Fertl - Abweichende Meinungen Zu Israel

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L. F. Fertl – Abweichende Meinungen zu Israel 1 von 64 http://www.gegenstandpunkt.com/vlg/abwmeing/israel/am_is_idx.htm Abweichende Meinungen zu Israel Die politische Emanzipation der Juden durch eine Militärdemokratie mit imperialistischem Auftrag 1. Kapitel : Israel und seine Opfer: Der Vernichtungsfeldzug im Libanon - Sommer '82 Zionismus, Antisemitismus und der völkische Charakter des Staates Israel Das "Palästinenserproblem " 2. Kapitel : Israel und seine Gegner: Krieg als Normalfall des israelischen Imperialismus Der israelische Militarismus und seine politische Ökonomie 3. Kapitel : Israel und seine Freunde: Zionistische Ordnungsmacht der "freien Welt" Das bundesdeutsche Verhältnis zu Israel Die bundesdeutsche Öffentlichkeit: Nationaldemokratische Anteilnahme an einem nützlichen Krieg

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L. F. Fertl – Abweichende Meinungen zu Israel

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http://www.gegenstandpunkt.com/vlg/abwmeing/israel/am_is_idx.htm

Abweichende Meinungen zu

Israel Die politische Emanzipation der

Juden durch eine Militärdemokratie mit imperialistischem Auftrag

1. Kapitel :

• Israel und seine Opfer: Der Vernichtungsfeldzug im Libanon - Sommer '82

• Zionismus, Antisemitismus und der völkische Charakter des Staates Israel

• Das "Palästinenserproblem"

2. Kapitel :

• Israel und seine Gegner: Krieg als Normalfall des israelischen Imperialismus

• Der israelische Militarismus und seine politische Ökonomie

3. Kapitel :

• Israel und seine Freunde: Zionistische Ordnungsmacht der "freien Welt"

• Das bundesdeutsche Verhältnis zu Israel

• Die bundesdeutsche Öffentlichkeit: Nationaldemokratische Anteilnahme an einem nützlichen Krieg

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Abweichende Meinungen zu Israel...

• unterwerfen sich nicht dem nationalistischen Anspruch. bei der Beurteilung des Staates der Juden den Verstand schweigen und das schlechte Gewissen des guten Deutschen sprechen zu lassen, dessen verflossene Obrigkeit die Juden hat umbringen lassen;

• nehmen sich die Freiheit, auch im Falle Israels den politischen Zweck zu beurteilen, der sich durch einen Vernichtungsfeldzug gegen ein für störend erklärtes Volk empfiehlt;

• schließen sich nicht der rassistischen Vorstellung an, die Juden und die Araber in Palästina könnten partout nicht miteinander auskommen, wo doch in Wirklichkeit eine volksjüdische Staatsgewalt sich unter Einsatz des Lebens ihrer Untertanen gegen die so zum ,,Palästinenserproblem" gemachten Eingeborenen durchsetzt;

• entwerfen keine ,,Lösungsmodelle" für "das Nahost-Problem", womöglich als Alternative zur ,,militärischen Lösung" und im Namen der "Völkerverständigung", weil sie weder die Resultate imperialistischer Gewalt für eine offene Frage noch den Krieg für eine mißglückte Antwort halten;

• kritisieren vielmehr die Ordnung, nämlich die brutale Herrschaft der westlichen Freiheit, für die Israel durch die NATO-Mächte finanziert, bewaffnet und gegen jeden Russenfreund im Nahen Osten losgelassen wird.

© Resultate Verlag 1982

ISBN 3—922935—03—5

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l. Kapitel

Israel und seine Opfer: Der Vernichtungsfeldzug im Libanon -

Sommer '82 l.

Für die israelische Regierung stand von vorneherein fest, daß ihr brutaler Einmarsch in den Libanon der Schritt zum Frieden war: "Friede für Galiläa!" schien den maßgeblichen Leuten das passende Motto für den militärischen Überfall, der zielstrebig nach Beirut führte. Aus dem Westteil der Stadt wurde dank israelischem Artilleriefeuer und durch die Bomben der Luftwaffe eine Todesfalle für alle widerspenstigen Palästinenser. Und für alle anderen, die sich dort aufhielten. Auch deren Schicksal geht nach israelischer Auffassung wie der ganze Krieg auf das Konto der palästinensischen "Terroristen": Diese Feinde Israels sind sein Kriegsgrund - weil ihre Existenz den Frieden stört.

Für kaum störend erachtet wird in der an diplomatische Heuchelei gewöhnten Weltöffentlichkeit diese selbstgerechte Deklaration eines Staates, der ganz nach westlicher Sitte sein Interesse auch schon als unanfechtbare Legitimation seiner Gewaltausübung verstanden wissen will. Eine Legitimation dieser Art wird akzeptiert, und es bedarf dazu gar nicht des Glaubens an einen bedingungslosen israelischen Friedenswillen, der leider an den bösen Nachbarn zuschanden wird. Diesen Glauben wollen die parteilichen Sachkenner des "Nah-Ost-Problems" auch gar nicht weiter strapazieren, wenn die Streitkräfte des Landes 100 km tief im Nachbarland eine halbe Millionenstadt in Schutt und Asche legen und dafür sogar mehr eigene "Bürger in Uniform" opfern, als jemals jener "Unfriede" an Israels Nordgrenze gekostet hat, der dadurch angeblich beendet werden soll. Auf theoretische Stichhaltigkeit kommt es bei der israelischen Lagebeurteilung aber auch am allerwenigsten an; und daß die darin enthaltene Heuchelei niemanden wirklich überzeugt, schadet ihr nicht. Denn jeder weiß, daß es sich dabei um die israelische Absichtserklärung handelt, die organisierten Palästinenser endlich ein für allemal fertigzumachen - sie zu ,,eliminieren" und den Libanon von ihnen zu "säubern", wie Premierminister Begin in der ihm eigenen unmißverständlichen faschistischen Diktion gleich zu Beginn der Kämpfe klargestellt hat. Und Kriegserklärungen sind nun einmal keine Erklärung der Gründe eines Krieges, sondern seine Eröffnung, also Dokumente des Entschlusses, die Existenz eines auswärtigen Gegners als nicht mehr hinnehmbare Gefahr zu definieren und dieses Urteil aus eigener Rechts- und Machtvollkommenheit gegen ihn zu vollstrecken. Durch den Erfolg der dafür eingesetzten militärischen Gewalt wird die Verurteilung des Feindes nicht theoretisch wahr, wohl aber praktisch objektiv - und darauf kommt es schließlich an bei staatlichen "Erklärungen"!

Dem israelischen Oberkommando, seiner Regierung und deren Diplomaten hat es deswegen auch kein intellektuelles oder moralisches Problem bereitet, den beabsichtigten "Frieden für Galiläa" nach einer imperialistischen Logik zu erläutern und, vor allem, durchzuführen, die nicht gerade zur Stärkung des frommen Glaubens beigetragen hat, ihr feiner Staat würde seine Entschlüsse und Taten ernstlich an ihm vorgegebenen moralischen Maßstäben bemessen. Vom Standpunkt des Sicherheitsinteresses aus beurteilt, das Israel sich als sein "legitimes Recht" zumißt, verlangte der Schutz der Nordprovinz des Landes die Kontrolle über einen wenigstens 40 km tiefen Streifen libanesischen Gebiets; für die Sicherheit der dazu nötigen Truppen war die "Säuberung" des angrenzenden Geländes von wirklichen wie möglichen Feinden erforderlich; damit waren erneut

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israelische "Staatsbürger in Uniform" einer Gefährdung durch noch weiter nördlich stationierte gegnerische Kämpfer ausgesetzt ..., die 100 km bis Beirut sind da schnell beisammen, und nicht nur das. Da die israelische Regierung sich einmal entschlossen hat, ihre Definition eines jeden organisierten Palästinensers als "Terrorist" praktisch objektiv zu machen, liegt es im verantwortlichen Interesse nationaler Selbstverteidigung, diese Leute zusammenzutreiben und niederzumachen. Ein Vernichtungsfeldzug gegen die politisch und militärisch organisierten Palästinenser war also von Anfang an der unmißverständliche und eindeutig erklärte Zweck der Aktion "Frieden für Galiläa"; und nichts ist alberner, als gegen diesen kompromißlos kriegerischen Inhalt des' israelischen Selbstverteidigungsinteresses den mißverstandenen Schein eines rein defensiven Befreiungsschlags, der 40 km jenseits der israelischen Nordgrenze hätte enden sollen, .als den eigentlichen, moralisch akzeptablen Kriegszweck einklagen zu wollen. Wie jeder Krieg, so widerlegt auch der jüngste israelische gegen die organisierten Palästinenser im Libanon die liebliche Vorstellung, der Entschluß eines Staates zum Einsatz militärischer Gewalt könnte im Grunde "vernünftigerweise" nie ernst gemeint sein, also als Entschluß zur radikalen, kompromißlosen gewaltsamen Beseitigung eines Feindes, sondern allenfalls als ein auf baldigen Kompromiß und wiederhergestelltes Einvernehmen berechnetes "Druckmittel". Den verharmlosend gemeinten Ehrentitel einer "militärischen Konfliktlösung" verdient der jüngste israelische so wie jeder Krieg nur in dem brutalen Sinn, daß da eine Staatsgewalt sich die Freiheit nimmt, ihren Interessensgegensatz zu einer fremden Macht zur Bedrohung ihres Lebensinteresses, zu einem Anschlag auf ihre Souveränität, also überhaupt erst zu einem prinzipiellen, antagonistischen Konflikt zu erklären und dementsprechend durchzufechten. Das einzig "sachgerechte" Ziel ist es dann, dem Feind die Mittel seiner Macht aus der Hand zu schlagen und damit jede Möglichkeit zur praktischen Aufrechterhaltung seines gegensätzlichen Interesses zu nehmen - im Zweifelsfall durch die Vernichtung des "Menschenmaterials", auf dessen Verfügbarkeit alle politische Macht in letzter Instanz beruht. Ist einmal der Übergang zum Krieg gemacht, dann geht es dem kriegführenden Souverän eben nicht mehr um ,.gütliche Einigung", also darum, die Zustimmung einer fremden Macht zu den eigenen, ihr entgegensetzten Interessen durchzusetzen: deren eigenständiger Wille, ihre Freiheit zu autonomer Zwecksetzung, soll grundsätzlich gebrochen werden.

2.

In diesem letzten Punkt legte Israel in seinem Libanonkrieg eine bemerkenswerte politische Radikalität an den Tag. In ihrem Vernichtungsfeldzug gegen die Verbände der Palästinenser bestanden die Führer des Staates Israel darauf, die feindlichen Kämpfer nicht als die Soldaten eines gegnerischen Souveräns, sondern als Vereinigung gemeingefährlicher Privatpersonen: als einen Haufen Krimineller zu definieren und zu behandeln. In der Welt und für die Regeln der Diplomatie, des offiziellen Verkehrs anerkannter Souveräne untereinander, ist Krieg ja nichts Außergewöhnliches; im Gegenteil. Von der Kriegserklärung über eine detaillierte Land- und Seekriegsordnung bis hin zu Kapitulation und Friedensschluß sind alle Phasen eines anständigen Kriegsgeschehens diplomatisch vorgesehen und in ebenso geheiligte wie hinderliche Umgangsformen gefaßt. Selbst im Krieg soll nach völkerrechtlicher Sitte die formelle Anerkennung der feindlichen Souveränität, die Grundlage aller Diplomatie, keineswegs enden - und zwar im Interesse des Kriegszwecks selbst. Dieser heißt nämlich zunächst einmal immer: Kapitulation des Gegners; und die besteht nicht einfach in der militärischen Niederlage, sondern in dem erklärten Willen des feindlichen Souveräns, seine Niederlage anzuerkennen und als Verlierer zu agieren und zu verhandeln. Um des souveränen Eingeständnisses der erlittenen Niederlage willen, aber auch nur dazu bleibt selbst in einem völkerrechtlich regulären Krieg der prinzipielle Respekt der verfeindeten "höchsten Gewalten" voreinander formell erhalten.

Genau darauf wollte sich Israel bei seinem Feldzug gegen die Palästinenserverbände im Libanon von Anfang an nicht festlegen. Es agierte hier mit dem Anspruch, überhaupt keinem regulären Souverän gegenüberzustehen: weder einem libanesischen, weil die offizielle Staatsgewalt durch die PLO als "Staat im Staate" außer Kraft und außer Kurs gesetzt sei, noch erst recht, andererseits,

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einem palästinensischen. So als hätte sie im Libanon einen Bürgerkrieg zu führen, deklarierte die israelische Regierung den palästinensischen "Staat im Staate" als Verbrecherorganisation, gegen die sie eigentlich gar keinen Krieg führe, sondern an der sie gewissermaßen eine von ihr verhängte kollektive Todesstrafe exekutiere. Zur Verdeutlichung der unzweifelhaften Berechtigung dieses Anliegens ist Premier Begin der Vergleich mit Dresden und Coventry eingefallen, mit zwei Großtaten neuzeitlicher Kriegskunst, die schließlich auch nicht die Wucht weltöffentlicher Kritik auf sich gezogen hätten. Dabei war es ihm keineswegs suspekt, sich in der Zurückweisung von Bedenken gegen seinen Entschluß zum "totalen Krieg" auf die Freiheit zu besinnen, die sich ausgerechnet Hitlers Wehrmacht herausgenommen hatte!

Für das Kampfgeschehen hat dieser Unterschied zwar nichts weiter zu bedeuten. Ob mit oder ohne diplomatische Respektserweise vor der Haager Landkriegsordnung, der Genfer Konvention und den Privilegien des Roten Kreuzes: im Krieg ist die Vernichtung der feindlichen Macht der alles entscheidende, durch keinerlei Bedenklichkeitcn zu relativierende Zweck; und nichts ist da alberner als die heuchlerische oder empörte Beschwerde über besonders scheußliche Waffen - vor allem, wenn sie aus dem Hersteller- und Lieferland herübertönt wie im Falle der sinnreichen und für den Kriegszweck so effektiven amerikanischen Splitterbombe. Der "saubere" Krieg ist und bleibt das absurde Ideal eines Gewaltgeschäfts, in dem das Massensterben als anerkanntes Mittel für den erstrebten Endzweck planmäßig, deswegen auch mit Hilfe neuester großtechnologischer Errungenschaften ins Werk gesetzt wird.

Daß Israel so nachdrücklich darauf besteht, mit den Palästinensern keine regulären Kombattanten, sondern "Terroristen" umzubringen, macht politisch allerdings einen entscheidenden Unterschied. Als politisches Kriegsziel ist damit nämlich klargestellt, daß es nicht um die gewaltsame Zurückweisung eines bestimmten, als unerträgliche Bedrohung definierten Interesses der feindlichen Seite geht, so daß nach erfolgter Kapitulation zu den Bedingungen des Siegers ein friedlicher Verkehr Wiederaufleben könnte. Der Anspruch der Palästinenserorganisationen, überhaupt als Subjekt von Völkerrechten, als diplomatisch respektabler Quasi-Souverän, also als autonomer Verhandlungspartner anerkannt zu werden, soll durch den israelischen Feldzug ganz prinzipiell aus der Welt geschafft werden — eben durch die kompromißlose Vernichtung derer, die ihn überhaupt erheben. Schon eine reguläre Kapitulation des zum Terroristenhaufen erklärten Feindes wäre da ein Widerspruch zum politischen Zweck des Unternehmens; denn damit wäre ihm ja, wenn auch um den Preis einer von ihm anerkannten Niederlage, formell ein Stück Ebenbürtigkeit und ein Moment von Souveränität zuerkannt worden.

Konsequenterweise hat Israel den organisierten Palästinensern noch nicht einmal die "Chance" zur Kapitulation eingeräumt. Allenfalls Dritten gegenüber, nämlich der amerikanischen Regierung, hat Israel sich bereitgefunden, der Zerschlagung der Palästinenserorganisationen im Libanon und der Zerstreuung und Internierung ihrer in Beirut festgesetzten Mitglieder als Alternative zu ihrer Liquidierung zuzustimmen. Und noch dabei hat es sorgfältig darauf geachtet, den Anschein einer ehrenwerten, den Feind als autonomes Subjekt unterstellenden Kapitulation zu vermeiden bzw. zu zerstören. Während der US-Botschafter Habib mit den Palästinensern die Modalitäten ihrer Entfernung aus Beirut aushandelte, vollstreckten Luftwaffe und Artillerie der israelischen Armee noch möglichst viel von dem regierungsamtlichen Todesurteil über sie und dokumentierten damit die unwiderruflich fortbestehende diplomatische Nicht-Beachtung ihrer Organisationen. Der Abtransport der palästinensischen Kämpfer selbst wurde als jederzeit widerruflicher israelischer Gnadenakt gestaltet. Die Entsender der Überwachungstruppe, die NATO-Mächte USA, Frankreich und Italien, gingen ihrerseits auf Israels politisches Hauptanliegen ein, sicherten die Preisgabe der Palästinenser an die israelische Armee im Falle einer Verzögerung ihres Abtransportes zu und erklärten sich damit selbst zu einer Art internationaler Gefängniswache für die am Leben gelassenen Terroristen". So brauchte Israel West-Beirut weder zu erobern noch komplett einzuebnen und dennoch keinerlei Abstriche von seinem Kriegsziel zu machen: der gewaltsamen Entkräftung aller palästinensischen Ansprüche auf eine international respektable Souveränität. Sehr

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beharrlich ließ die Regierung sich von ihrem amerikanischen Verbündeten zu diesem Erfolg drängen, demonstrierte immer wieder machtvoll ihr Mißtrauen und ihre unausgeräumte prinzipielle Abneigung gegen jede Alternative zur fast schon vollendeten "militärischen Lösung" des "Palästinenserproblems", führte sich in Absprache mit ihrem Verbündeten wie das gewalttätige "enfant terrible" der amerikanischen Nahost-Politik auf und bekräftigte so die kompromißlose Nichtanerkennung jeglicher palästinensischen Autonomieansprüche als ein "essential" ihrer Sicherheitspolitik, das ihr jederzeit einen erneuten Vernichtungsfeldzug wert sein würde. Und als sich Arafat in Rom mit dem Papst und dem italienischen Premier auf Diplomatensofas ablichten ließ und in Sachen "internationaler Anerkennung" der PLO für den israelischen Geschmack zu viel "Erfolg" einheimste, geriet kurzerhand die italienische Botschaft in Beirut unter Beschuß.

3.

Als offiziellen Grund für ihre unbedingte Unduldsamkeit gegen jeden organisierten Palästinenser führen die israelischen Regierungen seit jeher die Bedrohung der Existenz ihrer Nation an, die von diesen "Elementen" ausgehe. Als Beweis für die "Lebensgefahr", in der Staat und Volk Israels schweben sollen, gelten dabei die israelisch-arabischen Kriege seit dem UNO-Beschluß zur Aufteilung Palästinas in zwei souveräne Staaten sowie die Absichtserklärungen arabischer Politiker, den Judenstaat zum Verschwinden zu bringen.

Nun ist die völlige Ohnmacht solcher Drohungen von palästinensischer Seite gar nicht zu übersehen; und den israelischen Staatsgewaltigen ist sie am allerbesten bekannt: Sie sind sich ihrer Überlegenheit ja gerade so sicher, daß sie ihre "Todfeinde" gar nicht als gleichrangige Gegner ernstnehmen, sondern als einen Haufen frech gewordener Staatsfeinde betrachten und behandeln. Und das - anders als sie es meinen! - durchaus zu Recht. Die angebliche "Existenzgefahr" für Israel geht ja tatsächlich, soweit es die Palästinenser betrifft, nicht von einer souveränen Staatsgewalt aus, die aus eigener Rechts-, geschweige denn Machtvollkommenheit handeln würde, sondern von Leuten, die sich durch die israelische Staatsgewalt unmittelbar geschädigt finden: von vertriebenen, unter israelischer Besatzungsgewalt stehenden bzw. als Bürger zweiter Klasse behandelten arabischen Landesbewohnern. Sie sind noch nicht einmal nützliche Manövriermasse, von deren Verfügbarkeit und Loyalität die israelische Staatsgewalt in irgendeiner Hinsicht abhinge, so wie die jüdischen Israelis, sondern bloßes Opfer des Durchsetzungswillens israelischer Souveränität. Und schon deshalb ist ihr Widerstand gegen die sie schädigende Staatsgewalt ein wenig hoffnungsvolles Unterfangen. Ihnen bleibt ab einziges Mittel die bewaffnete Auseinandersetzung, also der praktische Vergleich mit den allzeit einsatzbereiten Machtmitteln genau der Gewalt, die sie zu Opfern gemacht hat! Die Erbitterung und die rhetorische Unbedingtheit des palästinensischen Wunsches, den Judenstaat aus der Welt zu schaffen, reflektiert denn auch - ganz anders als die unerbittliche Rechthaberei ihres Gegners - seit Jahrzehnten die Ansprüche, die Israel mit Füßen tritt.

Die arabischen Opfer der israelischen Staatsgewalt sind also nicht die "tödliche Bedrohung" für deren Bestand, die sie in früheren Kampfansagen vielleicht gerne gewesen wären. So ist es auch keine richtige Einsicht, sondern ein israelisches Staatsprogramm, sie zu einer Gefahr zu erklären, gegen die Israel sich kompromißlos und mit allen Mitteln zu wehren hätte. Hier definiert die Staatsgewalt ihre Opfer als Feind und deren Widerstand gegen erlittenen Schaden als staatsgefährdendes Verbrechen.

4.

Die "Logik", nach der sie das tut, ist einerseits die moderner Souveränität überhaupt. Eine anständige Staatsgewalt vertritt nicht einfach bedingte Interessen, sondern sie verficht ihre Interessen als ihr höchstes Recht - soweit sie es kann. Aus jedem Konflikt mit geschädigten Interessen, seien es solche ihrer Untertanen oder auswärtige, macht sie eine Prinzipienfrage, nämlich ein Anliegen ihrer anerkannten Selbstbehauptung. Eine bürgerliche - oder dieser nachgebildete - Staatsgewalt weiß und betätigt sich als universeller "Mittler" und damit als die

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Bedingung sämtlicher Interessen, die in ihrem Herrschaftsbereich zum Zuge kommen möchten. Stets weist sie mit ihren Machtinstrumenten Interessen zurück oder verhilft ihnen zum Erfolg - und in der Sicherheit, daß die von ihr beaufsichtigte Klassengesellschaft ohne sie und ihre souveränen Reglements weder nach innen "lebensfähig" noch nach außen ,,aktionsfähig" wäre, emanzipiert sie sich von den ökonomischen Anliegen der Klassen, die sie verwaltet. Sich selber und ihre Dienstbarkeit für die von ihr regierte Gesellschaft würde sie aufgeben, sobald sie nicht mehr kompromißlos auf der Unbedingtheit und der Exklusivität ihrer Zuständigkeit für jegliches Geschehen in ihrem Machtbereich bestünde. Diesen "Prinzipien" ordnet sie alles unter: das Wohlergehen, ja das Überleben ihrer eigenen Gesellschaft wie erst recht dasjenige .fremder Mächte mit ihrem , .Menschenmaterial". Souveränität schließt die "Unverhältnismäßigkeit" der Mittel notwendigerweise ein; denn sie will gerade außer und über jedem Vergleich mit all den materiellen Ansprüchen und Gefahren stehen, auf die sie sich bezieht. Und Rechtsstaatlichkeit bedeutet gerade nicht, daß die Staatsgewalt sich gewissen höheren, ihrer Machtvollkommenheit entzogenen Maßstäben beugen würde, sondern genau das Gegenteil: im Innern wie nach außen betätigt sie sich - ökonomisch gar nicht sparsam - als Urheber jeglichen wirklichen Rechts, setzt also entsprechend ihren Mitteln ihre Macht als den höchsten Rechtsmaßstab in die Welt.

5.

Diesen unbedingten Anspruch des bürgerlichen Rechtsstaats, Über Erlaubtes und Verbotenes zu befinden, den Zugang zu und Ausschluß von Reichtum zu regeln, also "Chancen" zu verteilen, wendet der Staat Israel nun allerdings in einmaliger Weise gegen die vertriebenen wie die verbliebenen arabischen Bewohner seines Herrschaftsgebiets. Er hat seine Souveränität von Anfang an für weitgehend unvereinbar mit den bürgerlichen Interessen und staatsbürgerlichen Illusionen, ja sogar schon mit einer massenhaften Anwesenheit von arabischen Untertanen erklärt. Für ihre jüdischen Untertanen will die israelische Staatsgewalt zuständig sein, und das so unterschiedslos und gleichmäßig, wie sich das in einem demokratischen Klassenstaat gehört; gleichzeitig will sie diese ihre Alleinzuständigkeit behaupten gegen die arabischen Landesbewohner und insbesondere gegen alle Vertriebenen, die noch irgendwie dem durch etliche Kriege vergrößerten Herrschaftsbereich Israels als der Sphäre ihrer Existenz anhängen - und darin unterscheidet sie sich durchaus von den übrigen Souveränen der modernen, imperialistisch geordneten Staatenwelt. Hier leistet sich eine bürgerlich-demokratisch organisierte, vom politisierten Willen und nationalen Bewußtsein ihrer Untertanen getragene Staatsgewalt einen völkischen Charakter: Sie konstituiert und betätigt sich in der klaren und erklärten Absicht, sich auf Kosten der vorfindlichen arabischen Landesbewohner in ihrem Herrschaftsgebiet breitzumachen und dadurch dem jüdischen als ihrem eigentlichen Staatsvolk einen politischen "Lebensraum" zu verschaffen, in dem Araber allenfalls als politisch belanglose Minderheit "Duldung" finden. So macht sie die arabischen Bewohner ihres zusammeneroberten Staatsgebiets, die vertriebenen wie die verbliebenen, zum "Palästineneserproblem " und jede politische Ambition von deren Seite auf eine Staatsgewalt, die sie als vollgültiges Staatsvolk anerkennt, zum verfolgungswürdigen Verstoß gegen ihre Souveränität.

6.

Der Vorwurf des Völkermords - so töricht moralisch er in der Regel ist: als wäre ein Krieg erst dann so richtig schlimm, wenn von dem überfallenen Volk wirklich niemand mehr übrig ist! - trifft daher durchaus Grund und Absicht des israelischen Libanon-Feldzugs. Hier will eine souveräne Staatsgewalt unvereinbar sein erstens mit den politischen Ambitionen einer ganzen arabischen Völkerschaft, so wie diese von den politischen Organisationen dieser verhinderten Nation artikuliert werden; sie will insofern zweitens unvereinbar sein mit dem unmittelbaren Überlebensinteresse der betroffenen Leute, aus dem der Wunsch nach einem palästinensischen bzw. einem Staat mit bürgerlicher Gleichberechtigung für Araber sich speist - daß dieser Wunsch ein falsches Ideal jener Interessen ist und kein Weg zu ihrer Verwirklichung, das ist wirklich das Letzte, was ausgerechnet

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eine Staatsgewalt, noch dazu eine bewußt völkische, daran auszusetzen haben könnte. Und diese Unvereinbarkeit der israelischen Souveränität mit den' Anliegen einer ganzen Völkerschaft ist keine theoretische Angelegenheit: Sie wird blutig vollstreckt, wenn die Führer Israels jeden organisierten Palästinenser als "Terroristen" definieren, zum Abschuß freigeben, und ihrer Armee überdies Rücksichtslosigkeit gegen jedermann zur Pflicht machen, der sich in der Nähe eines solchen Ziels aufhält und damit den tödlichen "Fehler" begeht, einen "Schutzschild für Terroristen" abzugeben.

Dabei geht Israel nicht bloß mit den eigenen Streitkräften unmittelbar gegen jede palästinensische Gegenwehr vor. Nach sämtlichen Kunstregeln eines professionellen Terrorismus läßt es jeden Staat der Region - und bisweilen auch weiter entfernte Staaten - seine Unzufriedenheit spüren, wenn deren Souveräne sich entweder nach israelischem Urteil als unfähig erweisen oder aber nicht willens sind, dem israelischen Verdikt über die Palästinenserflüchtlinge und ihre politischen Assoziationen Genüge zu tun und sie klein und ohnmächtig zu halten. Die Bewohner des Libanon haben es jedenfalls bitter zu spüren bekommen, daß die israelische Regierung bei ihnen eine schlagkräftige Staatsgewalt zur Unterdrückung der PLO vermißt und es sich daher zu ihrer weltpolitischen Pflicht gemacht hat, gegen den angeblichen palästinensischen "Staat im Staate" eine "souveräne" libanesische Zentralgewalt wiederherzustellen. Nachdem permanente Luftüberfälle, kurzfristige Einmärsche und die Einrichtung eines kleinen, israelhörigen "Staats im Staate" im Süden des Landes unter dem christlich-faschistischen Milizführer Haddad den "Beweis" geliefert hatten, wie untragbar ein zerrütteter Libanon für Israel ist, "mußten" Bombenflugzeuge und Panzer dieses selbstlose Geschenk direkt in Beirut abliefern - einige tausend Untertanen hat das ihr Leben, einige Zehntausend den Rest ihrer ökonomischen Existenz gekostet.

Erst recht schlägt Israel seit jeher gegen jeden Staat zu, dessen Führung sich nicht dafür hergeben will, "ihren" Flüchtlingen jede Bewegungsfreiheit zu nehmen. Mit kriegerischen Aktionen, die nach Geschmack 'mal als "Vergeltungs-", 'mal als "Präventivschläge" ausgegeben werden und tatsächlich mittlere Vernichtungsfeldzüge gegen die Palästinenser und die Machtmittel ihrer "Schutzmächte" sind, "bestraft" Israel seine Nachbarstaaten für jede - wirkliche oder auch nur behauptete - palästinensische Kommandoaktion von ihrem Territorium aus, und zwar allemal bewußt "unverhältnismäßig" im Vergleich zum vorgeblichen Anlaß (eine Zeitlang galt schließlich sogar das Attentat auf einen israelischen Diplomaten in London als Rechtfertigung für Israels Libanonfeldzug!). Der gewünschte Erfolg ist nicht ausgeblieben. In Jordanien haben Terrorkommandos der israelischen Armee Anschläge von Palästinensern aus jordanischen Lagern zum Anlaß genommen, ganze Dörfer einzuäschern; und der zuständige König Hussein hat wunschgemäß reagiert: mit schärferer Kontrolle der Lager und härterer Unterdrückung ihrer Insassen. Der Abwehr kämpf der Palästinenser, die ihrerseits die jordanische Staatsgewalt in stärkerem Maße für den Schutz vor israelischen Überfällen nutzen wollten, endete in dem berüchtigten "Schwarzen September" 1970 mit einem Sieg der Hussein-treuen Beduinentruppen, der den israelischen Übergriffen an Brutalität nicht nachstand und für Israel nichts zu wünschen übrig ließ. Unterstützt hat die israelische Regierung diesen Erfolg zumindest durch eine wirksame Drohung an Syrien, jeden Beistand für die Palästinenser zu unterlassen. Der syrische Präsident Assad hat es seinerseits nie so weit kommen lassen und "seine" organisierten Flüchtlinge stets streng »unter Kontrolle" gehalten. Und nicht nur das. Die Angst der syrischen Regierung vor einem israelischen Eingreifen - schon damals mindestens bis Beirut - war bekanntlich mindestens ein Grund für ihre Intervention in den libanesischen Bürgerkrieg im Jahr 1976: zugunsten der wenig syrienfreundlichen, von Israel militärisch aufgebauten und unterstützten christlichen Milizen und gegen die Palästinenser und die mit ihnen verbündeten moslemischen Organisationen, die kurz davor standen, die Macht im Libanon und damit eine souveräne Basis für ihre Politik zu erobern. Gerechterweise gilt Präsident Assad auch jetzt wieder als verläßlicher Lagerwärter für die nach Syrien deportierten palästinensischen Kämpfer aus Beirut. Der Abtransport der Palästinenser aus Beirut, unter NATO-Aufsicht in verschiedene arabische Ländenist im übrigen Israels vorläufig größter Erfolg bei seiner "Lösung" der von ihm aufgeworfenen Palästinenser-"Frage": nicht bloß, weil ihre Organisationen praktisch zerschlagen und ihre Mitglieder in alle Himmelsrichtungen

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zerstreut sind, sondern vor allem deshalb, weil praktisch alle wichtigen arabischen Kontrahenten Israels sich zum Helfershelfer genau dafür gemacht haben. Das ist nicht neu, immerhin aber ein entschiedener Fortschritt in der miesen Tradition der arabischen "Schutzmächte" der Palästinenser, aus Furcht und Berechnung ihre "Schützlinge" fast härter zu behandeln, als Israel es sich überhaupt nur wünschen kann, und so dem Urheber des Elends die Drecksarbeit der Unterdrückung auch noch abzunehmen.

Daß dabei die Liquidierung von Palästinensern als die wirksamste Art der Unterdrückung stets auf der Tagesordnung steht, hat das zu trauriger Berühmtheit gelangte Massaker von Beirut der Welt im September '82 vor Augen geführt. Kaum waren die bewaffneten und organisierten Palästinenser unter UNO-Aufsicht - was heute dasselbe ist wie NATO-Aufsicht — aus Beirut entfernt, demonstrierten Freunde des Staates Israel unter wohlwollender Beteiligung von dessen "Schutz truppen", wie man mit entwaffneten Feinden umgeht. Nicht einmal dieser Berechnung der Palästinenser - sie waren um ihres Überlebens und der Existenz ihrer Familien willen abgezogen - wurde stattgegeben, so daß die westliche Öffentlichkeit während der Bergung der Leichen Gelegenheit bekam, sich mit professionellem Abscheu zu distanzieren und zugleich davor zu warnen, den Opfern zuviel moralische Pluspunkte zuzuschanzen, die dann trotz der militärisch perfekten Niederlage zu einem "politischen Erfolg" der PLO führen könnten ...

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Zionismus, Antisemitismus und der völkische Charakter des Staates Israel

l.

Der Zionismus ist aufgetreten als der Idealismus einer jüdischen Nation, die erst geschaffen werden sollte. Aufgebracht wurde er im späten 19. Jahrhundert von jüdischen Intellektuellen, die der Überzeugung waren, ihrem "Volk" fehlte nichts so sehr wie ein eigener Staat. Dabei ging dem jüdischen "Volk", auf das sie sich mit ihrem Staatsgründungsprojekt bezogen, nicht einmal bloß eine "einheimische" Obrigkeit ab. Es existierte überhaupt nicht als zusammenhängende Gesellschaft, die zur Regelung ihrer Klassengegensätze und zur politischen Vertretung der Interessen ihres akkumulierenden Reichtums nach einer souveränen Gewalt verlangt hätte. Die "völkische" Identität der zu Bürgern eines zionistischen Staates ausersehenen Menschen lag - wie schon die Benennung ihres Nationalismus nach einer antiken Kultstätte deutlich macht - in den Sphären der Religion, der frommen Einbildung, ein "auserwähltes Volk" zu sein.

