Tonbänder immer

    mitzutragen, und dann in den Urwald zu gehen, wo man von Moskitos

    umschwirrt wird. Er war zerstochen von oben bis unten, durfte sich aber nicht

    bewegen, um die Aufnahme nicht kaputt zu machen. Eine unglaubliche

    Strapaze!

    Erzähler Wenn er Töne aufnimmt, muss er starr sein wie ein Denkmal.

    Sobald er den Kopf dreht, kreist der Urwald um ihn. Den Radiohörern

    würde schwindelig.

    O-Ton Gardini Und er hat sich nicht bewegt und hat sich stechen lassen!

    Und dann alle Viertelstunde das Band wechseln! Da waren so Schräubchen

    drauf, wo man die Spule befestigt. Und wenn man das vergisst oder es

  • 17

    runterfällt, im Urwald – dann ist Feierabend – oder? Das findest du nicht

    mehr im Laub.

    Erzähler Schweißtreibende Luft … Der seifige Glanz, der sich auf der

    Haut und auch auf den Geräten zeigt … Sorge, dass die Tonbänder

    verderben … Bandsalat … Manchmal kleben sie an seinen Händen.

    Einmal täglich Sintflut. Dann wickelt er die teuren Geräte in sein

    Regencape.

    Die längste Zeit des Tages schweigt der Wald.

    Oft pirscht der Tönefänger nachts.

    Ich stelle mir vor:

    Der Lichtkegel seiner Taschenlampe streift die gelblichen Pupillen der

    Kaimane in den Sumpftümpeln ringsum. Nacht so schwarz. Die Sterne

    riesig. Glühwürmchen wie Schneegestöber.

    Es atmet –– seufzt –– es schnarrt und schnarcht –– es stöhnt.

    Fische platschen irgendwo.

    Das „Mythische Herz dieses Erdteils“. So steht es im Entwurf.

    „Es soll angestrebt werden, diese Welt in einem Hörspiel zu

    vergegenwärtigen mit den spezifischen Mitteln des Radios. In

    Geräuschen also…“

    Und nun … mittendrin!

    Es zieht ihn in die Urwald-Lodge zurück, voller Neugier. Draußen in der

    Wildnis ist der Kunstkopf-Mann wie taub. Er kann nicht hören, was die

    beiden Mikrophone in den Kunstohren, die er über seine eigenen stülpt,

    tatsächlich aufnehmen. Die Technik lauscht für ihn. Nur das Zucken eines

  • 18

    Zeigers zeigt die Stromimpulse an, die als Töne auf den Tonbandspulen

    des Recorders landen.

    Von Spallert setzt seine Kopfhörer auf und schaltet auf Playback.

    EINSCHALTGERÄUSCH / DAS FROSCHKONZERT

    Fährt vor …

    VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE

    Und noch ein Stück …

    VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE

    Das Klangbild, das er „live“ im Wald erlebt hat, klingt in seiner Aufnahme

    noch tiefer, schärfer, plastischer … Surround.

    Eine Super-Totale, die ihn einsaugt. Umschlingt.

    In der vollständigen Dunkelheit des primitiven Zimmers produziert sein

    Hirnspeicher beim Zuhören Gräser, Tiere, Urwaldriesen, Eingeborene

    auf alten Stichen … Bücher – Joseph Conrad, Humboldt – was er so „im

    Kopf hat“. Erlebtes und Erinnertes.

    Der Tönefänger hört nun seinen Urwald. Und das werden später auch die

    Radiohörer so erleben. Und jeder anders!

    Glücklich schläft er ein.

    FROSCHKONZERT UND ANDERE NATURGERÄUSCHE NOCH

    EINE WEILE STEHEN LASSEN UND WEG

  • 19

    Erzähler Natürlich – es kann auch anders gewesen sein.

    O-Ton Heilmann Ich krieg das nicht zusammen. Wir haben ihn immer

    abgehoben in seiner Gedankenwelt erlebt.

