Flusser - Medienkultur

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TECHNISCHE UNIVERSTÄT WIEN Vilém Flusser - Medienkultur Florian Cech an der Fakultät für Informatik Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung 25. Juni 2012

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TECHNISCHE UNIVERSTÄT WIEN

Vilém Flusser - Medienkultur

Florian Cech

an derFakultät für Informatik

Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung

25. Juni 2012

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Declaration of Authorship

Die vorliegende Arbeit befaßt sich mit wenigen Ausnahmen ausschließlich mit Vílem

Flusser’s Medientheorie. Aufgrund dieser Tatsache sind Zitate aus dem Buch, so nicht

durch Einrückung klar ersichtlich, kursiv gehalten und nicht eigens zitiert.

Ich erkläre hiermit weiters, daß ich die vorliegende Arbeit selbständig und ohne fremde

Hilfe verfasst, und andere als die angegebene Quelle nicht benützt habe.

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TECHNISCHE UNIVERSTÄT WIEN

AbstractFakultät für Informatik

Institut für Gestaltungs- und Wirkungsforschung

Seminararbeit

Florian Cech

Vilém Flusser’s Medientheorie ist eine Sammlung an Texten zu Medien- und Gesell-

schaftstheorie sowie damit verwandten Themen und Beispielen. Die vorliegende Arbeit

versucht, die Kernaussagen und Thesen der Texte zusammenzufassen und die Texte in

Kontext miteinander zu setzen, sowie den 4 Kapiteln des Buches durch jeweils eine kurze

Einleitung sowie eine Conclusio einen Rahmen zu geben.

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Inhaltsverzeichnis

Hinweis zu Zitaten i

Abstract ii

1 Einleitung 11.1 Zu Vilém Flusser’s Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Medienkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

2 Kapitel 2 32.1 Von Codes, Historizität und Paradigmenwechseln . . . . . . . . . . . . . . 32.2 Vom Einfluß der Codes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52.3 Der Ursprung des Alphabets . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62.4 Die dritte Ebene des Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82.5 Vom Formaldenken zum Computer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92.6 Im Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102.7 Hinweg vom Papier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.8 Die kodifizierte Welt: Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

3 Eine Revolution der Bilder 133.1 Entsetzliche Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133.2 Die Absicht hinter Bildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143.3 Von Photographien zu Filmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163.4 Die Phänomenologie des Fernsehens: Ebenen der Botschaft . . . . . . . . . 173.5 Der Fernseher als Fenster zum Betrachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193.6 QUBE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203.7 Das Politische im Zeitalter der Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213.8 Eine Revolution der Bilder: Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

4 Auf dem Weg zur telematischen Informationsgesellschaft 234.1 Verbündelung oder Vernetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234.2 Nomadische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244.3 Häuser Bauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254.4 Die Fabrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264.5 Die neue Stadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274.6 Die telematische Informationsgesellschaft: Conclusio . . . . . . . . . . . . 28

iii

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Contents iv

5 Die Welt als Oberfläche 295.1 Auf dem Weg zum Unding . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295.2 Paradigmenwechsel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305.3 Digitaler Schein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325.4 Die Welt als Oberfläche: Conclusio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33

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Kapitel 1

Einleitung

1.1 Zu Vilém Flusser’s Person

Vilém Flusser, geboren am 12. Mai 1920 in Prag, war einer der bedeutenden Medien-

philosophen und Kommunikationswissenschafter des 20. Jahrhunderts. Als Sohn einer

jüdischen Intellektuellenfamilie (sein Vater war Mathematik- und Physikprofessor an der

Prager Karls-Universität, als Sozialdemokrat Abgeordneter im Parlament, später wie der

Rest Flusser’s Familie im Konzentrationslager Buchenwald von den Nationalsozialisten

ermordet) beginnt er ein Studium der Philosophie in Prag, muss jedoch 1939 nach der

Besetzung Prags mit seiner späteren Frau Edith Barth fliehen und emigriert nach Lon-

don. Obgleich er seine Studien an der dortigen School of Economics fortführt, bricht er

das Studium nach nur einem Semester ab und emigriert weiter nach Brasilien.

Fast 20 Jahre lang verdient er seinen Lebensunterhalt bei einer tschechischen Import-

Exportfirma und später als Manager einer Fabrik für Transformatoren, beginnt aber seine

schriftstellerische Tätigkeit bereits 1950/51 mit seiner Arbeit an einem Buch über die

Geschichte der Ideen des 18. Jahrhunderts. Seiner verstärkten Tätigkeit als Journalist

und Dozent am brasilianischen Institut für Philosophie folgen ab den 1960er Jahren zahl-

reiche Publikationen, Essays, Bücher und Anthologien. Zweimal noch zieht Flusser um,

1792 nach Italien, 1976 nach Frankreich. Bis zu seinem Tod als Folge eines Autounfalls

im Jahr 1991 publiziert er fortlaufend Bücher zu Philosophie, Linguistik, Medien- und

Kommunikationstheorie sowie zu Photographie, viele davon selbst in mehrere Sprachen

übersetzt (zumeist jedoch Deutsch und Portugiesisch).

Obgleich die Idee einer Krise der menschlichen Kultur unentwegte Thematik seiner phi-

losophischen Überlegungen bleibt, konzentriert sich sein Schaffen stets auf den Begriff

der Kommunikation. Seine Gesellschaftssicht zeichnet und präzisiert Flusser mit verschie-

densten Mitteln der Ethymologie und phänomenologischen Argumenten; das ist auch der

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Kapitel 1. Einleitung 2

Grund für sein Bestreben, Texte oft selbst in mehrere Sprachen zu übersetzen: Bieten

doch unterschiedliche ετυµoι eines Wortes in verschiedenen Sprachen für Flusser unter-

schiedliche Ansätze der Argumentationsführung.

1.2 Medienkultur

Vilém Flusser’s Essaysammlung Medienkultur ist eine Zusammenstellung seiner Texte

zu speziellen Aspekten Flusser’s Medientheorie. Die Essays sind thematisch in 4 Teile

geordnet, getitelt Die kodifizierte Welt, Eine Revolution der Bilder, Auf dem Weg zur

telematischen Informationsgesellschaft und Die Welt als Oberfläche.

Flusser’s Texte beziehen sich im ersten Teil auf grundlegende Fragen zum menschli-

chen Denken: So behandelt er sowohl die Themen Codes, Kommunikationstypen und

Geschichtsdenken im Allgemeinen als auch die Einflüsse dieser Thematiken auf die Ge-

schichte menschlicher Zivilisation und Kultur. Im zweiten Teil widmet er sich einem

speziellen Aspekt der vorher beschriebenen Codes: den Bildern, in ihren verschiedenen

Ausformungen von Höhlenmalereien in Lascaux bis zu Fernseh- und Computerbildern.

Der dritte Teil nun nimmt am ehesten Bezug auf die soziologischen Konsequenzen der

in den ersten beiden Teilen behandelten Thematiken: auf die Gesamtentwicklung der

menschlichen Kultur in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Flusser skizziert den Umriss

einer utopischen Gesellschaft auf der Basis der Weiterentwicklung und Veränderung un-

serer derzeitigen Kommunikations- und Medienkultur, und streift dabei die Themen der

Stadtentwicklung genauso wie Arbeits- und Lebenskultur.

Wie die Menschheit in Zukunft mit Information umgehen wird, wie sich die Gesellschaft

den neuen Medien und Codes anpassen wird und welche Rolle Computer dabei spie-

len werden sind die Kernpunkte, mit denen sich Flussers Texte im vierten und letzten

Teil des Buches befassen. Unter diesen Texten finden sich abstrakte Abhandlungen über

Beziehungen von Form und Material, Erkenntnistheorie und Anthropologie sowie Phä-

nomenologie.

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Kapitel 2

Die kodifizierte Welt

Flusser bespricht in diesem Kapitel die Grundlagen seiner Medientheorie, aufbauend

auf der Hypothese, daß die Art und Weise, wie Menschen kommunizieren, direkte und

nachvollziehbare Auswirkungen auf die Menschheitsgeschichte hat - mehr noch, er zeich-

net die Menschheitsgeschichte anhand der Geschichte der menschlichen Kommunikation

nach. Wiewohl er sich in den Texten Die kodifizierte Welt, Glaubensverlust und Alpha-

numerische Gesellschaft nicht ganz einig über die Kategorisierung desselben ist, nimmt

doch das Konzept Code einen zentralen Stellenwert in seiner Argumentation ein: Er be-

spricht die Entstehung, Herkunft, Einfluss, Auf- und Abstieg unterschiedlicher Codes,

und gibt Prognosen für die Zukunft dieser Codes ab.

2.1 Von Codes, Historizität und Paradigmenwechseln

Ein Code ist laut Flusser ein System aus Symbolen, das es dem Menschen erlaubt,

Erlebtes nach Gemeintem zu übersetzen, zu übertragen. Codes sind also immer etwas

Künstliches, etwas Sinngebendes. Als frühes Beispiel eines Codes zieht Flusser immer

wieder die Höhlenmalereien von Lascaux im Nordosten der Dordogne heran: es handelt

sich dabei um verschiedene einfache Jagdszenen, die vermutlich um 15.000 a.d. oder frü-

her entstanden sind. Flusser beschreibt diese als 2-dimensionale Codes (im Gegensatz

zum Alphabet etwa, das er als eindimensional bezeichnet), und weist auf eine markante

Eigenschaft dieser Bilder hin: deren Diachronizität. Wir erkennen beim Betrachten erst

das Bild und seine Bedeutung in seiner Gesamtheit, auf einen Blick, bevor wir die einzel-

nen Elemente erkennen, und dann in der (willkürlichen) Reihenfolge ihrer Betrachtung.

Diese Codes sind also nonlinear, und es fehlt eine zeitliche Synchronisation der Elemente.

Aus dieser Beobachtung heraus hypothetisiert Flusser, daß Gesellschaften erst durch die

Entwicklung von linearen Codes Geschichtsbewusstsein erlangen: durch das Zerlegen von

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 4

Bildern in Szenenteile, geordnet in Linienform mit klarer Abfolge, später durch Wörter

und Buchstaben, tritt man zwar einen Schritt weiter weg vom konkreten Erlebnis, ermög-

licht aber erst eine Zeiterfahrung wie sie laut Flusser der westlichen Gesellschaft gemein

ist. An dieser Stelle sei angemerkt, daß der Autor diese und ähnliche Aussagen nicht etwa

abstrakt oder um eines Beispiels willen auszuformulieren scheint, sondern vielmehr ganz

konkrete Möglichkeiten beschreibt: Im Falle des Zeitbewusstseins meint er tatsächlich die

grundlegenden Konzepte wie Heute, Gestern, Übermorgen, Jahre, Jahrzehnte oder, ganz

simpel, damals.