Fiktionen dieser Art sind keinem Nationalismus fremd, beziehen sich im Normalfall aber auf eine überhaupt nicht fiktive ."geschichtliche Schicksalsgemeinschaft", das Ensemble von Notlagen nämlich, das eine Staatsgewalt ihren Untertanen praktisch auferlegt. Der Lebenspraxis eines vorbürgerlichen Volkes oder einer bürgerlichen Klassengesellschaft wird so eine höhere moralische Berechtigung und ein trostreicher tieferer Sinn zugesprochen. Umgekehrt im Falle des "jüdischen Volkes": Die Selbstdeutung als Mitglied in des höchsten Chefs hauseigener Mannschaft idealisiert hier nicht einen wenig gemütlichen praktischen gesellschaftlichen Lebenszusammenhang aus Arbeit, Gehorsam und entsprechenden Gewohnheiten des Opportunismus und des Trostes. Sie soll und will vielmehr mit den von ihr vorgeschriebenen Praktiken der Lebensführung - die daher auch nicht von der Abstraktheit und Universalität etwa christlicher Moralvorschriften sind - eine quasi-praktische Identität und damit das Surrogat eines Volkszusammenhangs all derer, die sich zu dieser Lebensweise bekennen, überhaupt erst stiften. Die religiöse Selbstbewunderung eines Menschen als Jude steht hier nicht nur in der verkehrten Vorstellungswelt eines loyalen Untertanen am Anfang seines Patriotismus, sondern soll ganz praktisch Grundlage und Ausgangspunkt einer erst zu schaffenden Nationalität sein. Sie ist das Merkmal, das einen Menschen zum Adressaten des zionistischen Staatsgründungsprogramms macht. Was so erst als die bloße ideelle Identität eines "Volkes" existiert, das will der Zionismus auch politisch wahrmachen. Das aber nicht in der phantastischen Manier eines "Gottesstaates", einer anachronistischen Wiederbelebung mosaischer Verhältnisse. Der Zionismus kennt das "moderne", staatsbürgerliche Verhältnis zwischen Politik und Religion, Klassengesellschaft und Ideologie, praktischem Opportunismus und patriotischer Selbststilisierung bis hin zum frommen Wahn. Er will nicht eine Gemeinde von praktizierenden Idealisten schaffen, sondern die jüdische Observanz durch die Konstruktion einer ganz "normalen" nationalen Klassengesellschaft - mit Bauernstand und Proletariat, Kreditwesen und Grundbesitz, Politikern und Schulmeistern - auf eine feste "Basis" stellen, die sich diesen religiös-patriotischen "Überbau" ganz genau so als ideologischen Überbau hält wie jeder bürgerliche Staat seinen Nationalismus.

Der Grund, aus dem die Juden diesen Übergang vom Bekenntnis zu einer neuen Staatsbürgerschaft mitmachen sollten, lag für die Zionisten dementsprechend auch nicht im Bereich der religiösen Ideale. Mit ihrem Staatsgründungsprojekt sprachen sie die Observanten jüdischer Lebensweisen an als ziemlich fertige Staatsbürger ,.modernen" Zuschnitts, als praktizierende Experten in der kleinen und großen Geschäftemacherei, in der Ableistung wie in der Benutzung der Lohnarbeit, in der Kalkulation mit Kapital und Armut, in der berechnenden Unterwerfung unter staatliche Gewalt, die

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zwischen den "Sachgesetzen" der bürgerlichen Welt und frommen Einbildungen zu unterscheiden wissen. Und zwar als solche Staatsbürger - dies die materielle Basis des gesamten Projekts! -, die ausgerechnet wegen ihrer jüdischen Observanz für ihre ganz staatstreuen bürgerlichen Anliegen auf die Staatsgewalten, unter denen sie tatsächlich lebten, nicht zählen konnten; die sich von ihrer Obrigkeit auf ein Leben nach den harten Gesetzen der Konkurrenz, des Kredits und der Lohnarbeit festgelegt sahen und doch nur sehr bedingt in den Genuß des dafür unabdingbaren Schutzes von Person und Eigentum kamen. Daß sie von den existierenden nationalen Staatsgewalten als Untertanen zweiter Klasse, als Nicht-Volk behandelt wurden: das gab der spinnösen Selbstdeutung der Juden als Adressaten göttlicher Auserwählung das materielle Gewicht, dem die Zionisten mit ihrem Projekt einer nationalen Zusammenführung der Juden in einem gemeinsamen Staat Rechnung tragen wollten. Sie zogen damit .aus den lebhaft praktizierten nationalistischen Idiotien der diversen Heimatländer des .Judenvolkes" ausgerechnet den nationalistischen Schluß, durch eine nur auf dieses "Volk" begründete Herrschaft wäre dessen Elend abzuhelfen.

2.

Denn der 'Antisemitismus', auf dessen Angriffe der Zionismus die nationalstaatsideologische Antwort ist, stellt seinerseits alles ändere dar als einen "Rückfall" hinter die egalitären und freiheitlichen "Errungenschaften" des modernen Klassenstaats, womöglich ins unerleuchtete Mittelalter. Sicher, es ist mehr als eine unverbindliche Ideologie, daß der bürgerliche Staat keine Unterschiede zwischen seinen Untertanen in ihrem Verhältnis zu seinen Gesetzen und seinem Rechtsschutz kennen will. Gerade die gleichmäßige und ausnahmslose Unterwerfung aller unter seine Werke und Setzungen bringt ja die ökonomischen Klassen und ihre Konkurrenz hervor, auf deren geregelten Fortgang und auf deren Erträge es einem bürgerlichen Staat ankommt. Bestimmte Volksgruppen zur Benutzung des von ihr geschaffenen und unterstützten Privateigentums oder durch das Eigentum nicht zuzulassen, widerspricht in der Tat dem selbstgeschaffenen Auftrag der souveränen politischen Herrschaft, die Mitglieder ihrer Gesellschaft ganz von ihrer funktionalen Seite her, als Personen mit oder ohne Eigentum, zu nehmen und ihren geschäftsmäßigen Umgang miteinander zweckmäßig zu sichern. Bloß ist diese funktionelle Behandlung der Masse der Bürger als Manövriermasse des als Privateigentum fungierenden Reichtums und der ihn garantierenden Gewalt selber gar nicht zu haben, ein moderner Klassenstaat also überhaupt nicht zu machen, ohne daß die Betroffenen alle gesellschaftlichen Gegensätze, denen sie so unterworfen werden, hinter der nationalen Einheit ihrer Gesellschaft zurückstellen. Sie müssen sich zu der patriotischen Verrücktheit bereitfinden, die Staatsgewalt prinzipiell als ihren Helfer, die durch sie geschaffene Klassengesellschaft als "Solidargemeinschaft" zur Bewältigung all der Schwierigkeiten zu akzeptieren, die den weniger Bemittelten daraus allererst erwachsen. Als Schicksalsgemeinschaft müssen sie sich vorkommen und aufführen; und das um so entschlossener, je härter das "Schicksal" ist, das die politisch eingerichteten "Sachzwänge" ihrer Gesellschaft ihnen aufzwingen.

Das wiederum hat Folgen, die dem abstrakten Funktionalismus der ganzen Veranstaltung und erst recht dessen menschenrechtlichen Idealen notwendigerweise widersprechen. Je härter die tatsächlichen politischen Zwecke, für deren Durchsetzung eine nationale Regierung sich auf ihr Volk beruft, das beanspruchte Menschenmaterial schädigen, um so offensiver und unverschämter pflegen Regierungen sich auf ihr Volk als "Auftraggeber" zu berufen. Umgekehrt fordern Patrioten um so mehr Respekt vor den "höheren" nationalideologischen Gesichtspunkten, unter denen sie sich höchstpersönlich als Volk mit ihrer Führung zur Nation zusammenschließen mögen, je härter sie von Staats wegen beansprucht und geschädigt werden. In Elends- und in Vorkriegszeiten "reift" vollends die von oben wie von unten praktizierte Idiotie von der Nation als Lebensgemeinschaft zu der Ideologie eines gemeinsam zu bestehenden nationalen Lebenskampfes. Die noch zunehmenden Mißhelligkeiten des bürgerlichen Lebens werden dann aus purer Staatstreue in Machenschaften - bzw. in notwendige Maßnahmen zur Abwehr von Machenschaften - eines Gegners umgedeutet, gegen den die Nation ihren Lebenskampf zu bestehen hätte. Die nationalistische Stilisierung der Untertanen zu einem Volk mit einem unverwechselbaren, natürlich hervorragenden

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»Volkscharakter" wird zum ideologischen Leitfaden einer gar nicht mehr bloß ideologischen Überprüfung des Volkes auf seine Kampfbereitschaft hin. Außer bei den paar Intellektuellen, die dem Anspruch auf nationale Geschlossenheit mit 'dem Vorbehalt begegnen, dafür müsse es doch erst eine "sinnstiftende" Theorie geben, wird diese Prüfung regelmäßig bei denjenigen Geschöpfen der Klassengesellschaft fündig, deren Dienstbarkeit für Macht und Reichtum der Nation zweifelhaft erscheint. Die Unbrauchbaren und Ausrangierten fallen sehr rasch unter die Kategorie des kampfuntüchtigen, also für den nationalen Lebenskampf untauglichen, folglich "lebensunwerten Lebens"; Arbeiter und Arbeitervertreter, die noch eine wesentliche Kampffront innerhalb der nationalen Gesellschaft entdecken, sich also nicht völlig dem Anspruch auf Volkseinheit beugen, gelten folgerichtig als "zersetzende Elemente"; ebenso verdächtig sind, am entgegengesetzten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie, die praktizierenden Internationalisten des nationalen Geschäftslebens, die "Finanzmagnaten", die mit ihrer gesamten Geschäftstätigkeit die ökonomische Wahrheit sinnfällig machen, daß in der bürgerlichen Klassengesellschaft sich alles ums Kreditgeld und dessen weltweite Durchschlagskraft dreht - und nicht um nützliche Güter, noch nicht einmal um nützliche Güter für die Nation. Freiheit herrscht darüber hinaus für den nationalistischen Opportunismus des wohlerzogenen Volkes, unbeliebte Charaktermasken einer Ökonomie, die die eigene Verelendung bewirkt, zu den Schuldigen zu erklären, die das maßgebliche höchste Gut, die Durchhaltekraft des Volkes schwächen. Zur Identifizierung auswärtiger Gegner, gegen die der nationale Lebenskampf zu bestehen und zu gewinnen sei, tritt so die Entdeckung von Schädlingen und Feinden des Volkes im Innern hinzu, die ausgemerzt oder mindestens unter strengster Kontrolle gehalten gehören; unter guten Patrioten findet dieses unveräußerliche Menschenrecht auf eine saubere Volksgemeinschaft mit Leichtigkeit genügend freiwillige Anwälte, Richter und - Henker!

Von da aus fehlt bis zu dem, was in der bürgerlichen Staatenwelt "Antisemitismus" heißt, nur noch der eine Schritt, den Befund "volksfeindlich" in die Diagnose "volksfremd" zu übersetzen. Und diese "Übersetzungsleistung" ist einem Heimatliebhaber und Volksgenossen die leichteste, weil vertrauteste Übung von der Welt. An sich selbst, seinen Vorlieben, Abneigungen und sonstigen moralischen Lebensgewohnheiten macht ein guter Patriot ja immerzu seine Überzeugung wahr, nichts charakterisiere einen Menschen gründlicher als das, was er seiner Volkszugehörigkeit "verdanke"; so schaffen es ja wahrhaftig ganze nationale Gesellschaften, sich gemeinschaftliche Borniertheiten als Gefühl und Charakter zuzulegen. Wie könnte es einem solchen Volk da schwerfallen, erstens jeden Ausländer, zweitens jeden inländischen Mitbürger, der im Verdacht einer feindseligen Distanz zum heimischen Volkstum steht, umgekehrt unter genau gleichartige nationalistische Stilisierungen zu subsumieren; um so mehr und um so leichter, wenn das Volksvorurteil auf Leute trifft, die dieser Idiotie Rechnung tragen und ihrerseits, sei es in trotziger Selbstbehauptung, sei es im Bemühen um die Entkräftung jeglichen Verdachtes, allerlei gemeinschaftliche Absonderlichkeiten ausbilden. So entpuppt sich der moderne staatsbürgerliche Patriotismus, je mehr es für eine solide Unterwürfigkeit auf ihn ankommt, um so offener als ein "Rassismus", der von erinnerten Geschichtsbrocken bis zur Hakennase, von der Hautfarbe bis zu speziellen Eßgewohnheiten alles aufbietet, um die politische Kategorie des Volksfeindes und -Schädlings zu einem kollektiven Charakterbild auszumalen - ganz ebenso, wie der Nationalstolz ja auch für das eigene Volk aus den Gewohnheiten der Unterwerfung und der Not einen Inbegriff verfertigt, der als vorgegebener Charakter letztlich in jedem vollwertigen Volksgenossen aufzufinden sei.

3.

Die Hauptbetroffenen und -leidtragenden dieses staatsbürgerlichen Rassismus, die Juden Europas, haben sich im Zionismus zu einer Antwort von gleichem Kaliber, bekannt. Sie waren nichts als die Opfer der gewalttätigen Fiktion einer nationalen Schicksalsgemeinschaft von Volk und politischer Führung, die jedem anständigen Untertanen als persönlicher Charakterzug mit in die Wiege gelegt sei, ihn vor allen andersartigen Gattungsgenossen auszeichne und zu ihrer Verachtung berechtige. Und doch haben die politisierten Juden Europas sich nie zu einer Kritik des patriotischen Wahns

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selbst, geschweige denn seines Grundes, der klassenstaatlichen Gewalt, verstanden. Die fatale Stärke der Ideologie des Nationalismus - die ja nachgerade ein Gefühl sein soll und wohl auch ist! - liegt eben darin, daß sie durch die Greuel, die in ihrem Namen angerichtet werden - und kein nennenswerter Greuel der modernen Zeit war nicht durch Vaterlandsliebe inspiriert! -, einfach nicht zu blamieren ist. An den Gesinnungsgenossen fremdländischer Observanz entdeckt noch jeder Patriot die Schädlichkeit und Verlogenheit dieser Ideologie, und daß Menschen durch sie zu Massenmördern werden - mit dem besten Gewissen! Bemerkt und kritisiert, mit Entsetzen und Verachtung bedacht wird da allerdings nie der Nationalismus, sondern der Nationalismus der anderen, gerade so als wäre der der wahre Und eigentliche Gegensatz zum eigenen! So dient, was der Fanatismus der einen Nation anrichtet, stets ausgerechnet dem einer anderen als Rechtstitel und Gütesiegel, also als gutes Gewissen seiner Rücksichtslosigkeit. Und mit eben dieser nationalistischen Selbstgerechtigkeit sind die Zionisten angetreten. Ganz im Sinne des Wahns ihrer Gegner und Verächter haben sie das Opferdasein der Juden als "völkische" Eigenart interpretiert, als eine kollektive Identität der Betroffenen von der Art eines nationalen Volkstums, die ihren Inhabern ein unwidersprechliches Recht auf kollektive Untertänigkeit unter einer eigenen, und zwar besonders machtvollen Staatsgewalt verliehe.

Der Staat, den die Zionisten gründen wollten, stand somit von vornherein unter dem Auftrag, völkisch zu sein, also genauso exklusiv für die Einrichtung und Erhaltung einer ansonsten ganz , .normalen" bürgerlichen Assoziation der Juden einzustehen, wie andere Nationalstaaten immer wieder die Exklusivität ihrer Zuständigkeit für die Geschicke ihres Volkes gegen die Juden gewendet haben. Zur Verwirklichung dieses Projekts mitten in Palästina brauchte es daher natürlich weit mehr als den Willen dazu und die Bereitschaft türkischer Verwaltungsbeamter und der ,,Pforte", auch Juden als Untertanen zu akzeptieren. Geplant war nichts geringeres als der Export eines kompletten bürgerlichen Kleinstaats samt Staatsbürgern, interner Arbeitsteilung, politischen Verkehrsformen und einem hinreichenden rassistischen Gewaltapparat in eine Gegend, die keineswegs menschenleer war und deren Bewohner sich nicht so leicht in den Urwald respektive in die Wüste abdrängen oder ausrotten ließen, wie dies europäischen Kulturträgern und Zivilisationsbringern im Rahmen analoger Siedlungsprojekte in Südafrika mit den Negern oder in Nordamerika mit den Indianern so glänzend gelungen war. Benötigt wurde erstens ein Menschenmaterial, das einem härteren Kriterium zu genügen hatte als dem einer idealistischen Sehnsucht nach Heimaterde: Leute, die bei aller opportunistischen Anpassungsbereitschaft - Revolutionäre durften sie ja nicht geworden sein! - in ihren angestammten Heimatländern zu der Überzeugung gelangt waren, daß sie nichts mehr zu verlieren hatten. Die nötigen Massen wurden den Initiatoren und Sachwaltern des zionistischen Projekts von den regierenden (und unter tatkräftiger Mitwirkung der regierten) Nationalisten Europas "überstellt" - ganz im Sinne der Diagnose von Theodor Herzl, der Antisemitismus werde schon für genügend Opfer sorgen, um die geplante "Heimstätte" zu füllen. Ganz im Sinne dieser Einschätzung hat die zionistische Führung ihrerseits auch immer, erst recht während des 2. Weltkriegs, als die Entscheidung über eine nationale Unabhängigkeit für die verfeindeten Volksgruppen in Palästina anstand, darauf geachtet, daß die Judenverfolgung ihrem Staatsprojekt zugute kam und die vor Pogromen und Völkermord geretteten Flüchtlinge ins "Gelobte" und nicht irgendein anderes Aufnahmeland verfrachtet wurden.

Selbst mit Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, läßt sich eine zur Selbstbehauptung in der modernen Staatenwelt fähige Macht allerdings nicht einrichten ohne - zweitens - einen ausreichenden Reichtum, um das Menschenmaterial anzuliefern, anzusiedeln und an eine halbwegs ertragreiche Arbeit zu bringen. In dieser Frage taten sich die Manager der jüdischen Finanz Oligarchie der kapitalistischen Nationen vor allem als begnadete Geldsammler hervor; eine Art freiwilliger Steuer für den Landkauf in "Erez Israel" und die Grundausstattung für jüdische Siedler wurde den Judengemeinden in aller Welt und vor allem in den USA, und zwar den zionistischen wie den nicht-zionistischen, durch zahllose Werbekampagnen zur Gewohnheit gemacht. Das aufgebrachte Geld wurde nicht, wie normale "Entwicklungshilfe" heute, als Kapital gegeben, um sich zu verzinsen und dem Gläubiger den schrankenlosen Zugriff auf die "natürlichen Reichtümer"

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und die mobilisierbare Arbeitskraft des "Empfängerlandes" zu sichern, mit dem Ergebnis fortschreitender Verelendung in den beiden Formen des totalen Pauperismus und der Lohnsklaverei. Es wurde zu öffentlichem Eigentum an Boden und - zunächst vor allem landwirtschaftlichen - Produktionsmitteln, das Siedlergenossenschaften und -kollektiven zur Verfügung gestellt wurde. Mit solcher Hilfe - die diesen Namen verdient, auch wenn von einer lohnenden Existenz der jüdischen Immigranten nicht die Rede sein kann - brachte der "Jischuw", dem zionistischen Plan gemäß, ein durch und durch völkisches Wirtschaftssystem zustande: das Paradox einer Geld-wirtschaft unter dem Zweck der Selbstversorgung des arbeitenden Volkes und der pfleglichen Herrichtung des Landes. Die jüdischen Kapitalisten im Lande wurden, notfalls durch ein wenig Terror, auf die exklusive Beschäftigung von Juden festgelegt, und zwar zu Löhnen, die um ein Mehrfaches höher lagen als die für arabische Arbeiter. Größere industrielle Projekte wurden von vornherein unter die Regie der jüdischen Einheits-"Gewerkschaft" Histadruth gestellt oder in enger Abstimmung mit ihr und den zionistischen Landentwicklungsagenturen von kapitalkräftigen jüdischen Unternehmern abgewickelt. Den Inbegriff dieser Sorte ökonomischer Volksgenosscnschaft stellen bis heute die landwirtschaftlichen Selbstversorgungskollektive dar: die als sozialistische Errungenschaft gefeierten Kibbuzim. Mit einem zu jeder Entbehrung bereiten Menschenmaterial und auswärts beschafftem Geld machten die Zionisten so in der neu geschaffenen palästinensischen Judengemeinde praktisch wahr, was es ansonsten nur als Ideal gibt, nämlich als faschistisches: einen umfassenden, exklusiv völkischen Arbeitsdienst, auf Lohnarbeit und Grundrente, also die so produktiven "Sachzwänge" des Geldes gegründet, aber ohne Profit als Kriterium, ohne Pauperismus als notwendige Kehrseite, zum Nutzen vor allem einer fortschreitenden »Landnahme" und einer dafür ausreichenden gemeinschaftlichen Macht.

Denn das war natürlich von Anfang an das dritte und wichtigste Erfordernis für die Verwirklichung des zionistischen Projekts: eine souveräne Gewalt über Land und Leute, die willens und in der Lage war, dem Import eines kompletten jüdischen Staatswesens Raum zu verschaffen, also die Einheimischen zu seiner Hinnähme zu zwingen. Die gesamte Aktion wäre überhaupt nie in Gang gekommen ohne das überragende Interesse der britischen Kolonialmacht am Besitz der "Landbrücke", einschließlich des neugeschaffenen Seewegs, zwischen dem Mittelmeer und dem Indischen Ozean, ohne ihre militärischen Erfolge im l. Weltkrieg gegen das osmanische Reich - und ohne ihre Kalkulation, daß ein von ihr abhängiges Siedlervolk europäisch-staatsbügerlichen Zuschnitts an einem Brennpunkt ihrer strategischen Interessen ihr von Vorteil sein müßte. Das wichtigste Zwischenergebnis war die als "Balfour-Deklaration" berühmt gewordene Zusage, Großbritannien werde das Projekt einer "Heimstatt für das jüdische Volk" - "a national home for the Jewish People" - in Palästina fördern; niedergelegt Ende 1917 in einem Brief des britischen Außenministers an den englischen Zionistenführer Baron Rothschild und 1922 erneuert in dem Völkerbundsauftrag an Großbritannien, die ,,befreiten" arabischen Südprovinzen des zerschlagenen türkischen Reiches zu verwalten - dies der völkerrechtliche Ehrentitel für Großbritanniens Kolonialherrschaft über die Region. Von zionistischer Seite wurde Großbritannien zwar von Anfang an mangelnder Einsatz für die Verwirklichung dieser "Pflicht" vorgeworfen, die die Regierung unter Ehrenbezeugungen vor sämtlichen zionistischen Staats- und Volkstumsidealen bis hin zur Idee eines historisch angestammten, völkerrechtlich respektablen jüdischen Rechtstitels auf den Besitz Palästinas auf sich genommen hatte. Tatsächlich hat Großbritannien sich das zionistische Anliegen nie auch nur einen Bruchteil dessen kosten lassen, was den USA heute der Unterhalt Israels wert ist. Die Beschwerden, beispielsweise über mangelnde britische Unterstützungszahlungen, zeigen allerdings mehr die weitgespannten Ansprüche, für die der Zionismus von Großbritanniens kolonialistischen Berechnungen zu profitieren hoffte, und übersehen glatt die beträchtlichen Freiheiten, die ihm in Palästina eingeräumt waren. Immerhin konnte, anders als unter der .Türkenherrschaft, in großem Stil Land für jüdische Siedlungen aufgekauft werden; in der Regel nicht von selbstwirtschaftenden Bauern am Ort, sondern von Großgrundbesitzern, mit der Folge, daß den ansässigen Pächtern ihre Existenzgrundlage genommen war. Geduldet wurde auch das gewaltsam durchgesetzte Prinzip der .Jüdischen Arbeit", durch das den Arabern auch die Lohnarbeit auf dem aufgekauften Land, ebenso auf den älteren Plantagen, die

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immer arabische Arbeiter beschäftigt hatten, sowie weitgehend auch in den nicht-agrarischen jüdischen Unternehmungen verwehrt wurde. Umgekehrt machten solche Unternehmen dem spärlichen arabischen Kommerz Konkurrenz; wie erfolgreich, das bezeugen die wiederholten arabischen Aufrufe zum Boykott jüdischer Waren und Geschäfte. So machte sich zum Schaden der Einheimischen eine exklusiv jüdische Gesellschaft mit einer dank auswärtigen Subventionen überlegenen Ökonomie in Palästina breit, die die Araber praktisch zu einer Randgröße im Lande herabsetzte, schon zu Zeiten, als sie noch die weit überwiegende Bevölkerungsmehrheit stellten. Ihre Gegenwehr in Form von Verzweiflungsangriffen brotlos gemachter Pächter gegen jüdische Siedlungen sowie mit meist recht dilettantischen Gewaltaktionen gegen Einrichtungen und Personal der britischen Mandatsmacht, die diese zu einem Stop oder wenigstens einer Einschränkung der jüdischen Einwanderung bewegen sollten, wurde mit Polizeigewalt gebrochen; erst im 2. Weltkrieg setzte die britische Regierung hier einige Restriktionen durch, um die Bündnistreue der halbautonomen arabischen Nachbarstaaten im Kampf gegen das in Nordafrika zeitweise siegreiche Deutschland zu stabilisieren. Was aber noch wichtiger war als das brutale Vorgehen der britischen Kolonialpolizei selbst: sie rekrutierte aus dem ,Jischuw" eine jüdische Hilfstruppe, und darüber hinaus wurde entgegen allen geltenden Vorschriften, die gegen arabische Freischärler auch stets pünktlich angewendet wurden, den jüdischen Siedlern die Aufrüstung ihrer Dörfer zu regelrechten Festungen sowie der Aufbau einer bewaffneten Miliz zugestanden, die sogar zur Niederschlagung des arabischen Aufstandes von 1936 bis 1939 durch die britischen Streitkräfte geschult und ausgerüstet wurde. Unter solcher britischer Obhut und Mithilfe entwickelte sich die nach Palästina exportierte und subventionierte Gemeinschaft völkisch gesonnener Aktivisten eines künftigen "Erez Israel" zu einem bewaffneten Staatsvolk, dem mit wachsender Zahl der Volksgenossen und wachsendem ökonomischem wie militärischem Übergewicht gegenüber der arabischen Mehrheit nurmehr eins fehlte: die nationale Souveränität.

Mit diesem Anspruch waren die zionistischen Führer und ihr Werk nun nicht mehr funktional für die strategischen Kalkulationen des im Krieg gegen Deutschland stehenden, dann um die Rettung seines Kolonialbesitzes kämpfenden britischen Reiches; so konnte die gewaltsam ausgetragene Konkurrenz gegen die britische Mandatsmacht um die politische Hoheit über das Land gar nicht ausbleiben. Dabei traf die berechnende britische Nachgiebigkeit gegenüber arabischen Forderungen nach einem Stop der Judaisierung Palästinas zusammen mit dem nazistischen Völkermord an den europäischen Juden und der unabweisbaren Notwendigkeit, Zufluchtsorte für Flüchtlinge zu schaffen, die von den Zionisten wiederum ebenso berechnend für die Erweiterung der Zufuhr jüdischer Siedler ausgenutzt wurde; das wurde zum Anlaß und zum fortdauernden moralischen Gütesiegel des antibritischen Terrors, mit dem zuerst die fanatischsten Fraktionen im .Jischuw" - am tatkräftigsten die von Menachem Begin kommandierte "Irgun" -, später auch die offizielle zionistische Untergrundarmee "Haganah" den Kampf um politische Autonomie aufnahmen. Seinen Abwehrkampf führte Großbritannien nur mit mäßigem Nachdruck; und indem es ihn drei Jahre nach Kriegsende einstellte, sein Mandat über Palästina für beendet erklärte, den lieblichen Teilungsempfchlungen der UNO noch nicht einmal pro forma eine rechtliche, geschweige denn irgendeine praktische Verbindlichkeit verlieh und seine Truppen abzog, ohne den Streit zwischen der zionistischen Quasi-Nation und den immer mehr verdrängten, politisch unorganisierten Arabern im Land zu entscheiden, leistete es dem zionistischen Staatsprojekt seinen letzten, wenn auch vielleicht so gar nicht beabsichtigten Dienst. Die Hoheit über Palästina war damit nämlich als Preis für den raschesten und wuchtigsten Zugriff der bewaffneten Konkurrenten ausgesetzt; und für genau diesen Fall hatte die politische und militärische Führung des .Jischuw", noch unter britischer Kolonialhoheit und mit massiver Auslandshilfe, bestens vorgesorgt.

Die Übernahme der souveränen Herrschaft über das sich selbst überlassene Mandatsgebiet, bis an die mehrmals hinausgeschobenen Waffenstillstandslinien, verknüpfte die jüdische Armee mit der endgültigen Klärung der völkischen Mehrheitsverhältnisse im Land. Von den rund l Million arabischen Einwohnern des zum israelischen Staatsgebiet gemachten Landes waren Ende 1948 nur noch etwa 160.000 verblieben. Zu den müßigsten Moralismen der israelischen

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Geschichtsschreibung gehört die heiße Frage, ob dieser Exodus als "Vertreibung" anzusehen sei oder auf arabische Greuelpropaganda zurückgehe. Auch Greuelpropaganda muß erst einmal Glauben finden; den arabischen Flüchtlingen muß es aus ihren Erfahrungen mit der jüdischen Gesellschaft schon sehr eingeleuchtet haben, daß ein souveräner Judenstaat ihnen das Leben keinesfalls leicht machen würde. Daß die arabische Massenflucht der neuen Staatsführung nicht ganz außerordentlich gelegen gewesen wäre, läßt sich schon gleich nicht behaupten; für das zionistische Staatsprojekt waren schließlich explizit die Juden als Staatsvolk vorgesehen. Das zur moralischen Rechtfertigung der neuen Regierung gern zitierte großherzige Angebot der israelischen Souveränitätserklärung an die Araber im Lande, "trotz allem" solidarisch mitzutun, nimmt von dem Unterschied zwischen staatstragender Mehrheit und einer geduldeten Minorität von Quasi-Ausländern unter jüdischer Herrschaft nichts zurück, sondern stellt ganz offiziell klar, wer da Subjekt des Geschehens ist und wer der Adressat einer souveränen "Großzügigkeit". Auf jeden Fall war »Lebensraum" geschaffen für das jüdische "Volk" - ein Jahr danach hatte der Grundbesitz in zionistischer Hand sich verdoppelt, zwei Jahre später verdreifacht, hauptsächlich durch Einzug verlassener Besitztümer gegen eine symbolische Entschädigung an die "unauffindbaren" Ex-Eigentümer. Jüdisches Volk strömte denn auch in großer Zahl herein, nahezu l Million in den folgenden 5 Jahren, mehr als in dem halben Jahrhundert davor seit Beginn der zionistischen Einwanderungsbewegung. Und vor allem: Als Sachwalter für Volk und Lebensraum war endlich eine souveräne jüdische Staatsgewalt konstituiert.

4.

Der Zionismus war damit im Grunde an seinem Ziel und am Ende; was seither ansteht, ist seine Umkehrung in eine "normale" Nationalideologie, vermittels derer ein effektiv regiertes, unterwürfiges Staatsvolk sich die Unternehmungen seiner Herrschaft als geschichtlichen Auftrag ausmalt, dessen rücksichtslose Erfüllung dem dafür verwendeten Menschenmaterial Ehre macht. Genau das: bloß die Staatsideologie Israels, will der Zionismus aber nicht sein; und der israelische Staat selbst könnte sich das auch kaum leisten. Zum einen war das verfügbare Staatsvolk als Grundlage und Material für die Macht, die Israel darstellen wollte und nach der erfolgreichen Austreibung etlicher hunderttausend Araber zu seiner Selbstbehauptung auch besitzen mußte, schlichtweg zu klein; und weil mit dem Wachstum von Volk und staatlicher Macht auch Israels imperialistische Ambitionen zugenommen haben, gilt das noch immer. Heute will das ganze beträchtliche Gebiet von "Judäa und Samaria" erst noch jüdisch besiedelt und unter die dauerhafte Kontrolle einer jüdischen Mehrheit gebracht sein. Die Staatsgründung unter Einsatz des jüdischen "Volkes", auch des noch gar nicht in Israel beheimateten, als des wichtigsten Gewaltmittels hat insofern bis heute nicht aufgehört. Es war und ist deswegen auch weit mehr als eine ideologische Fiktion, wenn Israel sich im Sinne des alten zionistischen Ideals als der Staat aller Juden deklariert - auch wenn von der Mehrheit dieses "Volkes" feststeht, daß sie die USA ganz sicher nie verlassen wird. Praktisch wahrgemacht ist diese Fiktion in den Einwanderungsvorschriften, die als "Rückkehrgesetz" gleich nach der Ausrufung des souveränen Staates; als erstes und gewissermaßen als Grundgesetz der Nation erlassen wurden. Danach darf sich jeder Jude als latenter Staatsbürger Israels betrachten, der sich jederzeit Paß und Aufenthaltsrecht abholen kann. Insoweit steht also noch immer das Verhältnis zwischen Staatsgewalt und Volk - als dem Kollektiv der Untertanen - auf dem Kopf; mit der von witzigen Juden seit jeher ironisch gewürdigten Konsequenz, daß die israelischen Einwanderungsbehörden von Hitlers Rassenlehrern eine heiße Frage geerbt haben: Wer ist ein Jude? Die Antwort ist dem nationalen Oberrabbinat übertragen worden, das ohnehin das gesamte Personenstandsrecht exekutiert (nach bester talmudischer und halachischer Tradition lautet sie generell: Der Sohn einer jüdischen Mutter!).Diese Kompetenzzuweisung verträgt sich zwar schlecht mit der laizistischen Normalität und weltanschaulichen Neutralität, die Israel als bürgerliches Staatsgebilde für sich beansprucht, ist aber nur konsequent. Denn ein anderes Kriterium kann die praktizierte Fiktion eines jüdischen Volkes, getrennt von und logisch vor dem tatsächlichen Judenstaat, ja gar nicht haben als die im Privatleben vollzogene Idee eines speziellen jüdischen Volkstums oder, andersherum, die nachprüfbare Übernahme völkischer

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Lebensgewohnheiten, die gar nicht aus dem alltäglichen Elend einer nationalen Klassengesellschaft erwachsen, sondern die zu einer vorgestellten Theokratie verhimmelten Formen eines längst verflossenen Volkslebens gewissermaßen in lebenden Bildern nachstellen. Gar nicht ausbleiben können dann natürlich so interessante Streitfragen wie: Kann der Sohn eines jüdischen Vaters, aber einer zweifelsfrei nicht-jüdischen Mutter, der sich aber zum Judentum bekennt und alles Vorgeschriebene praktiziert, als Jude gelten? Und wie steht es um den Sohn jüdischer Eltern, der als Jesuit in die Dienste des römischen Papstes getreten ist, aber doch Israeli sein möchte? Es gibt nichts, was das israelische Oberrabbinat da nicht schon ausgeknobelt hätte - darüber sollten allerdings treue Staatsbürger sich nicht lustig machen, die als gute Patrioten in bezug auf ihre Nationalität irgendwie ja auch dem albernen Idealismus anhängen, Abstammung, Sprache, nationale Geschichte und dergleichen mehr machten einen Menschen noch vor jeder Staatsangehörigkeit beispielsweise zu einem Deutschen, dem damit das unverzichtbare Privileg zukäme, einer deutschen Obrigkeit gehorchen zu dürfen und keiner anderen.