    O-Ton Sass Man kommt ja hinter das Geheimnis eines Menschen gar nicht.

    Das bleibt immer ein Rätsel.

    Erzähler Die aufbewahrten Flug- und Schiffs- und Bustickets zeigen

    für die neunte Reisewoche wieder stärkere Bewegung: Der Tönefänger

    kreuz und quer im Amazonas-Delta.

    ZWEI GITARREN-AKKORDE > STADT-ATMO (BELÉM)

    HOCHZIEHEN:

    VERKEHR, REKLAME-LAUTSPRECHER, „INDIO“-SPEKTAKEL

    DARAUF:

    Erzähler In der zehnten Woche kommt er in die große Stadt. Die Stadt

    Belèm erbebt von Werbebotschaften. Fazendeiros mit den

    breitkrempigen Hüten stellen ihren Reichtum aus.

    Auf der Avenida Presidente Vargas tanzt und trommelt

    „Urbevölkerung“. Studenten der Ethnologie demonstrieren, Ara-Federn

    auf dem Kopf.

    SCENE AUS „BRASIL“ (HOTELGARTEN)

    Erzähler Außerhalb der Stadt das Luxushotel. Im Garten ein Stück

    präparierter Urwald. Tiere in Käfigen: Panther, Tapire, Wollaffen,

    Papageien.

  • 20

    Er: plötzlich Tourist unter Touristen. Noch in Brasilien und schon

    wieder in Europa.

    FREMDENFÜHRER IM VORÜBERGEHEN ÜBER LATEX-

    GEWINNUNG (ITALIENISCH) / STIMMENGEWIRR

    Das Indiodorf ist Pflichtprogramm. Wie auf Knopfdruck zapft der

    Gummizapfer Gummi. Grässliche Piranhas, luftgetrocknet –

    hundertfach als Souvenir. Kriegstanz im 20-Minuten-Takt.

    Abends ein kleines Lokal.

    SZENE AUS „BRASIL“ / DARAUF

    Erzähler Von Spallart notiert:

    „Dann beginnt eine schwarze Schönheit zu singen. Der junge Mann

    wendet sich ihr zu. Verschlingt sie mit den Blicken“.

    Und:

    „Hier könnte ich bleiben“.

    DAS LIED, LÄNGER FREI STEHEND / ÜBERGEHEND IN

    FLUGZEUG-ATMO > LANDEANFLUG, INNEN

    DARAUF:

    Erzähler Drei Tage später ist er wieder Passagier. Rio-Casablanca-

    Genf. Vom tropischen Dampfbad – Leidenschaft und Trägheit – in das

    kalte, ungeduldige Europa.

  • 21

    Kälteschock.

    Als das Flugzeug auf der Schweizer Piste aufsetzt, hat von Spallart

    noch acht Monate, drei Wochen und zwei Tage lang zu leben.

    GERÄUSCH UNTER DEM LETZTEN SATZ WEG

    O-Ton Gardini Es ist etwas sehr Entscheidendes passiert mit ihm da

    drüben – wo er eine andere Qualität des Lebens erlebt hat, die es hier nicht

    gibt.

    O-Ton Mareile Grieder Er hatte immer wunderschöne Freundinnen

    (LACHT).

    Erzähler Die Schwester.

    O-Ton Christine Riva Als er zurückkam, war er traurig. Er war depressiv.

    Und ich denke, das hat sehr viel damit zu tun, dass er sich dort in Brasilien

    verliebt hat.

    Erzähler Christine, die Freundin.

    O-Ton Riva Mathias war ein Mensch, der hat sich immer wieder mal

    verliebt. Und dann ist er nach Hause gekommen und hat geweint, war

    traurig. Ich wusste dann einfach:

    Das ist jetzt so!

    Er hat sich ja dann 'ne kleine Wohnung genommen. Und dann kam er wieder

    zurück. Manchmal nachts ist er durch das Haus gegeistert. Und dann ist er

    wieder verschwunden. Und dann ist er wieder gekommen und gegangen.