Natürlich brauchten Buchstaben, Wörter und Texte Jahrzehnte und Jahrhunderte, um

die Bilder zu besiegen (Flusser spricht hier tatsächlich von einem Kampf), doch spätestens

mit der Einführung des Buchdrucks war diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Doch

über diesen vergleichsweise langsamen Paradigmenwechsel von zwei- zu eindimensionalen

Codes hinaus konstatiert Flusser der okzidentalen Gesellschaft einen weiteren, neuen und

viel schneller vonstatten gehenden Paradigmenwechsel, weg von Texten und Alphabet als

Code und hin zu den sogenannten Technobildern. So wie Flusser den Schritt von Bildern

zu Schrift und Texten als Entfremdung, als Wechsel der Bewusstseinsebene beschreibt,

so sieht er auch den Schritt zu Technobildern als weiteren Schritt weg vom Konkreten:

“Die Techno-Codes sind ein weiterer Schritt weg von den Texten, denn sie

erlauben, sich von Begriffen Bilder zu machen"

Hier läßt Flusser zum ersten Mal in einer appellativen Form anklingen, worum es ihm in

den vorliegenden Texten geht:

“Das ist es, was wir mit Krise der Werte meinen: daß wir aus der linea-

ren Welt der Erklärungen hinausschreiten in die techno-imaginäre Welt der

Modelle. [...] Es gibt keine Parallelen in der Vergangenheit, die uns erlaub-

ten, den Gebrauch der Techno-Codes zu lernen, so wie sie sich zum Beispiel

als Farbexplosion manifestieren. Aber wir müssen ihn lernen, sonst sind wir

verurteilt, in einer bedeutungslos gewordenen, techno-imaginär kodifizierten

Welt ein sinnloses Dasein zu fristen.”

Was er damit anspricht, ist eine allen Texten des Werks zugrundeliegende Annahme,

nämlich daß die menschliche(n) Gesellschaft(en) durchaus imstande sind, Technologien

wie etwa Kommunikationsformen zu entwickeln, die über die menschlichen Fähigkeiten

insofern hinausgehen, als daß der Mensch und die Gesellschaften, in denen er lebt, schlicht

noch nicht bereit sind, mit jenen Technologien umzugehen. Hierbei schwankt Flusser

zwischen allgemeiner Feststellung dieses Faktums und konkreten Zukunftsaussichten, die

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 5

aus diesem Ungleichverhältnis entstehen - Zukunftsaussichten, die Flusser als durchaus

dramatisch und gefährlich beschreibt.

2.2 Vom Einfluß der Codes

Im Text Glaubensverlust führt Flusser nun diese Gedanken fort und beschäftigt sich

mehr mit dem Einfluß der Codes auf die Gesellschaft. Zu diesem Zweck betrachtet er

die menschliche Gesellschaft gemäß der Analogie eines informationsspeichernden und in-

formationsgenerierenden Gewebes, wobei Individuen in diesem Gewebe die Knoten dar-

stellen, und durch Kanäle oder Medien miteinander verbunden sind. Ausgehend von der

Frage Was ist Gedächtnis? und der verschiedenen Antworten auf diese Frage, die un-

terschiedliche Disziplinen zu geben imstande sind (vom sokratisch-platonischen Ort für

Ideen über den jüdischen Ort, an dem tote Seelen leben hin zum psychologischen Ort, an

dem Erlebnisse bearbeitet werden und dem kybernetischen Ort für die Informationsauf-

bewahrung) betrachtet Flusser Codes unter dem Gesichtspunkt der Informationsspeiche-

rung. Hierzu trennt er Information in Inhalt (respektive Botschaft) und Form (respektive

Code). Gemäß Wittgenstein’s „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner

Welt“ [Tractatus 5.6] kann natürlich nur gespeichert werden, was in Codeform gebracht

werden kann; was nicht in Codeform zu bringen ist, geht also verloren.

Dieser Beobachtung folgend fragt Flusser weiter nach den Elementen der Botschaft: Wo-

her die kodifizierbaren Einflüsse kämen, und woher die Codes selbst kämen, sei der logisch

nächste Schritt. Während Flusser den LeserInnen die Antwort auf die erste Frage mit

dem Hinweis auf ihre Unbeantwortbarkeit schuldig bleibt - im Geiste Kants wären sowohl

die Frage als auch ihre Antwort metaphysischer Natur, die Antwort müsste also selbst

kodifiziert werden und wäre somit einem Zirkelschluß preisgegeben - beantwortet er die

zweite sehr wohl: Codes entstehen, wenn ältere Codes nicht mehr ausreichen, um neue

Informationen zu beschreiben, und sie setzen sich je nach Qualität mehr oder weniger gut

durch. Dabei ist jeder Code nur eine Weiterentwicklung eines vorhergehenden, es besteht

also eine inherente Hierarchie, in der Codes desto grundlegender sind, je geringer die

Komplexität ihrer Grundstrukturen ist. Beispielhaft nennt Flusser hier das Verhältnis

zwischen linearen und technischen Codes: Während die linearen Codes nicht imstande

sind, die Inhalte der neuen aufzunehmen und wiederzugeben, ist das umgekehrt schon

möglich. Bücher etwa können laut Flusser nicht die Gesamtheit eines Films beschrei-

ben, oder ein gleichwertiges sensorisches Erlebnis bieten, Filme können aber sehr wohl

Umsetzungen von Büchern sein und als solche denselben Inhalt und mehr wiedergeben.

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 6

Beispielhaft nennt Flusser 4 Grundformen von Codes: Lineare, flächenhafte, körperliche

und raum-zeitliche Strukturen. Hier scheint er allerdings an die Grenzen seiner Taxono-

mie zu stoßen, läßt er die körperliche Strukturen (die ja noch eher vorstellbar sind, es

liegen Assoziationen zu dinglichen Kommunikationsformen etwa indigener Völker Nord-

amerikas nahe, die durch speziell genickte Äste oder geknotete Stricke Botschaften über-

brachten) und die raum-zeitlichen Strukturen doch unerklärt und unerwähnt. Lineare

Codes allerdings schliessen unter Anderem Zeichen, Keile, Knotenschrift sowie Filme

mit ein; flächenhafte Codes sind etwa Bilder oder Photographien (wobei er diesen in

einem der späteren Kapitel noch besondere Aufmerksamkeit zukommen läßt).

Aufbauend auf diesen Überlegungen beschreibt Flusser die okzidentale Gesellschaft vom

frühen Altertum bis heute, was sich in drei zentrale Thesen gießen läßt:

I) Die okzidentale Gesellschaft gleicht einem Kommunikationsgewebe, das

vorwiegend für lineare Codes programmiert ist. Daraus ist allerdings zu schlie-

ßen, daß sie definiert ist durch einen Glauben [sic] an den prozessuralen Cha-

rakter der Natur. Sein ist immer Werden, nichts wiederholt sich unverändert:

Die Welt ist auf eine lineare Art und Weise lesbar, ihre Struktur entspricht

derjeniger linearer Codes.

II) Gleichzeitig ist die okzidentale Gesellschaft allerdings gerade dabei, sich

aufzulösen, da diese linearen Codes erschöpft sind. Ein Indiz dessen ist laut

Flusser die Tatsache, daß ständig neue Inseln mit frischen Codes im Kom-

munikationsnetz entstehen (als Beispiel nennt er etwa das Fernsehen oder

Verkehrscodes wie Ampeln oder Schilder).

III) Diese Kulturkrise ist gekennzeichnet von der Umwandlung der Gesell-

schaft in Richtung einer Massenkultur, ausgelöst durch die Unfähigkeit der

Gesellschaft, mit den neuen, nonlinearen Codes umzugehen. Aufgabe zukünf-

tiger Generationen muß es also sein, den Umgang mit den neuen Codes auf

breiter Gesellschaftlicher Basis zu erlernen, und Möglichkeiten schaffen, die

Inhalte der alten Codes mit den Neuen zu bewahren, sowie die neuen Codes

weiterzuentwickeln, um Ihnen Geschichtsbewusstsein beizubringen.

2.3 Der Ursprung des Alphabets

Hinwegblickend von der Betrachtung von Codes und deren Auswirkungen wirft Flusser im

Text Alphanumerische Gesellschaft nun einen genaueren Blick auf die Art und Weise wie

Individuen selbst und Gesellschaften im Ganzen Denken. Er eröffnet seine Argumentation

mit dem Hinweis auf die menschliche Fähigkeit, die biologische Bedingung, also ererbte

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 7

Informationen, wie sie etwa durch die von Gregor Mendel formulierten Mendel’schen

Gesetzen beschrieben wurden, durch andere biologische Gegebenheiten zu überwinden:

Während Ererbtes einem weit langsameren Zyklus des Informationserwerbs unterworfen

ist, ermöglichten Hände und Mund mittels Bildzeichen und Sprache einen weit agileren

Umgang mit erworbenen Informationen.

Beide Informationstypen, Ideogramme und Sprache, haben natürlich entsprechende Vor-

und Nachteile; während orale Kultur weit artikulierter ist als Bildzeichen sein können,

ist sie auch von Flüchtigkeit geprägt; materielle Kultur ist dafür dauerhafter als das

gesprochene Wort, aber auch weniger geschmeidig. Flusser hypothetisiert nun, daß das

Alphabet den Sinn und Zweck hatte, die Lücke zwischen diesen beiden Gedächtnisstützen

zu schließen: Durch die Möglichkeit, Informationen auf Papier, Stein oder anderen Mate-

rialien festzuhalten, gewinnt die Informationsform Schrift an Dauerhaftigkeit, und durch

die Tatsache, daß die Zeichen des Alphabets nicht Worte oder Bilder, sondern Phoneme

der oralen Sprache darstellen, gewinnt sie beinahe dieselbe Agilität wie die gesprochene

Sprache selbst.

Flusser widmet sich nun der Sprache selbst, und referiert kurz über die von Humboldt

und Schlegel formulierten Sprachcodes. Hier beläßt er es allerdings nicht nur bei der

bloßen Beschreibung der drei Typen (flexionierende Sprachen passen Worte durch Fle-

xion dem Satz an, agglutinierende definieren Kontext durch Prae-, Post- und Infixe,

isolierende definieren Bedeutung und Kontext durch die Wortposition im Satz selbst),

nein, er weist diesen Typen auch eine tiefergehende Charakteristik zu: die Struktur der

verschlüsselten Informationen. Flusser stellt die These auf, isolierende Sprachen würden

durch ihre Struktur zu Szenen, agglutinierende zu Gestalten und flexionierende zu Pro-

zessen verschlüsseln, und zwar nicht nur beim Niederschreiben, sondern natürlich auch

beim späteren Entschlüsseln. Auf dieser These aufbauend, ergibt sich für Flusser eine

noch weit radikalere Hypothese für die Erfindung des Alphabets:

“Das Alphabet hat den langen Umweg vom Denken zum Schreiben über die

Sprache eingeschlagen, um das Denken zu einem disziplinierten, progressiven,

prozessualen Diskurs zu zwingen.”

Aus dieser radikalen Interpretation des Alphabets ergeben sich natürlich einige weitere

Überlegungen: Wenn die flexionierenden Sprachen durch die Art ihrer Verschlüsselung

nur die Tendenz zu prozessuralem Denken enthalten, und das Alphabet diese Tendenz

nun aktualisiert, ist durch das Alphabet erst Geschichte ermöglicht worden: Nicht nur,

weil Schrift das Festhalten von historischen Ereignissen ermöglicht, sondern besonders,

weil vor dem Alphabet [...] gar keine Geschehnisse, sondern nur Ereignisse denkbar

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 8

waren. Damit spricht Flusser natürlich auch allen nicht-alphabetischen Kulturen Ge-

schichtsbewusstsein im engeren Sinn ab, obgleich er allerdings wohl erwähnt, daß diese

Kulturen andere, alternative Bewusstseinsformen zuzugestehen sind - Bewusstseinsfor-

men, die den okzidentalen Kulturen offensichtlich nicht zugänglich sind.