Die Notwendigkeit, dauernd massenhaft neue Staatsbürger zu rekrutieren - um nämlich die Staatsmacht zu behaupten und zu stärken, die nötig ist, um den rekrutierten Staatsbürgern ihren »Lebensraum" in "Erez Israel" zu sichern ... -, ist also der eine praktische Grund, aus dem der Zionismus als ein den israelischen übergreifender jüdischer Nationalismus seine Gültigkeit behält; die ökonomische Lebensunfähigkeit des geschaffenen Staatsgebildes ist der andere. Denn auch das Verhältnis hat mit und seit der Staatsgründung keineswegs aufgehört, daß die nach Palästina exportierte jüdische Gesellschaft bei allem Fleiß und bornierten Opfermut nicht so rentabel produziert und so viel Überschuß hervorbringt, wie ihre Selbstbehauptung, nämlich ihre Verwendung als Machtbasis einer die Region dominierenden Staatsgewalt, es erfordert. Zwar lassen die imperialistischen Mächte, voran die USA, sich ihren nahöstlichen Vasallen Milliardenzuschüsse kosten; die Großmachtsambitionen Israels und sein entsprechender Finanzbedarf sind aber noch allemal schneller gewachsen. Das israelische Wirtschaftsleben braucht das fortdauernde Notopfer der Weltjudenheit; und das einzige Mittel ihrer Inp flieh tnahme ist die zionistische Fiktion einer "eigentlichen" Staatsangehörigkeit jedes Juden zu Israel. Im Namen dieses radikalen Volks-Moralismus soll jeder Jude sich schämen, der nicht nach Israel einwandert, und erst recht ein jeder, der, einmal eingewandert, das Land wieder verläßt - was auch gar nicht so einfach und vor allem sehr teuer ist. Und da müssen sich sehr viele schämen; denn so verrückt sind auch die Juden nicht, daß sie um ihres Nationalismus willen gleich vollends jede bürgerliche Berechnung und jedes opportunistische Kalkül fahren ließen - und auf die Wirkungen des "Antisemitismus" kann Israel sich auch nicht mehr verlassen. Andererseits käme Israel ohne finanzkräftige "Auslandsjuden" auch nicht zurecht; die brauchen sich also die Vernachlässigung ihres Volkstums um so weniger vorwerfen zu lassen, je prächtiger sie als Bürger anderer kapitalistischer Nationen geschäftlich zurechtkommen und ihren Volksgenossen zionistische Almosen zuwenden. Die Übersiedlung der "blühenden" zionistischen Gemeinden in den USA nach Israel wäre die ökonomische Katastrophe: von denen braucht das Land seine Dollars. Sein Menschenmaterial möchte es lieber weiterhin aus Rußland beziehen.

5.

So bleibt Israel, als was es projektiert worden und angetreten ist: ein entschieden völkischer Staat, der mit seiner Gewalt den Juden - nur den Juden, dafür aber allen - nützen und sie demgemäß benützen will. Die Kehrseite davon bekommen die palästinensischen Araber zu spüren; und zwar nicht bloß die Vertriebenen, die bald schon in der dritten Generation die Annehmlichkeiten eines vorderorientalischen Flüchtlingsdaseins auskosten dürfen. Die verbliebenen Araber haben keine Pogrome und Verfolgungen zu erdulden - ganz einfach deswegen, weil mit ihrer Dezimierung ihre Herabstufung zu einer in jeder Hinsicht belanglosen Randgruppe im Lande gelungen ist. Jahrzehntelang standen sie unter Militärherrschaft, sind zum Teil noch immer in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Zu dem harten 3-jährigen Militärdienst werden sie generell nicht eingezogen - ein "Privileg", das sie mit einem lebenslangen Außenseiterstatus bezahlen; denn in der

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israelischen Gesellschaft hat sich die Praxis eingebürgert, für Jobs wie für die eheliche Liebe, für den Hochschulbesuch wie für die Vermietung einer Wohnung das Entlaßzeugnis der Armee zur Voraussetzung zu machen. So kommen Araber gar nicht erst groß in die Verlegenheit, in der freien Konkurrenz gegen ihre jüdischen "Mitbürger" antreten zu müssen. Ihre eigenen dörflichen und städtischen Gemeinschaften fallen durch das israelische Subsidiensystem, ohne das ökonomisch überhaupt nichts läuft, schon allein deswegen weitgehend hindurch, weil dessen Segnungen nach wie vor weitgehend durch zionistische Agenturen sowie durch die nationale Gesamtorganisation der jüdischen Arbeitskraft, die Einheits-"Gewerkschaft" Histadruth, verwaltet und zugeteilt werden. Andererseits hat die »Gewerkschaft" und haben sich nach und nach auch alle politischen Parteien den Arabern ,,geöffnet", ihnen für Wahlen Listenplätze eingeräumt, also auf "Integration" gemacht - in der Absicht und mit dem Erfolg, daß nur eine kleine, bei den antizionistischen jüdischen Kommunisten gelandete arabische Minderheit überhaupt eine gewerkschaftliche oder politische Selbstorganisation der verbliebenen Araber auch nur in Betracht gezogen hat. An dem Punkt hat sich also gerade die demokratische "Offenheit" und "Vorurteilslosigkeit" der jüdischen Staatsgesellschaft als Weg bewährt, die ökonomische und politische Belanglosigkeit der Araberfraktion unter den israelischen Untertanen zu zementieren. Kurzum: Auf deren Benutzung kommt es dem Staat Israel nicht an; also braucht er sie noch nicht einmal besonders zu unterdrücken.

Erst für die jüdischen Einwanderer der jüngsten Zeit, die Immigranten aus arabischen Ländern vor allem des Maghreb, ist der Ausschluß der israelischen Araber von der Konkurrenz innerhalb der nationalen Gesellschaft nicht mehr eine eher nebensächliche Selbstverständlichkeit, eine Konsequenz des gewollten völkischen Charakters ihres Staates, sondern Gegenstand eines besonderen Interesses und explizite Forderung an die Regierung. Als Subproletariat, dem der staatsbürgerliche Fanatismus der Gründergeneration durchaus abgeht, werden sie nämlich tatsächlich nicht mehr ohne weiteres von den zionistischen Organisationen betreut, sondern im Wirtschaftsleben durchaus kritisch mit der zahlenmäßig wachsenden arabischen Minderheit im Land verglichen und reklamieren den Vorrang ihres Judentums als ihren - einzigen! - Konkurrenzvorteil. Mit "Argumenten", die direkt der bundesdeutschen Debatte um das .Ausländerproblem" entnommen sein könnten, der geheuchelten Ehrfurcht nämlich vor dem eigentümlichen "Volkscharakter" der unliebsamen Konkurrenten, dort also: der Araber, bekennt die Regierung sich zur planmäßigen Aufrechterhaltung der bislang so lässig praktizierten projüdischen "Apartheid" - ohne Garantie, daß diese zionistische "Sozialleistung" der Staatsgewalt für die "Begünstigten" tatsächlich das Leben angenehmer machen würde! Die zionistische Ideologie hat hier immerhin den Fortschritt zu verzeichnen, der im Grunde seit der Staatsgründung ansteht: Als Rechtstitel für die Forderungen gedeckelter Untertanen an ihre Herrschaft, sie sollte gefälligst mehr auf ihr wirkliches Staatsvolk achten und sich nicht um volksfremde Elemente kümmern, wird sie zu einer stinknormalen Faschisterei.

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Das "Palästinenserproblem" Das Pech, in einer Weltgegend zu hausen, die von den Zionisten zum künftigen Staat für alle Juden auserwählt worden war, hat den diesseits und jenseits des Jordan lebenden Arabern das Schicksal eingebracht, Palästinenser zu sein. Das aufgezwungene gemeinsame Los, das hinter diesem Namen steht, hat nichts mit jahrhundertealten Lebensgewohnheiten und kulturellen Traditionen zu tun, also dem, was der rassistische Blick eines über Nation und Menschennatur belehrten Bürgers in allen Winkeln der Welt als liebenswerte oder verabscheuungswürdige Eigenschaften eines "Volkscharakters" entdeckt. Es hat auch nichts zu schaffen mit einem besonderen politischen "Schicksal", das eine herrschende Gewalt gerade mit ihnen veranstaltet und durch das sie ihnen die Ehre aufgezwungen hätte, sich als kollektiver Untertan zu bewähren, also zum Volk zu werden. "Palästinenser" zu sein: das ist ein an den Bauern und Händlern Samarias und Galiläas vollzogenes negatives Urteil, zu dem sich die Gründer des jüdischen Staates durch ihren militärischen Erfolg bei der Okkupation des britischen Mandatsgebiets Palästina berechtigt sahen. Eine politische Identität als "Volk" wurde ihnen durch die Zionisten auferlegt und bestand in der Ruinierung ihrer ökonomischen Lebensgrundlagen durch den Aufbau einer überlegenen exklusiv jüdischen "Volkswirtschaft" im Lande, in der Zerstörung ihrer angestammten Lebensweise und, logischer Endpunkt der zionistischen Staatsgründung, in der Gemeinsamkeit, daß für die Mehrheit von ihnen die Flüchtlingslager zur bleibenden Heimat wurden. Denn das Projekt einer , .nationalen Heimstatt für das Jüdische Volk" war nun einmal von Anfang an nicht auf das bescheidene Ziel berechnet, den verfolgten Glaubensgenossen in aller Welt zu einem besseren Leben zu verhelfen - dafür wären die alttestamentarischen Wüsten- und Felsgegenden auch die ungünstigste Bedingung gewesen -, womöglich in schiedlich-friedlicher Koexistenz mit den arabischen Einheimischen. Geschaffen werden sollte ein völkischer Staat aus Juden für Juden, also eine nationale Staatsgewalt von gleicher Machart wie diejenige, unter deren Rassismus die Juden so oft hatten leiden müssen. Sich für dieses Unternehmen nützlich zu machen, als Arbeiter, Bauer und Soldat, galt als höchstes Recht, das nur Volksjuden nach den Maßstäben des Oberrabbinats in Jerusalem zugebilligt wurde. Die vorgefundenen Araber wurden demgemäß mit offensiver Nicht-Achtung behandelt. Nicht einmal das harte Schicksal, sich als Heloten für die jüdische Wirtschaft nützlich zu machen, sollte ihnen zugestanden werden; da waren die Gründer des Staates Israel in ihrem völkischen Fanatismus noch entschiedener als das Apartheid-Regime in Südafrika. Im Interesse einer ganz und gar jüdischen Einheit von Volk und Staat räumten die zionistischen Kämpfer das ausersehene Staatsgebiet mit den Waffen des Geldes und des Terrors von allen nichtjüdischen Elementen frei. Mit der Ausrufung des jüdischen Staates Israel hat diese Gründungsgeschichte kein Ende gefunden. Jede territoriale Erweiterung Israels, dessen militärischer Macht - ausgehalten und finanziert durch die Staatenwelt des "freien Westens" - kein arabischer Staat standhalten konnte, hat den Politikern in Jerusalem die Aufgabe beschert, aus den eroberten Gebieten jüdisches Land zu machen. Sehr souverän schaffen sie dabei die "ethnischen Besonderheiten", die nach gängigem Urteil ein Volk ausmachen sollen: Palästinenser sind alle, die der beschlossenen Judaisierung des Landes im Wege stehen; sei es durch Widerstand, sei .es durch bloße Anwesenheit auf einem unpassenden Gelände. Der maßgebliche israelische Befund über eine palästinensische Volkszugehörigkeit ist eben kein theoretisches Urteil, sondern eine sehr praktische Angelegenheit - wie jüngst erst wieder im Libanon bewiesen: Wer in den zu "Nestern" der PLO erklärten Flüchtlingslagern hauste und wer auch nur in einer Gegend lebte, die von "Terroristen" zu säubern war, bekam das Urteil, Palästinenser zu sein, mit israelischen Bomben und Granaten zudiktiert.

Das "Volk" der Palästinenser, dessen Lebensrecht nach jeder gebilligten Heldentat des jüdischen Staates weltöffentlich beschworen wird, hat also eine einzige Gemeinsamkeit: das Los, das Israel an ihnen als Nicht-Juden exekutiert hat.

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Während der Jahrzehnte der zionistischen "Landnahme" und bis zu den Feldzügen des Jahres 1948, in denen Israel seinen Herrschaftsbereich absteckte, war das Leben der arabischen Einheimischen hauptsächlich bestimmt durch die Dorfgemeinschaft und ihre gemeinsame Abhängigkeit als miserable Pächter von fernen Großgrundbesitzern und als abgabenpflichtige Untertanen von 'einer noch ferneren Kolonialmacht - da brauchte keiner auch nur zu wissen, daß inzwischen Großbritannien an die Stelle der osmanischen Herren getreten war. Ein ökonomischer und politischer Zusammenhang zwischen ihnen, wie er zu einer modernen Nation gehört, existierte allenfalls in der Phantasie einiger von der neuen Kolonialmacht herangezogener Intellektueller sowie als Wunsch einer Handvoll Clan-Oberhäupter, die gar zu gern von den Briten mit der Würde eines halbautonomen Statthalters bedacht worden wären und nun stattdessen einigen Aufruhr gegen die zionistenfreundliche Kolonialmacht anzettelten. So haben die Führer der jüdischen Einwanderergemeinde bzw. des israelischen Staates denn auch nicht einem palästinensischen Staat den Krieg erklärt und dessen Volk vertrieben; sie sind mit der Selbstgerechtigkeit des wohlerworbenen, durch die koloniale Obrigkeit geschützten Eigentums, eines international verbrieften Anrechts auf eine "nationale Heimstätte" und schließlich einer souveränen nationalen Gewalt gegen die politisch unorganisierten Landesbewohner vorgegangen, weil für sie in einem jüdischen Gemeinwesen kein Platz war. Für die Betroffenen kommt das zwar so ziemlich auf dasselbe hinaus - allerdings mit einem Unterschied: In den Auseinandersetzungen zwischen Staaten werden die Untertanen der feindlichen Herrschaft bekämpft und niedergemacht, um diese zur Kapitulation zu zwingen; nach dem so durchgesetzten neuen Verhältnis der Staaten zueinander reißt gewöhnlich wieder Frieden ein. Der zionistische Anspruch dagegen, ein ganz und gar volksjüdisches "Erez Israel" einzurichten und durch die gewaltsame Beseitigung jeder nur möglichen Bedrohung zu sichern, kennt solche "Kompromisse" nicht und brauchte sie auch nie zu kennen, da seinem Programm kein palästinensisches Volk und eine darauf begründete Staatsgewalt entgegenstand.

Entsprechend radikal fiel der Umsturz der angestammten Lebensverhältnisse der arabischen Bevölkerung und die durch die israelische Staatsräson vorgenommene praktische Neudefinition ihres politischen Status aus:

— Eine kleine Minderheit, kaum ein Fünftel der zuvor dort ansässigen arabischen Einwohnerschaft, verblieb im Gebiet des neuen Judenstaates. Sie wurde unter militärische Kontrolle gestellt, in ihren Dörfern und Wohnvierteln wie in Ghettos festgehalten und in ihrer Produktionsweise wie in ihrem (vor-)politischen Zusammenhang auf die alten patriarchalischen Verkehrsformen festgelegt; doch bleiben die natürlich nicht die alten, wenn sie für Eingeborenenreservate inmitten einer Nationalökonomie fortbestehen, die auf Staatskredit, freier Lohnarbeit, Zwang zur Rentabilität auf Grundlage von Subventionen, Revolutionierung der Produktionstechniken vor allem in der Landwirtschaft und einem wissenschaftlichen Ausbildungswesen beruht. Um nicht vollends zu Ausstellungsstücken in einem - immer mehr eingeengten - Freiluftmuseum der Rückständigkeit und des Elends zu werden, mußten und müssen die Araber um Berücksichtigung durch die jüdische Obrigkeit und das Zugeständnis einer beschränkten Teilhabe an der israelischen Nationalökonomie sogar noch kämpfen. Die lebensnotwendige Unterstützung arabischer Gemeinden aus dem Staatshaushalt und sonstigen öffentlichen Kassen wird von den israelischen Instanzen seit jeher zum Gegenstand eines dauerhaften Kleinkriegs gemacht. Der individuelle Ausschluß arabischer Untertanen von der freien Konkurrenz findet ganz ohne rassistische Apartheidsgesetze einfach über die alte Sicherheitsmaßregel statt, daß nur Juden - eine Ausnahme bilden die Drusen im Land - zum Militärdienst eingezogen werden: Ohne Entlassungspapiere der Armee findet ein hoffnungsvoller Bürger sich von jeder Karriere und sogar vom Wohnungs- und Heiratsmarkt ausgeschlossen. Andererseits hat der israelische Staat ihnen nach und nach alle bürgerlichen Rechte zugestanden; sie dürfen wählen und die nötige Zahl von Arabern findet auch allemal auf den Wahllisten der jüdischen Parteien ihr Plätzchen. Auf diese Weise sind aus den dagebliebenen Arabern keine Palästinenser geworden, die all ihren untertänigen Materialismus einem künftigen Staat mit umgekehrten völkischen Vorzeichen zuwenden; ebensowenig allerdings Kommunisten, auch wenn

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sie bei Wahlen ihre Stimme überwiegend der kommunistischen "Rakach" geben, die für den Kampf um gleiche Rechte bei dieser Minderheit leicht fündig wird. Die politische Identität, die die israelische Staatsgewalt ihnen erfolgreich verpaßt hat, ist die von opportunistischen Staatsbürgern zweiter Klasse.

— Ein weit größerer Teil der palästinensischen Araber hat sich zwei Jahrzehnte lang dem haschemitischen König von Jordanien als Untertan zurechnen dürfen und lernt seit 1967 den Judenstaat als Besatzungsmacht kennen. Der hat sich im Laufe der Jahre zu einer Regelung der "Palästinenserfrage" im Westjordanland und Gazastreifen nach dem "südafrikanischen Modell" entschieden: Einwandern dürfen die Einwohner aus den besetzten Gebieten nicht - in arabische Staaten auswandern schon! —, wohl aber mit einer beschränkten Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis das klassische Prinzip der , jüdischen Arbeit" ein wenig durchlöchern und als ziemlich rechtlose Lohnsklaven die Produktionskosten israelischer Unternehmungen senken helfen. Dabei gesteht Israel seinen beiden "Bantustans" allerdings noch weniger politische Autonomie zu als die Republik Südafrika den von ihr eingerichteten "homelands". Denn schließlich geht sein Interesse nicht auf die nominelle Ausgliederung fiktiver Staatsgebiete für Eingeborene, sondern gerade umgekehrt auf Sicherung der besetzten Landstriche für den völkischen Judenstaat. Nach Besatzungsrecht oder auch ohne Recht und bloß unter dem Schutz der Besatzungsmacht geht daher hier die alte zionistische Siedlungspolitik weiter, für die die Kultivierung des Landes gleichbedeutend ist mit dem Freiräumen des Bodens von seinen überflüssigen, weil nichtjüdischen Bewohnern - nicht unähnlich dem heldenhaften Kampf der westwärts ziehenden amerikanischen Siedler gegen die indianische Urbevölkerung. Mit seinem so praktizierten Besatzungsrecht hat Israel das Seine getan für eine eindeutige nationalistische Politisierung seiner hinzueroberten ungeliebten Untertanen: als Volk unter Fremdherrschaft behandelt, werden sie unter der Fremdherrschaft zum eigenen Volk. Zwar tun die israelischen Behörden alles, um durch die Einschaltung ihnen genehmer lokaler Obrigkeiten bei jedem noch so geringfügigen Anliegen eines Bürgers die alten patriarchalischen Verkehrsformen und damit eine vorpolitische Verfassung in den besetzten Gebieten aufrechtzuerhalten; doch geht das nicht zusammen mit der Ruinierung der alten Wirtschaftsweise durch die offensive Siedlungspolitik sowie durch die überlegene israelische Konkurrenz, die sich der Arbeitskräfte wie des Warenverkehrs dieser Länder bemächtigt. So werden die Araber des Westjordanlandes und des Gaza-Streifens von ihren israelischen Herren zu einem staatsbürgerlichen Opportunismus erzogen, der keine andere Perspektive hat als einen volksarabischen Nationalstaat.

— Die überwiegende Mehrheit der arabischen Bevölkerung im alten Mandatsgebiet Palästina hat Israel 1948 und 1967 zu Flüchtlingen gemacht. Schließlich unterschied die zionistische Siedlungspolitik sich von der Gewinnung "arischen Lebensraums" durch die Nazis von Anfang an darin, daß ihr Zweck nicht die Vernichtung volksfremder Elemente ist, sondern ihre Evakuierung aus dem beanspruchten Land — deshalb befinden sich die israelischen Araber-KZs auch außerhalb der Grenzen Israels und sind keineswegs als Todeslager geplant. Als Lagerinsassen haben die vertriebenen Araber es sehr rasch zu weltöffentlichem Mitleid mit ihrem "harten Los" gebracht

— noch allemal die leichteste und eleganteste Manier, über den "menschlichen Schicksalen" die Taten des Judenstaates, ohne die es diese Schicksale gar nicht gegeben hätte, vergessen zu machen. Eine Existenzgrundlage ist dieses durch die UNO organisierte Mitleid allerdings nicht; kaum daß es dazu reicht, die Leute halbwegs durchzufüttern. Erst recht können Flüchtlinge von ihrem pflichtschuldigst immer wieder einmal beschworenen "Heimatrecht" nicht leben - es sei denn, eine einschlägig interessierte imperialistische Macht entdeckt darin ein brauchbares weltpolitisches Druckmittel und gibt dem Elend eine "Chance", sich als solches zu bewähren. Vertriebene Afghanen beispielsweise können durchaus allemal als "Freiheitskämpfer" gegen den roten Hauptfeind in westliche Dienste treten; und deutsche Heimatvertriebene brauchen sich dank der weltpolitischen Bedeutung ihrer neuen Heimat nicht einmal wirklich zur Rückkehr nach Ostpreußen oder Schlesien zu entschließen, um sich als lebendige Rechtstitel zur Bestreitung der Westgrenzen

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des sowjetischen "Blocks" ihren Flüchtlingsausweis zu verdienen. Für die palästinensischen Flüchtlinge allerdings, die sich außerhalb der unmittelbaren Reichweite israelischer Geschütze in Auffanglagern sammelten, hat sich ein solches machtvolles imperialistisches Interesse nicht gefunden. Macht und diplomatische Kunst der arabischen Aufnahmestaaten haben nie zu mehr gereicht, als die ihnen zugetriebenen zusätzlichen Untertanen in ihren Lagern festzuhalten und als matten moralischen Vorwurf gegen Israel zu verwenden. Weder sind sie daran interessiert und dazu in der Lage, die Palästinenser zu "integrieren", also für Macht und Reichtum ihrer Nation nützlich zu machen - das gelingt den Königen, Scheichs und regierenden "Sozialisten" Arabiens ja nicht einmal mit ihrem eigenen Volk! -; noch verfügen sie über die Macht, aus dem verletzten "Heimat"- und ,,Selbstbestimmungsrecht" dieser Leute, die sie nicht als eigene Untertanen anerkennen wollten, eine aussichtsreiche Offensive zu machen. So übersieht denn auch der Vorwurf der PLO, die arabischen Bruderstaaten hätten die Palästinenser verraten, weil sie den im Ölgeschäft verdienten Reichtum nicht für das Leben und den Kampf der Palästinenser eingesetzt hätten, glatt die Tatsache, daß dieser Reichtum ja auch nicht für die Beduinen Saudiarabiens oder die Fellachen Iraks da ist. Umgekehrt haben die arabischen Staatsmänner jeden Versuch, sie zu einer Unterstützung der "palästinensischen Sache" zu zwingen, und jeden Ansatz der politischen Vertreter der Palästinenser, auf die Politik der Bruderländer Einfluß zu nehmen, mit dem Beschluß beantwortet, die im eigenen Land befindlichen Flüchtlingslager als "Staat im Staate" zu betrachten und in Schutt und Asche zu legen. Mit dem "Schwarzen September" 1970, als Hussein die ihm treu ergebenen Truppen ein Massaker in palästinensischen Lagern anrichten ließ, zeigte sich der jordanische König als ebenso gelehriger Schüler israelischer Befriedungsmethoden wie der Staatspräsident Syriens, dessen Truppen zusammen mit libanesischen Streitkräften das Flüchtlingslager Teil Zataar dem Erdboden gleich machten. Dermaßen konsequent von Israel wie von ihren arabischen Zufluchtsländern als fremdes Volk behandelt, sind die vertriebenen Araber im Laufe der Jahrzehnte tatsächlich zu einem "Volk" geworden: zur Manövriermasse nicht einer eigenen souveränen Macht, wohl aber anderer Staaten, die ihnen die Gemeinsamkeit eines fortdauernden Lagerlebens auferlegt haben. Mit aller Gewalt an Gehorsam gewöhnt, aber ohne das Versprechen irgendeiner der Staatsgewalten, denen sie Untertan sind, auf eine auch nur halbwegs gesicherte Existenz, leuchtet ihnen denn auch erst recht die Schlußfolgerung ein, auf die einst die Zionisten ihr jüdisches Volk festgelegt haben: Was ihnen vor allem nottäte, wäre eine Staatsgewalt, die sich ganz um sie kümmert.

2. Die praktischen Vertreter dieser Schlußfolgerung, die in der PLO als Quasi-Volksvertretung organisiert operierenden palästinensischen Politiker, brauchen den erhofften Nutzen eines eigenen palästinensischen Staates für dessen Untertanen weder nachzuweisen noch in alternativen Staatsprogrammen auszumalen. Denn vor diesem "gelobten Land" steht der unbeugsame Wille des jüdischen Staates, eine "nationale Heimstätte für das Palästinensische Volk" nicht zu dulden. Schon der Wunsch danach ist für die zionistische Staatsraison gleichbedeutend mit einem hochverräterischen Anschlag auf Bestand und Sicherheit des Judenstaates - ein Urteil, das so feststeht, daß ihm sogar die blumige Kampfrhetorik arabischer Volksführer nicht als das gilt, was sie ist, nämlich ein fiktives Aufbegehren aus Ohnmacht, sondern als ernsthafter Beweis für eine tatsächliche Existenzgefährdung Israels. So führt der Wunsch nach einem , .Palästina der Palästinenser" auf nichts als die Notwendigkeit, militärisch gegen die regionale Supermacht Israels anzutreten. Und sogar dieses blutige Unterfangen, blutig vor allem für die palästinensische Seite, hat Israel seinen Opfern aufgenötigt. Verdrängung, Terror, Vertreibung, Flucht und Lagerleben hat die Araber zu antizionistischen Palästinensern gemacht. Das wiederum war und ist für Israel Grund genug, es mit der Vertreibung nicht bewenden zu lassen. Jeder - selbstgeschaffene - antizionistische Palästinenser gilt als Bedrohung des jüdischen Staates, der das israelische Militär wirksam vorbeugen muß. Je größer das Lagerelend, je erfolgreicher die palästinensische Agitation gegen Israel, um so weniger waren und sind die Flüchtlinge vor "präventiven" Angriffen der Israelis sicher. Ihren feindseligen Opfern verschafft die israelische Armee so die Erfahrung, daß sie nicht damit rechnen können, in Ruhe gelassen zu werden, und macht die Schlußfolgerung unabweisbar, daß schon ihr bloßes Überleben den Guerilla-Kampf erfordert. Mit dem wiederum laufen die zur "nationalen Befreiung" entschlossenen palästinensischen Kämpfer seit jeher ins offene Messer der

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israelischen "Sicherheitspolitik" - die andererseits die Notwendigkeit der Gegenwehr immer von neuem drastisch bestätigt. Jüngstes und härtestes Beispiel dafür sind die Palästinenser-Massaker in Beirut: Kaum hatten die Kämpfer der verschiedenen PLO-Fraktionen sich in diverse arabische Länder verfrachten lassen, in der Hoffnung auf ein als Gegenleistung zugesagtes Ende der Verwüstungen und des Mordens in Beirut, da bot die jüdische Armee ihre christlichen Schutzstaffeln auf für ein ausgiebiges Blutbad in den schutzlosen Palästinenserlagern - ein Vorgehen von der Radikalität einer faschistischen "Endlösung der Palästinenserfrage" !

Zum bewaffneten Kampf gegen Israels Militärmaschinerie bleibt den zu einem Dasein als Volk ohne Staat verurteilten Palästinensern somit kaum eine Alternative; schon gleich nicht, wenn sie sich von der Etablierung einer eigenen Staatsgewalt Schutz und Sicherheit versprechen. Zugleich stand aber von Anfang an fest, daß dieser Kampf praktisch ohne Siegeschancen ist; denn der Gegner ist ein vom "freien Westen" eingerichteter und ausgerüsteter Vorposten, der seine Untertanen zu einem Volk von Soldaten erzogen hat. So mußte der Abwehrkampf zum Beweis der Ohnmacht und eines ziemlich hoffnungslosen bloßen Kampfes- und Siegeswillens geraten. Die palästinensischen Führer haben das auch klar genug begriffen - und ausgerechnet das zur Grundlage und zum Inhalt ihrer militanten Politik gemacht. Zweck des Kampfes war für sie schon gleich gar nicht mehr der Sieg, sondern: "zu kämpfen, zu kämpfen und zu kämpfen" (Habbasch und andere), "bis zum ,.letzten Mann", "zur letzten Patrone" (Arafat und alle anderen); nicht der Erfolg, sondern die Produktion von Märtyrern der eigenen Sache; bis hin zu solchem Aberwitz, daß der prominenteste Führer des Kampfes - und seine Kämpfer taten es ihm allesamt nach! - die katastrophale Niederlage seiner Truppe in Beirut mit zwei gespreizten Fingern für V gleich "victory" in den Auftakt zum Endsieg umdeutete. Ziel dieser Strategie ist nichts als die pure Demonstration, daß es das palästinensische Volk mit einem unveräußerlichen Recht auf eigene Herren in einem eigenen Land nach wie vor und mehr denn je gebe. So viel haben die palästinensischen Volksführer von ihren zionistischen Gegnern also allemal gelernt, daß die pure Deklamation eines solchen Rechtes in der wohlgeordneten Staatenwelt von heute überhaupt nichts taugt; ob die Berufung auf die Propheten und Geschichtsbücher eines antiken Hirtenvolks denen, die sich als ihre modernen Nachfahren bekennen, ein Heimatrecht im "Gelobten Land" sichert oder 1000 Jahre Ortsansässigkeit denen, die nun immerhin schon drei Jahrzehnte vertrieben sind, das wird nicht durch wissenschaftliche Expertisen entschieden, sondern allein durch erfolgreiche Gewalt. Im Unterschied zum zielstrebigen Terrorismus der zionistischen Staatsgründer leiden die Gewaltaktionen der zum Kampf mobilisierten Palästinenser allerdings an dem entscheidenden Nachteil, daß sie ihrem Gegner gar nicht wirklich das Leben schwermachen, sondern den Terror selbst, der doch ihre fiktiven Rechtstitel gültig machen soll, bloß symbolisch einsetzen. Himmelfahrtkommandos von Kämpfern, die sich selbst schon gleich "Fedayin", "die Opferbereiten", nennen, Flugzeugentführungen, die mit ein paar hundert Geiseln Staaten beeindrucken wollen, die gewohnheitsmäßig mit dem Einsatz eigener und fremder Soldaten wie Zivilisten kalkulieren, ungezielte Raketenschüsse über Israels Grenzen hinweg: das alles sind Versuche, eine militärische Auseinandersetzung zu fingieren, die man im Ernst weder führen kann noch will - was, siehe den Libanonfeldzug, den Gegner überhaupt nicht hindert, seinerseits mit all seiner militärischen Macht ganz im Ernst zuzuschlagen. Berechnet ist dieser gewalttätige Schein eines "nationalen Befreiungskrieges" auf drei verschiedene Adressaten. Erstens konkurrieren so die politischen Führer und Organisationen der Palästinenser um den Rang der tatkräftigsten Verfechter des palästinensischen Staatsprojekts - alle übrigen programmatischen Unterscheidungen, die sie sich in Analogie zu politischen Parteien allenfalls einfallen lassen, sind vor dem gemeinsamen nationalen Anliegen ja sowieso rein akademisch, solange es die Nation selber noch gar nicht gibt. Radikalität und bewiesene Tatkraft wiederum richten sich nach dem Ausmaß und nach den Konditionen ihrer Unterstützung durch die etablierten arabischen Staaten; deren Nationalideologien sind es denn auch, die sich in den konkurrierenden Kampfprogrammen widerspiegeln. Die konkurrierenden arabischen Regierungen, die sich ihre jeweilige Palästinenserorganisation halten und auch die PLO als deren gemeinsames Forum ins Leben gerufen haben, sind ihrerseits nicht nur die Mäzene, sondern zugleich Adressat Nr. 2 der palästinensischen Kampfaktionen. Deren politischen Urhebern geht es

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nämlich darum, gemeinsame kriegerischeAktionen der arabischen Staaten gegen Israel einzuleiten und ihnen dafür durch eigene Opfer wenigstens entsprechende politische Absichtserklärungen abzuzwingen. Dieser Versuch, die arabischen Herrscher als Araber für eine Unterstützung der palästinensischen Sache zu gewinnen, hat sich allerdings immer wieder der Konkurrenz dieser Herrschaften ein- und untergeordnet. Von der ersten Stunde an hatte die PLO und jede ihrer einzelnen Gruppierungen reichlich Gelegenheit, die Indolenz und "Verräterei" der Regierungen der "Brudernationen" zu beklagen; zeitweise hat sie sich bis zur Idee einer "sozialistischen Revolution" in etlichen ihrer Gastländer als Vorbedingung für einen erfolgreichen antizionistischen Feldzug verstiegen. "Revolution" war damit in Wahrheit aber genausowenig angesagt wie ein Widerstand gegen die berechnenden diplomatischen Manöver, mit denen die verschiedenen arabischen Regierungen den Kampf wie die Beschwerden der PLO bzw. ihrer Fraktionen für ihre Bestrebungen benutzten, im Namen des "Panarabismus" Einfluß aufeinander zu gewinnen: Genau und nur dafür wurden und werden diese Organisationen ja von ihren jeweiligen "Schutzmächten" politisch ausgehalten - und kontrolliert, militärisch ausgerüstet - und gegebenenfalls zerschlagen, finanziert - und erpreßt. Deswegen haben auch sämtliche arabische Regierungen, darin sind sie sich seit ihrer vierten Niederlage in dem als arabischer Erfolg gehandelten ,Jom-Kippur-Krieg" von 1973 tatsächlich einig geworden, dem palästinensischen Aktivismus zunehmend engere Grenzen gezogen. Für sie ging es eben nicht wirklich darum, Israel zur Hinnähme eines palästinensischen Staates, geschweige denn zur Duldung der Palästinenser zu zwingen; so brauchte Israels Armee mit ihren Überfällen auf Nachbarstaaten, die den palästinensischen Organisationen Bewegungsfreiheit gewährten, gar nicht allzuviel "Überzeugungsarbeit" zu leisten, um sie zu einer strengen, bisweilen blutig vollstreckten "Aufsicht" über die Aktivitäten "ihrer" Palästinenser zu veranlassen.