    Also – das war …

  • 22

    Ich denke, er hat mir auch nichts gesagt, um mich nicht zu verletzen. Ich

    wusste das nicht, bis dann die Briefe kamen. Ja – dann war das klar für

    mich.

    Erzähler Sie wohnen im Elsass, gleich hinter der Schweizer Grenze

    auf einem alten bescheidenen Bauernhof. Kein Bad, Plumpsklo in der

    Scheune. Im Winter ist es kalt.

    O-Ton Riva Es war ein einfaches Leben, aber es war interessant.

    Erzähler Zehn Jahre lang – bis zu der verfluchten Reise.

    O-Ton Riva Es gab einen Moment, da hab ich mir überlegt, ob ich so

    weiterleben möchte … Wie soll ich sagen? Ich habe diesen Menschen

    geliebt. Er gab mir aber auch neue Blickwinkel für mein Leben. Ich kann zum

    Beispiel nicht mehr sagen: „Mein Mann“ – das ist für mich so Besitz

    ergreifend. Ich bin im Grunde genommen sehr dankbar.

    ZWEI GITARREN-AKKORDE

    Erzähler Frühjahr 1981. Jeden Tag fährt Matthias von Spallart in

    seinem Citroen zum Sender Basel, wo er noch vor kurzem angestellt

    war. Wenn die Alltagspflichten erledigt sind, teilt er mit dem

    Tonregisseur Aldo Gardini das leerstehende Studio.

    O-Ton Gardini Er kam mit den Bändern zu mir und hat gesagt: Was hältst

    du davon. Ich hab’ nie auf die Uhr geguckt. Wenn sechs Uhr war, haben wir

    weiter gemacht, bis Zehn oder Elf. Weil ich fand das so spannend. Ich hab

    immer gestaunt, dass man in der Zusammenarbeit so tiefe Emotionen

    erleben kann. Dass man sich näher kommt als mit jemandem, mit dem man

  • 23

    zusammenlebt. Ist ganz verrückt!

    AUS "BRASIL"-MATERIAL > Von S. GEHT DURCH DEN

    REGENWALD

    DARAUF:

    Erzähler Ein paar Wochen dieser Rausch. Hören, auswählen, blenden

    und montieren. In den Kopfhörern der Regenwald, klar und

    transparent. Das Studio bläht sich zur Welt.

    Im Bauch, im Kopf, im ganzen Mann ist das Stück schon fertig. Nun

    muss es noch g e m a c h t werden.

    STOP- UND RÜCKSPULGERÄUSCHE

    Die Erlebnisse, wie im Traum aufgezeichnet, stehen jetzt in

    Maschinenschrift auf Karteikarten:

    Band 33: Ipitinga, Urwald, Affe … Band 45: Marajo-Insel, Ritt –

    1. Reiten, später Nachmittag, 2. Reiten durch Wasser, 3. Dämmerung,

    Zikaden, entfernte Brüllaffen.

    Band 37 – Indianer mit Knochenflöte 1-5 / Vögel antworten –

    Take 6: Zwiesprache mit Vogel / abgebrochen – Sieben wie Take 1

    Band 38: Stürzende Bäume.

    RODUNG WIE ZUVOR: BAUM FÄLLT

    UND WEG

    Register, Tabellen, Berichte. Die Stoppuhr. Das Radio hat feste „Slots“

    – Sendezeiten von bestimmter Länge. Man muss kürzen. Kill your

    darlings!

  • 24

    Viele Meter Tonband rieseln auf den Fußboden. Oder in die Tonne.

    Wir nannten das „Blutiger Schnitt!

    O-Ton Buggert Eine ganze Aura nimmt plötzlich konkrete Formen an. Und

    die Aura verstummt langsam. Es muss eine große Enttäuschung für ihn

    gewesen sein, als er nun zurückkam, dass er festgestellt hat: Ganz ohne

    Worte komme ich nicht aus. Das muss ihn sehr, sehr bewegt haben. Das war

    fast eine Niederlage.