2.4 Die dritte Ebene des Denkens

Die beiden Ebenen des Denkens, die Flusser bis zu diesem Punkt behandelt hat - das

Bilderdenken, welches er magisch-mythisch nennt, und das prozedural-historische Den-

ken, welches sich in Alphabet, linearen Codes und Texten als Kulturgütern manifestiert

- nimmt Flusser nun zum Anlass, um seine Interpretation der Entstehung einer dritten

Art zu Denken darzulegen: das formal-kalkulatorische Denken. Auch hier bedient er sich

geschichtlicher Beispiele, um die Entwicklung dieses Denkens zu illustrieren, und beginnt

dafür im Mittelalter: auch wenn die Schrift stets nur den schriftgelehrten Eliten, den lit-

terati, vorbehalten war, stand sie doch stets in einem regen Austausch mit den Bildern,

sei es als Erklärungen von Bildern, etwa in einem religiösen Kontext (Bildunterschriften

in Kirchen), oder durch die Illustration von Texten durch Bilder. Durch diese Einbettung

gewannen auch die illiteraten Teile der Gesellschaft historisches Bewusstsein (etwa durch

die Einbettung der Bilder, Mythen und Fest in die Heilsgeschichte).

Das formal-kalkulatorische Denken jedoch stellt für Flusser eine Art Hybride zwischen

magisch-mythischem und prozessuralem Denken dar: Obgleich es schon lange vorher Teil

der menschlichen Kultur war - er nennt hier als Beispiel etwa Lehmtafeln, die Zeichnungen

und Pläne von Bewässerungssytemen zeigen - bedarf es laut Flusser erst des Aufkommens

der Renaissance, die Hegemonie der klassischen Denkweisen zu erschüttern. Das Potential

dazu habe jedoch schon länger bestanden, stellt Flusser fest, beinhaltet das Alphabet

doch schon seit langem Numerale, aber es bedurfte gesellschaftlicher Veränderungen, um

dieses Potential auch zu nutzen.

Speziell das Aufkommen des Bürgertums beschreibt Flusser als Grundvorraussetzung für

das Fußfassen des fomal-kalkulatorischen Denkens, und bedient sich dafür einer simpli-

fizierenden Metapher: Bischof und Schuster auf einem Marktplatz der beginnenden Re-

naissance. In diesem Bild legt der Bischof den Preis der vom Schuster gefertigten Schuhe

auf theoretische Weise fest: indem er aufgrund der Differenz des tatsächlichen Artefakts

Schuh zu einem Ideabild, der platonischen Idee Schuh den gerechten Tauschwert erkennt

und zuweist - aus Sicht des Bischofs sind alle gefertigten Artefakte nur mehr oder we-

niger vollkommene Abbildungen ewiger und unveränderlicher Ideen. Die Revolution des

Bürgertums läßt sich nun aus Sicht des Schusters folgendermaßen beschreiben: Da der

Schuster die Artefakte, die er fertigt, als Abbilder seiner eigenen, veränderbaren Ideen

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 9

und damit einem Prozess der Weiterentwicklung unterworfen sieht, lehnt er sich gegen

die Autorität des Bischofs auf: der Markt wurde frei, er beginnt sich selbst zu regulieren.

Flusser zeigt nun auf, daß sich die Figur des Bischofs als prototypischer Theoretiker be-

trachten läßt, wiewohl einer, dessen Aufgabe nun einer gewissen Veränderung unterwor-

fen ist. Früher war seine Pflicht, die Welt so zu verstehen, wie man einen komplizierten

Text zu verstehen versucht, durch Entzifferung und Übersetzen, und die gewonnenen

Erkenntnisse zur Bewertung der Welt zu nutzen Nun aber muss er als Theoretiker der

Neuzeit im Allgemeinen und der Moderne im Speziellen in einen Prozess des Schusters

eingebunden sein, um seine Funktion weiter ausüben zu können: Er ist plötzlich gefangen

zwischen Theorie und Observation einerseits und Theorie und Experiment andererseits:

Erstens ist Observation nun nötig zur Theoriebildung, da kein metaphysischer Text (wie

philosophische Ontologien etwa) und auch kein realer Text (wie etwa Glaubensschriften

wie die Bibel oder Koran) mehr Grundlage aller Erkenntnis sein kann, und zweitens müs-

sen seine Theorien nun auch dem Experiment standhalten können, um an Wahrheit zu

gewinnen.

Diesen Widerspruch nun sieht Flusser als Grundstein moderner Wissenschaft und der

Industrierevolution, und damit auch als Grundstein des formal-kalkulatorischen Denkens.

Die Theoretiker und, leider viel spährlicher, TheoretikerInnen des Mittelalters werden

die NaturwissenschaftlerInnen der Neuzeit und geben das lineare Denken zunehmend

zugunsten des formalen auf, während die Gesellschaft als Ganzes sukzessive litterater

und damit geschichtsbewußter wird: ein Paradigmenwechsel, wie ihn Flussser später auch

für das späte 20. Jahrhundert prognostiziert.

2.5 Vom Formaldenken zum Computer

Die weitere Entwicklung des Denkens beschreibt Flusser nun folgendermassen: Mit dem

Fortschreiten der Entwicklung in den Naturwissenschaft Physik, Mathematik und Astro-

nomie wird zunehmends das Problem offenbar, daß die Natur viel zu komplex ist, um mit

simplen Zahlen, wie sie das Alphabet zur Verfügung stellt, beschrieben zu werden. Isaac

Newtons und Gottfried Leibniz’s Entwicklung der Differentialgleichungen haben zwar

zur Folge, daß die Natur sich immer besser beschreiben lässt, jedoch stellt sich heraus,

daß der (Zeit-)Aufwand der Berechnungen bald beginnt, die Lebenszeit eines einzelnen

Menschen zu überschreiten. Die logische Entwicklung, um diesem Problem Abhilfe zu

schaffen, waren erst Rechenmaschinen, und in weiterer Folge dann natürlich der Compu-

ter.

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Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 10

Flusser unterstreicht 2 relevante Aspekte des Computers für die okzidentale Gesellschaft:

Der erste Aspekt ist, daß Computer digital denken: sie sind so schnell mit einfachen, sim-

plen Berechnungen, daß sich für sie alles rein binär, mittels 0 und 1, ausdrücken läßt, und

sie trotzdem um ein Vielfaches performanter sind, als Menschen es jemals hätten sein

können. Damit wandelt sich aber die Aufgabe der Menschen, die diese Computer bedie-

nen, von Zählen und Rechnen zu Analysieren und Synthetisieren von Zahlenstrukturen:

ein weiterer Schritt weg vom linearen Denken hin zu abstrakterem, gesamtheitlicherem

Denken.

Der zweite Aspekt ist, daß Computer nicht nur rechnen können, sondern auch kom-

putieren. Dieser Kunstbegriff verlangt nach etwas detaillierterer Erklärung: Während

Flusser die rechnerischen Tätigkeiten des Computers als replikatives Verfahren zur (Re-

)Kombination von Zahlen zu wieder mehr Zahlen sieht, also einen Prozess der Umwand-

lung von Gegebenem in Gegebenes, beschreibt er Komputieren als einen kreativen Pro-

zess der Neuschöpfung. Die Ergebnisse dessen sind synthetische Graphiken, Töne und,

wie er prognostiziert, bald auch Welten (es sei angemerkt, daß der vorliegende Text in

den späten 70er Jahren des letzten Jahrhunderts verfasst wurde!) - heute würden wir

wohl von Virtual Reality sprechen. Als Folge dieser Tatsache diagnostiziert Flusser ei-

ne weitere gesellschaftliche Umwandlung, müssen doch die heutigen Intellektuellen die

neuen Codes, die Computer imstande sind zu generieren, zu komputieren eben, lernen,

wollen sie weiterhin am Kulturbetrieb teilhaben. Flusser selbst paraphrasiert:

“Die neue Elite denkt in Zahlen, Formen, Farben, Tönen, aber immer weniger

in Worten. Die Regeln ihres Denkens sind mathematisch, chromatisch, mu-

sikalisch, aber immer weniger logisch. Es ist ein immer weniger diskursives

und immer mehr synthetisches, strukturelles Denken.”

2.6 Im Paradigmenwechsel

So hat Vilem Flusser die Menschheitsgeschichte anhand obiger Denksysteme charakte-

risiert und paraphrasiert, von bildlichem Denken über die Erfindung des Alphabets zu

linearem Denken, von dort zu formal-kalkulatorischem Denken, und schließlich hin zum

komputatorischen Denken. Hier nun bezieht Flusser allerdings selbst inhaltlich Stellung,

und spricht sich gegen die neue Art zu Denken - oder präziser: für das lineare Denken

in Form von Schreiben und Lesen, sowie das formal-kalkulatorische Rechnen, aus, und

führt drei Argumente für diese Kulturgüter an:

Erstens beinhalte Schrift Informationen, die erst analysiert werden müssen, um sie zu

empfangen, im Gegensatz zu Bildern, die erst empfangen und danach analysiert werden.

Page 16: Flusser - Medienkultur

Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 11

Eine Zeile Text muss bis zum Schlusspunkt gelesen werden, bevor sie verstanden werden

kann: das mache Lesen zwar unbequemer, aber es verhindert laut Flusser das unkritische

Empfangen. Flusser schließt daraus, daß der Verlust der Lesefähigkeit den Verlust der

Kritikfähigkeit mit sich brächte.

Zweitens beinhalte Schrift Informationen, die erst durch die Analyse zurück zu den Au-

torInnen, den Schreibenden, aus dem Hintergrund gebracht werden können: Als Illustra-

tion drängt sich etwa die Interpretation eines Gedichts, die oftmals erst durch Wissen

um den Autor oder die Autorin möglich wird, auf - als Beispiel sei Paul Celans Gedicht

Tübingen, Jänner angeführt, das ohne Wissen um die Biographie Friedrich Hölderlin’s

nur schwerlich interpretiert und verstanden werden kann. Dieser Eigenschaft von Schrift

stellt Flusser die Hintergrundlosigkeit von Komputationen entgegen: alle ihre Bestand-

teile und Teilinformationen seien bereits bei ihrer Herstellung bekannt und offenbar, es

ist also sinnlos, sie zurückzuverfolgen. Hieraus schließt Flusser, daß mit dem Verlust der

Lesenfähigkeit der Verlust der Disziplin der Grunlagenanalyse einher ginge.

Als beispielhaftes drittes Argument für Schrift gibt Flusser zu bedenken, daß Buchstaben

selbst Kulturgüter sind: Er bezieht sich hiermit auf die Entwicklungsgeschichte einzelnen

Buchstaben, wie etwa die Hörner des syriakischen Stiers, die später zum Buchstaben A

wurden. Ein Verlust dieses Kulturguts nun käme laut Flusser einem Verlust der Kultu-

ridentität des Menschen gleich.

Diese drei Gefahren sieht Flusser als beispielhaft für die Gefahr, der die Gesellschaft im

Zuge der Einführung der neuen, kalkulatorisch statistischen Codes ausgesetzt ist. Seine

Hypothese ist, daß das Komputative Denken das historisch kausale, prozessorientierte

Denken der Intellektuellen abzulösen beginnt. Das führt dazu, daß die Gesellschaft von

einer kleinen Gruppe Intellektueller mittels Programmierung der Manifestationen des

neuen Denkens (Computer, aber auch Fernsehen) manipuliert wird. Sie kann diesen Um-

stand aber nicht sehen oder ändern, da ihr prozessuales, lineares Denken für ihre Lage

inadequat ist. Als Folge dessen besteht die oben beschriebene Gefahr, daß Lesen und

Schreiben, Schrift und damit verbundenen Kulturgüter verloren gehen.