Die PLO hat diese israelische "Lektion" auf ihre Weise auch begriffen und beherzigt. Tatsächlich waren ihre Aktionen von Anfang an nicht wirklich darauf berechnet und jedenfalls gar nicht dazu angetan, die arabischen Bruderstaaten ernstlich in einen aussichtsreichen Krieg für ihre Sache zu verwickeln. Über das arabische Publikum hinaus zielten und zielen sie auf die Mächte, von denen irgendwo auch die politische Elite der Palästinenser weiß, daß es auf sie ankommt bei Israels unangefochtenen Erfolgen und für ihre eigenen Erfolgschancen: Die USA und ihre NATO-Partner sind seit jeher der dritte und wichtigste Adressat ihrer Schau-Kämpfe. Dabei ging es einige Jahre lang, zwischen 1967 und 1973, um die nachdrückliche weltöffentliche Demonstration, daß an den palästinensischen Interessen nicht vorbeizukommen wäre. Was für dieses Beweisziel an Terror aufgeboten wurde, hat die maßgeblichen Weltmächte allerdings nie zu etwas anderem als dazu gebracht, sich der israelischen Verurteilung der PLO als Bande politischer Krimineller anzuschließen - obwohl dem empörten moralischen Bewußtsein durchaus hätte auffallen können, daß jeder israelische Präventiv- oder "Vergeltungs"-Schlag mehr Menschenleben kostete als aller palästinensische "Terrorismus" zusammengenommen. Seit der endgültigen Beerdigung der arabischen Hoffnungen, Israel militärisch unter Druck setzen zu können, nach dem Oktoberkrieg 1973 hat die PLO daher nur noch die Kehrseite ihres vorherigen "Terrorismus" herausgekehrt, das Versprechen nämlich, den maßgeblichen Interessen keine Schwierigkeiten mehr zu machen. Sie hat voll auf die Illusion gesetzt, durch unerbittliches Wohlverhalten könnte sie sich das Wohlwollen der Weltmacht Nr. l erkaufen, die allein Israel zu zügeln vermag und auf der daher zunehmend alle verbleibenden palästinensischen Hoffnungen auf eine eigene "nationale Heimstätte" ruhen. Der größte Erfolg, den die PLO mit dieser Politik demonstrativer Fügsamkeit erringen konnte, gehört daher allerdings auch ganz in die Welt des schönen diplomatischen Scheins: Der glorreiche Auftritt Arafats vor der UNO-Vollversammlung 1974 war nicht der Durchbruch zur Anerkennung des palästinensischen Staatsprojekts durch die maßgebliche imperialistische Macht; die ist bei ihrem unerschütterlichen Nein zu dem Angebot der PLO-Führung geblieben, sich für einen bescheidenen Platz innerhalb des nahöstlichen "Friedensprozesses" ansonsten in jedes Schicksal zu fügen. Schon der matte diplomatische Scheinerfolg Arafats war für Israel allerdings Grund genug, und die Intransigenz der USA bedeutete den nötigen Freibrief, um die Offensive gegen die organisierten Palästinenser zu forcieren. Indem nunmehr Israel der - inzwischen mit ihren Hauptkräften in den Libanon verlagerten - PLO einen ständigen Kleinkrieg aufzwang, für den es sich eine eigene

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libanesische Christenmiliz hielt, schaffte es nicht nur alle wünschbaren "Beweise" bei, daß es die Palästinenser zu Recht als tödliche Gefahr für den Bestand der jüdischen Nation behandelte, sondern bereitete auch praktisch die militärische Auseinandersetzung vor, die die endgültige Zerschlagung des bewaffneten palästinensischen Widerstandes bringen sollte.

Der israelische Schlag, dem die PLO-Führung durch ihre Politik des Wohlverhaltens hatte entgehen wollen, kam um so gründlicher und hat auch all die europäischen "Mittelmächte" mit blamiert, die gemeint hatten, es könnte sich doch noch lohnen, mit der PLO als weltpolitischem Faktor zu kalkulieren. So vollständig ist die Vernichtung des organisierten Palästinensertums als irgendwie nennenswerter Macht, daß nach getaner Arbeit schließlich sogar der US-Regierung - im Rahmen ihrer Diplomatie gegenüber den arabischen Staaten - die Möglichkeit eines überhaupt und gar nicht mehr antizionistischen palästinensischen Vasallen-,,Staats" unter garantierter israelischer Oberhoheit einzuleuchten beginnt. Für die israelische Staatsführung ist diese Perspektive allerdings nur ein Grund mehr, erst recht dafür zu sorgen, daß aus einem solchen Gemeinwesen schon mangels Masse nichts Großes werden kann. Für eine friedliche Endlösung der Palästinenserfrage ohne Beeinträchtigung israelischer Sicherheitsinteressen müssen eben noch manche militärischen Zwischen-"Lösungen".

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2. Kapitel

Israel und seine Gegner: Krieg als Normalfall des israelischen

Imperialismus l.

Bedingter Respekt der souveränen Staaten voreinander beherrscht normalerweise die Szene der Diplomatie und der internationalen Politik. Staaten pflegen die Alleinzuständigkeit auswärtiger Herrschaften innerhalb der festgelegten Grenzen anzuerkennen; und sie tun das aus Berechnung. Die Macht, die souveräne Staaten über ihr Volk ausüben und gegen Dritte mobilisieren können, und den Reichtum, über dessen Quellen und Früchte sie innerhalb ihres Herrschaftsbereichs verfügen, versuchen auswärtige Regierungen für ihre weltpolitischen Anliegen und die ökonomischen Interessen ihrer entsprechend potenten und engagierten Bürger nutzbar zu machen. Das schließt die Anerkennung der fremden Hoheit ein - als formelle Voraussetzung für das beständige Bemühen, sie durch erpresserische Kooperationsangebote, durch "Vorteilsgewährung" und die Zufügung von Nachteilen den jeweils eigenen nationalen Anliegen geneigt zu machen; deswegen gehört es ebenso zu den völkerrechtlich vorgesehenen Gepflogenheiten des Verkehrs souveräner Staaten miteinander, daß sie gelegentlich den Respekt vor der Hoheit des anderen aufkündigen, um auf einer neuen Basis wieder mit ihm einig zu werden.

Einen Verkehr dieser Art pflegt Israel mit seinen arabischen Nachbarn nicht. Nicht, daß diese sich solchen Ausnutzungsverhältnissen prinzipiell verweigern: auf dem Weltmarkt sind sie längst ihre "Abhängigkeiten" eingegangen. Israel hat von ihnen nie jene Partnerschaft auf der Grundlage von Geschäft und Gewalt erbeten. Der einzige Umgang, den Israel mit ihnen pflegt, ist die ständig praktizierte Konkurrenz mit ihren militärischen Machtmitteln. Israel will seine Nachbarn nicht ausnutzen bzw. der Ausnutzung durch seine Unternehmer und Geschäftsleute politisch erschließen; es will sie auch nicht militärisch unter Kontrolle halten, damit der normale geschäftliche und diplomatische Verkehr sich nach seinen Interessen gestaltet und unter den von israelischer Seite gesetzten Bedingungen. Die arabischen Staaten militärisch im Griff zu halten, ist Israels oberster außenpolitischer Zweck, kein Mittel, das durch vorteilhafte Friedensbedingungen, sogar einschließlich auswärtige Garantien, ersetzt werden soll oder überhaupt vom israelischen Standpunkt aus, angemessen zu ersetzen wäre. Israel hat keine aktuellen ökonomischen Anliegen an die souveränen Herrscher der arabischen Länder, für die es seine Macht einsetzt - nur das eine: es will Gewalt über sie haben, und zwar mit den ihm verfügbaren militärischen Mitteln.

So hat, was Israels jüngsten Krieg betrifft, Syrien mit seiner jahrelang praktisch bewiesenen Willfährigkeit in der "Palästinenserfrage" auf Israels Kriegsherren keinen Eindruck gemacht. Mit einem Blitzkrieg aus der Luft hat die israelische Invasionsarmee im Libanon die syrischen Streitkräfte total ausgeschaltet, die doch immerhin über Jahre hinweg eine weitgehende Einschränkung palästinensischer Macht garantiert und Verhältnisse aufrechterhalten hatten, die für Israel alles andere als eine Bedrohung waren. Vom Standpunkt des Krieges aus betrachtet ist ein solches Vorgehen zwar durchaus normal:

Eine kriegführende Macht verläßt sich bei einem auch nur potentiellen Gegner nicht oder höchstens notgedrungen auf dessen erklärte Bereitschaft stillzuhalten; wo sie kann, nimmt sie sich auch das Recht, jede denkbare Gefahrenquelle auszuräumen. Zu den Gepflogenheiten des Kriegszustandes gehört auch die fraglose Selbstgerechtigkeit, mit der das israelische Oberkommando den syrischen Streitkräften jedes Recht abgesprochen hat, Raketen zu besitzen, geschweige denn in Stellung zu

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bringen, die die unbeschränkte Luftherrschaft Israels über den Libanon und über dessen Luftraum hinaus allenfalls hätten gefährden können. Bemerkenswert ist allerdings, daß Israel nicht bloß im Verlauf eines Krieges so handelt, sondern daß es, und zwar schon längst vor dem Einmarsch in den Libanon, die syrischen Flugabwehrraketen zu einem ausreichenden Kriegsgrund erklärt hat. Ganz unabhängig von der Frage, welches israelische Interesse durch solche Waffen denn überhaupt zu behindern wäre, maßt Israel sich damit ein oberhoheitliches Urteil über das Maß an Verteidigungskapazität an, das Syrien allenfalls zugestanden werden könne, und gelangt zu dem Ergebnis: Eine wirksame Luftverteidigung kommt diesem Staat nicht zu. Syrien hier im Zustand der Wehrlosigkeit zu halten, das ist für Israel ein Anliegen, das ihm allemal eine Schlacht wert ist! Und mit der Herstellung dieses Zustands wachsen ganz konsequent auch die Ansprüche an syrisches "Wohlverhalten". Schließlich steht Israels Militär 30 km vor Damaskus!

Dieser nationale Rechtsanspruch, absolute militärische Überlegenheit über sämtliche arabischen Gegner nichts erst im Kriegsfall herzustellen, sondern ihre Sicherung gegen jede nur mögliche Infragestellung zum Kriegsfall zu machen, hat Israel in seinen sämtlichen fünf Kriegen geleitet - und auch zwischendurch seine Streitkräfte so gut wie ununterbrochen beschäftigt. Ägyptens Luftwaffe, einschließlich Radarstationen, ist mehrfach mitten in Waffenstillstandszeiten zerstört worden - einfach weil es sie gab. In einer perfekten Blitzaktion haben israelische Bomber den fast fertigen französischen Atomreaktor in Bagdad zerstört und damit gegen den Irak dem "Grundsatz" Geltung verschafft, daß Kernkraftwerke in arabischer Hand "unzulässig" sind - weil damit immerhin die entfernte Möglichkeit einer arabischen Atombombe gegeben wäre. (Daß Israel selbst Atomwaffen besitzt, ist eines der offensten Geheimnisse im nahöstlichen Militärwesen!) Und gegen Saudi-Arabien, das als US-Schützling und -Vasall vor der israelischen Kriegsmaschine einigermaßen sicher ist, sucht die Regierung Israels ein selbstverständliches Vorrecht auf uneingeschränkte militärische Oberhoheit in der gesamten arabischen Welt bei der amerikanischen Administration einzuklagen, indem sie gegen die geplante Lieferung militärischer Flug- und Radargerätschaften interveniert, die ihre eigene Wehrmacht längst besitzt; Zwar ist dieses Militärgerät eindeutig und ausschließlich gegen die angebliche "sowjetische Gefährdung der Golfregion" gerichtet, könnte aber immerhin ein Stück militärischer Ebenbürtigkeit auf arabischer Seite begründen und besitzt schon allein deshalb für Israel die Qualität einer militärischen Herausforderung.

Seinen Umgang mit den arabischen Staaten richtet Israel so nach einem Kriterium ein, das ansonsten erst im Krieg maßgeblich wird: Über jeden dieser Staaten will Israel eine unbedingte Kontrolle behalten; keinem sollen in bezug auf militärische Machtmittel souveräne Entscheidungen unabhängig von israelischer Erlaubnis gestattet sein; so bestreitet Israel ihnen ihre Souveränität. Andersherum heißt das: Indem es jedes arabische Machtmittel, das seiner eigenen Wehrmacht gefährlich werden könnte, ganz selbstverständlich als Kriegsgrund nimmt, befindet Israel sich in einem Dauerkrieg gegen die arabischen Nachbarstaaten; dieser Kriegszustand ist der Normalzustand dieser Nation.

2.

Die offizielle israelische Begründung hierfür bedient sich des einfachen Fingerzeigs auf die andere Seite: Israel muß sich gegen die Absicht seiner arabischen Nachbarn, den Judenstaat zu zerstören, doch wohl schützen, und zwar durch eine wirksame militärische Vorsorge! Dergleichen gilt als ziemlich plausibel, obgleich die Schuldzuweisung recht offensichtlich vorgenommen wird. Denn gute Gründe für diese Art Vorsorge könnten die arabischen Gegner Israels längst massenhaft für sich in Anspruch nehmen. Ihre Erfahrung" erstreckt sich auf militärische Schläge, die das von Israel besetzte Territorium um einiges erweiterten und die einst so großspurig beschworene "arabische Sache" zur Farce machten.

Allerdings kommt das Verständnis für die kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten der Wahrheit über den Gegensatz der beteiligten Parteien vor Ort auch nicht näher, wenn es das

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"legitime Interesse an Selbsterhaltung" für beide Seiten gelten läßt. Mehr als ein sich überparteilich gebendes Bewußtsein von der "Verfahrenheit der Situation" dort hinten kommt nämlich nicht zustande, wobei nicht zu übersehen ist, daß dieses "Problembewußtsein" sich auf keinen Fall einen Einwand gegen die politischen Zwecke von Staaten anmaßen will, die Krieg miteinander führen. Eher versteigt sich ein auf diese Weise "neutraler" Beobachter zur moralischen Albernheit, das Ganze für eine Metapher aus der Welt des Theaters, für eine »Tragödie" eben zu halten, als daß er den politischen Subjekten des Krieges mit einem Vorwurf zu nahe tritt: mit dem nämlich, daß ihre Kriege und Siege das berechnend eingesetzte Mittel ihrer politischen Vorhaben sind und deshalb auch ein schlechtes Licht auf ihren Staatszweck werfen. Im Gegenteil feiert der Idealismus der Politik seine größten Triumphe dort, wo er die Gegnerschaft mehrerer Staaten abstrakt - getrennt von ihrem Grund im jeweiligen Staatsprogramm - als Problem anerkennt und dessen "Lösung" erstens für schwierig befindet, zweitens aber ganz in die Zuständigkeit der Politik legt - ganz als ob diese im Krieg nicht am Werk wäre!

Nützlich als Beitrag zur "politischen Willensbildung" bei aufgeklärten Untertanen von demokratischen Weltmächten ersten und zweiten Ranges sind solche Betrachtungen auf jeden Fall. Immerhin gestatten sie die Übernahme der diplomatischen Heuchelei derer, die die eigene Nation und deren ("unsere") Interessen gerade in Kriegen der Marke "Nah-Ost" sehr massiv ,,ins Spiel" gebracht haben und zugleich ihr Engagement nicht in Geld und Waffen beziffern mögen. Engagiert wollen sie allesamt für "Lösungen" sein, friedliche und gerechte zumal! So ersparen sich westliche Politiker nicht nur häßliche Töne gegenüber Israel, das als fester Partner und im eigenen Interesse seine Dienste tut, sondern auch Kritik an den arabischen Machthabern, deren Nützlichkeit ebenfalls und über alle ihnen zugefügten Niederlagen hinweg erhalten und vergrößert wird. Wenn im freien Westen mit seiner demokratischen Presse kritische Einwände fallen, dann ist "unser Interesse" der verbindliche Maßstab - und den verletzen die Akteure im Nahen Osten immer nur sehr bedingt; und mit bleibendem Respekt vor ,,legitimen" Rechten, die man zu gewähren und zu beschwören bereit ist, werden sogar die Feinde Israels bedacht. Warum sie solche sind, was ihre Anliegen so blutig unvereinbar mit denen Israels macht, ist dabei genauso wenig ein Thema für "ausgewogene politische Stellungnahmen" wie bei "unserer" Haltung zu Israel.

3.

Der arabische Nationalismus bzw. die unter diesem Titel ausgetragene Konkurrenz der arabischen Staaten ist in keiner Nation zum maßgeblichen Subjekt der Weltpolitik geworden; nirgends findet sich ein autonomer Urheber und Vollstrecker materieller nationaler Interessen an anderen Ländern und ihrer Herrschaft; und entsprechend belanglos ist auch die Gemeinsamkeit ihrer Bündnisse, zu der sie es auf dieser Grundlage allenfalls bringen.

Immerhin will die Öffentlichkeit der "freien Welt" seit den Ölpreissteigerungen nach dem vierten israelisch-arabischen Krieg vom Oktober 1973 von einer weltpolitischen Hauptrolle zumindest eines Teils der arabischen Staaten wissen, der Ölexportländer nämlich auf der arabischen Halbinsel und in Nordafrika. Deren nationaler Rohstoff wurde auf ein paar Jahre so interessant und teuer, ihr Besitz an , .Petrodollars" schwoll so rasch und dermaßen an, daß gesunder imperialistischer Sachverstand darin nur eine gewaltsame Zweckentfremdung des guten Geldes und redlich erarbeiteten Reichtums der "westlichen Industrienationen" erkennen mochte und die gar nicht vorgesehenen auswärtigen (Mit-)Nutznießer des Erdölgeschäfts als "Erpresser" anklagte, die mit einem Mal nach Gutdünken über die ökonomische und damit auch politische Zukunft der "Ölverbraucherländer" verfügen könnten. Dieses abschätzige Urteil über die Einnahmen einiger arabischer Regierungen aus dem Ölgeschäft - so als stünde denen das Bemühen um höchstmögliche Erlöse für ihren "Exportschlager" überhaupt nicht zu - verrät allerdings schon einiges über die angebliche Erpresserrolle der "räuberischen Ölscheichs", wie sie damals auf einige Jahre tituliert wurden. Im Falle der - gerechterweise so genannten - "Ölstaaten" drängt ja nicht ein im Land selbst produzierter Reichtum nach Verwendungsmöglichkeiten im Ausland, also nach Gelegenheiten zur

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geschäftlichen Nutzbarmachung des Auslands. Umgekehrt: Der nationalen Souveränität "untersteht" nichts als ein Naturstoff, der einzig und allein durch seine Verwendung in den und durch die Volkswirtschaften anderer, in allererster Linie der ,,entwickelten" kapitalistischen Staaten den Rang eines Rohstoffs für wirklichen Reichtum bekommt, den "man" sich überhaupt etwas kosten läßt. In den Nationen, deren Führer gemeinsam den "Weltwirtschaftsgipfel" ausmachen, verfügt die souveräne Gewalt über einen Produktionsapparat und ein Volk, die wirklichen Reichtum schaffen, und über ein nationales Geld und ein staatlich garantiertes Kreditwesen, die die schrankenlose Mehrung des Privateigentums und der staatlichen Mittel zum obersten "Sachzwang" der nationalen Reichtumsproduktion machen. Umgekehrt ist für die Erdöl-Souveräne nichts als ihre blanke Souveränität über ihr Staatsgebiet und dessen Bodenschätze Grundlage und Quelle ihrer Finanzmittel - dadurch nämlich, daß sie sich die Hergabe ihres geologischen Segens an auswärtige Interessenten von diesen entgelten lassen. Das maßgebliche ökonomische Verhältnis der erdölexportierenden Staaten zu ihrer Kundschaft steht damit auf alle Fälle insoweit fest: Die lohnende Verwendung des Erdöls durch die kapitalistischen Nationalökonomien, lohnend nämlich für deren Kapitalakkumulation, ist die fraglose, bleibende Bedingung für jedes Stück Geld, das den Ölstaaten zufließt, und damit die materielle Grundlage ihrer Souveränität selbst, die sie in Form von Konzessionen oder des Verkaufs an auswärtige Unternehmen zu Geld machen. Über wie viele und wichtige Mittel umgekehrt kapitalistische Nationen verfügen, um sich die natürlichen Rohstoffe unter auswärtiger Hoheit zum weitgehend frei verfügbaren Geschäftsmittel zurechtzumachen, haben die Ölstaaten in jeder Phase ihrer Geschichte zu spüren bekommen. Es waren die kapitalistischen Ölgesellschaften, die durch einen Monopolpreis auf Ölprodukte weit oberhalb ihrer Gestehungskosten und deutlich unterhalb der Preise anderer Energierohstoffe das Erdöl als wichtiges Mittel im kapitalistischen Geschäftsleben durchgesetzt haben. Sie waren es auch, die für höhere Ölpreise gesorgt haben, als der von ihnen ausgeweitete Erdölabsatz an die Grenzen der zum bisherigen Minimalpreis auszuschöpfenden Lieferkapazitäten zu stoßen drohte. Sie haben mit ihren Geschäftsausweitungskalkulationen den ökonomischen Spielraum geschaffen, den die OPEC-Staaten 1973 und noch auf ein paar Jahre hinaus mit den von ihnen vereinbarten und verfügten Ölpreissteigerungen nie hätten herstellen, nur haben ausnutzen können. Und sie sind es auch, die mit ihrer Politik der Erschließung neuer, zum gestiegenen Monopolpreis lohnender Erdöl- wie auch sonstiger Energiequellen sowie der langsameren oder rascheren Verteilung des geförderten Öls die Illusion manches Förderstaates widerlegen, der Ölpreis wäre eine Einkommensquelle, über die er verfügen könnte, deren Erträge von seiner Geschäftspolitik abhingen - und die sich womöglich sogar als politische Waffe einsetzen ließe. Als politisches Erpressungsmittel hat der halbe Lieferboykott der arabischen Ölstaaten 1973 überhaupt nicht verfangen, noch haben die dadurch gesteigerten Öleinnahmen diese Länder aus ihrer ökonomischen Position als wichtige Randbedingung des Geschäftsgangs einer Handvoll kapitalistischer Nationen und ihrer Ölkonzerne befreit, im Gegenteil: Mit wenigen Ausnahmen haben sie sich mit ihren ,,Wirtschaftsförderungs"-Projekten bei den Abnehmerstaaten ihres Erdöls so verschuldet, daß schon ein leichter Rückgang ihres Exports gleichbedeutend wird mit internationaler Zahlungsunfähigkeit; inzwischen droht dieses Mißgeschick sogar den finanzkräftigen Saudis - und bei der Handhabung des Geldmangels von Ölstaaten werden die befürchteten Auswirkungen auf die Geschäfts- wie Nationalbanken, auf deren Kreditlinien zum obersten Kriterium des Umgangs mit der Branche. Die berüchtigte "Erdölwaffe" hat immer nur als substanzlose Drohung und als politisches Ideal der arabischen Staaten existiert. Die "Solidarität" eingehaltener Absprachen ist nämlich in schöner Regelmäßigkeit an der Konkurrenz des nationalen Bedarfs an Geld und günstigen Sonderbeziehungen zu den kapitalistischen "Wirtschaftsnationen" gescheitert. Heute fristet die "Ölwaffe" noch nicht einmal mehr ein diplomatisches Scheindasein.

Einigen finanziellen und einen gewissen politischen Einfluß haben die Regierungen der wichtigsten Ölexportländer Arabiens, allen voran Saudi-Arabien, allenfalls auf ihre nicht mit solchen Naturzufällen gesegneten Nachbarstaaten. Auch dieses Verhältnis hat aber mit der imperialistischen Wucht ökonomischer Nutzbarmachung eines Auslandes nichts zu tun. Zu Kapital werden die durch arabische Erdölsouveräne akkumulierten Dollarbestände an westlichen Börsen und "Geldmärkten",

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nicht durch Investitionen in anderen arabischen Staaten. Deren einheimischer Ökonomie fehlt ja nicht bloß Geld für ein schwungvolles Geschäftsleben, sondern - von einem durchs Lohnsystem zur Leistung erzogenen Proletariat bis zu einem Markt für dauerhafte Großgeschäfte, von gut eingeführten Firmen nebst Experten bis zu einem weltweit konkurrenzfähigen Produktionsapparat für die Erfordernisse einer nationalen Akkumulation - so ziemlich alles, was heutzutage zu den Mindestvoraussetzungen eines lohnenden nationalen Geschäftsgangs zählt. Deswegen sind diese Länder ihrerseits erst recht noch nie als Subjekt ökonomischer und entsprechend wohlfundierter politischer Interessen in Erscheinung getreten, nach denen sich irgendein Ausland richten müßte oder zu seinem Vorteil richten könnte. Nichts ist im internationalen Geschäftsverkehr des Kapitals wie in den Winkelzügen politischer Erpressung belangloser als ihr souveränes Urteil darüber, worauf es ankäme in der Welt von heute - eine politische Tatsache, die sich in der praktischen Folgenlosigkeit ihrer Feindschaft gegen Israel überdeutlich zusammenfaßt. Umgekehrt: Sie selber zählen nur insoweit, wie sie durch ein maßgebliches imperialistisches Interesse für wichtig erachtet werden.

Ein solches Interesse ziehen diese Staaten auf sich als Nachbarn der Ölexportländer, über deren Rohstoff frei und ungehindert verfügen zu können die NATO-Partner längst zu einem erstrangigen Sicherheitsinteresse ihres Kriegsbündnisses erklärt haben; sie unterliegen schon allein deswegen einer beständigen Überprüfung als mögliches Sicherheitsrisiko. Von Interesse ist ferner Ägypten als Inhaber der wichtigsten Zufahrt von Europa zum indischen und hinterindischen Subkontinent sowie zusammen mit einigen anderen Staaten als Anrainer des Indischen Ozeans, der ebenfalls schon längst, seiner wichtigen Schiffahrtswege wegen, zur vorrangigen "Sicherheitszone" der westlichen Welt ernannt worden ist. Interessant sind die arabischen Länder weiter als Nachbarn des erklärten Hauptfeinds der NATO: Deren Anliegen, die Sowjetunion politisch und militärisch auf ihrem "Festlandsockel" ausbruchssichcr einzuzementieren, macht - noch ganz ohne sowjetisches Zutun! - jede Region an und in der Nähe der sowjetischen Grenzen zu einem durch die sowjetische Macht prinzipiell gefährdeten Gebiet, das durch die Schaffung einer möglichst "gleichgewichtigen Abschreckung" gesichert werden muß. Für die westeuropäischen NATO-Partner schließlich faßt diese strategische Würdigung der arabischen Welt sich in dem Anspruch zusammen, in der gesamten Mittelmeerregion über eine gesicherte "Gegenküste" zu verfügen, die die "NATO-Südflanke" nicht nur nicht gefährdet, sondern verläßlich abschirmt. Und diese imperialistische Inanspruchnahme der arabischen Staatenwelt ist nicht bloß ein Interesse, das die zuständigen Souveräne ihrerseits einer freien Würdigung nach Maßgabe eigener nationaler Ansprüche unterziehen könnten, sondern seit jeher die Geschäftsgrundlage ihrer souveränen Macht selbst.

4.

Die Staaten des Nahen Ostens sind zu Beginn dieses Jahrhunderts überhaupt ins Dasein getreten als Werk in erster Linie des britischen, daneben des französischen Kolonialismus. Bei der Zerschlagung der osmanischen Herrschaft und der Durchsetzung ihrer eigenen Verfügungsgewalt über das gesamte arabische Gebiet haben die beiden europäischen Großmächte einheimische Herrscher herangezogen - im doppelten Sinn des Wortes: Sie haben Beduinenfürsten, ehrgeizige Vizekönige und sonstige lokale Herrscher mit Unterstützung durch Geld, Waffen und Offiziere einen guten Teil der nötigen Kriege führen lassen, um das Gebiet - teils gegen den Willen der türkischen Oberherren, teils in Abstimmung mit ihnen - unter eigene Kontrolle zu bekommen; und sie haben damit die feudalen Obrigkeiten zu Helfershelfern oder sogar zu Sachwaltern ihres Interesses an einer wirklich souveränen Herrschaft gemacht, der es nicht mehr um gelegentliche Beute, sondern um vollständige Verfügbarkeit von Land und Leuten, um ein reguläres staatliches Machtmonopol ging. Als Gebieter über ein Stück britischer bzw. französischer Kolonialmacht und stets unter deren Auftrag und Kontrolle wandelten die feudalen Familienoberhäupter sich zu Staatsmännern mit den Aufgaben und Machtmitteln eines bürgerlichen Souveräns - Aufgaben und Machtmitteln, die ihre ökonomische Grundlage und ihre politische Zweckbestimmung gar nicht in einem entsprechenden Überschuß und in entsprechenden bürgerlichen Interessen der einheimischen

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Landesbewohner hatten, sondern eben im Herrschaftsanspruch der zuständigen europäischen Mächte und ihrer kapitalistischen Gesellschaften. Und diese neue Qualität ihrer Herrschaft, wie beschränkt und bloß formell deren Souveränität zunächst auch immer war, hatte Folgen.

Im Innern schafft diese Sorte Herrschaft sich eine Gesellschaft einheimischer Funktionäre der zivilen Verwaltung wie des militärischen Gewaltapparats, die einerseits dem beherrschten Volk genauso getrennt und fremd gegenüberstehen wie die Kolonialmacht, der sie dienen: Die Führerfiguren der arabischen Welt sind längst nicht mehr die Inhaber und Nutznießer der vorbürgerlichen Herrschaft, zu der ihr Volk es gebracht hat; umgekehrt hat ihr Volk es zu dem bürgerlichen, klassengesellschaftlichen Zusammenhang und Gegensatz und zu dem entsprechenden Bedürfnis nach einer politischen Obrigkeit gar nicht gebracht, nach deren Maßstäben und "Sachzwängen" die Gewalt eingerichtet ist, der sie dienen. Andererseits entnehmen sie diesen Maßstäben allemal die elementare verkehrte Gleichung der modernen bürgerlichen Staatsgewalt, daß ihr Volk frei und glücklich würde durch eine Herrschaft, die sich den gewaltsamen Anliegen ihrer Klassengesellschaft als den lösungsbedürftigen "Problemen" der Politik verantwortlich weiß. Keiner ihrer Untertanen, dafür um so mehr die von der Kolonialmacht herangezogene militärische und zivile Elite arbeitet sich zu dem nationalen Standpunkt durch, wonach eine eigene Herrschaft der größte Nutzen und das höchste Recht des Volkes sei. Sie setzt sich daher, getrennt von ihrem Volk und gegen dessen "naturwüchsige" Interessen, die Herstellung einer Nation zum Ziel und verfolgt mit und an ihren Untertanen das Projekt, diese zur funktionstüchtigen Basis ihrer nationalen Souveränität zu machen. So wird das Volk auf der einen Seite mit ,,Entwicklungs"-Vorhaben beglückt, die für den Staat eine dauerhafte funktionierende Geldquelle eröffnen sollen, tatsächlich aber regelmäßig die angestammte Produktionsweise der betroffenen Stämme und Völkerschaften ruinieren, ohne eine konkurrenzfähige neue Ökonomie zustande zu bringen - unrentable Investitionsruinen sind auch dort die Regel, wo verlorene Millionenzuschüsse von "Petrodollars" den Schein einer lohnenden industriellen Aktivität aufrechterhalten. Auf der anderen Seite dürfen die ökonomisch so wenig nützlich gemachten Massen - sofern es sie überhaupt gibt: mancher Wüstenstaat hat die für seine Projekte verfügbare Bevölkerung gar nicht - dem Ideal einer souveränen Nation, einer nach außen aktionsfähigen Einheit von Regierung und Volk, militärisch dienen; und so kann sich mancher einfache Mann über eine Karriere in der Armee auch zur Teilhabe an der aparten Gesellschaft politisierender Staatsfunktionäre und zu deren nationalem Standpunkt emporarbeiten.

Denn auf die Armee kommt es in diesen Staaten ganz besonders an, gerade weil sie nicht das Gewaltmittel des politischen Souveräns einer Klassengesellschaft mit materiellen Interessen von globaler Reichweite ist, sondern selber die souveräne Gewalt darstellt und gleich auch noch deren gesamte gesellschaftliche "Basis". Eingerichtet als Teil kolonialer Weltherrschaft, fehlt ihr die Grundlage in noch so bescheidenen imperialistischen Ansprüchen einer bürgerlichen Staatsgewalt, damit aber noch lange nicht die Macht und die Freiheit, im Innern wie vor allem gegen andere Staaten nationale Anliegen zu erfinden und hemmungslos voranzutreiben. Denn vor allem mangelt es diesen quasi-bürgerlichen Militärstaaten nicht an Gegnern, an denen sie Maß nehmen und ihrer Souveränität einen Inhalt geben können.

Gegner Nr. l sind die auswärtigen Urheber, Auftraggeber und Garanten ihrer eigenen modernisierten, politischen Gewalt, mindestens so lange, wie sie noch direkt als Auftraggeber und Kontrolleur in Erscheinung treten. Denn einer nationalbewußten Obrigkeit fällt ja nie der Widerspruch ihrer souveränen Projektemacherei gegen die Subsistenzweise ihres "Volkes" und dessen vorpolitische Interessen auf; sich selbst hält sie vielmehr allein schon deshalb für ein gelungenes Volksbeglückungsprogramm, weil ihre Herrschaft keine auswärtige mehr ist - so als wäre sie damit so gut wie gar keine Herrschaft mehr. So tritt die militärische und zivile Funktionärselite dieser Länder stets als antikolonialistische Kampftruppe an - und hat folgerichtig in den meisten Fällen in den alten feudalen Herrscherfamilien, die die Kolonialmächte zuerst als Verbündete und Teilhaber in ihren Herrschaftsapparat eingebaut hatten, ihren Gegner Nr. 2

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gefunden. Gegen die zu quasi-souveränen Herrschern aufgewerteten Könige und Beduinenfürsten haben deren wichtigste Untergebene, in der Regel an britischen und französischen Militärakademien geschulte Offiziere, ihre eigene, nationalbewußte Herrschaft durchgeputscht und dieser Aktion all die Ideale zugeschrieben, die die bürgerliche Gesellschaft einst als moralisches Gütesiegel ihrer gewaltsamen politischen Emanzipation erfunden hat: Eine nationale "Revolution" soll es allemal gewesen sein - auch wenn das "werktätige" Volk noch nicht einmal als Zuschauer zum Geschehen zugelassen war und eine Kritik nationaler Herrschaft schon gleich nicht auf der Tagesordnung stand. Da wird auch unter dem Titel "Sozialismus" die Einigkeit zwischen Volk und Führung beschworen, der bislang nichts als der Eigennutz der alter Herren und ihrer kolonialen Patrone im Wege gestanden hätte Die Gleichung "Sozialismus" = nationale Einheit erhält statt einer materiellen Grundlage einen ideellen Gehalt, den die Herren aus dem historisch überkommenen Schatz an bei den eigenen Untertanen verwurzelten Traditionen entnehmen. Alles soll genuin "arabisch" und "islamisch" sein und bleiben - und da kann der Streit um die Gültigkeit von alten und neuer Besonderheiten gar nicht ausbleiben. Jedes alternative Staat liehe Interesse in der Nachbarschaft wird der grundsätzlicher Überprüfung unterzogen, ob sich da nicht im Namen der eigenen heiligen Prinzipien etwas ganz anderes breitmacht Für arabische Nationalisten haben sich diese Prinzipien schließ lieh nicht an den einst von Kolonialmächten gezogenen Grenzen zu relativieren! So ergeben sich für den arabischen Antikolonialismus ganz folgerichtig als Gegner Nr. 3 die Nachbarstaaten, die sich dem angeblichen ewigen und unveräußerlicher Recht des arabischen "Volkes" auf eine neue, ganz und gar autonome und nationale Herrschaft angeblich widersetzen. Für die Verfechter des "arabischen Sozialismus" sind das keineswegs bloß die übriggebliebenen Feudalreiche - die sich ihrerseits ja auch schon längst zu dem Standpunkt eines nationalen Aufbaus durchgerungen haben und mit ihren Petrodollars be weisen, daß ihr Eintreten für "die arabische Sache" das alleir oder immerhin am meisten glaubwürdige ist. Jede Regierung weiß ja sich als den Inbegriff des angeblichen Volkswunsche; nach arabischer "Wiedergeburt", beansprucht entsprechendes Gehör bei ihren Nachbarn - und verfügt damit über voll ausreichende Gründe, ihre eigene militärische Macht zum oberster Zweck ihrer Politik und zum entscheidenden 'Sachzwang' ihres Nationalismus zu machen.