    Erzähler Die Leere danach. Kein Paukenschlag. Die Medienwelt dreht

    sich ungerührt weiter.

    O-Ton Riva Er hätte gern mehr Resonanz gehabt. Und die hat er nicht

    bekommen.

    O-Ton Palm Er war ja auch eitel!

    O-Ton Gardini Offensichtlich hat es ihn nicht mehr interessiert, wie es dann

    zum Schluss wird. Dass er gesagt hat: Es hat alles keinen Sinn mehr.

    Erzähler So düster beginnt das letzte halbe Jahr. Alles wieder auf null.

    Er versucht es mit Fernsehregie.

    O-Ton Gardini Da waren natürlich zwanzig, dreißig Leute engagiert. Und

    um Sechs hatten die alle Feierabend. Das konnte er nicht begreifen, dass

    man nicht so begeistert bei der Sache war, dass man jetzt weiter arbeitet.

    Und mit dem konnte er nicht umgehen.

    Da war er allein dann.

    O-Ton Heilmann Er hat dann keine Konzessionen gemacht.

  • 25

    Erzähler Nach wenigen Tagen ein Krach mit dem Hauptdarsteller.

    Und aus.

    O-Ton Heilmann Und dass das so total in die Binsen ging - das war für ihn

    ziemlich schlimm.

    O-Ton Gardini Und dann ging er zum freien Theater. Und da hat er gesagt:

    Weißt du, Aldo, das geht ja eigentlich nur noch um ’s Geld, das Ganze. Und

    das ist so frustrierend! Das ist furchtbar!

    Das Ganze führt nirgends mehr hin.

    Erzähler In der düsteren St. Martinskirche mit dem Sensen-Tod an

    der Stirnwand spielt von Spallart den Engel in Hugo von

    Hofmannsthals „Großem Welttheater“.

    Der Freund besucht ihn in der Sakristei, die den Schauspielern als

    Garderobe dient.

    O-Ton Gardini Und dann hat er sich splitternackt ausgezogen und hat dann

    das Engelskostüm angezogen. (BEWEGT) Und dann ist er durch einen

    Gang weggegangen. Als Engel. Guckt zurück. Sagt „Ciao Aldo!“

    So hab ich ihn das letzte Mal gesehen.

    Als Engel im Nachthemd. Mit Flügeln.

    O-Ton Christine Riva Am letzten Tag waren wir zusammen. Er hat mir

    noch vorgelesen

    „Der Tor und der Tod“ …

    Erzähler (EHER BEILÄUFIG):

  • 26

    „Es scheint mein ganzes so versäumtes Leben / Verlorne Lust und nie geweinte

    Tränen / Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“

    Hugo von Hofmannsthal, 1894.

    O-Ton Riva Ich bin eingeschlafen, und als ich erwacht bin, war ich alleine.

    O-Ton Mareile Grieder Also – da haben sie ihn gefunden. Im Wald auf der

    Scharteslohe, nicht allzu weit weg von Dornach auf der Höhe. Und er hat

    sich da erhängt. Sein Auto stand da. Und anscheinend hat er noch ’ne

    Zigarette geraucht. Und dann ist er halt runtergesprungen am Seil.

    Genickbruch.

    Das waren Wildhüter, die ihn gefunden haben, also Bauern. Ich hab dann mit

    denen noch telefoniert. Dann haben sie gesagt, sie hätten den Baum gefällt,

    an dem das passiert ist.

    O-Ton Gardini Beim Matthias war ’s ja auch so, dass er sich auf einem

    Berg in der Nähe von Basel auf einem hohen Baum aufgehängt hat – an der

    Stelle, wo man Blick hat zu diesem Bauernhaus. Fünf, sechs, sieben

    Kilometer. Wahnsinnig!

    Und da fuhr ich gleich auf diesen Bauernhof. Und beim Hingehen sah ich das

    abgedunkelte Zimmer. Eine Lampe. Und da drunter saß weinend Christine.