2.7 Hinweg vom Papier

Es sei hier angemerkt, daß Flusser in allen Texten des vorliegenden Buches keineswegs

eine klare Kontra-Position zu neuen Technologien einnehmen will; so sind auch die obigen

Argumente mehr als Hinweise zu verstehen, wie wichtig die Integration von Kulturgü-

tern eines Denksystems in ein neues Denksystem ist. Ein Beispiel für so eine, für Flusser

Page 17: Flusser - Medienkultur

Kapitel 2. Die kodifizierte Welt 12

durchaus positiv besetzte Umwandlung, ist die Gegenüberstellung von kreativem Schrei-

ben am Papier einerseits und als Computertext andererseits, wie sie Flusser im nächsten

Essay, Hinweg vom Papier, vornimmt.

Kreatives Schreiben am Computer ist, wie Flusser postuliert, radikal anders als Schreiben

auf Papier. Während das Schreiben auf Papier einen Diskurscharakter hat, sowie die

Kreativität durch natürliche Grenzen (und sei es nur die Menge an Papier) beschränkt

wird, hat Schreiben am Computer einen dialogischen Charakter, da sich die grundlegende

Intention der Schreibenden verändert. Computertexte sind gedacht, von den Lesenden,

die zugleich auch wieder Schreibende sind, manipuliert, editiert, erweitert und umgestülpt

zu werden, anstatt wie Papiertexte im Gedächtnis der rein Lesenden gespeichert, kritisiert

oder kommentiert zu werden. Während beim papiergeschriebenen Text das Schreiben der

Prozess ist, ist beim Computertext der Text selbst der Prozess. Diese zusätzlich Qualität

von Computertexten beschreibt Flusser als durchwegs positiv, als ein Beispiel einer neuen

Technologie und des ihr inherenten Potentials.

2.8 Die kodifizierte Welt: Conclusio

Auch wenn Flusser sich im ersten Teil hauptsächlich darauf konzentriert, die grundlegen-

den Mechaniken seiner Kommunikationstheorie zu erläutern, enden seine Texte stets in

einer Conclusio der einen oder anderen Art. Die Erläuterungen zu Codes, deren Geschich-

te und Entstehung, sowie zu den verschiedenen Arten des Denkens, die durch ebenjene

Codes ermöglicht werden, kreisen alle um dieselbe These: es ist unumgänglich, daß sich

die Gesellschaft auf die neuentwickelten Codes, seien sie als komputatorisch oder non-

linear beschrieben, einstellen muss, um ihre Kulturidentität zu bewahren. Die Gefahren,

die er in diesem Paradigmenwechsel sieht, sind mannigfaltig und gipfeln im Großen und

Ganzen in dem Verlust der Kulturidentität der okzidentalen Gesellschaft, sowie in der

Umwandlung derselben in eine Massengesellschaft - und auch wenn Flusser die Konse-

quenzen einer solche Umwandlung nicht im Detail ausarbeitet, wird doch klar, daß sie

drastisch wären.

Es scheint an dieser Stelle angebracht, abermals darauf hinzuweisen, daß die bearbeiteten

Texte aus einem Zeitraum zwischen 1978 und 1989 stammen, und als solche natürliche

rezente Entwicklungen nicht miteinbeziehen konnten. Die Allgemeinheit seiner Thesen,

sowie der weite, die ganze Menschheitsgeschichte umspannende Bogen seiner Ausführun-

gen läßt die LeserInnen dieses Fakt jedoch leicht vergessen, und allein die Tatsache, daß

auch für das heutige Publikum zweifelsfrei sofort Assoziationen zu aktuellen gesellschaft-

lichen und technologischen Entwicklungen aufkommen, scheint die die Aktualität seiner

Thesen zu unterstreichen.

Page 18: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3

Eine Revolution der Bilder

Den zweiten Teil des Buches widmet Flusser ganz und gar den Bildern, also jenen 2-

dimensionalen Codes, die er im ersten Teil als magisch bezeichnete. Die Texte konzen-

trieren sich allesamt auf die Art und Weise wie Bilder im Laufe der Menschheitsgeschichte

erstellt, per- und rezipiert werden und wurden, sowie auf die Auswirkungen dieser Rezep-

tion auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene. Kernthema ist jedoch stets die Richtung

des Informationsflusses dieser Bilder: beinahe jeder Text beinhaltet ein Plaidoyer für das

Umschalten der Informationskanäle, um aus den einseitigen Empfängern auch Sender

machen zu können.

3.1 Entsetzliche Bilder

Fernsehbilder sind entsetzlich: Um diese These baut Flusser eine Kritik an den struktu-

rellen Gegebenheiten von Fernsehbildern auf. ‘Entsetzlich’ meint er hier in einem beinahe

wörtlichen Sinne: sie sind ent-setzt, da sie von Orten, die den ZuseherInnen unzugänglich

sind, ausgestrahlt werden, weil sie die Ansichten der Empfangenden gleichschalten und

keine Möglichkeiten zur Interaktion bieten. Aber auch im übertragenen Sinne sind diese

Fernsehbilder entsetzlich, weil sich die Blicke all derer, die in den Fernseher sehen, dort,

wo die Bilder hergestellt werden, treffen, und sie doch blind für einander sind. Flusser

hypothesiert, daß zwei Besucher aus der Vergangenheit, ein Höhlenmensch aus Lascaux

und ein Mensch des florentinischen Zeitalters, entsetzt wären ob dieser Kommunikati-

onsstrukturen, nicht aufgrund der gezeigten Bilder: die ‘Schaltung’ der immateriellen

Kabeln, welche die Bilder ausstrahlen, ist das Entsetzen gebietende.

Flusser bietet 2 Lösungstrategien an, da es ihm offensichtlich scheint, daß die herrschen-

de Bilderflut sich nicht so einfach eindämmen lassen wird: Erstens schlägt er hier zum

13

Page 19: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 14

ersten Mal vor, die Kabel reversibel, also bidirektional zu gestalten, um den Zusehenden

die Möglichkeit zu Interaktion und Kommunikation zu geben. Den derzeitigen Zustand

beschreibt er als verantwortungslos, da die Betrachtenden keine Antwort geben können -

wären alle EmpfängerInnen aber auch gleichzeitig SenderInnen, wäre jedeR verantwort-

lich: Flusser nennt das die später ausführlicher beschriebene telematische Informations-

gesellschaft. Als Folge dieser geteilten Verantwortung wäre natürlich der ständige Dialog

einer ebenso steten Kritik unterworfen: der Gefahr der Vermassung wäre damit Einhalt

geboten.

Ein zweiter Lösungsansatz sind laut Flusser sogenannte stille Bilder : Bilder, die die bil-

derspeienden Apparate überlisten, indem ihre Herstellung entweder die Apparate (etwa

Photoapparate) mißbräuchlich verwendet, oder Bilder, die apparatlos hergestellt werden,

wie etwa Malereien. Die Gefahr, die dadurch gebannt werden sollte, ist die scheinbare

Objektivität, die scheinbare Wahrheit der von den Apparaten hergestellten Bildern: als

Beispiel nennt Flusser etwa Fernsehfilme, deren Fiktionalität nur durch die Anmodera-

tion und durch den Abspann gekennzeichnet ist. Stille Bilder nach Flussers Definition

würden einen klar ersichtlichen Bruch, einen Kontrapunkt zu den apparatischen Bildern

darstellen, und so die Grenzen der Apparate aufzeigen.

Die These, die Flusser in diesem Text formuliert, ist klar: Die Menschen ertrinken förm-

lich in einer Flut massenhaft hergestellter Bilder. Die Rückkehr zu den guten alten Bil-

dern ist ihnen unmöglich, da sie weder in der Herstellung dieser Bilder mit den neuen

Apparaten konkurrieren können, noch in der Wahrnehmung der alten Bilder von ihrer

neuen, apparatischen Weltsicht Abstand nehmen können. Ausweg bietet nur eine Art Re-

Design der apparatischen Kommunikationsstrukturen, beziehungsweise das Überspielen

der Bilderflut mit neuen, besseren, stillen Bildern.

3.2 Die Absicht hinter Bildern

Hat Flusser sich im Text Bilderstatus dem wie der Bilder gewidmet, so wirft er nun

einen Blick auf das warum, und beantwortet die Frage, was die Absicht hinter oder der

Zweck von verschiedenen Bildertypen unterschiedlicher Zeiten sei: exemplarisch zieht er

wieder die Höhlenmalereien von Lascaux, ein Malereibild etwa aus der Zeit der Re-

naissance, sowie Fernsehbilder heran und vergleicht Absicht und Wirkung in einem

Sender/Empfänger-Modell.

Die Seite der SenderInnen gestaltet sich folgendermaßen: Das Bild einer Stierjagd in

Lascaux entspricht festgehaltener Erkenntnis: es ist Erlebnisdarstellung und Modell für

zukünftiges Verhalten zugleich - und es ist natürlich untransportierbar. Das bedeutet

Page 20: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 15

natürlich, daß die nutznießenden Menschen, also die BetrachterInnen, sich dem Bild

nähern müssen, um es etwa als Lernobjekt zu verwenden.

Im Gegensatz dazu ist das Malereibild der Renaissance nicht Beispiel und Modell, sondern

eine Kodierung von Erkenntnissen, Erlebnissen und Werten in den generischen Code

Farbflächen. Um zur Geschichte beizutragen, muß es vom privaten in den öffentlichen

Raum bewegt werden; es ist also mobil. Dort wird es kritisiert und dadurch sein Wert

festgestellt - Flusser skizziert hier eine Dichotomie zwischen Tauschwert und Eigenwert

(wobei der Tauschwert der Verwendbarkeit für die zukünftige Geschichte entspricht und

der Eigenwert dem Perfektionsgrad des Werkes).

In krassen Gegensatz dazu stellt Flusser nun Fernsehbilder. Nicht ein Individuum, son-

dern eine Gruppe an Spezialisten stellt sie her und überträgt sie - und legt auch ihren

Wert fest, indem sie deren Wirksamkeit messen. Wirksamkeit ist hier auch Stichwort für

das warum: Warum Fernsehbilder herstellen? Laut Flusser ist es nötig, das Verhalten der

modernen, komplexen Gesellschaft vorauszusehen - und die beste Methode dafür sei es,

der Gesellschaft das Verhalten vorzuschreiben, anstatt es nur vorrauszusagen. Bilder sind

nun, wie auch im Lascaux-Beispiel erwähnt, gute Verhaltensmodelle, und Fernsehbilder

umgehen die Notwendigkeit, zum Ort des Bildes zu gehen, um es zu betrachten.

Betrachtet man nun die drei Beispiele aus der Sicht der Empfangenden, so ergibt sich

das folgende Bild: Jagdmenschen orientieren sich an den Stierkampfbildern - die Welt

gewinnt an Sinn für sie, die Bilder definieren die Betrachtenden als JägerInnen und ge-

winnen so Offenbarungscharakter. Die StadtbürgerInnen der Renaissance nehmen durch

die Betrachtung des Malereibildes an der Geschichte teil - die Bilder verlangen nach ihrer

Kritik sowie nach der Integration des Aufgenommenen in die gespeicherten (erinnerten)

historischen Informationen: je origineller das Bild, desto interessanter wird es, je weniger

originell, desto bequemer wird es zu betrachten.

Die modernen FunktionärInnen einer Gesellschaft allerdings werden von den Bildern be-

rieselt und damit zu ProduzentInnen oder KonsumentInnen programmiert. Die Bilder

sind designt, möglichst effizient die Notwendigkeit für Kritik auf ein Minimum zu redu-

zieren. Das Aufgeben des Bildbetrachtens (Fernsehens) ist Flussers Ansicht nach schon

dadurch unmöglich, da es einem Aufgeben der gesellschaftlichen Funktion und Position

gleich käme.