Alle arabischen Staaten, nicht nur die "revolutionären", haben ihren nationalen Standpunkt und die damit notwendig verknüpften Feindschaften ausgebildet zu der Auseinandersetzung mit dem Sondereinfall des britischen Kolonialismus, mitten im arabischen Hauptteil des osmanischen Reiches dem zionistischen Siedlungs- und Staatsgründungsprojekt Raum zu verschaffen; dem Kampf gegen den damit geschaffenen Gegner Nr. 4, Israel, sind daher auch alle anderen Streitigkeiten untergeordnet, mit denen sie ihrem Nationalismus einen Inhalt verleihen. Die britische Regierung hatte sich von dem Export eines kompletten jüdischen Gemeinwesens nach Palästina so etwas wie eine dauerhafte, autarke, schon um ihrer Selbsterhaltung willen unbedingt verläßliche Kolonialtruppe versprochen; einen idealen Stützpunkt mit all den Vorteilen, die man an den Siedler-"Staaten" unter britischer Hoheit am Rande des Indischen Ozeans schätzen gelernt hatte. Geschädigt wurden dadurch bloß einige hunderttausend ansässige Araberfamilien, die für ein Weltreich gar nicht zählten; außerdem die politischen Ambitionen einiger feudaler Jerusalemer Großfamilien, denen auch weiter kein Gewicht zukam. Beeinträchtigt sahen sich allerdings auch alle Herrscher der Region, die sich von den europäischen Kolonialmächten für den Kampf gegen das osmanische Reich hatten gewinnen lassen und mit entsprechenden Machtmitteln ausgestattet worden waren. Die Grundlage ihrer Macht, die britische - mit Frankreich geteilte - Souveränität über die gesamte Region und deren Interesse an botmäßigen Verbündeten, trat ihnen hier als harte Einschränkung ihres Herrschaftsbereichs und damit als prinzipielle Zurückweisung ihres Anspruchs auf Autonomie entgegen. Waren den zu halbwegs souveräner Macht gelangten Regierungen schon die vorgegebenen Grenzen ihrer Zuständigkeit ein koloniales Ärgernis - so sehr sie in Wahrheit ihre unangefochtene, halbsouveräne Zuständigkeit überhaupt den Interessen der Kolonialmächte verdankten! -, so mußte um so mehr die zionistische Okkupation Palästinas und der daraus entstandene Staat Israel als Inbegriff kolonialer Oberhoheit erscheinen, an dem ihre Souveränität zur Farce wurde. Folgerichtig findet erst recht der "revolutionär" auftretende arabische

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Nationalismus seit jeher im "antizionistischen" Kampf gegen Israel den vorrangigen Inhalt seines falschen Antiimperialismus - falsch, weil er sich aus der nationalistischen Fiktion einer Volkssehnsucht ausgerechnet nach einer von arabischen Militärführern ausgeübten Herrschaft ableitet und deren prinzipiellen Gegensatz gegen die schlichten Überlebensinteressen der betroffenen Völkerschaften genau verkehrtherum auf den alten Kolonialismus und den neuen Imperialismus bezieht: so, als wäre nicht ihre durch auswärtige Interessen konstituierte und ausgerüstete souveräne Herrschaft der Grund für das wenig fröhliche Dasein ihrer Untertanen, sondern die Unvollständigkeit der nationalen Autonomie. Am Überleben und machtvollen Aufstieg des Judenstaats haben die arabischen Souveräne die Abhängigkeit vor Augen, der sie ihr eigenes Dasein verdanken; und darüber werden sie, als gediegene Nationalisten, nicht selbstkritisch, sondern zu Feinden Israels.

Dabei ist ihnen die Praktizierung ihrer Feindschaft zu einem einzigen Beweis ihrer Ohnmacht geraten - der Tatsache also, daß sie da gegen eine fortdauernde Geschäftsgrundlage ihrer eigenen Macht aufbegehren und nicht etwa imperialistisch mit einem Hindernis ihrer Interessen umspringen. Israel zu benützen, so wie imperialistische Staaten Freund und Feind behandeln und beispielsweise die BRD ihren ungeliebten realsozialistischen Nachbarstaat auf deutschem Boden, dazu sind die arabischen Staaten schon gar nicht in der Lage. Ihr Nationalismus verfügt über keine andere "Option" als die militärische Feindseligkeit - und genau deswegen ist diese auch eine - an ihrem Gegner gemessen - so matte Angelegenheit. Schon die Beschaffung der dafür nötigen Gerätschaften setzt ökonomische Potenzen voraus, über die die Mitgliedsländer der Arabischen Liga nicht verfügen. Um überhaupt gegen den Schützling der "freien Welt" rüsten zu können, müssen sie sich einen alternativen ausländischen Interessenten suchen. Den haben einige arabische Staaten in der Sowjetunion auch zeitweise gefunden, mit diesem "Partner" allerdings die Erfahrung gemacht, daß dessen weltpolitische Kalkulationen ihrem Kriegsprogramm gegen Israel auch wieder keine ausreichende Grundläge bieten. Der Sowjetunion war nie an der Beseitigung des israelisch-arabischen Streits zugunsten des "arabischen Sozialismus" gelegen - warum auch? -, sondern an dessen Ausnutzung als Mittel, sich dem Westen als unumgänglicher Kontrahent in der Weltpolitik aufzuzwingen. Für den arabischen Nationalismus haben seine entgegengesetzten Kalkulationen zu entsprechend bitteren Niederlagen geführt, so daß seine wichtigsten Vertreter, durch ihre Schädigung bis an den Rand der Vernichtung imperialistisch belehrt, auf ihre tragfähigere Geschäftsgrundlage zurückkommen: das strategische Interesse des Westens, das ihrer Macht allemal mehr Freiheiten bietet und auf alle Fälle israelische Überfälle erspart.

So erweist sich am Ende Israel als die "überzeugende Erinnerung" der arabischen Souveräne an die herrschenden weltpolitischen Zwecke, nämlich die des Westens, gemäß welchen die Staaten allesamt für wichtig oder belanglos befunden, mit Freiheiten ausgestattet oder behindert und geschädigt werden. Indem der Judenstaat tatkräftig für die Nichtigkeit jeglicher Macht sorgt, die die arabischen Staaten sich außerhalb der imperialistischen Weltordnung, von deren Hauptfeind, beschaffen, ist er von der ersten Stunde seiner Existenz an der gewissermaßen negative Garant dafür, daß diese Länder bleiben bzw. immer wieder werden, als was sie vorgesehen sind und vom Westen dann auch mit Krediten und Waffengeschenken gewürdigt werden: botmäßige Teilhaber jener Weltherrschaft der "Freiheit", die in der Sowjetunion ihren einzigen großen Gegner bekämpft.

5.

So ist Israel als Judenstaat, als Ausnahme aus dem Kontext der arabischen Staatenwelt, für jeden der Souveräne, die dort ihre besondere Konkurrenz austragen, per se ein fundamentales Ärgernis - und nicht nur das. Israel will diese Ausnahme ja nicht bloß sein - so wie die zionistische Idylle von der "Heimstatt" für die bedrängte Judenheit es sehen will und der klassische zionistische Pseudovergleich zwischen den Dutzenden zum Teil riesiger arabischer Staaten und dem einen winzig kleinen "Erez Israel" es plausibel machen möchte. Für sich und ihren völkischen Zweck und damit für ihren Ausnahmestatus innerhalb der arabischen Welt verlangt die israelische Staatsgewalt

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Anerkennung; und das macht erst das ganze Ärgernis für die zuständigen Souveräne aus. Verlangt ist damit ja nicht bloß die "großzügige Geste", den Juden ein paar tausend Quadratkilometer zu überlassen. Daß der regionalen Großmacht, um deren supranationalen Konstitution und nationale Ausnutzung es ihnen geht, jede Einheit, Verbindlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit fehlt; daß ihnen in ihrem ureigensten Zuständigkeitsbereich Grenzen gesetzt werden können; daß Gegenstand und Endziel der arabischen Staatenkonkurrenz also kein weltpolitisches Gewicht besitzen: das einzugestehen ist für die arabischen Souveräne der Inhalt der Anerkennung Israels, auf der dieser Staat besteht. Mit der Reklamation seines indiskutablen Existenzrechts mutet der Judenstaat allen Araberstaaten die Preisgabe des Inhalts zu, den jeder von ihnen seiner Souveränität zu geben sucht. Und das ist, überhaupt nicht metaphorisch, ein Kriegsprogramm - worüber die arabischen Staaten Israel auch nie im unklaren, gelassen haben, worüber aber erst recht die nationalen Führer Israels sich von Anfang an im klaren waren und trotz aller "Friedensprozesse" bis heute nichts vormachen. Israels Anspruch, außerhalb der regionalen Konkurrenz der arabischen Staaten zu stehen, ist eben gleichbedeutend mit dem Willen und der Notwendigkeit, über ihr zu stehen, d.h.. den konkurrierenden nationalen Sachwaltern der , .arabischen Sache" und ihrer gemeinsamen Macht überlegen zu sein. Es will in einer Weise souverän sein, die mit der Souveränität seiner Nachbarn schlechterdings nicht vereinbar ist; also kann Israel nicht auf eine berechnende Anerkennung seiner Souveränität zählen, wie sie dem normalen diplomatischen Verkehr seine Geschäftsgrundlage liefert, sondern muß sie sich erzwingen. Dieser Staat schafft sich eine Welt von Feinden - und muß folgerichtig um seiner Selbsterhaltung willen seine sämtlichen Feinde gewissermaßen im Zustand einer permanenten Kapitulation halten. Und deswegen ist seit der Gründung dieses Staates der Kriegsfall sein Normalfall.

Frieden ist für Israels Nachbarn und Gegner nur unter der Bedingung zu haben, daß sie das Ideal einer "arabischen Nation" verabschieden, für das Ziel nationaler Größe und Bedeutsamkeit auf prinzipiell andere Mittel setzen als ihre Einheit, also Abstand nehmen von ihrem Bemühen, jemals aus eigener Machtvollkommenheit in der Weltpolitik eine maßgebliche Rolle zu spielen. Praktisch beweist ihnen der Judenstaat die Ohnmacht selbst ihrer gediegensten Bündnisse - bis sie sich entschließen, ihre politischen Chancen nicht mehr im Zusammenschluß ihrer Region zu einem handlungsfähigen Subjekt zu suchen, sondern "an der Seite", also in Abhängigkeit von anderen Nationen: den Ausstattern und Schutzmächten Israels. Zu deren und zu Israels Zufriedenheit hat bislang schon die gewichtigste Macht unter allen arabischen Staaten, Ägypten, diese prinzipielle Neuorientierung hinter sich gebracht (Saudi-Arabien ist in Geld- und Waffendingen schon seit langem ein Partner und Freund des Westens!) und sich zum willfährigen »Entwicklungsland" und Aufmarschplatz der "freien Welt" gemacht - nicht eher, dann aber schon relativiert der Judenstaat seinen machtvollen praktischen Einspruch gegen eine nicht von ihm kontrollierte Souveränität bei einem arabischen Nachbarn.

So ist Israel, indem es für eine ganze Region den Kriegsfall definiert und die Friedensbedingungen diktiert, die Ordnungsmacht für die arabische Staatenwelt - "Ordnung" im politischen, also im Sinne eindeutiger Unterordnungsverhältnisse verstanden. Es exekutiert diese Ordnungsmacht einerseits im eigenen staatlichen Daseinsinteresse; als völkischer Judenstaat, der sich dadurch eine ganze Weltgegend zum Feind macht, ist Israel entweder ein "Ordnung" schaffender Kriegsstaat oder überhaupt nicht. Damit ist aber andererseits schon klar: Dieser Staat ist das, was er ist, weder aus eigener Macht, noch ist die Erhaltung seiner nationalen Besonderheit als solche das weltpolitisch wesentliche Resultat seiner kriegerischen Selbstbehauptung, also auch nicht der letztlich entscheidende Zweck seiner Erhaltung. Um seiner Selbsterhaltung willen stellt Israel das arabische Streben nach eigenständiger Bedeutung unter eine permanente Kriegsdrohung; es macht diese Drohung wahr, wann immer es auch nur die Möglichkeit entdeckt, ein arabischer Souverän könnte sich seiner Kontrolle entziehen; und damit vollstreckt es einen der Qualität nach weltherrschaftlichen Anspruch, dessen Subjekt und Nutznießer es in letzter Instanz gar nicht ist: Gelder wie Waffen bezieht es aus der "freien Welt", und mit seiner völkischen Intransigenz stellt es nur einen Teil und einen nationalen Abklatsch jener Kompromißlosigkeit dar, mit der der "freie

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Westen" in seiner Eigenschaft als NATO gegen seinen ausgemachten Hauptfeind, die Sowjetunion, und deren wirkliche wie denkbare Helfershelfer auf seiner weltumspannenden Übermacht besteht.

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Der israelische Militarismus und seine politische Ökonomie

l.

Die militärische Macht eines Staates fällt mit dem nationalen Geschäftsgang, den er betreut, und dessen Erträgen nicht zusammen. Ein Staat kann durchaus im Innern lauter unproduktives Elend verwalten, nach außen hin seine Kreditwürdigkeit und damit seine Zahlungsfähigkeit verlieren und dennoch einige respektable Gewaltaktionen zustandebringen. Erst recht ist der Unterhalt und der Einsatz eines militärischen Gewaltapparates kein Geschäft - der Verkauf entsprechender Gerätschaften schon, ihr zweckmäßiger Einsatz nie! - und richtet sich deswegen auch nicht nach den sonst gültigen Kriterien der Rentabilität. Ein Staat kann durchaus über ein blühendes Geschäftsleben gebieten und seinen Fortgang zugunsten einer und durch eine respekterheischende Gewaltaktion unterbrechen. Dennoch sind Geschäft und Gewalt alles andere als verschiedene Welten. Erstens ist in den kapitalistischen Demokratien des Westens die militärische Macht des Staates zur Sicherung der Rechte da, die die souveräne Staatsgewalt sich durch die auswärtigen Geschäftserfolge ihrer Nation anderen Souveränen gegenüber erwirbt. Diese Länder haben unbestreitbare Interessen am und im gesamten Rest der Welt; um ihr Kreditgeld dreht sich das ökonomische Leben noch im letzten südamerikanischen Slumviertel; sie verbuchen ganze Regionen als "unsere" Ölquellen oder "unsere" Absatzmärkte; und deswegen ist ihnen eine politische Zuständigkeit für den Rest der Staatenwelt, die zu ihrer "Glaubwürdigkeit" natürlich des militärischen Schutzes bedarf, das Selbstverständlichste von der Welt. So selbstverständlich, daß sie den Einsatz und bei ihren Feinden sogar schon den bloßen Unterhalt eines Militärs durch Staaten ohne derart weitgefächerte, wohlfundierte und durchschlagende ökonomische Interessen in aller Welt als Beweis aggressiver Gesinnung und Absichten werten und für andere immerzu Vorschriften erlassen möchten, denen sie für sich selbst nie eine Gültigkeit zugestehen würden, darüber nämlich, auf wieviel Rüstung ein anderer Staat zum Zwecke der Verteidigung seiner legitimer Interessen allenfalls legitimerweise Anspruch erheben könnte. Und dieser Anspruch auf eine gewisse Oberhoheit über die hoheitlichen Machtmittel fremder Souveräne ist kein bloßer frommer Wunsch - wenn er auch ausgerechnet von dem Feind, bei dem es am meisten darauf ankäme, nicht respektiert wird: eben deswegen ist die Sowjetunion ja der Hauptfeind. Ansonsten macht sich aber durchaus der zweite sachliche Zusammenhang zwischen nationalem Geschäftserfolg und militärischem Potential geltend. Ein moderner Gewaltapparat braucht massenhaft professionelles Personal - ersatzweise eine staatsbürgerlich und technisch einsatzbereite wehrpflichtige Jugend - und massenhaft kostspieliges Material. Er setzt also Reichtum, und zwar nicht bloß einen irgendwie angesammelten , Juliusturm" oder sonstigen nationalen Schatz, sondern einen beständig bereitgestellten reichlichen Überschuß voraus. Gerade damit die militärische Gewalt sich ganz zweckrational nur nach ihren eigenen Kriterien einrichten und betätigen kann, also frei ist von den Gesichtspunkten des lohnenden Geschäfts, muß dieses in nationalem und internationalem Maßstab erfolgreich sein. Sein Gang muß kontinuierlich den Überfluß abwerfen, durch den die staatliche Gewalt sich von seinen Notwendigkeiten so vollständig emanzipieren kann, daß sie ihre Rechte in aller Welt vollstrecken und so den nationalen Geschäftsinteressen ihre Sicherheit garantieren kann.

Am härtesten zeigt sich dieser Zusammenhang logischerweise beim kriegerischen Einsatz der militärischen Gewalt. Kriegerische Unternehmungen eines Staates, der nicht ohnehin schon immer seine Nachbarn und Kontrahenten mit harten nationalen Interessen drangsaliert, lauter durch den ausgreifenden Reichtum seiner Gesellschaft wohlfundierte Rechtstitel gegen sie geltend macht, gelten als "sinnloses" Abenteuer. Und das in einem zynischen Sinn gar nicht einmal zu Unrecht. Denn solche Staaten verfügen deswegen auch gar nicht über die Mittel, um sich soviel verschwenderischen Aufwand überhaupt leisten zu können, daß sie ihre Gegner erfolgreich zu bedingungslosem Respekt vor ihren Rechtsansprüchen zwingen, also einen für ihre Macht lohnenden Sieg davontragen könnten. Ein Sieg ist heutzutage schon teuer genug; ein Sieg so, daß die siegreiche Nation ihre dadurch gewonnenen Freiheiten gegenüber dem Rest der Staatenwelt

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auch noch ausnutzen kann, setzt erstens entsprechend massive und offensive Interessen voraus, wie sie nur in der Handvoll "entwickelter" kapitalistischer "Industriestaaten" zu Hause sind, und ist zweitens kaum noch zu bezahlen - eben nur noch durch besagte "Industriestaaten" im Hinblick auf die Erträge der zu gewinnenden weltpolitischen Freiheiten.

2.

Im Vergleich zu den schlagkräftigen Demokratien des Westens, von denen Israel doch eine sein will, und zu den dort realisierten Prinzipien imperialistischen Erfolgs, den Israel auf seine Weise zweifelsfrei hat, ist das Verhältnis zwischen Geschäft und militärischer Gewalt - wie auch sonst so manches - im Staat der Juden genau andersherum gestaltet als "normal". Die Selbstbehauptung einer souveränen Staatsgewalt inmitten einer ganzen "Welt" selbstgeschaffener Feindstaaten schafft weitreichende militärische Notwendigkeiten, noch ehe an einen ertragreichen Geschäftsgang im Innern überhaupt zu denken ist und ohne daß an eine geschäftliche Ausnutzung des nach außen zu erringenden Respekts je zu denken wäre. Zwar "bloß" für die gesamte arabische Region, muß Israel mit seiner militärischen Macht immerhin dem äußersten Kriterium genügen, das der Imperialismus kennt - und nur die "Supermacht" der USA im Weltmaßstab erfüllt, mit Einschränkungen bezüglich eines Atomkriegs -: Erstens zu jeder Zeit zweitens an jedem beliebigen Ort drittens jedem in Frage kommenden Gegner viertens garantiert überlegen zu sein. Zu bewältigen war und ist dieser unbescheidene Anspruch überhaupt nur auf der Grundlage eines machtvollen Interesses an einer solchen Überlegenheit Israels; eines Interesses, das den Aufbau des israelischen Militärapparats von den Überschüssen des nationalen Geschäftsgangs von vornherein total unabhängig macht und das zugleich für dessen erfolgreichen Einsatz jede nötige Rückendeckung liefert. Für das Verhältnis zwischen Gewalt und Geschäft in Israel bedeutet das: Um überhaupt zu existieren, muß dieser Staat sich die Rücksichtslosigkeit gegen die eigene Nationalökonomie und deren Wachstum beständig leisten, die "normale" kapitalistische Nationen sich erstens nur auf Grundlage eines im Weltmaßstab erfolgreichen Geschäftsgangs ihrer Wirtschaft und zweitens nur im Hinblick auf einen bevorstehenden bzw. im Krieg leisten können. Andersherum: Für sich genommen ist der "Konfrontations-" und deshalb notwendigerweise Militärstaat Israel ökonomisch ein Unding, das nur als massiv subventioniertes Gebilde überhaupt existenzfähig ist.

Tatsächlich hat es Israel an dem nötigen imperialistischen Interesse und entsprechenden Geldzuflüssen nie gefehlt. Schon der Aufbau einer jüdischen Gesellschaft auf palästinensischem Boden war durch zionistische Agenturen - insbesondere die Jewish Agency, den ökonomischen Verwaltungsapparat der Zionistischen Weltorganisation für Palästina - mit Geldmitteln aus aller Welt, insbesondere von Judengemeinden in den USA finanziert worden. Diese Spenden, die einer Art freiwilliger Steuer des zionistisch wie nicht-zionistisch gesonnenen Judentums der kapitalistischen Welt gleichkamen, - für 1946 beispielsweise in der Höhe von ca. 100 Millionen Dollar von privaten Geldgebern in den USA - nahmen mit der Staatsgründung zu und haben anläßlich jedes militärischen Großunternehmens Israels auch wieder Hochkonjunktur gehabt - zwischen 1948 und 1973 wurden allein durch die größte amerikanische Hilfsorganisation ca. 3 Milliarden Dollar aufgebracht und nach Israel transferiert; hinzu kam der Absatz israelischer Schuldverschreibungen im Ausland, de facto ebenfalls mehr eine Devisenspende als eine lohnende Geldanlage, der bis 1967 bereits aus den USA knapp l Milliarde Dollar nach Israel schleuste. In ähnlicher Größenordnung lagen die bundesdeutschen "Wiedergutmachungszahlungen", teil an individuelle Empfänger in Israel - 7 Milliarden DM zwischen 1954 und 1964 -, teils direkt an die israelische Staatskasse - 3 Milliarden DM zwischen 1953 und 1965 -, die in den 60er Jahren durch höchst vorteilhafte Anleihen abgelöst und bereits seit Ende der 50er Jahre durch Waffengeschenke ergänzt wurden. Die weitaus größten Subventionen bringt aber seit Ende der 60er Jahre die amerikanische Regierung auf: zwischen 1972 und 1980 allein 15,5 Milliarden Dollar an "ziviler" Finanzhilfe, weitere rund 12 Milliarden Dollar an Militärhilfe, beides größtenteils als Geschenk. Diese Zuschüsse liegen damit in etwa in der Höhe der Militärausgaben Israels, die den ökonomisch absolut wahnwitzigen, kriegsmäßigen Anteil von einem Viertel am gesamten errechneten

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"Bruttosozialprodukt" der Nation ausmachen, 1978 beispielsweise 3,22 Milliarden Dollar von 13,76 Milliarden - selbst für die Sowjetunion wird dieser Anteil von westlichen "Experten" nur auf ca. 10 % hochgeschätzt, für die BRD mit knapp 3 %, für die USA mit gut 3 % errechnet. Nähme irgendwer die staatliche Auslandsschuld, die Israel neben den direkten Geschenken, gewissermaßen als Zuschüsse in Kreditform akkumuliert, als Schuldenberg ernst, so wäre dieser Staat nicht einmal mehr ein Sanierungsfall: mit 21,7 Milliarden Dollar Ende 1980 beläuft er sich glatt auf das Doppelte dessen, was Nationalökonomen als das "Bruttosozialprodukt" Israels ausrechnen. In diesem Fall gibt das aber weder zu Interventionen des Internationalen Währungsfonds Anlaß noch zu "Befürchtungen" um die zukünftige Kreditwürdigkeit und damit Zahlungsfähigkeit des Schuldners, und keine Instanz der imperialistischen Weltökonomie mahnt einen weniger unproduktiven Umgang mit den "geliehenen" Mitteln an. Diesen "Schuldner" leisten sich die kapitalistischen Staaten als absolute Ausnahme von den sonstigen, für den Empfänger ruinösen Gepflogenheiten des internationalen Kreditwesens, wie zum Beweis, was der gesammelte Reichtum des Westens an wirklichen Geschenken an den Rest der Welt leisten könnte.

Daß die Israelis es deswegen gut hätten, heißt das allerdings noch lange nicht; eher im Gegenteil!

3.

Im Innern setzt der israelische Militärstaat mit seiner Wirtschafts- und Finanzpolitik einen riesigen Schulden- und Subventionszirkus in Gang. Kredit nimmt er sich nämlich zuerst einmal, ganz nach den Regeln eines kapitalistischen Schuldensystems, bei seinen Bürgern. Wie jeder aufgeklärte bürgerliche Fiskus, nur um einiges umfänglicher als andernorts, setzt er zirkulationsfähige Staatsschuldverschreibungen in Umlauf, die für ihre Besitzer je nach Bedarf Zinsesel und "Liquidität" darstellen, dem Staat Zugriff auf jede nötige Menge an Gütern sowie an zivilem und militärischem Personal sichern. Der Staat bezahlt also nicht bloß alles, was er braucht, sondern er verzinst es auch und versorgt durch diese Art der Geldbeschaffung alle unternehmerisch aktiven Teile seiner eigenen Ökonomie - eigene, gewerkschaftseigene, sonstige genossenschaftliche und private Firmen - mit den Mitteln eines blühenden Kreditwesens, auf daß und so daß auch wirklich jedes Unternehmen im erwirtschafteten Geld das unerbittliche Maß seines Erfolges oder Mißerfolges hat oder eben nicht hat. Dies alles allerdings mit einem Schönheitsfehler, dessen Ausmaß die israelische Nationalökonomie nicht bloß graduell, sondern qualitativ von der befreundeter Länder unterscheidet. So reichlich bedient der Staat sich bei den Geldbesitzern seiner Nation - und bedient diese mit seinen Schuldscheinen, also mit Kreditgeld -, daß für die Fortführung, geschweige denn für das Wachstum seiner Wirtschaft schlechterdings nicht mehr genügend bleibt:

Sein Kreditgeld entwertet sich nicht bloß sehr schnell und gründlich - im Durchschnitt der Jahre 1970 bis 1979 um jährlich gut ein Drittel, 1980 um über 130 % ! -, sondern rascher, als er es eigentlich vermehren könnte. Bliebe es dabei, so wäre das Resultat der folgende circulus vitiosus: Der Staat sorgt dafür, daß alle ökonomischen Aktivitäten in seinem Herrschaftsbereich sich bezahlt machen müssen, um stattzufinden; bezahlt allerdings in einem Geld, das so rasant an Wert verliert, daß ihre Ausweitung, ja schon ihre Neueröffnung nur auf Kosten anderer, konkurrierender Geschäfte gelingt; dieser Wirkung wirkt der Staat durch die Vermehrung des nationalen Kredits entgegen, der sich dadurch aber nur noch schneller entwertet. Internationale Geschäfte sind mit dieser Sorte Zahlungsmittel überhaupt nicht mehr zu machen, nationale aber auch nur dort, wo der Staat durch entsprechende Preise oder Subsidien für weit überdurchschnittliche Geschäftserfolge sorgt. So wäre die gesamte Ökonomie international zahlungsunfähig, national auf dem absteigenden Ast immer geringerer Produktivität. Daß das alles so nicht stattfindet, ist, wie schon gesagt, nicht das Verdienst eines besonderen jüdischen Finanzgenius, sondern liegt an der massiven Bezuschussung des Staates von außen. So verfällt zwar der Außenwert des israelischen Pfundes - 1974 = 0,6007 DM, 1978 = 0,0878 DM, 1979 = 0,047 DM, 1980 = 0,0238 DM, Mitte 1982 = 0,012 DM (Touristenkurs!) -, die Regierung bekommt aber noch jeden gewünschten Kredit, meistens

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sogar eben geschenkt, und so bleiben die Firmen international zahlungsfähig, bei denen das der Regierung wichtig ist - sie selber sowieso. Im Innern rentieren sich tatsächlich nur die Geschäfte, die der Staat bezuschußt, und in dem Maße, wie er das tut; dank der großzügigen Auslandsgeschenke gleichen sich reale Gewinne und Verluste aber nicht auf Null oder Minus aus: die permanent aufgeblähten, tatsächlich fiktiven Subventionen des Staates transportieren immerhin ,,echte" Zuschüsse, und zwar genau dorthin, wo er sie haben will.

Die Portemonnaies seiner Bürger sind das nicht. Die haben im Gegenteil zuallererst dafür geradezustehen, daß die rapide entwerteten Geschäftsmittel ihrer Arbeitgeber doch allemal noch für ein Geschäft gut sind: Zuerst einmal sind sie es, in deren Händen das israelische Staatsgeld sich schneller entwertet als vermehrt, so daß es in den Kassen ihrer Firma immer noch umgekehrt ist. (Und so viel moralische Vorbildlichkeit wird auch von führenden Politikern eingefordert, daß sie ihre verbotenen Dollarkonten im Ausland, auf denen sie ihr Privatvermögen vor einem ähnlichen Schicksal sichern, erfolgreich verheimlichen - über die Enttarnung eines solchen Kontos im Besitz seiner Ehefrau ist immerhin der letzte Premierminister der "Partei der Arbeit", Jitzchak Rabin, gestürzt.) Eben dank der ausländischen Subventionen führt diese Verarmung der Lohnempfänger aber nicht - wie in anderen "Schwellenländern" der modernen Weltwirtschaft - in einen Pauperismus, mit dem sich am Ende überhaupt kein Geschäft mehr machen läßt. Das nationale und gewerkschaftseigene Proletariat bleibt erhalten, und mit ihm das Kriterium für alles, was mit ihm angestellt wird im Lande. Dies aber eben allemal nur und genau zu den Bedingungen, die die öffentliche Hand mit ihrer Preisgestaltung und ihrem Subsidienwesen setzt. Und darin folgt sie einem eindeutigen Kriterium: die Nation muß wehrtüchtig sein und immer wehrtüchtiger werden - dieser oberste Imperativ war und bleibt ja der Ausgangspunkt der exorbitanten Staatsverschuldung, ihrer "eigentlich" ruinösen Wirkungen auf die nationale Ökonomie und der auswärtigen Zuschüsse, die dieses "eigentlich" nicht eintreten lassen. Inbegriff dieser israelischen Kriegswirtschaft ist der Kibbuz: die landwirtschaftliche Siedlung, seit den 20er Jahren zielstrebig an strategisch wichtigen Winkeln des damals erst zu erobernden, nach 1948 zu sichernden und auszudehnenden Staatsgebiets angelegt und mit dem doppelten Auftrag versehen, das Land so ertragreich wie möglich zu kultivieren, nach Möglichkeit wenigstens den eigenen Lebensunterhalt zu sichern, und zugleich als militärisches Zentrum ganze Areale und Frontabschnitte unter Kontrolle zu halten. Daß eine im internationalen Vergleich rentable Landwirtschaft sich so nicht treiben läßt, ist klar; überleben konnten und können diese Siedlungen ökonomisch nur durch ständige Zuschüsse ihrer Trägerorganisationen - der zionistischen Parteien und der Gewerkschaft -, von der unentgeltlichen Überlassung des aufgekauften Landes und der nötigen Bewässerungsanlagen bis hin zur Vermarktung der Überschußprodukte. Klar ist andererseits erst recht, daß diese wirtschaftliche Fürsorge das Leben des Kibbuznik nie angenehm macht: die Verelendung wird ihm erspart, damit er seiner Nation als Wehrbauer dient.

Was der permanente Wehrdienst für den Kibbuz und die Verwendung seiner Mitglieder, das bedeuten der für Männer 33-monatige, für Frauen 20-monatige Wehrdienst, die häufigen Reservistenübungen und die ständige Alarmbereitschaft für die "normalen" Betriebe der Nation und deren Bemühen um rentable Ausbeutung ihrer Belegschaften. Fortgeschrittenen kapitalistischen Rentabilitätskriterien wird auch dort nur genügt, weil sie durch ein nur für Spezialisten durchschaubares und benutzbares System von Staats-, Gewerkschafts- und sonstigen Hilfen außer Kraft gesetzt sind.

Die "Entwicklung" der nationalen Ökonomie Israels schließlich hat einen eindeutigen Schwerpunkt, der den Reproduktionsschemata des 2. Bandes des "Kapital" von Karl Marx, also den sachlichen Notwendigkeiten kapitalistischer Akkumulation, ebenso Hohn spricht wie jedem bürgerlichen Idealismus eines gleichmäßigen krisenfreien ,,Wirtschaftswachstums": die Wehrindustrie. Dadurch, daß im Land mehr Panzer und Jagdflugzeuge gebaut werden, als Stahl und Aluminium produziert wird, wird der nationale Reichtum im Lande auch nicht gerade seiner kapitalistischen Zweckbestimmung zugeführt, seine stetig erweiterte Reproduktion zu bewerkstelligen. Nach

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bürgerlichen Begriffen ist diese "Verwendung der nationalen Ressourcen" eine einzige permanente "Strukturkrise". Genau diese "disproportionale Entwicklung", bis hin zur Atombombe statt Atomkraftwerken, kann Israel dank ausländischer Hilfe sich aber leisten, ohne die Verfahrensweisen der kapitalistischen Geldwirtschaft und ihrer "Sachgesetze" der Rentabilität tatsächlich abzuschaffen.