    Und da hat sie Probearbeit gehört von Matthias, wie er mit Wolfgang

    Reichmann, dem bekannten Schauspieler, einen Text eingeübt hat.

    So intensiv!

    O-Ton Riva (AUF BASELDEUTSCH) Ja, der Wolfgang Reichmann. Die

    haben sich sehr gut verstanden

    O-Ton Gardini (AUF BASELDEUTSCH) Ganz wunderbar, wie die

    zusammen den Text erarbeitet haben!

    DIE AUFNAHME :

  • 27

    SPALLART / REICHMANN Ich frage nun –– rhetorisch: Soll die geistige

    Natur in Ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische –– ––

    SPALLART Ich würde überlogisch sein! –– –– Ich frage nun, soll die geistige

    Natur in Ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische?

    REICHMANN Was liegt daran, ob Sie nun an einer Seuche oder an der

    Revolution sterben? –– ––

    SPALLART Er sagt: Schauen Sie, was ist denn schon Sterben, was ist schon

    Blut, was sind Leichen? Nichts. Das ist ja der gemeine Trick, was alle

    faschistoiden Typen haben, was der Adolf hatte und was der Goebbels hatte.

    SPALLART / REICHMANN Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz

    der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll überhaupt ein

    Ereignis, das die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt, der

    Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen?

    Erzähler Georg Büchner, „Dantons Tod“. Gerade erst aufgenommen.

    O-Ton Riva Und –– ja, das war dann das Ende. Die Frau hat dann noch ein

    paar Mal geschrieben. Und ich hab ihr dann eine Todesanzeige geschickt.

    Erzähler (ZITIERT EHER BEILÄUFIG):

    „Wir zeigen an den Tod unseres Matthias von Spallart, der in die ersehnte Ruhe

    und Ewigkeit heimkehren durfte. Besichtigung bis Donnerstag, den 22.

    September 1981, auf dem Friedhof am Hörnli, Basel“.

    O-Ton Salmony Dieses Thema hat ihn schon lange beschäftigt. Er hat Jean

    Amery gelesen, „Hand an sich legen“.

    Erzähler (ZITIERT)

    „Muss man leben, muss man da sein – nur weil man einmal da ist “

  • 28

    STIMMEN

    Salmony / Riva / Palm / Heilmann / Sass / Gardini / Baumgartner

    –– Ob wir nun wirklich dahinter kommen, warum er

    sich aufgehängt hat…?

    –– Es ist nicht das erste Mal, dass er versucht hat, sich das Leben zu

    nehmen. Das hat er schon einmal versucht, als er im Militär war. Es ist

    sein gutes Recht, und man hat das so hinzunehmen.

    –– In dieser Welt, wie sie geworden ist, hätte er sich

    gar nicht halten können.

    –– Das hat er irgendwo gespürt, dass der Raum immer enger wird.

    –– Der hatte so hohe Ansprüche an sich. War ja

    auch Bergsteiger. Weißt du – die Viertausender!

    Das ist hoch hinaus! Hoch hinaus! (SIE LACHEN)

    Da braucht es nur noch etwas Kleines … und ...

    –– Ich denke, er hatte kein einfaches Leben – mit sich selber. Wirklich nicht!

    Erzähler Und der Kunstkopf ?

    O-Ton Buggert Diese Technik war nicht ausgereift. Es hat sich sehr schnell

    herausgestellt, dass wir lebende, durch die Welt gehende Menschen

    teilweise mit unseren Augen hören. Unsere anderen Sinne unterstützen das

    Hören. Und wahrscheinlich ist es auch, dass wir mit den Ohren ein bisschen

    sehen.

    Vieles, was wir hören, ist eigentlich gar nicht zu hören, sondern das hören

    wir hinein.

  • 29

    O-Ton Baumgartner Schade, dass sich die Technik nicht durchgesetzt hat.

    In „Brasil“ war sie genau richtig.