Die Lösung des Dilemmas ist wiederum das Umschalten der Sendemethode: das Pro-

grammieren der Gesellschaft funktioniere nur, weil das Senden von Fernsehbildern im

Gegensatz zu Höhlenbild und Malerei unidirektional geschehe. Würden Fernsehbilder

Page 21: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 16

bidirektional, kooperativ geschaltet, würde das die Absicht des Progammierens über-

winden, und gleichzeitig auch die neue Bilddimension ‘komputierte Bilder’ erschließen.

Flusser paraphrasiert:

“So wie sie gegenwaertig geschaltet sind, machen die neuen Medien Bilder

zu Verhaltensmodellen und Menschen zu Objekten, aber sie können anders

geschaltet werden und damit Bilder in Bedeutungsträger und Menschen zu

gemeinsamen Entwerfern von Bedeutung verwandeln.”

3.3 Von Photographien zu Filmen

Im nächsten Text, Filmerzeugung und Filmverbrauch, widmet sich Flusser nun den Un-

terschieden zwischen bewegten und statischen Bildern - aus der Sicht der Herstellenden

dieser Medien. Seiner Ansicht nach besteht nämlich ein markanter Unterschied zwischen

der Perzeption der PhotographInnen und der FilmerzeugerInnen, der stellvertretend für

den Gegensatz zwischen historisch-linearem und techno-imaginativem Denken in der Ge-

sellschaft steht, und anhand dessen ein Zukunfsbild entworfen werden kann, wie Medien-

konsum für das Individuum in einer Gesellschaft mit den zuvor beschriebenen ‘reversiblen

Kabeln’ funktionieren kann.

PhotographInnen und FilmerzeugerInnen unterscheiden sich laut Flusser im modus ope-

randi ihrer Tätigkeit. Während PhotographInnen einzelne, diskrete Standpunkte einneh-

men, Szenen behandeln und sich sprunghaft und damit auch entscheidend bewegen, ist

die Tätigkeit des Filmerzeugens eine gleitende, fließende: es werden Ereignisse mithilfe

von Techniken wie ‘travelling, scanning, close-ups und zooming’ behandelt.

Es gibt aber noch einen weiteren, umso markanteren Unterschied bei der Medienerzeu-

gung: Während Photographien Ergebnisse erzeugen, erzeugen Filmkameras nur Rohma-

terial. Nun führt Flusser den LeserInnen eine Dichtomie der Handlungsebenen vor Augen,

die den Gegensatz historisches Denken versus techno-imaginatives Denken illustriert: Die

historische Handlungsebene des Filmens besteht aus den SchauspielerInnen, der Regie,

Licht und TontechnikerInnen und allen anderen an der Erstellung des Rohmaterial Films

beteiligten Personen. Die techno-imaginative Handlungsebene hat nun der/die CutterIn

inne: sie stehen außerhalb des linearen Filmes, tragen allerdings trotzdem genauso wie die

HeldInnen durch die Manipulation des Rohmaterials zur Geschichte des Films bei. Aus

ihrer Position erkennen sie die Elemente des Films (Szenen, Bilder, Handlungsstränge,

Teilnarrative) als Illusion und behandeln sie auch so: sie haben ein post-historisches Be-

wusstsein, oder eben in anderen Worten, ein techno-imaginatives Bewusstsein im Bezug

auf den Film.

Page 22: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 17

Nun wäre ja offensichtlich durch die vorhergehende Darstellung belegt, daß Filme sich als

Übergangsmedium zur von Flusser als verheißungsvoll für die okzidentale Gesellschaft be-

schriebener Techno-Imagination eignen würden - doch trotzdem sieht er dieses Potential

nicht genützt, im Gegenteil: Er vergleicht Supermarkt und Kino als moderne Konsum-

tempel, die sich nur daduch unterscheiden, daß ein Kino ein Eintritts-, ein Supermarkt

jedoch ein Austrittsgeld erfordert. Das Kino programmiert somit die BesucherInnen für

den Konsum im Supermarkt, und kann das dadurch, daß die Menscheit Filme weiterhin

auf Basis des historisch-linearen Bewusstseins betrachtet, ihre Wahrnehmungsform also

nicht dem Potential des Mediums gerecht wird.

Flusser These in diesem Text ließe sich also folgendermaßen formulieren: Techno-Imagination

(das Ver- und Entschlüsseln von mit Hilfe von Apparaten erzeugten Bildern) unterschei-

det sich radikal von klassischer Imagination (das Verstehen von alten Bildern, Mosaiken,

Höhlenmalereien, etc.). Am Beispiel der CutterInnen sieht man, wie Techno-Imagination

funktionieren kann: als post-historisches Spielen mit dem Rohmaterial des Films, auf

einer anderen Handlungsebene als die der SchauspielerInnen, RegisseurInnen und an-

derer TechnikerInnen. Weil die Informationen der Welt aber mittlerweile überwiegend

in dieser Art codiert sind, befindet sich die (westliche) Gesellschaft in einer Krise, und

Technokraten können nur deshalb die Welt regieren, weil die Gesellschaft nicht von histo-

rischem Bewusstsein in techno-imaginatives Bewusstsein zu wechseln imstande ist, und

weil die KonsumentInnen sich freiwillig und wissend dem Kino/Film unterwerfen, anstatt

techno-imaginativ den Apparat zu bekämpfen, zu überlisten.

3.4 Die Phänomenologie des Fernsehens: Ebenen der Bot-

schaft

So wie Flusser in den vorigen Kapiteln versucht hat, klassische Bildmedien, Photographie

und (Kino)Filme zu analysieren, widmed er sich im Text Für eine Phänomenologie des

Fernsehens ganz diesem Medium. Er beginnt seine Überlegungen auf Basis der These,

daß das Fernsehen als Werkzeug zu betrachten ist, und also solches kann es natürlich

wesensgemäß oder wesensfremd benutzt werden. Flusser postuliert, es würde derzeit we-

sensfremd verwendet, nämlich zur Programmierung der Gesellschaft, und beschreibt den

Vorgang wie folgt: EmpfängerInnen der Botschaften des Fernsehens dekodieren die Bil-

der, sie lesen sie als direkte Vermittlung, als Medium zwischen sich und den Ereignissen

der Welt, obwohl sie wissen, daß die HerstellerInnen der Bilder ein Interesse daran haben,

welche Botschaft ankommt. Nun zielt diese Botschaft laut Flusser in verschiedene Rich-

tungen, je nachdem, ob sie ontologisch, epistemologisch, ethisch, politisch oder ästhetisch

betrachtet wird.

Page 23: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 18

Ontologisch betrachtet erkennt Flusser zwei Ebenen: die reale und die fiktive Ebene. Auf

der Realebene handelt es sich um eine Darstellung der echten Welt (bespielsweise Wo-

chenschauen, Livesendungen, Ansprachen), die dann jeweils wahr oder falsch sein kann

(eine Dokumentation kann zum Beispiel den Anspruch haben, wahr zu sein, und trotz-

dem aus verschiedenen Gesichtspunkten unwahr sein). Auf der fiktiven Ebene handelt

es sich um Vorstellungen von der Welt (etwa Filme, Fernsehspiele). Flusser weist jedoch

darauf hin, daß Fernsehen immer eine fiktive Dimension hat, ja, haben muß: das einzi-

ge Kriterium zur Unterscheidung ist oft der Kommentar, der Kontext der Sendung, die

Ansage zum Beispiel, und nicht die Botschaft selbst.

Unter epistemologischen Gesichtspunkten sieht die Dichotomie jedoch bereits anders aus:

Flusser trennt hier in subjektive und objektive Ebene, wobei die subjektive Ebene die

Ebene der Verhaltensmodelle ist (er nennt hier als direktesten Vertreter die Werbung),

die objektive Ebene allen anderen Programmen entspricht, seien es Erkenntnis- oder

Erlebnismodelle, entsprechend der ontologischen Dichotomie des Fernsehens. Auch hier

zeigt Flusser jedoch auf, daß (zumindest subliminar) alle Programme Verhaltensmodelle

sind, da der Prozess der Sozialisierung immer gegeben ist, wenn beispielhaftes Verhalten

beobachtet wird.

Auf ethischer Ebene existiert scheinbar die Freiheit der Programmwahl, doch auch diesen

Dimension ist natürlich nur eine Illusion, da alle Programme ontologisch und epistomo-

logisch ‘gleich’ sind, und somit die einzige Freiheit das Ein- oder Ausschalten des Geräts

wäre - was Flusser auch nicht gelten lässt: da das Fernsehen im gegenwärtigen Kontext

(gegenwärtig meint hier natürlich mittleren 80er Jahre) im Begriff ist, wichtige Funktio-

nen von Familie, NachbarInnenschaft, des Kulturbetriebs, etc. zu übernehmen, bedeutete

das Ausschalten [...] den Verzicht auf eine wichtige Kommunikatiosnmethode und kommt

im Hinblick auf ‘Freiheit’ dem Verzicht auf Schule nahe.

Politische zielt die Botschaft des Fernsehens nun auf eine Entpolisierung der Empfänge-

rInnen ab: das Politische beschreibt Flusser als das Vorstoßen des Privaten ins Öffentliche

(private Meinungen fließen in die öffentliche Gesamtmeinung mit ein), das Fernsehen ist

jedoch das Öffentliche, welches ins Private eindringt. Diese Invasion des Privaten entpo-

litisiert weiterhin durch die Abwesenheit von Dialog- und Interaktionsmöglichkeiten: die

EmpfängerInnen sind dazu verdammt, genau eines zu tun und nicht mehr - zu empfangen.

Auch unter ästhetischen Gesichtspunkten ändert sich nichts an diesen Verhaltenscodices

- auch wenn Fernsehen laut Flusser ständig neue Ästhetiken hervorbringt und somit die

BetrachterInnen zu einem fortlaufenden Bedürfnis nach Neuem konditioniert.

Page 24: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 19

3.5 Der Fernseher als Fenster zum Betrachten

Nach dieser abstrakteren Analyse der Ebenen der Fernsehbotschaften schlägt Flusser nun

einen anderen ontologischen Weg ein: Unter dem Postulat, der Fernseher wäre als ein

verbessertes Fenster entworfen worden, analysiert er den Gegensatz zwischen Rundfunk

und Netz als Kommunikationskonzept.

Die Vorteile des Fernsehers als neues Fenster gegenüber dem klassischen liegen auf der

Hand: er ist nicht-starr und lokalisiert, kann bewegt werden, und er ist nicht beschränkt

in der Größe des Dargestellten. Die Nachteile sind allerdings ebenso offenbar: Derzeit

wird das Fernsehen nur als Fenster zum Betrachten der Welt genutzt, nicht jedoch als

Teile des menschlichen Trikolons “Haus”, “Fenster” und “Tür”: Während echte Fenster zum

Hinausgehen (durch die Tür) einladen, um zum Politikos zu werden, und zum Heimkehren

das Haus zur Verfügung steht, gibt es beim Fernsehen keine "Tür", keine Möglichkeit,

mit dem Gesehenen in Interaktion zu treten. Um nun diesen Nachteil zu beseitigen, ist

es nötig, den Fernseher als Fenster zum Sprechen mit anderen zu konzeptualisieren.