Vom Kibbuz mit seinen Orangenplantagen bis hin zum "militärisch-industriellen Komplex" macht Israels Nationalökonomie so den faschistischen Traum wahr, mit den Instrumenten des Kapitalismus alle Produktivkräfte des Volkes für die Bedürfnisse der staatlichen Kriegsmaschinerie in Dienst zu nehmen. Sie kann das nur, weil sie die Resultate der weltweit ge-lungsten kapitalistischen Ausbeutung, nämlich in den "Industrieländern" des "freien Westens", nicht gegen sich, sondern als verlorenen Zuschuß auf ihrer Seite hat. Unigekehrt: dafür werden ihr Milliardenbeträge an Dollars zugeschossen; und man kann wirklich nicht sagen, daß die unzweckmäßig verwendet würden.

4.

Was das Menschenmaterial des Staates betrifft, so geschieht dessen staatsdienliche Benutzung, ebenfalls kriegsmäßig, maßgeblich im Militär, ohne daß es deswegen aus den "Sachzwängen" der Ausbeutung, also aus produktiver Leistungssteigerung und produktiver Verarmung entlassen wäre. Immerhin kommt es auf Weltrekordleistungen auf diesem Sektor in letzter Instanz nicht an. Deswegen, und nur deswegen, herrscht in Israel kein faschistischer Arbeitsdienst, sondern die Freiheit zu streiken, wofür die Staatsgewerkschaft Histadruth allerdings als letzte eintritt, sowie die Freiheit zu allerlei unrentablem ökonomischem Experimentieren speziell in der Landwirtschaft - ein Refugium der idealistischen Praxis der zionistischen Gründerzeit, das Land zum "national home" herzurichten. Die Dienstpflicht fürs Militär macht andererseits nicht den gesamten Inhalt der bürgerlichen Existenz eines Israeli aus, ist aber so sehr die universelle und unbedingte Voraussetzung einer bürgerlichen Existenz, daß der Ausschluß der arabischen Bürger vom Wehrdienst genügt, um sie aus dem bürgerlichen Leben der Gesellschaft fernzuhalten. Insbesondere werden hier die jüdischen Einwanderer aus arabischen und sonstigen Staaten, in denen "Leistungswille" und staatsbürgerliches "Verantwortungsbewußtsein" keine Selbstverständlichkeiten sind, an die sachgerechte "Lebensauffassung" gewöhnt: die Armee ist und wird gelobt als die "Schule der Nation"! Sein Idealbild besitzt dieser staatsbürgerliche Militarismus wiederum im Kibbuznik, der - "eine Hand am Pflug, eine am Schwert" oder, realistischer, mit der Knarre auf dem Traktor - mit jeder Faser für den Dienst am "wiedergewonnenen" Vaterland einsteht; seine Freizeit verbringt er dementsprechend, und das ist nicht einmal pure Phantasie, mit Wehrsport und der Ausgrabung steinerner Zeugnisse "seiner" "nationalen" Vergangenheit; die Last der Kindererziehung nimmt ihm die Kibbuz-eigene Kinderkaserne ab, und auch in der Wahl des Ehepartners "unterstützt" ihn die "Gemeinschaft". Die legendäre israelische Karriere vom verdruckten Ghettojuden oder dem verweichlichten, lebensuntüchtigen Intellektuellen - einem faschistischen Topos, der als Gegenbild natürlich dazugehört - zum tapferen Wehrbauern, wie ihn Hitler in seinem "Mein Kampf-Abschnitt über die Resultate völkischer Erziehung ausgemalt hat, mag in Israel tatsächlich öfter Wirklichkeit geworden sein als jemals in den USA der Aufstieg "vom Tellerwäscher zum Millionär"; aus Charaktermasken ihres faschistischen Ideals besteht die israelische Gesellschaft dennoch nicht. Sie besteht aus aufgeklärt berechnenden, daher demokratischen Opportunisten all der Zwänge, die ihr Staat ihnen als Lebenschance anbietet; mit dem Unterschied allerdings, daß diese "Chance" Militärdienst heißt. Und der steht nicht unter dem lügnerischen Versprechen, sein Sinn und Zweck bestünde darin, niemals wirklich praktiziert zu werden - wie sich das ein Bundeswehrsoldat einbilden soll -, sondern im Gegenteil unter der Sicherheit, spätestens als Reservist an mindestens einem blutigen Feldzug teilzunehmen. Den Beruf, im Staatsdienst ein paar Araber umzulegen, muß ein loyaler Israeli also schon in seine Lebensplanung aufgenommen haben; so gesehen ist er der perfekte Staatsbürger in Uniform. Und das sichert nicht bloß dem Kibbuznik-Ideal seine dauerhafte Geltung. Das ist auch die Garantie

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dafür, daß die Standard-Karriere des israelischen Politikers - erst in der Armee zum General, nach der Pensionierung auf einen Ministersessel - demokratisch abläuft. Denn wer schon den Kriegsdienst, und zwar den wirklichen, als Einstieg in die eigene bürgerliche Karriere, gut staatsbürgerlichopportunistisch, akzeptiert, der honoriert auch die Bewährung im kriegerischen Heimatdienst als ausschlaggebende Tugend einer Herrschaft, der er sich gerne unterwirft.

Und das ist der entscheidende Grund, weshalb der israelische Militarismus sich ohne jede Beeinträchtigung wirklich und uneingeschränkt demokratische Verkehrsformen leisten kann.

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3. Kapitel

Israel und seine Freunde: Zionistische Ordnungsmacht der "freien Welt"

l.

Je mehr der Libanon-Feldzug Israels sich in die Länge zog, je brutaler die Invasionsarmee vor allem in Beirut zuschlug, je deutlicher Israels weitgestecktes Kriegsziel - die Endlösung des "Palästinenserproblems" - und, vor allem, seine erfolgreiche Realisierung sich abzeichnete, um so heftiger wurde in der westlichen Öffentlichkeit das Gerücht verbreitet, Amerika sei "verstimmt" und ein "ernstes Zerwürfnis" zwischen den USA und Israel bahne sich an. Von beiden Seiten wurde dieses Gerücht nach Kräften gefördert. Die amerikanische Regierung ließ jede kritische und mahnende Anmerkung zum israelischen Vorgehen ausführlich ankündigen und als "ernste Vorhaltung", ja "fast als Drohung" interpretieren; ihr Präsident gab "Verärgerung" und sogar ein ,,Gefühl, getäuscht worden zu sein", zu Protokoll; am Ende ließ sie sogar im UN-Sicherheitsrat einen - zuvor entscheidend entschärften und verallgemeinerten - Tadel an Israels Intransigenz passieren. Das Massaker von Beirut quittierte das Weiße Haus mit Erregung, die fast gereicht hätte, in einer UNO-Verurteilung der Menschenschlächterei nicht als einziger Staat mit Israel dagegen zu stimmen. Umgekehrt nahm der israelische Regierungschef die Bemerkung eines amerikanischen Senators, notfalls müsse man Israels Kriegsherren diplomatisch "in die Knie zwingen", zum Anlaß für einen melodramatischen Schwur, stellvertretend für sein ganzes Volk vor einer Versammlung entsprechend begeisterter amerikanischer Juden abgelegt, ein Jude knie vor niemandem »als vor Gott"; und nach vollbrachtem Sieg, während gerade die letzten palästinensischen Kämpfer aus Beirut weggeschafft wurden, ließ der zuständige Kriegsminister, ebenfalls auf USA-Reise, wissen, er wäre mit den "Terroristen" erheblich schneller und unkomplizierter fertiggeworden, hätte die US-Regierung nicht das Abschlachten durch ständige Interventionen behindert und der amerikanische Vermittler nicht mit seinen Verhandlungen das Geschehen erst in die Länge gezogen. Was von der so nachdrücklich publik gemachten amerikanischen "Verärgerung" tatsächlich zu halten ist, das zeigen die ungeschmälert weiterfließenden Finanz- und Militärhilfen und die "den Umständen entsprechend" gesteigerten Nachschublieferungen für die kämpfende Truppe zur Genüge. Um den ersten Schritt zu einer Aufkündigung des Zustands, daß die USA Israel als Militärstaat finanziell und per Aufrüstung aktionsfähig machen, kann es sich nicht im entferntesten gehandelt haben. Was vom Inhalt jener diplomatischen Mahnungen an die israelische Regierung, die für die Öffentlichkeit als Beinahe-Zerwürfnis hingestellt worden sind, bekannt geworden ist, das hat ohnehin mit dem, was sonst "politischen Druck" ausmacht, nichts zu tun. Von Drohungen, wie sie beispielsweise in Sachen Handelsembargo, Kreditbeschränkungen etc. gegen die Sowjetunion wegen mißbilligter Anwendung der Militärgewalt in Polen vollzogen werden, oder gar von etwas Ähnlichem wie einem Ultimatum findet sich da nichts. Im Gegenteil: Was das Publikum als die schärfste amerikanische Reaktion verstehen sollte, nämlich der Kommentar des Präsidenten Reagan zur schwersten Bombardierung Beiruts während des gesamten Krieges zu einem Zeitpunkt, als die Kapitulation der Palästinenser schon so gut wie perfekt war, enthielt als erstes den Hinweis an die PLO, nun müsse sie doch endlich um des lieben Friedens willen die Zerstreuung ihrer Kämpfer auf Lager in der weiten arabischen Welt beschleunigen - die Israelis wurden mit der Bemerkung "gerügt", die neuesten Verwüstungen und das Blutvergießen seien "sinnlos" und möchten deshalb doch unterbleiben. Eine auch nur geringfügige Distanz zum politischen Zweck des israelischen Feldzugs ist darin nicht zu erkennen; die Humanitätsheuchelei dieser Sorte Kritik, ihr billiger Rot-Kreuz-Moralismus des "Nicht Zuviel" - wenn denn schon Krieg "sein muß"! -, springt dafür um so deutlicher ins Auge. Der paßt ja auch sehr gut zu der ebenso offen geäußerten Genugtuung amerikanischer Waffenlieferanten sowie einer kriegsgeilen Öffentlichkeit von professionellen wie Amateur-Strategen über die militärische Perfektion des israelischen Vorgehens und die Effektivität und Überlegenheit des eingesetzten freiheitlichen Kriegsgeräts. Am gelungensten waren

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Waffenstolz und Mitleidsheuchelei vereinigt in der kurzfristig aufgetauchten Klage über die verheerenden Wirkungen der Splitterbombe, die die USA dem israelischen Militär doch "bloß" zu Verteidigungszwecken geliefert hätten. So kam das pflichtschuldige "Entsetzen" zu seinem Recht - und brauchte doch noch nicht einmal den Errungenschaften der amerikanischen Rüstungstechnologie selbst zu gelten, geschweige denn die Begeisterung über die geglückte Beute an bislang geheimen sowjetischen Waffensystemen zu trüben.

Was umgekehrt Israels Führer an Beschwerden über die USA von sich gegeben haben, das würde, nähme man das Gerücht vom "ernsten Zerwürfnis" ernst, in die Rubrik der diplomatischen Unverschämtheiten fallen, wie sie sich sonst nur die USA ihrem sowjetischen Hauptfeind gegenüber erlauben. Oder was sollte man davon halten, wenn der israelische Außenminister - nach der offiziellen Interpretation - ins Weiße Haus geladen und auf Waffenstillstand festgelegt wird, wenn dann nur Stunden später ein Dauerbombardement Beiruts einsetzt, bis die amerikanischen "Schlichtungs"-Verhandlungen vor Ort kurzfristig unterbrochen werden, und wenn das dann noch mit dem Hinweis kommentiert wird, ohne solchen "militärischen Druck" wären doch die ganzen Verhandlungen nichts wert? Das wäre in der Tat, wofür die öffentliche Meinung hierzulande es fast einhellig erklärt hat, nämlich ein Vertrauensbruch gegenüber Amerika - wenn nur die Voraussetzung 3timmen würde, in den Gesprächen zwischen Reagan und Schamir wäre es um eine Verpflichtung Israels zu strikter Waffenruhe gegangen. Dabei sprechen Israels Aktionen auf der einen Seiten, die überdeutlichen Kommentare auf der anderen Seite doch eindeutig für sich - und für eine ganz andere Verabredung. In jeder Phase hat die amerikanische Regierung die israelische Schlächterei im Libanon erstens genehmigt und zugleich zweitens für eine möglichst glaubwürdige, jedenfalls diplomatisch wirksame Distanzierung davon Sorge getragen. Mit bemerkenswerter Raffinesse - aber hierzulande hält man die US-Administration ja lieber für einen Haufen ahnungsloser Trottel! - haben die USA sich auch noch als Schutzmacht der Opfer ihres Vasallen in Szene gesetzt!

2.

Mit dem gelungenen Nebeneinander von amerikanisch-arabischen Waffenstillstandsverhandlungen und israelischen Bombardements - einer ebenbürtigen Neuauflage des friedensnobelpreiswürdigen "Verhandlungsgeschicks" des seinerzeitigen Vietnam-Unterhändlers Kissinger, der immer das für den Verhandlungsfortschritt gerade erforderliche Quantum Bomben auf Hanoi abrufen konnte - kam eine Politik zu ihrem neuesten Erfolg, die die USA seit Beginn der von ihnen ins Werk gesetzten Kriegsgeschichte Israels mit bemerkenswerter Ausdauer und Rücksichtslosigkeit verfolgt haben.

Mit ihren massiven Hilfszahlungen, den direkten oder als Kredit verbrämten Schenkungen, einzigartigen Handelspräferenzen und den westdeutschen Wiedergutmachungsgeldern haben die USA und ihre NATO-Partner den israelischen Staat in Stand gesetzt, ohne ökonomische Rücksichten, ganz unabhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit seiner Gesellschaft, ganz für seine militärische Macht da zu sein - die verschlingt nach offiziellen Zahlen rechnerisch den aberwitzigen Anteil von rund einem Viertel des "Bruttosozialprodukts" der Nation! Mit der massenhaften Abgabe der jeweils fortschrittlichsten Waffen haben die USA den kriegerischen Erfolg dieser Militärmacht sichergestellt - keine Nation, noch nicht einmal die USA selbst, hat Strategie und Rüstung der westlichen Streitkräfte so ausgiebig praktisch erprobt. Das - unbestreitbare! - NATO-Interesse an einer Erprobung "freiheitlicher" Rüstungsgüter und Einsatzmethoden war aber ebensowenig wie die vorgebliche humanitäre Sorge um das weitere Schicksal der endlich zum Staatsvolk gewordenen Juden jemals der politische Grund und Zweck solcher "Großzügigkeit". Mit seinen ständigen erfolgreichen Kriegen hat Israel gegen die gesamte arabische Staatenwelt den andauernden praktischen Beweis geführt, daß amerikanische Unterstützung und "Freundschaft" einem Staat jede Freiheit gibt, umgekehrt die Gegnerschaft gegen die USA bzw. deren Verbündete einen Staat seine Machtmittel nach außen und insoweit

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seine Souveränität und weltpolitische Bedeutung kostet - vom Schaden für den nationalen Reichtum und von der Schädigung des betroffenen Volkes noch ganz abgesehen. Daß es für diesen harten Beweis zugunsten amerikanischer Oberhoheit einsteht, brauchten die nationalen Führer Israels noch nicht einmal zu wissen - tatsächlich wissen sie sehr genau darüber Bescheid und berufen sich sehr unbefangen und offensiv darauf, wenn es um Verhandlungen über die Höhe der US-Hilfe geht! -; und sie brauchen sich das vor allem überhaupt nicht zum nationalen Zweck zu setzen. Weil es ihren Staat mit seiner völkischen Ausschließlichkeit gegen das "Arabertum" ohne die machtvolle "Freundschaft" Amerikas und Westeuropas gar nicht gäbe, fällt dessen kriegerische Selbstbehauptung unmittelbar zusammen mit der Erfüllung des westlich-freiheitlichen Auftrags, den arabischen Staaten eine bedingungslose Geneigtheit für eine "Freundschaft" mit den imperialistischen Demokratien als die einzige Chance für nationale Macht und Bedeutsamkeit einzuprügeln und das Bemühen auszutreiben, als arabischer Block zu einem maßgeblichen Subjekt der Weltpolitik aus eigener autonomer Machtvollkommenheit zu werden und sich dafür auswärtige »Freunde" zu suchen.

So perfekt fällt beides ineins, so unbedingt ist auf die Dienlichkeit des israelischen Militarismus für den demokratischen Imperialismus Verlaß, daß die USA mit ihrer Diplomatie der nachträglichen Distanzierung von Israels Gewaltaktionen - die genauso alt ist wie ihre Unterstützung dafür! - noch eins draufsetzen und gewissermaßen eine "Erfolgskontrolle" in ihre Politik der gewaltsamen "Gewinnung" der arabischen "Freundschaft" einbauen können. Das wohlfeile Bedauern amerikanischer "Regierungskreise" oder gar des Präsidenten selbst über so viel "unnötiges Blutvergießen" ist nicht bloß eine auf den Moralismus demokratischer Öffentlichkeiten berechnete Heuchelei. Es ist zugleich ein unmißverständliches diplomatisches Signal an die betroffenen Staaten, daß bei den USA, und nur bei ihnen, allenfalls Schutz vor israelischer Übermacht und Rücksichtslosigkeit zu finden sei. Daß die USA es sind, die Israel seine Freiheit, sich gegen die ganze arabische Staatenwelt als kriegerisches Monstrum durchzusetzen, erst überhaupt verschaffen, ist ja ohnehin bekannt - und das ist der amerikanischen Regierung auch alles andere als peinlich. In einer imperialistisch geordneten Staatenwelt werden haltbare Bündnisse und "Freundschaften" nicht durch bewiesene Tugendhaftigkeit der Partner geschaffen, sondern durch das einzige glaubwürdige "Argument", über das ein Souverän verfügt: die je größere Gewalt, mit der er für andere - für seine Untertanen wie für fremde Herrschaften - seine Interessen als Überlebensbedingungen setzt. Das ist ja auch gerade die "Lektion", die die "freie Welt" durch Israel den arabischen Staaten erteilt: daß gegen ihre Beschlüsse nichts läuft auf der Welt und jeder Souverän gut daran tut, sich mit ihr ins Einvernehmen zu setzen, weil andernfalls seine Souveränität nichts wert ist. Die Kundgabe gewisser moralischer Vorbehalte gegen die Methoden, mit denen dabei zu Werk gegangen wird, ergänzt diese "Lektion" um den zweifachen Hinweis, daß erstens wirklich nur die Westmächte die Freiheiten einschränken können, die sie Israel verschaffen, auf ihr Votum also alles ankommt; und daß sie zweitens unter gewissen Voraussetzungen dazu auch bereit sind, sie also in letzter Instanz die Friedensbedingungen diktieren.

Wenn daher die Gegner Israels an Israels Financiers und Militärausstatter herantreten mit dem Gesuch, sie vor der israelischen Übermacht zu schützen: dann haben sie "ihre Lektion gelernt" und sich den vom Westen in die Welt gesetzten "Kräfteverhältnissen" unterworfen. Und sie sind so angekommen - nach jedem Waffengang vollzähliger und mit weniger Vorbehalten! Selbst am Ende des für die arabische Seite angeblich zunächst siegreichen ,Jom-Kippur-Krieges" vom Oktober 1973 wurde eine militärische Katastrophe für die ägyptischen und syrischen Streitkräfte nur dadurch abgewendet, daß die USA sich bereitfanden, einem Waffenstillstandsbeschluß der UNO Israel gegenüber Gewicht zu verleihen. Ägypten setzt seither nicht mehr auf das Endziel der Gleichrangigkeit arabischer Macht und auf die Sowjetunion als Garantiemacht für diese Perspektive, sondern auf amerikanische Obhut: Statt in Genf gemeinsam mit den anderen arabischen Staaten und der Sowjetunion weiterzuverhandeln, hat Präsident Sadat mit den "Camp David Vereinbarungen" eine Zukunft Ägyptens als US-Vasall eingeleitet. Und das mit bemerkenswerten Folgen, die an Israels Libanonfeldzug deutlich abzulesen sind. Mit Rückendeckung durch den Frieden mit

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Ägypten hat Israel dort einen Schlag von solcher Wucht geführt, daß der betroffene "Konfrontationsstaat" Syrien so gut wie keinen Widerstand gewagt hat; der arabischen Seite, allen voran der PLO, blieb keine Chance, außer der, auf die "Vermittlungsbemühungen" der USA zu setzen; sie mußte um den Erfolg des US-Unterhändlers Habib bangen und darum nachsuchen, daß seine Mission nicht abgebrochen wurde. Das Resultat sieht entsprechend aus: NATO- bzw. Quasi-NATO-Truppen aus Italien, Frankreich und den USA selbst kontrollieren Beirut sowie die Deportation der palästinensischen Kämpfer - und das läßt der Westen sich noch als Großzügigkeit und Hilfe danken und honorieren! Kein arabischer Staat leistet mehr Widerstand gegen das von Israel durchgefochtene "Prinzip", daß es dauerhaft respektierte Interessen arabischer Staaten, wenn überhaupt, dann allein in der strikten Unterordnung unter die USA gibt; und nach der "Bereinigung" der Lage im Libanon muß man es wohl als eine Frage der Zeit betrachten, bis auch die letzten "Konfrontationsstaaten" und - sofern es sie noch geben sollte - die PLO selbst sich positiv auf den Boden dieses Prinzips stellen und ihre - angestrebte - Teilnahme an der Weltpolitik auf ihre Dienstbarkeit für die "Sache der Freiheit" begründen.

3.

So benützt die freie Welt mit Erfolg den von ihr geschaffenen und unterhaltenen kriegerischen Judenstaat - für Vorhaben, die erheblich weiter reichen als Israels Probleme mit den von ihm vertriebenen oder beherrschten unbotmäßigen Palästinensern und mit den arabischen Staaten. Speziell die "Palästinenserfrage" nimmt sich vom Standpunkt der Schutzmächte Israels wesentlich zufälliger aus als vom völkischen Standpunkt des Judenstaats; das westliche Interesse an Israel als Ordnungsmacht schließt die Definition der organisierten Palästinenser als "Terroristen" nicht notwendigerweise ein, daher eine Anerkennung der PLO als völkerrechtliches Subjekt und das Zugeständnis eines "Heimatrechts" - was noch lange keinen eigenen Staat bedeutet —, beides selbstverständlich zu westlichfreiheitlichen Bedingungen, nicht unbedingt aus. Die westlichen Interessen haben eben nicht das "Existenzproblem" Israels, von dessen gewaltsamer Lösung sie ihren Nutzen haben. Ihr Interesse gilt einer unangefochtenen Weltherrschaft; und das erschöpft sich nicht in dem imperialistischen Anspruch, die arabischen Staaten an der Bildung eines respektablen aktionsfähigen Machtblocks zu hindern. Indem sie dafür sorgen, daß Israel seinen Nachbarn beständig kriegerisch zusetzt und sie in relativer Ohnmacht hält, zielen die engagierten großen Demokratien auf ihren sowjetischen Feind und dessen Bemühungen, wenigstens im Nahen Osten die Eröffnung einer weiteren Front gegen seine Sicherheit zu vermeiden und womöglich sogar seinerseits Verbündete und damit Sicherheitspositionen für sein "sozialistisches Lager" zu gewinnen. Daß es sich nicht lohnt, im Gegenteil existenzgefährdend ist für einen souveränen Staat (und immer wieder tödlich für einen Haufen Untertanen!), mit der Sowjetunion gemeinsame Sache zu machen, statt sich der Sache der Freiheit für eine Politik der Einzementierung des sowjetischen "Blocks" zur Verfügung zu stellen: das ist das entscheidende und maßgebliche imperialistische Prinzip, das Israel mit seinem nationalen "Existenzkampf" durchsetzen soll und um dessentwillen es sich durchsetzen darf.

4.

Der Widerstand der Sowjetunion gegen dieses planmäßige Niederbügeln ihrer arabischen Partner, ihr Einsatz für den Aulbau einer arabischen Großmacht hält sich seit jeher in engen Grenzen. Bekannt sind die bitteren Beschwerden des ägyptischen Präsidenten Sadat über mangelnde Unterstützung seines damaligen sowjetischen Partners bei der Vorbereitung und Durchführung des "Oktoberkrieges" 1973; gleichlautende Anklagen sind in allen israelisch-arabischen Kriegen erhoben - und von den westlichen Freunden Israels begierig als Beweis für die "sowjetische Unzuverlässigkeit" kolportiert worden, ganz unbefangen neben der Beschimpfung der Sowjetunion als Kriegstreiber und Ausstatter für arabische "Terroristen" und "Aggressoren". Die PLO und etliche ihrer "Schutzmächte" machen ihrem sowjetischen Waffenlieferanten immer wieder einmal zum Vorwurf, daß er mit seiner Zustimmung zum Teilungsbeschluß der UNO über Palästina die

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Gründung des Staates Israel ermöglicht, den neuen Staat sehr bald anerkannt hat und sich beharrlich weigert, ihm prinzipiell ein Existenzrecht abzusprechen. Nun braucht man überhaupt nicht zu unterstellen, in der Weltpolitik hätten die regierenden Sowjets ihr Herz für die Juden entdeckt: Tatsache ist, daß sie ihre Parteinahme für die "arabische Sache" nie bis zu dem Punkt getrieben haben und auch nicht haben treiben wollen, daß sie die arabischen "Konfrontationsstaaten" zu einem Sieg über Israel befähigt hätten. Wie im Falle Chinas, Vietnams, afrikanischer und südamerikanischer Befreiungsbewegungen, so hat die Sowjetunion auch ihre Unterstützung des arabischen Antiimperialismus immer an dem eigentümlich widersprüchlichen Hauptziel ihrer Weltpolitik bemessen, den westlichen Gegner zu einem Mindestmaß an Einverständnis, zur Aufgabe seiner Kampfansage gegen das "sozialistische Lager" und einer Politik der "Koexistenz", zu zwingen. Die Chance, durch Solidarität mit der arabischen Israelfeindschaft Positionen gegen den Westen zu gewinnen und seine Weltherrschaft zu konterkarieren oder wenigstens einzuschränken, hat die Sowjetunion mit Nachdruck ergriffen - aber nicht, um daraus einen Sieg zu machen. Sie wollte dem Westen genau so viele Schwierigkeiten bereiten, daß der sich gezwungen sehen sollte, ihren Anspruch auf Allzuständigkeit für die Affären der Weltpolitik und damit sie selbst anzuerkennen; von allen beteiligten Parteien war sie wahrscheinlich die einzige, der es - aus eben diesem Grund! - völlig ernst war mit den "Genfer Verhandlungen" um eine "Friedenslösung" für den Nahen Osten. Irgendein Erfolg ist dieser Politik nicht zu bescheinigen. Ihre imperialistischen Gegner hat die Sowjetunion sich dadurch nicht geneigt gemacht: Die Macht, die sie entfaltet hat, war und ist zu gering, um die demokratischen Super- und "Mittelmächte" der "freien Welt" zu irgendetwas zu zwingen, und groß genug, um der westlichen Konfrontationspolitik Anlässe und Betätigungsfelder ("offene Flanken") zu bieten - und sogar moralische Vorwände nach Wunsch; ihre Zurückhaltung, sogar die Zügelung ihrer Verbündeten, wurde und wird ihr deswegen noch nicht einmal moralisch honoriert und politisch sowieso nicht, denn so etwas ist in der Welt des Imperialismus ein für allemal kein respektables "Argument". Aus eben diesem Grund mußten und müssen ihr auch die paar Machtpositionen verlorengehen, die sie sich im arabischen Raum aufgebaut und so vorbehaltvoll genutzt hat. Im Vergleich mit den Freiheiten, die Israel aus seiner Benutzung durch die "freie Welt" ziehen konnte und kann, muß ja die Brüderschaft zwischen dem sowjetischen und dem arabischen "Antiimperialismus" als eine matte, für die mit solcher Partnerschaft beglückten Souveräne wenig lohnende Angelegenheit erscheinen - schließlich war dieser Vergleich ja nie ein theoretischer, sondern wird ständig mit Waffen ausgetragen. Der arabische Nationalismus, der der Sowjetunion manche orientalische Verbündete eingebracht hat, ist von ihr nicht erfolgreich genug gepflegt worden - darüber ist die sowjetisch-arabische "Freundschaft" in die Brüche gegangen und inzwischen in allgemeiner Auflösung begriffen.

5.

Auch hier haben die Resultate des israelischen Libanonkrieges einen vorläufigen Höhe- und Endpunkt gesetzt. Für den Westen war der erste entscheidende Erfolg, der Übergang Ägyptens ins "westliche Lager", ja keineswegs ein Grund, es genug sein zu lassen und der Sowjetunion ihre geschrumpfte "Einflußsphäre" nunmehr zuzugestehen. In der Welt des Imperialismus geht es genau andersherum zu. Dieser Erfolg ließ eine Endlösung aller Nahost-Fragen im Sinne westlicher (Unter-)Ordnungsvorstellungen zu; und an die hat Israel sich mit seiner Endlösung des Palästinenserproblems herangemacht. Das ist ja das für den Westen und seinen Moralismus so Bequeme an seinen Gewaltgeschäften im Orient: daß da der Partner Israel aus seinem offensiven Selbsterhaltungsinteresse heraus für die Perfektionierung seiner Übermacht und damit für die Ausdehnung und Befestigung der Weltherrschaft seiner Schutzmächte in dieser Region sorgt - womöglich noch über das von diesen selbst schon auf die Tagesordnung gesetzte Maß hinaus! So hat Israels gewalttätiger Zugriff auf den Libanon zu dem bemerkenswerten Ergebnis geführt, daß die Sowjetunion fast schon offiziell von ihren Ansprüchen auf Mitentscheidung Abschied nimmt. Ihr letzter westlicher Verbündeter, Syrien, hat "versagt", d. h. war der Wucht der israelischen Kriegsmaschinerie nicht gewachsen; also hat sie als Schutzmacht der letzten Israel-Gegner "versagt", nämlich nichts mehr zu sagen über die Geschicke der Region. Auf die Gefährdung der

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eigenen Südwestgrenze hat Sowjetpräsident Breschnew verwiesen, um der Aufforderung an Israel, seinen Krieg zu begrenzen, Nachdruck zu verleihen - ein Argument, das nicht einmal mehr entfernt an Weltmachtambitionen erinnert: man stelle sich nur vor, die USA wollten ihr Engagement in der arabischen Region auf dermaßen defensive Interessen begründen! Und nicht einmal auf Grundlage dieser unmittelbaren eigenen Betroffenheit durch Israels Vorgehen hat die Sowjetunion sich mit einer Drohung vorgewagt - es hätte ja nicht einmal eine von dem Kaliber zu sein brauchen, die der amerikanische Präsident und seine Kollegen wöchentlich bezüglich Polens der sowjetischen Regierung zukommen lassen! Wie um ihre Machtlosigkeit zu unterstreichen, hat sie die US-Regierung aufgefordert, dem israelischen Treiben in Beirut Schranken zu setzen! Deutlicher läßt sich die Unterwerfung unter den schrankenlosen Zuständigkeitsanspruch der USA gar nicht mehr ausdrücken.

So spielt sich also, "traditionsgemäß" besonders blutig, auch im Nahen Osten das "Ende der Entspannung" ab, das bereits Präsident Carter eingeleitet und sein Nachfolger zum Hauptinhalt seiner Amtszeit gemacht hat. Wie überall, so wird auch in der arabischen Welt aus den Erfolgen der "Entspannungsära", hier: der Umdrehung Ägyptens und dem weiteren Anwachsen der israelischen Übermacht, eine Kritik ihrer Verfahrensweisen verfertigt, nämlich der einvernehmlichen Form des westlichen Umgangs mit der Sowjetunion. Und deren Aufkündigung bedeutet ja keineswegs bloß einen geänderten "Tonfall" der westlichen Weltpolitik, sondern einen fortgeschritteneren weltherrschaftlichen Anspruch. Einflußsphären der Sowjetunion werden als nicht tolerierbare Übergriffe definiert; sie werden nicht mehr formell zugestanden, um sie tatsächlich zu einer ständigen Last für ihre Schutzmacht auszugestalten, sondern dem Gegner offiziell bestritten. Fast so, als wäre die weltweite Front gegen die Sowjetunion schon eröffnet, werden die Souveräne der gesamten Staatenwelt mit einer neuen amerikanischen Unduldsamkeit gegen alles konfrontiert, was wie ein Entgegenkommen gegenüber dem erklärten Feind und Weltbösewicht aussieht. Und das gibt für die Politik mancher Staaten eine ungemein vorteilhafte Geschäftsgrundlage her. Mit seinem Libanon-Feldzug ist Israel der schlagkräftigste Konjunkturritter dieser neuen weltpolitischen Linie radikaler Sortierung der Staatenwelt nach Freund und Feind. Wie schon immer in seiner Kriegsgeschichte, so reizt dieser Staat auch jetzt wieder die Chancen aus, die das neue amerikanische Interesse an "klaren Verhältnissen" ihm bietet - und setzt eben damit dieses amerikanische Interesse ein Stück weiter durch. Zug um Zug wird die Region von störenden Zwistigkeiten und alten Sowjetpositionen bereinigt und für die Aufgabe zubereitet, die die imperialistischen Nationen ihr zudiktiert haben.

Denn daß es dort um den "Schutz lebenswichtiger Interessen des Westens" geht, des Interesses am öl nämlich: dieser schöne Zusammenhang, demzufolge die ökonomische Ausnutzung einer ganzen Region eine fraglose politische und militärische Zuständigkeit für sie begründet, ist längst strategisch ausbuchstabiert. Zu seinem "Schutz" muß dieses Gebiet in einem Maße aufgerüstet werden, daß es eine ganz eigenständige Bedrohung der Südwestflanke der Sowjetunion darstellt - auch hier gilt die "Logik" von der "Nachrüstung zwecks Gleichgewicht". Und diese Aufgabe geht ersichtlich über die militärische Leistungsfähigkeit selbst eines Staates wie Israel hinaus. Als Aufmarschplatz gegen die Sowjetunion ist der gesamte Nahe Osten gerade groß genug - ihn dazu bereit zu machen, das ist der imperialistische Endzweck der neuesten israelischen Kriegspolitik.

Und deswegen fängt mit derartigen "lokalen Konflikten" auch irgendwann die große Endabrechnung selber an, die so vorbereitet wird.

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Das bundesdeutsche Verhältnis zu Israel

Der Wille, eine fremde Herrschaft zum eigenen Vorteil zu benutzen, indem man sie den Interessen der Unternehmer und der Strategen der eigenen Nation geneigt macht, ist Grundlage und Ausgangspunkt aller politischen Beziehungen, die ein moderner Staat zu anderen Staaten eingeht. Nicht ganz so im Verhältnis der BRD zu Israel. Während sonst die Ideologie der Völkerfreundschaft die Konjunkturen des diplomatischen Geschäfts begleitet, wollen die bundesdeutsch-israelischen Beziehungen nach den moralischen Prinzipien von Schuld und Sühne verstanden sein. Und tatsächlich wurden sie 1953 eröffnet mit einer "Großzügigkeit" der BRD, wie sie sonst nur von Siegermächten dem Verlierer aufgezwungen wird und auch die Westalliierten der BRD auferlegt haben: mit einem Versprechen von "Wiedergutmachungszahlungen" an Überlebende und Hinterbliebene des nazistischen Völkermords an den Juden sowie direkt an den Staat Israel; einem vertraglichen Versprechen, das zur Überraschung insbesondere der israelischen Partner auch tatsächlich eingelöst wurde, mit ca. 10 Milliarden Mark für Israels Devisenkonten im Laufe von 10 Jahren. Ein eindrucksvoller Triumph der Moral in der harten Welt der Konkurrenz der Staaten - dessen Grundlage und dessen außenpolitischer Zweck allerdings wenig Moralisches an sich haben.

l.