    Erzähler Der Autor tot, das Radiostück „Brasil“ nicht fertig. Im

    Funkhaus des koproduzierenden HR in Frankfurt sind Kollegen mit den

    letzten Handgriffen beschäftigt. Sprechertexte werden aufgenommen

    und noch einmontiert.

    Von Spallarts Asche im Familiengrab auf dem nahen Hauptfriedhof.

    O-Ton Riva Er hat zu mir gesagt: Wenn mir mal etwas passiert – ich will nur

    an einem Ort liegen, und das ist bei meiner Mutter im Grab.

    O-Ton Gardini Und da liegt er in Frankfurt wenige Meter vom Studio weg.

    Und ich bin da am Abend nach den Aufnahmen über den Friedhof gegangen

    und dachte: Ich muss den Matthias noch sehen – ich will das Grab noch

    sehen.

    Und es war alles zugeschneit. Und da ging ich an die Pforte und hab nach

    der Nummer gefragt – wo er etwa liegt. Und da hat er mir eine Nummer

    gegeben und gesagt: "Dritter Cran (franz.) C" und so.

    Meine Schritte waren die einzigen in diesem weißen Schnee. Und alle

    Gräber zugedeckt. Und ich bin da hin und her gegangen und hab das Grab

    nicht gefunden. War völlig verzweifelt. Ich wusste: Das muss ganz in der

    Nähe sein. Ich finde es nicht. Und ich arbeite seit drei Tagen an seinem

    Projekt. Und er weiß nicht, wie toll das geworden ist, das Ganze.

    Erzähler „Brasil“ erringt den Schweizer Radiopreis „Prix Suisse“. Beim

    Prix-Italia-Wettbewerb in Venedig trifft das Hörstück knapp daneben.

    „Könnte vielleicht etwas fröhlicher sein“, sagt ein Jury-Mitglied in der

    Mittagspause.

    (GELÄCHTER) Gardini That’s life !

  • 30

    Absage

    Der Kunstkopf-Mann. Letzte Reise des Tönefängers Matthias von

    Spallart nach Amazonien.

    Manuskript und Regie: Helmut Kopetzky

    Mit Original-Aufnahmen für das Hörspiel „Brasil“, eine Sendung des

    Hessischen und Schweizer Rundfunks, der holländischen NOS und

    des Österreichischen Rundfunks, 1982.

    Technische Realisation: Tobias Falke, Angelika Körber und Jens Kunze Tom Vogt war der Erzähler.

    Im Originalton Christine Riva, Mareile Grieder, Verena Palm, Aldo

    Gardini, Christoph Buggert, Stefan Heilmann, Claude Pierre Salmony,

    Ekkehard Sass und Walter Baumgartner.

    Redaktion: Ulrike Toma.

    Eine Produktion des Norddeutschen Rundfunks mit dem

    Deutschlandfunk, 2018.

    Info: Ekkehard Sass war Mitarbeiter am Manuskript von „Brasil“.

    Aldo Gardini ––> Mitgestalter der Klang-Dramaturgie, Tontechniker und

    Featureautor bei Radio Basel.

    Stefan Heilmann und Claude Pierre Salmony ––> Funkregisseure, Kollegen von

    Matthias von Spallart.

    Mareile Grieder ––> Halbschwester von Matthias von Spallart. Ihr Vater, Günther

    Rittau, war Kameramann bedeutender Filme: „Metropolis“, „Der blaue Engel“,

    „Kinder, Mütter und ein General“.

    Verena Palm ––> Tontechnikerin in Basel.

    Dr. Christoph Buggert ––> Leiter der Hörspiel-Abteilung des Hessischen Rundfunks

    von 1976 bis 2002. Der Dramaturg Nikolaus Klocke hat die Produktion von „Brasil“

  • 31

    im hr betreut und mit hr-Regisseur Ferdinand Ludwig und Aldo Gardini nach

    Spallarts Tod zu Ende gebracht.

    Walter Baumgartner ––> Schweizer Schauspieler, Autor und Hörspieldramaturg.

    Christine Riva ––> lebte zehn Jahre mit Matthias von Spallart zusammen.