Der Gegensatz zwischen dem status quo (der späten 70er und 80er Jahre, wohlgemerkt)

und einem erfüllten Potential des Fernsehens entspricht dem strukturellen Gegensatz

zwischen Rundfunk und Netz als Kommunikationskonzept. Im Rundfunksystem verteilt

ein zentraler Sender Informationen an die Empfänger (Flusser bezeichnet dies als uni-

vok), im Netz sind alle Knoten Sender und Empfänger gleichzeitig. Hieraus entsteht

der Gegensatz zwischen Diskurs und Dialog: während im Rundfunk Informationen nur

verteilt werden können, werden sie im Netz zu Neuem synthetisiert - aus einem reinen

Informationsspeicher könnte somit in einer Netzstruktur ein System entstehen, das die

Gesamtinformation erhöht und verbessert.

Flusser bietet eine Reihe an Beispielen aus Technologie, Hegemonialtheorie und Poli-

tik, um diesen Gegensatz zu illustrieren: er nennt etwa den Gegensatz zwischen einer

Stimmung der Autorität und des Konservativismus einerseits und einer Stimmung der

allgemeinen Verantwortung und konstruktiven Tätigkeit auf der anderen Seite als Bei-

spiele, genauso wie die Gegenüberstellung von Kirche und Absolutismus einerseits und

Liberalismus sowie der damaligen Sowjetunion (im Jahr 1974) andererseits.

Spieltheoretisch analysiert lässt sich die oben beschriebene Dichotomie natürlich auch als

gegensatz zwischen offenem und geschlossenem System beschreiben: Während in einem

offenen System wie dem Rundfunk eine Änderung des Repertoires ohne Änderung der

Struktur vonstatten gegen kann, ist in einem geschlossenem Netzsystem eine Anpassung

dieser Struktur nötig, um das Repertoire zu verändern: Als Illustration beschreibt Flusser

hier die deutsche Sprache als Exempel einer offenen Struktur (das Hinzufügen von neuem

Repertoire in Form von Vokabeln ist ohne Änderung der Struktur möglich) einerseits und

Page 25: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 20

Schach als Beispiel einer geschlossenen Struktur (das Vergrößern des Repertoires ist nur

durch das Hinzufügen einer neuen Figur oder durch Anpassung des Brettes möglich, was

aber auch neue Regeln erfordert). So auch der Rundfunk als offenes System: Fernsehen

in einer Netzstruktur wäre ein geschlossenes System, da ab einer gewissen Menge an

Teilnehmenden neue ‘Regeln’, neue ‘Strukturen’ nötig wären, um das Funktionieren zu

gewährleisten.

Summa summarum formuliert Flusser die These, es bestünde die gängige Meinung, daß

aus diesen Argumenten der status quo resultieren muss: Die Eliten von Wissenschaft,

Kunst und Politik kommunizieren in dialogischer Form, die Masse speichert und ver-

braucht die erstellten Informationen in einer imperativen Form. Diese Meinung sei jedoch

falsch, wie etwa das Telefonnetz als Beispiel eines dialogischen und trotzdem netzförmig

aufgebautem Kommunikationsmediums zeig. Es muß daher möglich sein, Netze zu ge-

stalten, die diesen Dialogcharakter für alle eröffnen: alle müssten imstande sein, neue

Informationen aus alten Fragmenten zu erstellen, um die Gesellschaft zu entmassifizie-

ren (und die drohende Vereinsamung des Individuums zu stoppen). Dazu benötigt es

allerdings ein solches Netz. Dialogische Medien wie Post und Telefon haben es jedoch

nicht geschafft, diese Funktion zu erfüllen, da beiden nur lineare Codes zugrunde liegen;

der okzidentalen Gesellschaft liegen aber nunmehr auch 2-dimensionale Codes zugrunde.

“Fenstergespräche” würden beide Dimensionen ermöglichen, Bedeutung und Angesicht

zugleich, und daher hätte das Fernsehen auch das Potential, zu einem solchen Netz in

dialogischer Form umgestaltet zu werden.

3.6 QUBE

Mit QUBE analysiert Flusser im nächsten Text ein Beispiel für eine Fernsehtechno-

logie, welche die geforderte Umkehr der Kabeln, also die Möglichkeit zur Interaktion

der BetrachterInnen bot. Als Vorgängerin von Pay-Per-View Programmen im Fernsehen

und interaktiven Services in Columbus, Ohio im Jahr 1977 eingeführt, bot die Tech-

nologie die Möglichkeit zur Teilnahme an Abstimmungen in der Gemeinde, Zugang zu

Premium-Inhalten und Shopping. Flusser konzentriert sich nun auf den Begriff Freiheit

und postuliert, die Entscheidungen, die die BenutzerInnen des QUBE Systems etwa für

die demokratischen Einflussmöglichkeiten in der Gemeinde per Knopfdruck trafen, seien

de facto atomare Kleinstentscheidungen, die bereits die Tat beinhalten (den Knopfdruck),

und somit reinste Formen von Freiheit. Er schreibt wörtlich:

“Der am QUBE Sytem Beteiligte ist ein ‘reines Entscheidungszentrum’, eine

‘reine Freiheit’ in einem Sinn, in dem er bisher nur auf Engel bezogen wurde:

für ihn heißt ‘sich entscheiden’ auch schon ‘gehandelt haben’.”

Page 26: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 21

Im Gegensatz zu regulärem Fernsehen also, welches das Einspielen öffentlichen Raums in

den Privatraum und dadurch die Enpolitisierung desselben darstellt, macht QUBE die

Unterscheidung in privat und öffentlich unnötig, beide verschmelzen zu ein und demsel-

ben. Durch die Zerlegung von Existenzentscheidungen in jene atomare Bestandteile sieht

Flusser weiters die direkte Dorfdemokratie des griechischen Altertums wiederhergestellt,

in der [...] jede Entscheidung existentielles Gewicht hat.

3.7 Das Politische im Zeitalter der Bilder

Am Beispiel der rumänischen Revolution und dem damit verbundenen Sturz des kom-

munistischen Regimes und Fall von Nikolae Ceausescu im Jahr 1989 analysiert Flusser

nun den Einfluss von Fernsehen auf tagespolitische Geschehnisse: Fernsehen werde zu-

nehmends zum Motor politischen Handelns. Im Rahmen eines kurzen Rückblickes auf die

Kommunikationsgeschichte arbeitet er heraus, daß politisches Bewußtsein stets abhängig

von der Kommunikationsstruktur war, in der es stattfinden konnte. Linearschrift (also

Kommunikation im Sinne des historischen Bewußtseins, wie Flusser schon zuvor heraus-

gearbeitet hat) entspricht damit einem klassischen Diskurs nach dem Sender-Empfänger-

Prinzip, und teilt damit die Gesellschaft in privat und öffentlich: Texte werden im Priva-

ten hergestellt und im Öffentlichen Raum publiziert, wo sie wiederum Kritik ausgesetzt

werden. Das Fernsehen, aber auch Bilder in Zeitungen, bietet ja, wie schon hinlänglich

argumentiert, keine klassische Diskursmöglichkeit: Information in Form von Bildern wird

konsumiert und nicht kritisiert. In einer solchen Kommunikationsstruktur wird natürlich

auch das Politische zunehmends absolutistischer: Es sind nicht mehr die PolitikerInnen,

die die Macht ausüben können, sondern die MedienmacherInnen. Damit gehen natürlich

auch andere Konsequenzen einher, wie etwa die Tatsache, daß es nicht mehr möglich

ist zu wissen, was wirklich geschehen ist: die Frage nach Wirklichkeit wird ontologisch

unmöglich, und als das konkrete Faktum bleibt nur mehr, was in den Bildern geschehen

ist.

Daraus schließt Flusser nun, daß Technobilder (er meint hier sowohl Photographien als

auch das Fernsehen) den politischen Diskurs (zer)stören, weil sie die Betrachtenden auch

im privaten Raum erreichen, und die Notwendigkeit des Hinausschreitens in den öffent-

lichen Raum abschaffen. Weiters sind sie existenziell stärker als die sie beschreibenden

Texte - BetrachterInnen verwenden nicht die Texte, um die Bilder zu verstehen, sondern

die Bilder, um sich die Texte vorzustellen. Diese Erkenntnis läßt Politiker und in weiterer

Folge MedienmacherInnen historische Ereignisse mittels passender magischer Bilder in

ihrem Interesse manipulieren. Diese Bilder entstammen aber der Wissenschaft, und sind

Page 27: Flusser - Medienkultur

Kapitel 3. Eine Revolution der Bilder 22

als solche nicht prä-historisch, sondern post-historische Magie, und als solche nicht ge-

fahrlos von der Gesellschaft konsumierbar, sofern nicht ein radikaler Paradigmenwechsel

im Konsumverhalten von Bildern eintrete.

3.8 Eine Revolution der Bilder: Conclusio

Die Kernthese, die Flusser in den Texten dieses Kapitels vertritt, bezieht sich im Ge-

gensatz zum ersten Kapitel nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft: Die

okzidentale Gesellschaft (der 70er und 80er Jahre, wohlgemerkt), läuft aufgrund der

auf sie hereinbrechenden Bilderflut, seien das Fernsehbilder, Filme oder auch Photos,

in Gefahr, in eine reine Massengesellschaft umgewandelt zu werden. Bilder haben einen

klar definierten Zweck, eine Absicht, und diese Absicht ist es, die Gesellschaft zu ma-

nipulieren und zu steuern. Er läßt dabei jedoch die Frage, ob dies in böswilliger oder

wohlmeinender Absicht geschieht, hintanstehen, und konzentriert sich eher auf die Mög-

lichkeiten, die die Gesellschaft hätte, mit diesen neuen Umständen umzugehen: Einerseits

ist ein Paradigmenwechsel auf der Ebene der Wahrnehmung nötig, um mit der Bilderflut

umzugehen - die Gesellschaft muß lernen, die Bilder nicht mehr mittels prozessuralem,

historischem Denken wahrzunehmen, sondern techno-imaginativ zu denken beginnen -

und andererseits ist es unumgänglich, Technologien zu entwickeln, die dieser Vermassung

durch Umkehrung der Kabeln entgegenwirken. Eine Gesellschaft, die so an der Mitgestal-

tung der gesendeten und empfangenen Information mitwirkt, würde dieser Vermassung

de facto selbstregulativ entgehen, sie würde also ihr eigenes Gewissen sein können. Die

klassische Gesellschaftsmechanik innerhalb der Dichotomie von privat und politisch ist

dabei ein wertvolles Gut, das es (wenn auch in veränderter Form) zu bewahren gilt.

Page 28: Flusser - Medienkultur

Kapitel 4

Auf dem Weg zur telematischen

Informationsgesellschaft

Haben die Texte bisher meist nur anklingen lassen, wie eine Metamorphose der Gesell-

schaft in den 70er und 80er Jahren in Richtung der von Flusser proklamierten telema-

tischen Informationsgesellschaft vonstatten gehen könnte, betrachtet Flusser im vorlie-

genden Kapitel nun konkreter die Lebensumstände und gesellschaftlichen Bedingungen,

mittels derer solch ein Wandel vollzogen werden könnte. Dabei streift er Fragen der

Stadt und Urbanität, Sesshaftigkeit und Nomadentum genauso wie Arbeitsverhältnisse

und Freizeitverhalten.

4.1 Verbündelung oder Vernetzung

Dem Kapitel passenderweise vorangestellt ist dieser Text, welcher sich dem Begriff der

Informationsgesellschaft widmet und den Versuch einiger Definitionen startet. Den Be-

griff selbst definiert Flusser als [...] Daseinsform, in der sich das existentielle Interesse

auf Informationsaustausch mit Anderen konzentriert. Um nun die Gesellschaft als solche

Daseinsform betrachten zu können, muß die Frage nach dem Verhältnis zwischen Mensch

und Gesellschaft neu formuliert werden - können die beiden Begriffe doch laut Flusser

gar nicht so getrennt gegenübergestellt werden (ohne Mensch keine Gesellschaft, ohne

Gesellschaft kein Mensch). Daher betrachtet Flusser die Gesellschaft eher als ein Bezie-

hungsfeld, aus dem wahlweise der Mensch oder (Teile der) Gesellschaft extrahiert werden

können. Dieses Geflecht beschreibt er als ein Netz intersubjektiver Relationen, dessen

zentrale Infrastruktur die Kommunikation darstellt: Gesellschaft ist dann die Strategie

des Individuums, sich im Informationsaustausch mit Anderen zu verwirklichen.