Daß die bundesdeutsche Regierung sich überhaupt zu "Wiedergutmachungs"zahlungen an viele Opfer des Nazi-Terrors und deren Familien entschlossen und ihrem Volk auch diesen Posten noch auferlegt hat, fällt durchaus nicht zusammen mit einer Großherzigkeit derart, daß all denen ein gutes Leben bereitet werden soll, die es im ,,3. Reich" besonders schwer gehabt haben. Dem widerspricht schon die Berechnungsgrundlage der gesamten .Aktion. Da wurde (und wird) im wahrsten Sinne des Wortes ein Entgelt gezahlt: für widerrechtlich eingezogenes Vermögen an die, die derartiges nachweisen konnten, an alle anderen für entgangenes oder geschmälertes (Fa-milien-)Einkommen infolge widerrechtlicher Haft, Verstümmelung oder Tod des ansonsten zum Geldverdienen befähigten "Haushaltsvorstandes". "Wiedergutgemacht" werden sollte und wurde damit ein im Nachhinein als unrechtlich beurteilter staatlicher Eingriff in die bürgerliche Existenz geschädigter Untertanen: in ihr Eigentum bzw. in ihre freie Verfügung über sich selbst als Einkommensquelle. Die gesamte Aktion enthielt so eine an brutaler Deutlichkeit nicht zu überbietende Klarstellung darüber, was der demokratische Rechtsstaat seinen Leuten als "Schutz des Lebens" und ihrer "Freiheit" gewährt und gewährleistet: das unveräußerliche Menschenrecht, sich nützlich zu machen und dafür je nach den Konjunkturen der Nutzbarmachung des nationalen Menschenmaterials ein Geld zu bekommen. Für die moralisch geschulten Fanatiker beider Seiten gab diese schnöde Aufrechnung von Menschen in Geld denn auch einen schönen Anlaß zur Empörung: den einen darüber, daß überhaupt gefeilscht, den anderen darüber, daß überhaupt gezahlt wurde. Doch war diese heuchlerische Erschütterung leicht abzuschmettern mit der ebenso moralischen offiziellen Unterscheidung zwischen der historischen und moralischen Schuld, die selbstverständlich unbezifferbar und unauslöschlich sei, und den quasi-hausväterlichen Pflichten der Staatsgewalt gegenüber ihren unschuldigen Opfern. Und irgendwie ging es um das letztere ja in der Tat: nicht gerade um die Ideologie staatlicher Fürsorge, wohl aber um den Widerruf und die Korrektur jenes antibürgerlichen Verhältnisses der faschistischen Staatsgewalt zu ihren Untertanen, das nicht auf die. zweckmäßige Einrichtung von Konkurrenz, Lohnarbeit und aller sonstigen Bestandteile einer bürgerlichen Existenz zielte, sondern auf die Vernichtung der bürgerlichen Existenz angeblicher "Volksfeinde", die sich in Wirklichkeit gar keine Staats-eeenerschaft hatten zuschulden kommen lassen. Als bürgerlicher Staat, als die zweckmäßige politische Gewalt einer auf Effizienz und sonst nichts festgelegten Konkurrenz, ohne alle faschistischen Abwege und Übertreibungen, hat die BRD sich mit ihren "Wiedergutmachungs"zahlungen praktisch "wieder"-hergestellt.

2.

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Dabei lag von Anfang an die entscheidende Betonung auf dem "Wieder". Denn sehr zielstrebig wollte die BRD in die, und zwar in die exklusive, Rechtsnachfolge des untergegangenen deutschen Reiches eintreten. Die moralischen Unkosten, die sie sich mit diesem Anspruch auf Kontinuität mit dem Nazi-Staat einhandelte, waren gerade das rechte politische Instrument, um diesem Anspruch Gewicht zu verleihen, und eben nicht bloß ein moralisches. Mit dem materiellen Opfer, das die Bundesregierung ihrem Volk zugunsten dieses Anspruchs zumutete und an Nazi-Opfer auszahlte, wurde die "rechtliche Nachfolge" zum politischen Faktum. Und zwar nicht für die eigenen Untertanen - die brauchten allenfalls ein paar harte Anhaltspunkte dafür, daß es jetzt, in der BRD, pur klassengesellschaftlich und nicht "volksgemeinschaftlich" weitergehen sollte, aber nie und nimmer dazu, um ihre Herrschaft in ihrem politischen Anspruch auf das Erbe der ungeteilten und ganzen reichsdeutschen Souveränität zu unterstützen. Durch den ,,Wiedergutmachungs"-Vertrag mit Israel, das erste von der eigenen Regierung ausgehende internationale Vertragswerk der BRD, wurde ihr imperialistischer Anspruch, allein ganz Deutschland zu vertreten, zu einem international beachtlichen Faktum. Unter dem moralisch völlig unanfechtbaren, diplomatisch gut verwendbaren Obertitel einer durch tätige Reue bewerkstelligten "Rückkehr in die Familie der zivilisierten Völker" machten die Regierungen der BRD so ihre Politik der Negation der DDR, des "Offenhaltens der nationalen Frage" gegen die Sicherheitsinteressen des Sowjetblocks, ein gutes Stück weit international respektabel.

3.

Für diesen Zweck war Israel als Empfänger von bundesdeutschen Subventionszahlungen - teils über ihn, teils direkt an ihn als den legitimen Sachwalter der Entschädigungsansprüche aller überlebenden, aller hinterbliebenen und sogar aller ohne Nachkommen ausgerotteten Juden - ganz extra gut geeignet. Es wäre ja in der Tat recht widersprüchlich gewesen, hätte die Bundesregierung dieses Prinzip auch anderen Nazi-Opfern und ihren politischen Organen gegenüber wahrgemacht und beispielsweise die sowjetische oder gar die deutsche Kommunistische Partei für all die Einbußen entschädigt, die ihre Mitglieder um ihrer Mitgliedschaft willen erlitten haben. Da hätte sie ja glatt den Gegner subventioniert, gegen den ihr Alleinvertretungsanspruch zielte, dem sie mit der internationalen Abgeltung von Schuldforderungen an das besiegte Nazi-Reich gerade Gewicht verleihen wollte. Mit Israel kam umgekehrt ein Staat in den Genuß bundesdeutscher Hilfe, der bereits seine bloße Existenz dem Interesse der westlichen Mächte an ihm verdankte und der als auf westliche Unterstützung bleibend angewiesener nahöstlicher Vorposten eine Sicherheit auf alle Fälle versprach, nämlich ein antikommunistisches Bollwerk zu sein. So gesehen waren die "Wiedergutmachungs"gelder keineswegs "verschenkt", sondern gut angelegt - und fanden und finden ihre sachgerechte Fortsetzung, gerade seit es der BRD gar nicht mehr bloß um nationale Ansprüche wie den auf "Alleinvertretung Deutschlands" und "Wiedervereinigung", sondern um weltweiten imperialistischen Einfluß geht, in der Unterstützung Israels durch so gut wie verschenkte Kredite und diskrete Waffengeschenke. Gemeinsam mit seinen westeuropäischen Partnern und mit dem - und in gemäßigter Konkurrenz zu dem - amerikanischen profitiert der neue bundesdeutsche Imperialismus in der Weise von der Stärke Israels, die er mitfinanziert, daß er die Niederlagen der arabischen Gegner Israels zur Geschäftsgrundlage seiner "hilfreichen" Beziehungen zu ihnen macht. Der kriegerische Radikalismus Israels verschafft mit seinen Erfolgen den imperialistischen Staaten - den europäischen in einer stets kontrollierten Distanz und Konkurrenz zu den USA - die angenehme Position des "Vermittlers", also des maßgeblichen Arrangeurs der politischen Verhältnisse, die mit der gesamtarabischen Zustimmung zu einer internationalen "Schutztruppe" aus italienischen, französischen und amerikanischen Soldaten für die aus Beirut abziehenden Palästinenser bloß einen besonders sinnfälligen Ausdruck bekommen hat. Weil für sie an Israel nun einmal endgültig kein Weg vorbeiführt, steigen die arabischen Staaten auf die politischen "Friedens"- und sonstigen "Angebote" der Schutzmächte Israels um so lieber ein,je mehr diplomatisch ausnutzbare Distanz Israel mit seinem radikalen Nationalismus zwischen sich und seine Financiers und Kriegsaus-statter legt. Auf Grundlage der israelischen Siege haben EG

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und NATO aus dem Mittelmeer ihren Binnensee gemacht - und als Geldgeber, Waffenlieferant und Profiteur dieser "Entwicklung" hat der bundesdeutsche Imperialismus mitgesiegt.

4.

Und das hat er zuwege gebracht mit dem besten Gewissen von der Welt, an dem seine einheimischen Untertanen, die Bundesbürger, als ideellem Lohn für ihre nationale Dienstbereitschaft seit jeher in vollen Zügen teilhaben dürfen. Das schlechte Gewissen, mit dem das neue bundesdeutsche Staatsvolk die "Erbschaft" des "3. Reiches" antreten sollte, ist seit jeher das Gütesiegel des neuen bundesdeutschen Nationalgefühls; denn das hat damit ja schon - ohne eine Spur gescheiter Faschismus-, geschweige denn Selbstkritik - den schlagenden Beweis für seine totale Andersartigkeit und damit für seine moralische Unanfechtbarkeit geliefert. Die Judenmorde der Nazis sind so zur besten moralischen Stütze jenes Nationalismus mit Bescheidenheit geworden, mit dem die BRD ihre Selbstdarstellung, der angemessen politisierte Bundesbürger sein Verständnis der BRD als notorisches weltpolitisches Unschuldslamm pflegt, das mit Judenmord und Weltkrieg überhaupt jede moralisch anfechtbare Verwicklung in die imperialistischen Welthändel hinter sich gelassen hätte.

Dieses extragute bundesdeutsche Nationalgewissen hat zwar seinen Preis: den in Antisemitismus erzogenen deutschen Patrioten ist seither die übliche nationale Arroganz gegenüber dem Rest der Welt in einer Richtung verboten, nämlich gegenüber den Juden. Der jedem guten - im Unterschied zu den anderen, schlechten - Deutschen damit als Gewissenspflicht auferlegte, entsprechend geheuchelte "Philosemitismus" kam und kommt genau soweit auch dem Staat der Juden zugute, wie dessen kriegerische Machenschaften der "Sache der Freiheit" nützen. Genau insoweit soll zwischen dem israelischen Staat und seinem Judenvolk nicht der geringste Zwiespalt zu entdecken sein. Und damit kam die pflichtgemäße Judenliebe doch immerhin ein wenig auf ihre Kosten: Für keinen siegreichen Krieg durfte der verbotene bundesdeutsche Militarismus sich so bedenkenlos begeistern wie für den des Staates Israel, dem das "harte Schicksal" seiner Untertanen in den Augen einer in der Sache letztlich einigen demokratischen Öffentlichkeit das moralische Recht zu schlechterdings jeder Brutalität verlieh. Die Distanz zu Israels Sonderimperialismus, die die bundesdeutsche Nahost-Politik nicht erst, aber erst recht seit Israels Libanon-Feldzug einhält, hebt umgekehrt den moralisch umgedrehten Antisemitismus der bundesdeutschen Nationalideologie nicht auf. Jetzt gilt es allenfalls als erlaubt, zwischen Volk und Führung zu differenzieren, so wie eine nationalbewußte imperialistische Weltbetrachtung es sich nach Bedarf bei nützlichen Gegnern und konkurrierenden Verbündeten allemal erlaubt. Um so mehr ist jedoch jede Kritik von bundesdeutscher Seite an Begin und Co. darauf bedacht, sich wiederum auf Volksjuden berufen zu können, die mit diesen Herrschaften nicht einverstanden sind. Daß der Judenstaat samt seinem Volk ein imperialistisches Machwerk ist, diese Einsicht hat noch allemal die ganze moralische Wucht des offiziellen Philosemitismus gegen sich - womit nicht nur und nicht einmal so sehr dieser Staat jeder Kritik moralisch enthoben ist, sondern vor allem der imperialistische Daseinszweck dieses Staates selbst, an dem die BRD als Investor wie als Nutznießer so bedeutenden Anteil hat.

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Die bundesdeutsche Öffentlichkeit: Nationaldemokratische Anteilnahme an einem nützlichen Krieg

Das war einmal eine schöne Aufgabe für die bundesdeutschen Zeitungsmacher und Fernsehfritzen. Gleich zwei Kriege wollten im Sommer '82 recht vermittelt und gedeutet sein. Kriege, die von besten Verbündeten der Nation angezettelt und gewonnen wurden - eine traumhafte Konstellation für die Betätigung der drei journalistischen Haupttugenden Moral, Problembewußtsein und Sachverstand.

l.

Die Selbstgerechtigkeit der verbündeten Regierung bot die unangefochtene moralische Grundlage jeder Begutachtung des Geschehens. "Aggression must not pay!" - an diesem tugendhaften Grundsatz weltweit durchgesetzter imperialistischer ,,Ordnungs"-Gewalt, in dessen Namen die britische Oberbefehlshaberin ihrer Flotte militärisches Durchgreifen befahl, konnte und wollte kein westdeutscher Kommentator vorbeigehen. Er wurde mit einer prinzipiellen Parteinahme für Großbritanniens Kriegszweck honoriert. Ob deswegen gleich ein Krieg "sein mußte"; ob es nicht preiswertere Möglichkeiten gegeben hätte, Argentinien in seine imperialistischen Schranken zu verweisen; ob Großbritannien über seinen ehrenwerten, vom deutschen Standpunkt aus aber reichlich nebensächlichen Rechtsanspruch auf die Falklands nicht seine viel gewichtigeren NATO-Pflichten vernachlässigte; ob Englands Krieg nicht am Ende die treuen Verbündeten belasten müßte: So beschaffen waren die scharfsichtigen Bedenklichkeiten, die der bundesdeutsche Journalismus sich im Rahmen seiner europäischen Solidaritätspflichten allenfalls herausnehmen mochte. Schließlich war es ein teurer Krieg, aber gar nicht der gegen den Hauptfeind - da mußte ja die Befürchtung laut werden, das »Sterben für Port Stanley" könnte, wie gerecht auch immer, doch unter den höheren Gesichtspunkten des NATO-Imperialismus in seiner westdeutschen Lesart per saldo ausgesprochen "sinnlos" sein.

Nach haargenau demselben Muster wurde der Libanonkrieg Israels publizistisch verarbeitet - was ohne ein paar Widersprüche im einzelnen, beispielsweise die ehernen Grundsätze des Völkerrechts betreffend, die der israelischen Armee kaum so zugutegehalten werden konnten wie der britischen Flotte, nicht abging; aber so viel "Flexibilität" bringt ein nachdenklicher westdeutscher Weltbeobachter allemal mit.

Prinzipielle Einigkeit herrschte zunächst einmal hinsichtlich des Kriegszwecks, den die hiesige Öffentlichkeit dem Kriegsgeschehen und seiner offiziellen Interpretation durch die israelische Regierung entnahm und an dessen Unanfechtbarkeit sie um so entschlossener glaubte, je blutiger sich seine Verwirklichung gestaltete. Zwar war allgemein bekannt und wurde auch überhaupt nicht verschwiegen, daß die in Jerusalem ausgegebenen Begründungen für die unaufschiebbare Notwendigkeit des Krieges gegen die Palästinenser nichts als Vorwände und selbstgerechte Sprachregelungen waren: Ohne souveränen israelischen Entschluß, mit den Flüchtlingen in seinem nördlichen Nachbarland ein für allemal aufzuräumen, gibt weder - wie man eine Zeitlang glauben sollte - ein Attentat auf einen israelischen Diplomaten in London, von dem die PLO sich zudem gleich distanziert hatte, einen Kriegsanlaß her, noch war - wie die Parole "Frieden für Galiläa" glauben machen wollte - Israels Nordprovinz in Gefahr: Die israelischen Bombenangriffe auf ihre Lager im Libanon hatten die Palästinenser kaum noch mit gelegentlichen Artillerieschüssen beantwortet. Dies zu wissen, war für bundesdeutsche Kommentatoren aber überhaupt kein Grund, das "israelische Sicherheitsbedürfnis" nicht mehr als guten oder doch zumindest plausiblen Grund für Israels Feldzug gelten zu lassen; es war ihnen allenfalls Anlaß, ihre eigene Parteinahme dafür methodisch zu formulieren, d. h. als eine Einstellung, die man auch wider besseres Wissen nicht verweigern konnte:

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"An die 40 km Pufferzone im Libanon hätten die Europäer, und namentlich die Deutschen, den Israelis aus schlechtem Gewissen noch gutgebracht." -

und nicht nur die, wie der "Spiegel" selbst sogleich mit seinem einfühlsamen Verständnis dafür bezeugt, daß Israel sich an diese hypothetische Konzession des Gewissenswurms Augstein nicht gehalten hat:

"Doch der knapp 40 km breite Sicherheitskordon, auf den sich der Waffengang nach heeresamtlicher Mitteilung beschränken sollte, war schnell durcheilt ... Wichtiger noch: Die strategisch wichtige Landstraße zwischen Beirut und Damaskus ... lag im Bereich israelischer Artillerie. Solche Chancen läßt ein Kriegsherr ungern ungenutzt." -

was der "Spiegel" ihm genauso wenig verdenken mag wie die "Süddeutsche", die in allerlei günstigen Umständen des israelischen Feldzugs - Reagan in Europa, Golf-Krieg, Spannungen zwischen Irak und Syrien, die Weltöffentlichkeit durch die Fußball-WM beschäftigt! - gute Gründe dafür entdeckte, ihn gerade zum gewählten Zeitpunkt anzusetzen; gerade so, als wüßten die Schreiber dieses Weltblatts nicht sonst lässig zwischen Gelegenheit und Berechtigung zu unterscheiden!

Noch von den "kritischsten" Kommentatoren wurde Israel zugestanden, was die imperialistische Moral der "freien Welt" sonst niemandem zugesteht - dem Feind sowieso nicht; sich selber nicht, weil (und solange!) sie dieses Mittel dank einer wohlarrangierten Weltordnung nicht braucht; ihren Vasallen sonst nicht, sofern die das schöne Arrangement stören könnten -: Eroberung aus Sicherheitsinteressen. Und auch der noch viel weiterreichende israelische Anspruch, gleich ganz und gar für "geordnete Verhältnisse" in seinem Nachbarland, ja für die Souveränität selbst des libanesischen Staates zuständig zu sein und diese Zuständigkeit gewaltsam vollstrecken zu "müssen", fand eine jenseits aller Differenzen einhellig wohlwollende Würdigung. Mit der "Diagnose": "Chaos", "Ruin" und "bürgerkriegsähnliche Zustände im Libanon" war ganz im Sinne des israelischen Oberkommandos eine eindeutige Invasionsbedürftigkeit des Landes abgeleitet; der israelische Einmarsch galt als Aktion zur "Stabilisierung des Libanon". Als wäre "Stabilität", dieser vornehme Methodenbegriff politischer Herrschaft, getrennt von jedem Inhalt und der Frage des Personals der Herrschaft für irgendeine politische Partei, und gar für eine Bürgerkriegsfraktion, ein respektabler Zweck! In Wahrheit ist "Stabilität" nichts als der formale Ehrentitel desjenigen streitenden Interesses, das sich gegen die anderen durchsetzen und unangefochten behaupten soll; für Israel bestand die beklagte "Instabilität im Libanon" in nichts als der relativen Bewegungsfreiheit der PLO. Auch dieser Klartext wurde der bundesdeutschen Öffentlichkeit von Fernsehen und Presse vorgelesen - aber nicht etwa, um Israels angebliche Selbstlosigkeit bei der "Befriedung" des Libanon zu blamieren, sondern um die "Chaoten" namhaft zu machen, die den Libanon ruiniert hätten, also keine Zweifel in der Schuldfrage aufkommen zu lassen:

"Bewaffnete Palästinenser im Libanon hätten nie geduldet werden dürfen"; deswegen ist "gegenwärtig für den Frieden die Wiederherstellung eines stabilen Libanon noch wichtiger als das Schicksal der Palästinenser. " (Frankfurter Allgemeine)

2.

Immerhin hat der journalistische Sachverstand der Republik sich nur ausnahmsweise - nämlich soweit er auf Axel Springers Gehaltslisten steht - ganz umstandslos auf den Standpunkt der Selbstgerechtigkeit der israelischen Kabinetts- und OKW-Beschlüsse gestellt, wonach das "Palästinenserproblem" im Libanon "ausgemerzt" gehört. Er hat sich Umstände gemacht und Israels Vernichtungsfeldzug auf ein angeblich vorgegebenes "Problem" bezogen, für dessen "Lösung" die Regierung sich ihr Militär hätte einfallen lassen.

Dieses "Problem" sollen erstens die von Israel heimatlos gemachten Palästinenser sein - und deren Deutung als Israels Problem ist das gerade Gegenteil einer Klarstellung der Tatsache, daß Israel

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selbst die Palästinenser überhaupt erst zu einer "Frage" gemacht hat und deren Inhalt sehr souverän definiert, ganz unabhängig jedenfalls von den politischen Reaktionen der Palästinenser, die von ihrer alten Hoffnung, die Zionisten eines Tages ,4ns Meer zu werfen", schon längst Abstand genommen haben. Israels völkische Exklusivität, seine Funktion als westlicher Vorposten und die leichenträchtigen Erfolge der entsprechenden Politik werden gerade unigekehrt als Dilemma interpretiert, in das Israel samt Politik und Militär verstrickt wäre; jede Gewaltaktion liefert einen neuen Beweis für die Tragik der Konstellation:

" Wenn die PLO-Palästinenser dem Judenstaat das Lebensrecht bestreiten, tun die Israelis nicht ähnliches?" (Spiegel). "Die Palästinenserfrage scheint unlösbar ... Es sieht so aus, als hätte Israel sein Lebensrecht gesichert, indem es das eines anderen Volkes vernichtet." (Stern)

Daß sich der israelische Staat durch die Vertreibung und Dezimierung der ortsansässigen Araber etabliert und damit Feinde geschaffen hat, gegen die er sein "Lebensrecht" durch Fortführung seiner Gründungspraktiken in immer größerem Maßstab "sichern muß", erscheint so als Schwierigkeit, Araber und Juden zwischen Mittelmeer und Jordan neben- und miteinander leben zu lassen. Daß Völker sich bloß deswegen nicht vertragen, weil sie einer ausschließlichen Gewalt über sich folgen, die sie für ihre Durchsetzung und fortdauernde Selbstbehauptung antreten läßt, das wird da gar nicht einmal geleugnet. So geläufig und selbstverständlich ist deutschen Journalisten die "Verwechslung" von Staatsgewalt und Bevölkerung, daß sie glatt die Expansion Israels für das elementare "Lebensrecht" des Menschenmaterials dieser Nation nehmen und jeden Unterschied zur Not der Palästinenser und ihrer Gegenwehr durchstreichen, die ihnen für die Konstruktion eines Dilemmas hier auch gleich noch zusammenfallen mit der Politik, die die PLO-Führer damit machen. Zwei Menschensorten können da angeblich nicht übereinkommen, einander in Ruhe leben zu lassen - eine Ideologie, die zu den schönsten pessimistischen Geschichtsbetrachtungen Anlaß gibt und sich schon gar nicht dadurch beirren läßt, daß schließlich Staatschef Begin sein Volk im Libanon mit etlichen hundert eigenen Toten und einigen tausend Krüppeln für sein "Lebensrecht" hat einstehen lassen (soviele Opfer hätte der Zustand, dem die Aktion "Friede für Galiläa" ein Ende gemacht hat, die Israelis in Jahrzehnten nicht gekostet!). In dem Hauptpunkt ihrer Interpretation, darin nämlich, die betroffenen Völkerschaften durch die Interessen und Taten ihrer Politiker gleich vollständig definiert zu sehen, unterscheiden diese "problembewußten" Dilemmatiker der israelischen Kriege sich im übrigen gar nicht von ihren rechten Journalistenkollegen, die ihre offensive Parteinahme für Israels Vernichtungsfeldzug damit begründen, daß es sich bei den politischen Führern der Palästinenser ja noch nicht einmal um die Repräsentanten eines anerkannten Staatswesens handelt, ihr Anspruch auf staatliche Gewalt also als Terror zu gelten hat - und folglich ihr "Volk" als ein einziges großes Terroristennest. Wer einem Volk den ihm auferlegten politischen Gehorsam als sein Lebensrecht zuschreibt, der findet es eben auch allemal in Ordnung, die Leute für die Taten derer, die sich dieses Gehorsams bedienen, haftbar zu machen - was keine theoretische, sondern allemal eine sehr blutige Angelegenheit ist!

Abgesehen von den Terrorspezialisten der westdeutschen Journaille hat man sich hierzulande also Israels Kriegsgründe als ziemlich ausweglose "Problemlage" vorzustellen beliebt; und unter diese Deutung wurden nicht bloß die Palästinenser subsumiert. Mit seinen Feldzügen geht Israel schließlich immer gegen die Machtmittel seiner souveränen Nachbarn vor, kündigt also kriegerisch den Respekt vor ihrer staatlichen Selbständigkeit auf; doch auch das weiß ein wohlgesonnener Sachverstand sehr "überparteilich" zu besprechen. Die völkerrechtlich-moralischen Gesichtspunkte, die noch wenige Wochen zuvor bloß zitiert zu werden brauchten, um Argentinien mit seinem "Überfall" auf die Malvinas ins weltpolitische Abseits zu stellen, traten hier auf einmal ganz hinter dem gereiften politischen Problembewußtsein des bundesdeutschen Presse- und Rundfunkwesens zurück - und das heißt alles andere, als daß man den außenpolitischen Zweck kritisiert hätte, der sich da durch einen Massenmord empfahl. Diesmal wollte man die politische Absicht gerade nicht schon dadurch hinreichend denunziert sehen, daß sie sich gewaltsam gegen eine herrschende Machtverteilung richtete. Mehr noch: Vom brutalen Mittel sollte jetzt überhaupt kein schlechtes

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Licht mehr auf den so verfolgten Zweck fallen. Wie auf Befehl oder gemeinsamen Beschluß ist die freie westdeutsche Meinungsmache der selbstgerechten israelischen Sprachregelung, der Krieg sei als Friedenstat zu würdigen, mit dem Gestus des moralfreien sachverständigen Durchblicks beigesprungen und hat "das Nahost-Problem" als Israels wahren und eigentlichen Kriegsgrund aufgetan. Noch weniger als die "Palästinenserfrage" verträgt dieses , .Problem" eine ernsthafte Betrachtung dessen, worin es denn eigentlich bestehen soll - das ganze Ding gäbe es schließlich gar nicht, hätten nicht die imperialistischen Mächte Israel als permanente praktische Widerlegung aller arabischen Großmachtbestrebungen eingerichtet. Die schlichte Tatsache, daß Israel Feinde hat - was von den arabischen Nachbarn Israels ja weiß Gott auch gilt! -, erschien den vorurteilsfreien Betrachtern beispielsweise der "Süddeutschen Zeitung" schon als "Problem" genug, um Israel einen Krieg als "Lösungsversuch" geraten scheinen zu lassen:

"Aber außer Ägypten hat kein arabisches Land Israel Frieden angeboten. Ist es da nicht gezwungen zu kämpfen?"

So "wissen" deutsche Publizisten, daß der Staat Israel eine einzige Kriegserklärung an seine arabische Umwelt darstellt - und stellen sich umständlich dahinter: Für Israel ist Frieden dasselbe wie ständig Kriege gewinnen, weil "der Nahe Osten" seine endgültige "Friedensordnung" noch nicht gefunden hat; was schlagend daran zu sehen ist, daß Israel kämpfen "muß"... So geht also journalistisches Problembewußtsein mit einem kriegerischen Verbündeten der eigenen Nation um: Wo es nicht gleich dessen eigene offizielle Interpretation seiner Taten übernimmt, hält es ihm auf Biegen oder Brechen selbstkonstruierte "Problemlagen" und "Verstrickungen" zugute, deren "Bewältigung" und "Lösung" mit seinem gewaltsamen Vorgehen recht eigentlich beabsichtigt sei. Im Lichte solcher "Probleme" findet alsdann eine Würdigung des Kriegsgeschehens statt, die auch dort, wo sie sich zu "schwersten Bedenken" versteigt, ihr prinzipielles, als Sachkunde verkleidetes Wohlwollen nie mehr aufkündigt.

3.

Die Einwände gegen Israels Krieg, die Westdeutschlands publizistischen Wortführern eingefallen sind, waren von entsprechendem Kaliber:

"Menachem Begins Krieg ist unnötig. Er ist unmenschlich. Und am Ende wird er genau das Gegenteil von dem bewirken, was eigentlich (!) in der Absicht des Urhebers lag" - man mag sich kaum noch daran erinnern, daß immerhin von den "eigentlichen" Absichten eines Kriegsherren die Rede ist! Und noch einmal, damit ja kein Mißverständnis aufkommt: "Das Schlimmste (!) aber ist: Der Krieg wird zum Bumerang werden. " (Zeit)

Daß angesichts solch' konstruktiver Sorgen um den Erfolg dessen, was die jüdischen Urheber des Krieges "eigentlich wollten", das Gerücht aufkommen konnte, erstmals nach drei begeistert mitgefieberten Nahost-Kriegen wären die bundesdeutschen Sympathien nicht mehr auf israelischer Seite gewesen, zeigt eindrucksvoll, wie bedingungslos man sich hierzulande mit Israels Kriegsglück zu identifizieren gewohnt ist. Schon der Zeitpunkt, zu dem so wohlwollende Bedenken wie "Wissen die Israelis noch, was sie tun?" (Stern), "Israels Vietnam?" (Spiegel) u. ä. aufkamen, widerlegte alle Zweifel an ihrer pro-israeli-schen Prinzipienfestigkeit. Als die Invasionstruppen ihre militärischen Ziele erreicht hatten und der Abzug der PLO nur noch eine Frage von "tot oder lebendig?" war, das Kriegsgeschehen sich aber immerhin in die Länge zog und die israelischen Erfolge sich nur noch in toten Beirutem und nicht mehr in schnellen Geländegewinnen niederschlugen: Da kamen kritische Deutsche der obersten Heeresführung in Jerusalem mit dem Vorwurf:

"Aus dem Schlag gegen die Palästinenser im Libanon wurde Israels längster Krieg"; Begin hätte sich "in die Ecke gesiegt";

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"Das übermächtige Israel war nicht imstande (!), die eingeschlossenen 6000 letzten PLO-Krieger militärisch zu besiegen!" - ein "Unvermögen", das die Regierung sich, da teilt der "Spiegel" voll die vaterländische Kritik des staatseigenen Oppositionsführers Peres, ganz selbst zuzuschreiben hat:

" .Wenn die Regierung Beirut besetzen wollte, hätte sie das nach sechs Tagen ohne viele Opfer tun können'." Israel hat den Blitzkrieg nicht geschafft; diesmal ist es gescheitert mit dem alten deutschen Kriegsideal: kurz und vollständig zuschlagen, dann ist es wenigstens für die sympathisierende Weltöffentlichkeit schmerzlos! So aber müssen zivilisierte NATO-Freunde dem "langen Sterben" zusehen, angeblich ohne sinnstiftende militärische Fortschritte dagegen aufrechnen zu dürfen: " ... der wochenlange Kampf (hat) den waffenmäßig kraß unterlegenen PLO-Kämpfern bei weitem nicht so viele Opfer beigebracht, wie Militärexperten vorausgesagt hatten. Die Leidtragenden sind die Zivilisten." (Stern)

Den militärischen Nutzen einer langdauernden Belagerung, von Flächenbombardements sowie zahlreicher "Opfer unter der Zivilbevölkerung", also eines gediegenen Terrors, wollten die Experten der deutschen Öffentlichkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Sie hängen dem Ideal einer absolut überlegenen Gewaltmaschinerie an, die Widerstand nicht erst brechen muß, weil sie ihn von vornherein gar nicht aufkommen läßt. Denn einer solchen sauberen Gewalt möchte man eine saubere »Lösung" all der , .Probleme" zutrauen, deren "Bewältigung" man Begin und seiner Mannschaft als ihre "eigentliche Absicht" unterstellt hat. Verglichen mit diesem Ideal von Gewalt sieht die wirkliche natürlich immer schlecht aus; und so erlaubten bundesdeutsche Journalisten sich auch- Zweifel an der Problemlösungskraft jener "unsauberen" Gewalt, die die israelische Regierung tatsächlich einsetzt. Mit einem solchen Krieg - "Pyrrhussieg" (Stern) - ist doch gar nicht sichergestellt,

"daß Begin die gewünschte Ruhe für sein Land schaffen kann - was das erklärte Ziel des Feldzuges war." (Süddeutsche Zeitung)

Wo Begin und Sharon die PLO als politische und militärische Organisation samt Waffen und Mannschaften vernichten ließen, um eine friedliche Einigung mit ihrem Feind überhaupt nicht mehr in Betracht ziehen zu müssen, da verfällt dieses bayerische Weltblatt auf die profunde Erkenntnis, ihr Feldzug hätte die friedliche Einigung mit den Opfern doch gar nicht vorangebracht: Daß die PLO und Jordanien nunmehr

"den Friedensprozeß unterstützen, dürfte eher ein Wunschtraum sein. Das eigentliche Ziel der Operation .Frieden für Galiläa' wurde damit verfehlt"

- so daß die "Süddeutsche" "die Ausweglosigkeit des israelischen Versuchs einer Gewaltlösung des Palästinenser-Problems" beklagen muß!

Da schlug die kritische Parteilichkeit für Israels "eigentliche" Anliegen gelegentlich geradezu in Häme um:

"Wohl kann die PLO zerbombt werden, nicht aber der palästinensische Nationalismus" (Spiegel)

- was dafür nötig wäre, Begin & Co. aber nicht zustande bringen mit ihren "stümperhaften" Gewaltaktionen, hat der Karikaturist der "Nürnberger Nachrichten" ins angemessene Bild gefaßt:

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Dieselbe Botschaft in wohlgesetzten Worten:

"Eine gedemütigte PLO wird sich zwangsläufig wieder radikalisieren. Sie wird aufs neue den Terror exportieren ... Israels harsche Politik wird im übrigen dafür sorgen, daß den Freischärlern ständig neue Rekruten zuströmen. So leicht (!) ist die PLO nicht umzubringen, und erst recht nicht die palästinensische Idee." (Zeit)

"So leicht" nicht; denn immer bleiben ja noch etliche Palästinenser übrig; und ehe Israel die alle mit "Stumpf und Stiel" umlegt, wären doch "alternative Lösungen" in Betracht zu ziehen: So vorurteilsfrei "kritisierten" deutsche Journalisten Israels Völkermord! In gleichem Sinne kamen Bedenken auf, ob sich so der Libanon "befrieden" ließe, und ob Israel wirklich von einem christlich-falangistischen Vasallenstaat im Norden nur Vorteile hätte:

"Ob diese Rechnung aufgeht, hängt freilich noch von den gut die Hälfte der Bevölkerung stellenden konservativen und radikalen sunnitischen und schiitischen Moslems ab." (Süddeutsche Zeitung)

Sind die Syrer auf diese Weise kleinzukriegen? "Was wird aus der mehr als heiklen ägyptischen Position?" (Spiegel). Schadet Israel nicht am Ende den westlichen Interessen in und an Arabien? Mit solchen Bedenken, die gleich die ganze Region sehr weltherrschaftlich-souverän in den Blick nahmen -

"Israels Verteidigungsminister (scheint) sein Beirut-Erlebnis überzubewerten, wenn er sagt, auf dem Silbertablett bringe er den Amerikanern die Überlegenheit über die Sowjetunion im Nahen Osten." (Süddeutsche Zeitung) -,

bekannten westdeutsche Pressemänner sich schließlich auch offen zu dem interessierten Standpunkt ihrer wohlwollenden Gutachten über Israels Schlächterei - und mußten sich hier von ihren Rechtsaußen-Kollegen zu Recht vorhalten lassen, daß alle Einwände, die sie zusammen mit den zuständigen Diplomaten ihrer Staaten gegen Israels Vorgehen vorbrachten, nichts als moralische Heuchelei darstellten.

"Im stillen sind nämlich Amerikaner, Europäer und auch Araber froh, daß die Israelis ihnen die Schmutzarbeit - die radikale Bekämpfung der Terrornester - abgenommen haben." -

wußte die "Bild-Zeitung", wollte das aber nicht als Kritik an den europäischen, amerikanischen und arabischen Interessen verstanden haben, die derlei "Schmutzarbeit" immer wieder einmal nötig machen, sondern als Aufruf, dem nützlichen Verbündeten auch moralisch die Stange zu halten. Das Intellektuellenblatt der westdeutschen Rechten, die "Frankfurter Allgemeine", ließ ihren Karikaturisten diese Botschaft ins Bild fassen - zwar mit dem Mangel, keinen Bundespolitiker mit ins Bild zu bringen, dafür aber mit dem sehr sachgerechten Einfall, den Präsidenten des "moskauhörigen" Syrien gleich hinter den US-Präsidenten zu malen:

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4.

Was sich in Westdeutschlands Öffentlichkeit an "Kontroverse" um Israels Libanonfeldzug entspann, fand in diesen auserlesenen Sphären der geheuchelten Bedenklichkeiten und ihrer Zurückweisung im Namen der Selbstgerechtigkeit der eigenen imperialistischen Interessen und ihres durch Israel bewerkstelligten Erfolgs statt. Diese letztere Seite feierte ganz umstandslos den israelischen Vormarsch mit: "Bild am Sonntag" kroch mit israelischen Infanteristen in die vordersten Schützengräben am Beiruter Flughafen, ließ sich beschießen und von den jungen Helden sagen, daß man "hier alles verlieren kann, auch das Leben, nur seine Seele nicht!" (hinterher mußten die ,,Bild"-Männer versprechen, den Müttern und Frauen der Fronthelden nichts von der Gefährlichkeit der Lage zu erzählen - nächsten Sonntag waren "wir" nämlich ,bei Israels Frauen zu Gast'); intellektuellere Blätter übersetzten diese Frontagitation in gelehrte Erwägungen über die (selbstverständlich entscheidende!) Rolle des "subjektiven Faktors" im technisierten Krieg von heute! Das Mitleid brauchte dabei nicht zu kurz zu kommen; seine bevorzugten Opfer waren die nicht-palästinensischen Einwohner Westbeiruts. Denn an deren "Leiden" unter dem israelischen Bombenhagel wurde der fürs bundesdeutsche Publikum offenbar sehr plausible Beweis geführt, daß die PLO aus terroristischen Feiglingen bestand, die sich nicht einmal in offener Feldschlacht der israelischen Kampfmaschine stellen wollten, sondern hinter "unschuldigen Geiseln" verschanzt hätten - gerade so, als hätte nicht erst einmal die israelische Armee die bewaffneten Palästinenser vor sich her- und in Lagern und Stadtvierteln zusammengetrieben, in denen auch sie sonst zu wohnen und nicht gegen Israel zu kämpfen pflegten! Wer unterliegt, so heißt die Botschaft, der ist der Verbrecher, denn er vergießt sinnlos Blut; wer siegt, hat auch das Recht auf seiner Seite - vor allem das, seine Gegner moralisch zur Verantwortung zu ziehen!

Etwas ausgewogener verteilten die anderen Fraktionen der öffentlichen Meinung der BRD ihre moralische Aufregung. Zu Meldungen und Überschriften des Kalibers

"Israel verstärkt seinen Druck auf die PLO"

waren dabei allerdings auch die Israel-"Kritiker" leicht in der Lage, wenn die israelische Luftwaffe ihren Bombenabwurf auf West-Beirut intensiviert hatte - ganz als wäre ein Bombenteppich, der die Vernichtung des Feindes samt "Umfeld" bezweckt, eine Spielart von Diplomatie. Das mag eine Wahrheit über die Diplomatie sein, eine Wahrheit über den Krieg ist es nicht. Eine Bombe ist nämlich kein "Wink", sondern ein Vernichtungsmittel und allenfalls als solches eine politische "Botschaft". Die "ausgewogene" demokratische Kriegsberichterstattung machte dagegen aus jeder

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israelischen Kampfaktion eine Sache mit einem von vornherein außermilitärischen Sinn und Zweck, aus jedem Toten einen Hebel, das Blutvergießen zu beenden. Die selbstbewußte Anwendung des früher verbotenen Grundsatzes: "Krieg ist Mittel der Politik!" wurde zur Verharmlosung des Krieges - und zwar zu einer sehr einseitigen. Es sind nämlich machtvolle Bombardements und nicht vereinzelte Raketen oder Heckenschützen, die der vornehmen diplomatischen Sprachregelung gewürdigt werden, damit würde "Druck" auf die andere Seite ausgeübt: Es ist die überlegene Gewalt, die beanspruchen kann, als Politik genommen zu werden. Es war nichts als die eine sehr folgerichtige Konsequenz aus diesem Gedanken, wenn "Bild" und Gesinnungsgenossen der matten militärischen Gegenwehr der Palästinenser gleich jede politische Qualität absprachen und sie genau wie das israelische Oberkommando unter politischer Kriminalität verbuchten. Die andere, im Prinzip nicht weniger wohlwollende Folgerung zogen "Stern" und andere mit ihrem Bedauern über die zu vielen, die unnötigen, gar die unschuldigen Opfer einer übertriebenen israelischen Härte. Wie drastisch auch immer dieses Bedauern sich bebildern mochte: es richtete sich nie gegen den Zweck der angerichteten Schlächtereien, sondern gegen die Schlächterei als unsauberes Mittel - und blieb deswegen auch hilflos gegen die israelische Staatsräson und ihre Wortführer, die unter tiefstem Bedauern auf ihrem anerkannten Zweck beharrten und zynisch nach Alternativen fragten. Deswegen hat das bißchen westdeutsche Empörung sich auch nie auf seinen Moralismus verlassen, sondern auf einem sehr proisraelischen Umweg Eindruck machen wollen:

"Dem Ansehen Israels hat die Bombardierung West-Beiruts in einem Maße geschadet, daß der militärische Gewinn die politischen Verluste kaum aufwiegen kann. Die PLO aber, obwohl von den arabischen Staaten im Stich gelassen und von Israel zum Abzug gezwungen, muß sich nicht als Verlierer sehen ... politische Chancen ... Abstimmungen in der UN-Vollversammlung ..." (Süddeutsche Zeitung)

Der politische Schaden, den die Presse da dem Sieger andichtet, kann und soll gar nicht näher ausgeführt werden - tatsächlich hat die Weltmacht Nr. l ihre militärische und finanzielle Ausstattung Israels noch nie von der Mehrheitsmeinung in der UNO abhängig gemacht, eher umgekehrt; und von seinen europäischen Freunden wird der expansionistische Zionistenstaat auch kaum verlassen werden, wenn schon deren Meinungsmacher sich so rührend um sein Image sorgen. Genauso wenig ist an der - ja keineswegs begrüßten, sondern eher gefürchteten! - "Aufwertung der PLO" dran; Angeblicher moralischer Sieger zu sein, von der internationalen Diplomatie als mehr oder weniger bedeutungslos gewordene Kraft gewürdigt zu werden und sich entsprechend angeberisch aufzuführen, das ist eine billige Dreingabe zur militärischen Zerschlagung! Und was die ,,atmosphärischen" Verschiebungen betrifft, so konnte die deutsche Presse jedenfalls, die solches argwöhnte oder beschwor, ihre eigenen Sympathien für Arafat & Co ebenso wie ihren Sympathieverlust für Israel in Grenzen halten! Wer - wie die Israelis selbst! - vor einer Aufwertung Arafats warnt, selbst den Papst zu diplomatischer Zurückhaltung mahnt, der weiß erstens, daß die diplomatische Hektik der PLO-Führung keine Erfolge signalisiert, sondern Machtlosigkeit -, und der ist damit vor allem voll und ganz einverstanden. Und wer die Israelis auf die möglicherweise schädlichen Folgen eines Abscheus vor ihrer Politik aufmerksam machen will, der teilt diesen Abscheu auf alle Fälle nicht.

5.

So trafen "Kritiker" wie Befürworter des israelischen Vorgehens sich denn auch, .jenseits aller Differenzen", in der Begutachtung der Chancen, die das Kriegsgeschehen für Israel wie für die Sache des Westens zu bieten hätte. Und da gab es auch unter den bedenklichsten "Pyrrhussieg"- und "Bumerang"-Theoretikern keinen, dem die Feststellung des amerikanischen Ex-Außenministers Kissinger im "Spiegel" nicht eingeleuchtet hätte:

"Israels Erfolg eröffnet breite Perspektiven für eine dynamische US-Politik im Nahen Osten."

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Im Gegenteil: Unter den Kommentatoren, die als "kritisch" galten, bürgerte sich geradezu die Technik ein, nach jedem erneuten Fortschritt der israelischen "Säuberung" des Libanon und "Bereinigung" der strategischen Lage, der neue Voraussetzungen für die amerikanische "Vermittlungsdiplomatie" schuf, heuchlerisch die besorgte Frage aufzuwerfen, ob damit nicht die zuvor schon erreichten Erfolge des von den USA inszenierten "Friedensprozesses" wieder gefährdet würden. Auf diese Weise wurden die jeweils vergangenen Kriegserfolge als günstige Voraussetzungen der "diplomatischen Bemühungen" ganz selbstverständlich anerkannt; das jeweils letzte Massaker wurde dafür hergenommen, um das gelungene Zusammenspiel von Krieg und Diplomatie, von israelischen Vernichtungsaktionen und westlicher "Schutzmacht" zu leugnen und den Schein eines Gegensatzes zwischen den "Ordnungs"-Interessen des Imperialismus und den Brutalitäten seines Schützlings zu konstruieren. Diese Technik scheinhafter Kritik blamierte sich nicht einmal daran, daß sie im Laufe der Kriegswochen den USA ungefähr ein halbes Dutzend Mal stets von neuem bescheinigte, jetzt hätten die Israelis aber endgültig das amerikanische "Ansehen" in den arabischen Ländern ramponiert - tatsächlich hat die libanesische Regierung sich mit gesamtarabischer Zustimmung eine amerikanische Besatzungstruppe für Beirut erbeten. Immer mit dem saubersten Gewissen von der Welt, und mit der Gratisleistung für die bundesdeutsche Diplomatie, den für ihre arabischen Interessen erwünschten Schein von Differenz zu Israel zu erzeugen, hat die "kritische" Öffentlichkeit dabei alle praktischen Fortschritte der westlich-israelischen Sache mitvollzogen. In dem Maße, wie die "kritisierten" militärischen Brutalitäten Israels Wirkung zeigten, die PLO ihr Heil im Gesuch um die Erlaubnis zum Abzug suchte, der Habib-Plan durchgeführt wurde, der Libanon ein dem Westen höriges Christenregime verpaßt bekam, die von libanesischen Milizen angerichteten Blutbäder in den Beiruter Palästinenserlagern die israelischen Blutbäder vergessen ließen - jetzt wurde den Israelis auf einmal der aparte Vorwurf gemacht, als Schutztruppe versagt zu haben! -, in demselben Maße wurden der Tonfall hoffnungsvoller, die Befürchtungen anspruchsvoller:

"Wächst aus den Trümmern nun der Friede?" ..Begreift die PLO-Führung nun, daß der Weg nach Jerusalem nicht über neuen Terror in Amerika oder Europa führen kann? Auch nicht über die Entfesselung eines zerstörerischen Revolutionswahnsinns in der Nahost-Region führt?" - "nun", nachdem die aufbauende Kriegsvemunft Israels für eine heue Welt gesorgt hat! "Jetzt, da ... ein ganzes Land aufs Meer verschickt wird, erscheint die Zeit für solche Einsicht reif, ja überreif." Dann, ja dann "wäre das fürchterliche Verbluten, Verbrennen und Verstümmeln von Beirut nicht ganz umsonst gewesen" -

so bekennt "Die Zeit" sich zu der "überreifen" "Einsicht", daß die Palästinenser im besonderen, die Araber im allgemeinen für die westliche Politik kein Problem mehr darstellen und insofern die Toten sich für den Imperialismus gelohnt haben! Angesichts solcher Klarheiten fällt des "Spiegel" letzter Versuch, noch im perfekten Erfolg Israels ein gewaltiges Eigentor auszumachen -

"Den Israelis käme in Wahrheit nichts ungelegener als eine eindeutige Anerkennung ihres Staats durch die PLO. Damit hätte der aufwendige Libanon-Feldzug zu einem Ergebnis geführt, das Israel gerade vermeiden wollte: die Anerkennung der Palästinenserorganisation durch die USA"-,

in den Bereich der noch nicht einmal mehr zweckmäßigen Idiotien: der Albernheiten. Hochzufrieden ist Westdeutschlands Öffentlichkeit mit Israels blutigen Erfolgen - und damit, wie wunderbar moralisch sie ihre Zufriedenheit zuwege gebracht hat!

6.

Selbst den verlogenen Schein von kritischer Distanz zu den Methoden, mit denen Israel seinem ehrenwerten Kriegszweck eher geschadet als genützt hätte, mochte Westdeutschlands Öffentlichkeit sich aber nicht unbefangen herausnehmen, ohne zuerst einmal ausgiebig die nationale Gretchenfrage zu wälzen:

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Dürfen Deutsche überhaupt Israel kritisieren?

Eigentlich dürfen sie nämlich nicht, sondern müssen dafür sein, was auch immer Juden treiben:

"Vor allem weiß man, welches Leid und Sterben Hitler im deutschen Namen über die Juden gebracht hat. Das hat eine Mithaftung für Israels Existenz und Sicherheit auf alle Deutschen gelegt, auch diejenigen, die unter dem Nationalsozialismus noch nicht geboren waren, sich aber nicht von der Geschichte ihres Volkes lossagen wollten. Mit gutem Grund sucht man darum hierzulande im Zweifel das Recht immer auf der Seite Israels." (Frankfurter Allgemeine)

Im Klartext: Weil der alte deutsche Staat Juden verfolgt und ermordet hat, deswegen darf keiner aus dem heutigen deutschen Volk den Staat, der sich als Heimat aller Juden definiert, kritisieren, gerade dann nicht, wenn dieser selber verfolgt und mordet. Auch die Jüngeren haben ihr aus Gründen des Lebensalters gar nicht stattgehabtes Einverständnis mit Hitlers Judenmorden zu "büßen" durch die kritiklose Billigung der westdeutsch-amerikanisch-israelischen Interessengemeinschaft.

In dieser Vorschrift schlägt der Nationalismus gleich einen dreifachen Purzelbaum. Jeden eigenen kritischen Gedanken über irgendeine Herrschaft auf der Welt soll der Mensch erstens daraufhin prüfen, ob die eigene Nationalität ihm dazu überhaupt ein Recht gibt. Ja: worin könnte ein solches Recht denn eigentlich liegen? Fast klingt es wie eine Kritik der nationalen Selbstgerechtigkeit, in deren Namen und zu deren Gunsten Patrioten normalerweise andere Länder und deren Bewohner be- und verurteilen, wenn die "Frankfurter Allgemeine" mahnt:

"37 Jahre nach dem Ende jenes düsteren Kapitels deutscher Geschichte immer wieder an die große Schuld erinnert zu werden, läßt eine Nation nach Ausflüchten, nach Erleichterung suchen: Die blutige Kriegführung Israels im Libanon scheint da geeignet. Vergangenes aufzuwiegen."

Daß es nichts Dümmeres und nichts Gemeineres gibt, als im eigenen kritischen Urteil alles Geschehen am Maßstab der Selbstgerechtigkeit der eigenen Nation zu messen; genau das will die "Frankfurter" hier aber nicht gesagt haben. Genau umgekehrt: Kritische Gedanken mag sie sich nur vorstellen als die intellektuelle Fassung eines wohlerworbenen nationalen Rechtsanspruchs gegen einen anderen Staat und sein Volk; und daß ein solcher den Bundesdeutschen Israel gegenüber nicht zustehe: darauf will sie hingewiesen haben. Warum gegen Israel nicht? Hier bewährt sich - zweitens - der Rassismus einer patriotischen Gesinnung einmal umgekehrt: Während sonst die nationalbewußte Einschätzung der Welt und ihres staatsbürgerlichen Inventars die Untertanen für die Taten ihrer Regierung haftbar macht, soll hier einmal die staatliche Obrigkeit aus dem moralischen Sonderstatus ihrer vorgestellten Untertanen, der jüdischen Opfer des "3. Reiches" nämlich, einen moralischen Extrabonus beziehen; so als hätten die Pogrome der Nazis gegen Juden auf dem Felde der moralischen Urteile einen fortdauernden Rechtsanspruch des zionistischen Staates, der ungefragt alle lebenden und toten Juden zu seinen mindestens ideellen Staatsbürgern erklärt, gegen alle Deutschen begründet. Und warum - drittens - ausgerechnet gegen die heutigen Bundesdeutschen, die doch zum alten Nazi-Reich gar nicht mehr gehören und deren neue Obrigkeit mit dem Judenstaat doch schon seit drei Jahrzehnten ein Einvernehmen pflegt, das für deutsche Mark und deutsche Waffen noch stets gerechte israelische Bedürfnisse ausgemacht hat? Die "Kontinuität der Geschichte", kraft derer man sich als reumütiger ehemaliger Faschist bekennen soll, auch wenn man es gar nicht war; die Idiotie also, die eigene Identität aus der fortdauernden kollektiven Untertänigkeit abzuleiten, unter die man als Volksgenosse subsumiert ist und zu der man sich als Patriot zu bekennen hat: das ist hier nur die halbe Antwort. Die Diagnose einer historischen Schuld, die durch kritiklose Unterstützung abzugelten sei, gilt nicht zufällig nur in bezug auf den Staat Israel, ein Mitglied jener demokratischen "Völkerfamilie", als deren Mitglied die BRD ihrerseits erst wieder zu einem imperialistischen Subjekt geworden ist. Zigeuner haben weder einen Staat noch den imperialistischen Auftrag, einen zu machen. Kommunisten haben ihre Verfolgung durch Hitler nicht einem unschuldigen Rassemerkmal, sondern einer Gesinnung

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zuzuschreiben, die auch der neue Staat gar nicht mag. Die Sowjetunion, deren Volk durch Großdeutschlands Krieg um mehr als 20 Millionen dezimiert worden ist, hat gleich gar keinen Anspruch auf bundesdeutsche Schuldgefühle: hier ist das verbotene Aufrechnen längst zugunsten der eigenen Seite entschieden, denn schließlich haben die Russen das höchste Gut, die deutsche Nation, geteilt - gegen sie gilt eine andere "Kontinuität der Geschichte", die der neue deutsche Frontstaat aus den Traditionen seines Rechtsvorgängers in die NATO herübergerettet hat.

Es ist also nichts als das proisraelische imperialistische Interesse der BRD, das dem offiziellen und von der nationalen Journaille gehegten Nationalismus ausgerechnet in bezug auf den Judenstaat seine neuen und alten Ansprüche in die Form der patriotischen Scham zu kleiden und als Verpflichtung zu empfinden gebietet. Und eben deswegen ist auch klar, daß es nur einer Fortentwicklung dieser Interessen, eines Interesses an einem diplomatisch ausnutzbaren Schein von Gegensatz zwischen der bundesdeutschen und der israelischen Interessenlage bedarf, um den Gewissenswürmern der Nation den folgenden hochmoralischen Übergang nahezulegen:

"Die Geschichte erlegt den Deutschen keine Hörigkeit gegenüber Israel auf... Sie gebietet ihnen nicht Nibelungentreue, sondern Prinzipientreue. Sie verpflichtet sie zumal. Unrecht Unrecht zu nennen, wer immer es begeht." (Die Zeit)

Ein schlechtes Gewissen ist eben allemal die beste Voraussetzung, um durch das offensive Bekenntnis zur vorgestellten Schuld eine ganz besonders unanfechtbare Selbstgerechtigkeit herzustellen. Das fällt dann nicht unter "Empörung im Hause des Mörders" ("Stern"), die sich Israel gegenüber nicht gehört, sondern macht das leicht gewandelte nahostpolitische Interesse gleich wieder zur höchsten moralischen Pflicht, gerade wegen der alten nationalen Ehrenschulden:

,,Indirekt sind auch die Palästinenser Hitlers Opfer, und indirekt sind die Deutschen auch ihnen gegenüber verpflichtet." (Die Zeit)

Auf der siebten Etage des patriotischen Moralismus und seiner methodischen Einrichtung haben die verschiedenen Fraktionen der bundesdeutschen Öffentlichkeit sich so anläßlich der israelischen Palästinenserschlächterei im Libanon ihre heißesten Kontroversen geliefert - mit einem für beide Seiten befriedigenden Ausgang. Für die Partei der "Kritiker" ließen sich am Ende alle ihre Anwürfe gegen Israels Kriegsführung zusammenfassen in der bedauernden Feststellung, nunmehr hätte der Judenstaat seine imperialistische Unschuld verloren und wäre - normal geworden: ein Urteil, das nicht etwa entlarven will, wieviel Brutalität in der zivilisierten Staatenwelt von heute als normal gilt, sondern mit der Zurückweisung der speziellen israelischen bzw. proisraelischen Heuchelei zufrieden ist, die womöglich man selbst am eifrigsten gepflegt hat:

"Das Land der Verheißung, das Land der Kibbuzim, wo, nach der Vision seiner Gründer, Gerechtigkeit, Toleranz und Frieden blühen sollten, dieses Land, das anders sein sollte als alle anderen - dieses Land hat seine Unschuld verloren" - vier Kriege hat diese "Unschuld" immerhin unbeschädigt überstanden! "Es ist nach 34-jähriger Existenz eben doch zu einem Staat wie alle anderen geworden." (Stern) "Fortan muß über Israel berichtet werden wie über den nächstbesten Staat." (ZDF)

Gegen diese Attitüde des enttäuschten Israel-Idealismus blieb dem Begin-Fanclub im westdeutschen Pressewesen nichts mehr weiter einzuwenden übrig. Was am Image Israels da allenfalls noch trübe bleiben mochte, wurde mit dem Hinweis erledigt, daß für Kritik an Israel niemand zuständiger sei als die Juden selbst - und daß deren "SeIbst"-Kritik alles das, was es da an Kritikablem geben mag, mehr als aufwiege:

"Für die moralische Beurteilung dessen, was die israelische Regierung tut, sind die Juden in Israel und aller Welt, die anderer Meinung sind, zahlreich und weise genug und auf jeden Fall kompetenter als die Deutschen. Die sollten sich eher vor Augen halten, daß alles, was je (!) eine

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Regierung in Israel tun mag, nicht in abwägende Beziehung zu setzen ist mit dem, was einst im Herzen Europas geschah." (Frankfurter Allgemeine)

"Nichts in der Welt kann das Töten von unschuldigen Zivilisten rechtfertigen, sagte der Sohn des israelischen Innenministers Josef Burg.

Solange es solche Stimmen in Israel gibt, brauchen die Juden keine belehrende ausländische Entrüstung." (Bild)

Da kennt "Bild" sich aus: Bei unschuldigen Soldaten und schuldigen Zivilisten geht das Töten in Ordnung; für die Unterscheidung ist die zuständige Obrigkeit zuständig - vorausgesetzt es ist eine verbündete und keine kommunistische. Für Israel hat ein guter Deutscher allemal zu akzep deren, daß die politischen Herren aller Juden selber am besten wissen, wer ihnen im Weg steht und folglich beseitigt gehört!

7.

In der westdeutschen Linken hat Israels Libanonfeldzug einen ziemlich heftigen "Kampf zweier Linien" ausgelöst. Auf der einen Seite haben all jene sich in ihrer moralischen Glaubwürdigkeit gefordert gefühlt, die es sich zum Anliegen gemacht haben, gegen alles Böse und für alles zweifelsfrei Gute einzutreten, und die daher auch anläßlich des Libanonfeldzugs der israelischen Armee - nach einer "angemessenen" Frist, als am Sieg nichts mehr zu deuteln war und die offizielle bundesdeutsche Öffentlichkeit auf eine wohlberechnete diplomatische Distanz zu Israel ging - schließlich zu der Überzeugung gelangt sind,

"daß die demokratische Öffentlichkeit der Bundesrepublik und ganz besonders die Friedensbewegung" — die es mit diesem sehr wirklichen Krieg lässig wochenlang ohne Protest ausgehalten hat: unter dem endgültigen "Weltbrand" tut die es, scheint's, wirklich nicht! - "zu den Vorgängen (!) im Libanon und zu der Katastrophe (!) in Beirut nicht schweigen kann" - warum nicht? - "will sie nicht unglaubwürdig werden"! (aus dem gesamtlinken Aufruf zu einer bundesweiten Demonstration in Frankfurt, in der .Tageszeitung' veröffentlicht, volle acht Wochen nach dem israelischen Überfall!)

Für diesen edlen Zweck, die eigene moralische Selbstdarstellung zu retten, wurde zugunsten der PLO und ihrer Ideale eines nationalen Staatsprogramms der alte, traditionsreiche falsche linke Antiimperialismus wieder 'mal hervorgekramt, der in jeder größeren Gewaltaktion auf dem Globus, in der imperialistische Mächte engagiert sind, sogleich bei den Opfern ein verletztes Recht und damit einen moralischen Sieg, umgekehrt eine Rechtsverletzung und moralische Niederlage bei der überlegenen Gewalt entdeckt und sich dadurch gleichermaßen zu Empörung wie Hoffnung berechtigt fühlt.

"Auch mit dem jetzigen Versuch der Zerschlagung der PLO wird es den Zionisten nicht gelingen, den berechtigten Kampf des palästinensischen Volkes um sein Heimatland und Selbstbestimmung zu zerschlagen ",

befand der zitierte Aufruf zu einer Demonstration, die ironisch erweise genau an dem Tag stattfand, an dem der Abtransport der palästinensischen Kämpfer aus Beirut und ihre Zerstreuung in verschiedene arabische Länder begann. Ausgerechnet die Gegenwehr, die die westlich-demokratische Weltherrschaft mit ihren souveränen nationalen Unterabteilungen den von ihr hergestellten Opfern immer wieder aufnötigt, und zwar jenseits aller Erfolgsaussichten, wird da zu einer glorreichen Volksaktien ausgedeutet, die mit sämtlichen moralischen Rechtstiteln der heutzutage weltweit gültigen Heuchelei auch schon gleich "die Zukunft" auf ihrer Seite hätte. Für die moralischen Pluspunkte stehen ausgerechnet die nationalistischen Ideale der demokratischen Weltherrschaft Pate; "Volk", "Heimatland" und "Selbstbestimmung" sind die idyllisch gemeinten Inbegriffe der modernen Erzlüge, den Leuten im allgemeinen und den Opfern imperialistischer

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Interessen im besonderen ginge es dann unfehlbar gut - zumindest "im Prinzip"! -, sobald erst einmal sie selbst und ihre Wohnorte einer autochthonen Obrigkeit unterstehen, die sich immerzu auf sie als ihre Basis beruft - ganz so, als wäre eine in irgendeiner Hinsicht eigene Herrschaft keine Herrschaft mehr! Die welthistorische Siegesperspektive, die noch die bittersten Niederlagen einer kämpfenden Organisation in den Anfang eines unerbittlich hereinbrechenden Erfolgs verwandelt, beruht auf der idealistischen Fiktion, die Produktion von Opfern, die sich wehren, wäre ein innerer Widerspruch des Imperialismus, an dem er unausweichlich scheitern müsse - so als könnten die vereinigten westlichen Weltmächte ausgerechnet mit dem exotischen Menschenmaterial nie und nimmer fertigwerden, auf dessen Verfügbarkeit ihre Macht gerade nicht beruht, das daher auch keine anderen Kampfmittel besitzt als die paar Waffen, die eine wieder an ganz anderen Ergebnissen interessierte dritte Macht ihm in die Hände drückt. So begeistert gab sich dieser idealistische Antiimperialismus anläßlich der fälligen "Solidarität mit dem kämpfenden palästinensischen Volk" wieder einmal über seine eingebildete moralische Siegesgewißheit, daß er die Abwehrstrategien der PLO und ihr Arrangement mit den souveränen arabischen Potentaten gleich, in phrasenhafter Erinnerung an frühere Ideale, als eine "Revolution" ausgab, die drauf und dran wäre, die gesamte Region zu erfassen:

"Stillschweigende Duldung erfährt dieser Vernichtungsfeldzug durch verschiedene arabische Regimes, die damit hoffen, verhindern zu können, daß der Funke der palästinensischen Revolution auf ihre Länder überspringt" (Demonstrations-Aufruf) - mehr als das Bild vom ,, überspringenden Funken" ist an der ganzen Lagebeurteilung nicht dran!

Dabei erwiesen sich diese antiimperialistischen Revolutionsliebhaber gleichzeitig als so gute demokratische Untertanen, daß sie ihre eigene Regierung zum Sachwalter des "palästinensischen Revolutionsfunkens" machen wollten und an ihrer Parole

"Anerkennung der PLO durch die Bundesregierung!"

noch nicht einmal das mit unterlaufende Eingeständnis bemerkten, auf wessen "Anerkennung" es ankommt in der wohlgeordneten Staatenwelt von heute!

Widerspruch in den eigenen Reihen erfuhr diese antiimperialistische Idealisierung der PLO vor allem seitens bekennender Juden, die in der antifaschistischen Rhetorik linker Israelkritiker gleich lauter Anlässe fanden, ganz nach dem Muster des offiziellen bundesdeutschen Philosenmitismus die lauteren Motive der Kritiker in Zweifel zu ziehen. Der bloß aus Glaubwürdigkeitsgründen wieder aufgewärmte linke Antiimperialismus geriet da unversehens in den Verdacht, mit der Beschimpfung Israels in Wahrheit gar nicht Israels kriegerische Großtaten zu meinen, sondern zugunsten eines sauberen deutschen Gewissens, zur nationalen Selbstentschuldigung, jeden Unterschied zwischen den Vernichtungsaktionen der Nazis und dem jüngsten Feldzug des Judenstaats leugnen zu wollen. Und die angesprochene Linke griff diesen Verdacht gerne auf. Da gab es keinen, der darauf beharrt hätte, daß schließlich nicht er mit seiner Kritik, sondern die israelische Regierung mit ihrem Krieg die offensive Selbstbehauptung ihrer Macht zu einer Angelegenheit erklärt hat, die ein ganzes Volk für ein Hindernis befindet und Schonung ablehnt. Und auch die Unterstellung wurde nicht zurückgewiesen, sondern für ziemlich interessant befunden, irgendwie wäre die eigene Kritik womöglich doch nichts als der Ausfluß nationaler Selbstgerechtigkeit. Die "projüdische" Fraktion wollte die patriotische Idiotie ja auch gar nicht angegriffen haben, daß Kritik in unserer bundesdeutschen Demokratie als eine Frage des moralischen Rechts dazu, als nationale Gewissensangelegenheit gilt. Im Gegenteil: sie wollte gerade auf eine relativierte nationale Selbstgerechtigkeit als Standpunkt und Inhalt jedes kritischen "deutschen" Urteils über Israels Schlächtereien hinaus; und darin traf sie sich durchaus mit dem Interesse der bundesdeutschen Linken, sich in die Tradition - nein, nicht mehr der deutschen Opposition, sondern der deutschen Nation einzureihen:

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"Wenn die deutsche Vergangenheit" - welche? keine Frage! - "in der (!) deutschen (!) Seele (!!) nicht aufgearbeitet wird, dann wird jeder Konflikt, der dort stattfindet, wieder die Vergangenheit (!) verlebendigen" (D. Diner im "Arbeiterkampf').

Das Bekenntnis, als Deutscher zu urteilen und als solcher zu keinem Urteil über politische Brutalitäten, schon gar nicht über die des zionistischen Staates, befugt zu sein, ohne zuerst einmal die Ausrottungspolitik des nationalsozialistischen Deutschland als die eigene Geschichte akzeptiert und sich mit deren abgründiger Verwerflichkeit reuevoll "auseinandergesetzt" zu haben: das wurde gefordert und gebracht als unabdingbares moralisches Gütesiegel für jeden überhaupt hörenswerten Kommentar zum nahöstlichen Kriegsgeschehen. Man einigte sich auf die Anerkennung einer völkischen "Identität" als unabdingbare Voraussetzung für jedes auch nur theoretische Eingreifen in den Weltlauf - weil erst und nur damit eine geschichtlich fundierte Stellung in und zu ihm eingenommen sei! So brachte ausgerechnet die innerlinke Israeldebatte wieder einen Fortschritt in der reaktionären Wende der westdeutschen Linken, die die nationale Geschichte und deren "nationale Frage" nie kritisiert hat, jetzt aber auch nicht mehr verachten will, sondern als weites Feld der Selbstproblematisierung entdeckt und liebgewonnen hat.

Was das "Palästinenserproblem" betrifft, so fand die Linke sich in dem Ideal eines Staates zusammen, der Juden wie Arabern gleichermaßen eine "Heimstatt" bietet und mit Hilfe sämtlicher Ideale der "Völkerverständigung" politische Einigkeit zwischen ihnen herstellt. Man wagt kaum zu fragen, inwiefern es eigentlich den Leuten zwischen Mittelmeer und Jordan gut gehen soll, wenn Arafat Begins Genscher würde. Die "Völkerverständigung" jedenfalls, die so auf ihre Kosten kommen soll, ist ein sehr albernes Ideal. Da sollen die Leute sich erst als "Völker" vorkommen, also nach Kräften ihren erzwungenen Gehorsam, die ihnen auferlegte Not usw. als schätzenswertes kollektives Merkmal bis in ihr Privatleben hinein ernstnehmen, sich für eine andere Sorte Mensch halten als ihre Nachbarn und diese Idiotie in ihrem Alltag und an sämtlichen Feiertagen wahr machen - und auf der Grundlage sollen sie den fremden Volksgenossen doch wieder ohne Vorbehalte begegnen? Kein Wunder, daß diese imaginäre Idylle zum Schützengraben paßt wie das Rote Kreuz und der Militärpfarrer!