23

Page 29: Flusser - Medienkultur

Kapitel 4. Telematische Informationsgesellschaft 24

Telematik nun ist die konkrete Ausformung jener Technik, die das Näherrücken der In-

dividuen mittels Kommunikation und ohne Anstrengung ermöglicht - beispielsweise die

vielzitierten reversiblen Kabel, aber auch Postverkehr oder Audio-Video-Telefonie. Auch

wenn diese Technologien bereits teilweise vorhanden sind, sind sie doch nur Inseln inner-

halb der totalitären, anti-politischen Massenmedien die Flusser in den vorigen Kapiteln

beschrieben hat, und als solche der Tendenz zur Umwandlung in Massenmedien ausge-

setzt.

Betrachtet man also Gesellschaften nicht als Gegensatz zwischen Mensch und Gesell-

schaft, sondern als Beziehungsgeflecht, wandern die intersubjektiven Relationen ins Zen-

trum der Betrachtung. Diese Vernetzung ist es, die Flusser als Ziel und Weg zur te-

lematischen Gesellschaft postuliert, und er sieht die Bemühung aller Individuen einer

Gesellschaft um die Verwirklichung dieser utopischen Informationsgesellschaft als kate-

gorischen Imperativ.

4.2 Nomadische Überlegungen

Der Frage, ob wir als Gesellschaft nomadisch oder sesshaft leben, nähert sich Flusser

über eine radikale Zeittaxonomie an: er teilt die Menschheitsgeschichte in ältere Stein-

zeit, jüngere Steinzeit und unmittelbare Zukunft ein - die ältere Steinzeit datiert er bis

zur Entstehung der Agrikultur, die jüngere von etwa 9000 v. Chr. bis heute. Im Laufe

dieser Perioden wäre der Mensch 3 Katastrophen (im altgriechischen Sinne von Umwen-

dung) ausgesetzt gewesen: Der Menschwerdung, charakterisiert durch die Benutzung von

Werkzeugen, der Entstehung von Zivilisation, charakterisiert durch das Leben in Dorf-

gemeinschaften und später Gesellschaften, und schließlich der Zukunft, in der die Welt

unbewohnbar, genauer: ungewöhnlich wird. Die erste Periode war laut Flusser eine no-

madische, die zweite eine sesshafte Periode, und die zukünftige wird ebenso wie die erste

eine nomadische werden, wenn auch aufgrund anderer Gegebenheiten.

Was macht nun den Unterschied zwischen nomadisch und sesshaft aus? Phänomenolo-

gisch betrachtet sind beide definiert durch ihre jeweilige Lokalisierbarkeit: wer sesshaft

lebt, kann über eine räumliche Zuordnung lokalisiert werden, wer nomadisch lebt, kann

nur über Raum und Zeit zugleich lokalisiert werden. Nun redefiniert Flusser den Begriff

Sesshaftigkeit jedoch am Beispiel des Dorfes, in dem ein stetes Pendeln zwischen res

publica und res privata zur Informationsbeschaffung nötig ist, und stellt die Hypothese

auf, daß der Mensch wahre Seßhaftigkeit erst durch die Entwicklung von informations-

beschaffenden Medien erreichen kann - nur um sie gleich zu widerlegen: Die Menge an

Page 30: Flusser - Medienkultur

Kapitel 4. Telematische Informationsgesellschaft 25

Informationen sei zu groß, um überhaupt noch Sitzenzubleiben, der Orkan der Informati-

on zu durchdringend, um eine Trennung zwischen Öffentlich und Privat noch für sinnvoll

zu erachten.

Daraus schließt Flusser nun 2 Konsequenzen:

I) Statt Besitz werden also zukünftig Informationen Macht darstellen; nicht

Hardware, sondern Software wird den Markt bestimmen.

II) Statt klassischer Ökonomie wird Kommunikation den neuen Unterbau des

Dorfes, also der Zivilisation, darstellen.

Aus diesen beiden Konsequenzen ergibt sich auch der Schluß auf die zukünftige Le-

bensform: wenn es nichts mehr zu besitzen gibt (Flusser setzt hier ganz absichtlich die

wörtliche und übertragene Bedeutung des Wortes equivalent ein), gibt es auch keinen

Grund mehr, sesshaft zu sein: der Mensch wird, statt zu besitzen, nur mehr erfahren!

4.3 Häuser Bauen

Ein Grund für diese Umwandlung ist, wie Flusser im Text “Häuser bauen” anschaulich

darlegt, wie inadequat die Häuser für die menschliche Zivilisation auf dem Weg zur te-

lematischen Gesellschaft sind. Häuser sind Schutz vor Natur und Herrschaft sowie vor

äußerer Bedrohung (vor Xenos, dem Fremden). Es lassen sie viele etymologische Beschrei-

bungen für die Eigenschaften von Häusern finden (Dach ⇔ Techné, Mauern - muniere

(schützen) - Munition, Heim ⇔ heimlich ⇔ Geheimnis ⇔ unheimlich). Alle Elemente

des Hauses sind jedoch mittlerweile überflüssig, nutzlos oder gefährlich geworden. Daher

muß sich die Architektur anpassen: nicht wie bereits geschehen durch Durchlöcherung

der Wände mit materiellen und immateriellen Kabeln (Antenne, Telefon, Fernsehen, Ga-

rage statt Tür), sondern durch Betrachtung des Hauses statt als Höhle als Krümmung

des Feldes der zwischenmenschlichen Relationen. So könnte das Haus tatsächlich hilf-

reich und damit schöpferisch sein, indem es solche Relationen anzieht und unterstützt.

Vorsicht ist, wie Flusser schon ausgiebig beschrieben hat, beim Verkabeln geboten: was

er in diesem Text als faschistische Kabeln bezeichnet, entspricht den vorher beschriebe-

nen unidirektionalen, die bidirektionalen den hier sogenannten dialogischen Kabeln. Es

sei allerdings an dieser Stelle angemerkt, daß Flusser den Begriff faschistisch hier sehr

fraglich, fast schwammig verwendet, und daß der Begriff der unidirektionalen Kabeln

zweifelsohne präziser und daher vorzuziehen wäre.

Page 31: Flusser - Medienkultur

Kapitel 4. Telematische Informationsgesellschaft 26

4.4 Die Fabrik

Wie schon vorher erwähnt, definiert Flusser die Perioden der Menschheitsgeschichte un-

ter Anderem über die Fabrikation und Verwendung von Werkzeugen - der Mensch als

Homo Faber‘ definiert sich sozusagen über die Fabrik als Spiegel der Gesellschaft. Un-

ter diesem Gesichtspunkt teilt sich die Menschheitsgeschichte in 4 Perioden: Fabrikation

mittels der Hände, mit Werkzeugen, Maschinen und Apparaten. Fabrikation definiert

Flusser hier als den Vorgang, Gegebenes in Gemachtes umzuwenden - Hände wenden

inherent, Werkzeuge, Maschinen und Apparate als Verängerung der Hände. Abgesehen

vom Produkt, vom Gemachten, macht Fabrikation den Menschen auch weniger natürlich

und mehr künstlich: eine Schusterin macht beispielsweise nicht nur Schuhe, sondern auch

sich selbst zur Schusterin! Fabriken als Orte der Umwendung stellen also Produkte und

Menschenformen her: Handmenschen, Werkzeug-, Maschinen- und Apparatmenschen.

Das Verhältnis zwischen Mensch und Werkzeug gestaltet sich nun folgendermaßen: Bei

Fabrikation mittels der Hände hat eine Fabrik keinen topos, sie ist überall und nirgends

zugleich. Bei Werkzeugen ist die Fabrik in konzentrischen Kreisen um den Menschen

angesiedelt - je weiter nach außen man blickt, desto näher kommt man der reinen Natur,

je weiter man ins Zentrum blickt, desto näher kommt man dem künstlichen Menschen -

und der Mensch stellt hier die Konstante, das Werkzeug die Variable dar.

Beim Fabrizieren mittels Maschinen wendet sich diese Bild allerdings - nun (da Maschinen

teuer waren und statisch, also schwer transportierbar) steht die Maschine im Mittelpunkt,

und der Mensch wird die Variable. Die Anordnung der Maschinen, die konzentrische An-

ordnung des Menschen im Kreis rund im die Maschinen weist einen Netzcharakter auf,

Ballungszentren entstehen, von Flusser Maschinenkonzentrationen genannt. Ein ganz

anderes Bild zeigt allerdings die Fabrikation mittels Apparaten: anstatt hierarchischer

Beziehung zwischen Mensch und Maschine oder Mensch und Werkzeug ist die Fabrika-

tion nun Ausdruck einer symbiontischen Funktionsbeziehung: Der Mensch fabriziert in

Funktion des Apparates, genau wie der Apparat in Funktion des Menschen erschafft. Der

Apparat tut nur, was der Mensch will, aber der Mensch kann auch nur wollen, was der

Apparat kann, kurz, Der Mensch ist Funktionär von Apparaten, die in seiner Funktion

funktionieren.

Die Fabrikation der Zukunft in einer telematischen Gesellschaft prognostiziert Flusser

als ubiquitär: Die Apparate sind miniaturisiert und [...] jeder ist mit jedem immer ver-

bunden. Die Miniaturisierung der Apparate würde eine seit der Produktion mittels der

Hände nicht mehr geahnte Unmittelbarkeit ermöglichen - diese Sicht entspricht in Flus-

ser’s Diktion einer telematischen, postindustriellen und posthistorischen Gesellschaft. Mit

steigendem Komplexitätsgrad der Werkzeuge, jetzt Apparate, gehen aber auch immer

Page 32: Flusser - Medienkultur

Kapitel 4. Telematische Informationsgesellschaft 27

abstraktere, kompliziertere Funktionen einher, die erst gelernt werden müssen: Hat der

Handmensch noch mit ererbtem Wissen gelernt, seine Hände einzusetzen, der Werk-

zeugmensch durch Empirik und der Maschinenmensch durch empirisches und theoreti-

sches Wissen (in Form eines Schulsystems etwa), so muss der Apparatmensch mit noch

viel komplexeren Thematiken und neuen Disziplinen umgehen lernen. Die Fabriken der

Zukunft zeichnet Flusser daher weniger als Produktionsstätten denn als Schulen - der

Apparatmensch wird immer mehr AkademikerIn denn HandwerkerIn, IngenieurIn oder

ArbeiterIn. Um zu bestehen, müssen Schule und Fabrik also symbiontisch verschmelzen,

wodurch es dem Menschen ermöglicht werden soll, vom bloßen Homo Faber zum tatsäch-

lichen Homo Sapiens Sapiens zu werden durch die Erkenntnis, das Fabrizieren Lernen

bedeutet, nämlich der Erwerb, die Herstellung und Weitergabe von Informationen.

4.5 Die neue Stadt

Wie schon in den vorigen Texten Häuser und Fabriken muß auch die Stadt einem Wandel

unterzogen werden, soll die Gesellschaft den Paradigmenwechsel hin zu einer telemati-

schen Gesellschaft überstehen. Flusser postuliert, die Stadt als Krümmung in einem Feld

(nicht unähnlich der Raumkrümmung durch Gravitation) zu betrachten, beginnt aber

mit dem klassischen Stadtbild und dessen Entwicklung. Die ideale Stadt definiert Flus-

ser als eine Kombination aus wirtschaftlichen Privaträumen, Marktplätzen, sowie dem

Tempel, wobei jedes dieser Elemente ein eigenes Publikum besitzt.

Die Kopplung der StadtbewohnerInnen ist jedoch einemWandel unterzogen: Im Altertum

ordnet sich die Ökonomie der Politik, und diese wiederum der Theorie unter - die Könige

der Stadt sind die PhilosophInnen, da die Theorie Weisheit und Erlösung verspricht.

Zur Zeit der revolutionären HandwerkerInnen der Renaissance fügen sich Ökonomie und

Theorie der Politik: die HandwerkerInnen versprechen Freiheit und Selbstveränderung

des Menschen, und das Bürgertum stellt den König der Stadt dar. Heute (in den 70er

und 80er Jahren) ordnen sich Politik und Theorie wiederum der Ökonomie unter, welche

die Befriedigung von Ansprüchen und Glück verspricht; nun sind es die KonsumentInnen,

die die KönigInnen der modernen Stadt darstellen.

Da jedoch die Räume der Stadt immer mehr verschmelzen und ineinander Eindringen

(vgl. die Beschreibungen von res publica und res privata in den vorigen Kapiteln), ist

dieses Stadtbild nicht mehr adequat, und Flusser greift zur Metapher des gekrümmten

Raums. In dieser Sicht ist auch das Bild des Individuums untauglich geworden - Alles ist

teilbar, seien es Handlungen in Aktome, Entscheidungen in Dezideme, Wahrnehmungen

in Reize oder Vorstellungen in Pixel. Die Stadt wird somit zu einer Art Maskenverleih,

und die Teilchen, die das Selbst des Menschen ausmachen, werden von diesen Masken

Page 33: Flusser - Medienkultur

Kapitel 4. Telematische Informationsgesellschaft 28

zusammengehalten. Das Selbst wird eingebettet in netzförmige Beziehungen, das ‘Ich’

wird auf einen abstrakten Punkt reduziert, um den sich konkrete Beziehungen hüllen

- war es früher da Individuum, welches das Konkrete darstellte, so ist es nun das wir,

das konkret ist, und ich und du sind die Abstraktionen dessen. Daraus ergibt sich das

Bild vom Wellental der Stadt : Die Anhäufungen dieser abstrakten Punkte, dort, wo das

Netz also dichter ist, werden immer konkreter, und die dichteren Knoten aktualisieren

einander. Im Kern ist dieses neue Stadtbild also immateriell.

4.6 Die telematische Informationsgesellschaft: Conclusio

Mit der Umwandlung der Gesellschaft in die von Flusser beschriebene, telematische Ge-

sellschaftsform, gehen natürlich weitreichende Konsequenzen einher, die über die ab-

strakten Fragen von Medienrezeption und Wahrnehmung hinausgehen: der Mensch muß

beginnen, sich einem Identitätswandel zu unterziehen, die das Individuum als Relation

im Netz der Gesellschaft verortet, und dem folgend müssen natürlich auch Bereiche wie

Seßhaftigkeit, Architektur und Raumgestaltung sowie Produktion und Fabrikation einem

Wandel unterzogen werden. Was den Betrachtungen Flussers hier gemein ist, ist wohl

die Tatsache, daß die beschriebenen Lebensbereiche des Menschen zweifellos nur als Bei-

spiele eines breiten gesellschaftlichen Wandels zu verstehen sind - und als solche für alle

anderen Beispiele ein breites Spektrum an Spekulation offen lassen, wie sich denn der

angestrebte Wandel am Besten vollziehen solle. Eines ist jedoch klar: In jedem Fall muß

Information, nicht Material in Zukunft den zentralen Stellenwert bei allen soziologisch

relevanten Unterfangen und Überlegungen einnehmen., sei es als Designimperativ beim

Hausbau, oder als Zielvorgabe für zukünftige Bildungssysteme, oder als bestimmender

Faktor bei Stadtplanung und Städtebau. Die Wandlung der Gesellschaft in die titelge-

bende telematische Informationsgesellschaft ist laut Flusser jedoch unumgänglich - die

Frage ist nur, wie gut der Mensch die eigene Umwelt und das eigene Denken diesem

Wandel anzupassen vermag.

Page 34: Flusser - Medienkultur

Kapitel 5

Die Welt als Oberfläche

Im letzten Kapitel, Die Welt als Oberfläche, widmet sich Flusser nun vergleichsweise ab-

strakten Thematiken aus den Bereichen der Phänomenologie und Informationstheorie.

Aufbauend auf seinen Überlegungen zur Evolution der Gesellschaft in Richtung einer

telematischen Informationsgesellschaft handelt er die Fragen von Abstraktion und Kon-

kretisierung, Perzeption und Erkenntnistheorie ab.

5.1 Auf dem Weg zum Unding

Am Beginn des Kapitels steht die Frage nach dem Gegensatz von Abstraktem und Kon-

kretem, und der Wertzuweisung dieser beiden Gegenpole in der Gesellschaft. Flusser

stellt die These auf, daß sich die Werte von physischen Dingen hin zu Informationen ver-

schieben - von Hardware zu Software also - und daß, in weiterer Folge, das Information

nun zum politisch, ökonomisch und sozial Konkreten wird. Dinge werden wortwörtlich

wertlos, die Information über ihre Herstellung und Handhabe allerdings gewinnt an wert.

Diese Überlegung erinnert entfernt an post-scarcity Theorien zu Gesellschaften, in denen

die Notwendigkeit der Ressourcenbeschaffung der Vergangenheit angehören würde und

dadurch Wissen und Information zum einzig relevanten Gut würde.

Durch diese Refokussierung wird sich, folgt man Flussers Ausführungen, der Mensch

vom Homo Faber zum Homo Ludens wandeln - er führt dann ein Leben nicht mehr als

Drama mit Handlung, sondern als Schauspiel mit Programm. Flusser wird hier erstaun-

lich konkret - er beschreibt, wie der zukünftige Mensch nur noch seine Fingerspitzen

verwenden wird, wie die Hände selbst und auch die restlichen Muskeln aufgrund von

Vernachlässigung der Atrophie preisgegeben werden, und wie alle dinglichen Arbeiten

und Tätigkeiten von Apparaten, die vom Menschen programmiert werden, ausgeführt

werden.

29

Page 35: Flusser - Medienkultur

Kapitel 5. Die Welt als Oberfläche 30

In einer solchen Welt, in der das Abstrakte, die Information, zum Konkreten geworden

ist, muß natürlich auch die Frage nach dem Abstrakten selbst neu gestellt werden: ist es

doch laut Flusser unumgänglich, sich auch mit der Abstraktion auseinanderzusetzen, um

Mensch zu bleiben. Der Weg weg von der nun konkreten Information hin zum Abstrakten

ist jedoch nicht der Weg hin zum Ding, zum physischen Objekt, sondern zur Sache - zum

Verhältnis Ich - Tisch etwa, oder präziser: zur gesellschaftlichen Übereinkunft, was denn

ein Tisch sei. Flusser paraphrasiert in den letzten zwei Sätzen des Textes selbst:

“Der Weg der neuen Abstraktion führt weg von der Information und hin zum

anderen. Im Grund bedeutet ‘zurück zur Sache’ die Codes aufzudecken, um

sich selbst und den anderen von ihnen neu zu emanzipieren.”

5.2 Paradigmenwechsel

Folgend den zuvor abgehandelten Thesen der Umkehrung von Abstraktion und Konkre-

tem widmet sich Flusser nun der These, daß ein Paradigmenwechsel darin, wie wir die

Welt wahrnehmen, stattfindet, und erläutert das anhand des bereits vorher angesproche-

nen Beispiels Zusammenstoß mit einem Holztisch.

Zuerst beschreibt er hier die verschiedenen Varianten eines Realismus, wie etwa ein

Kleinkind, die griechischen Philosophen oder die fernöstlichen Kulturen wahrnehmen.

Während das Kleinkind dem sogenannten magischen Konsensus folgt und auf Tisch ein-

schlägt, ihn also rein als den Anderen, das Außen perzipiert, unterscheiden die griechi-

schen Philosophen zwischen Form und Idee: wir stoßen gegen Holz (altgr. hyle) in Form

des Tisches (altgr. morph’e), der Tisch wird somit die Erscheinung (altgr. phainomenon)

des Holzes in Tischform. Dies nennt Flusser den Realismus der Formen und Ideen. In

fernöstlichen Kulturen (wie etwa dem Hinduismus oder dem Buddhismus) herrscht ein

anderer Konsensus vor: dort stößt man gegen das Holz, nicht die Tischform, und Flusser

nennt die den Realismus des Stoffes oder Materialismus. Dieses Inhalt-Form-Problem,

die Frage nach dem realen Tisch also, bezeichnet Flusser als ein Informationsproblem

des Verzerrens - die TischlerInnen verzerren immer auch die Form Tisch beim Herstel-

len eines konkreten Exemplares, daher ist es so schwer, festzulegen, was der reale Kern

des Tisches ist, Material oder Form.

Der Frage, wie der postmoderne Mensch nun diesen Zusammenstoß wahrnehmen würde,

nähert sich Flusser über einen Exkurs zur Theorie als Extraktionsebene gegenüber des

Scheins, der Perzeption an und wählt als Beispiel die Entwicklung der Astronomie.

Page 36: Flusser - Medienkultur

Kapitel 5. Die Welt als Oberfläche 31

Zur Zeit der Vorsokratiker beginnt man, die Bewegung der Gestirne nicht mehr als ma-

gisch, sondern als zyklisch zu sehen. Der Schein, also das Perzipierte Verhalten der Ge-

stirne, muß innerhalb des Erklärungsmusters gewahrt bleiben, um Vorraussagen machen

zu können: die Planetenbahnen müssen etwa den geozentrischen Beobachtungen folgen,

und die korrekte Vorraussage von Sonnenfinsternissen etwa war dann der Beweis für die

Wirklichkeit der beschriebenen Bahnen. Das Problem, das daraus entsteht, ist offensicht-

lich: es ergeben sich durch diese Prämisse ausgesprochen komplizierte Planetenbahnen.

Im Mittelalter, aber vor allem in der Renaissance wird der Schein aufgegeben, um die

Wirklichkeit einfacher beschreiben zu können: dies folgt dem Glauben, die Wirklich-

keit sei einfach, und würde den komplizierten Schein erklären können. Die Folge dieser

Überlegungen war das heliozentrische Weltbild, das Planetenbahnen nun als Ellipsen

statt als Kreise darstellte. Das heißt nun, die Methode zur Beschreibung der Realität ist

das Pressen des Scheins in verschiedene Formen, und die einfachste Form ist die wahre

- die pointierteste Formulierung dieses Grundsatzes ist wohl Occam’s Razor oder Lex

Parsimoniae, das Prinzip der Parsimonie (welches in etwa besagt, daß von multiplen,

zutreffenden Erklärungen mit hoher Wahrscheinlichkeit die einfachste die richtige sei).

In Fortführung dieser Methode nimmt man in der Moderne an, daß [...] die Welt nach

einem mathematischen Bauplan konstruiert sei.

Diesen beiden konkurrierenden Weltsichten leiten über zur Frage, wie nun der postmo-

derne Mensch die Wirklichkeit perzipiere. Flusser schließt den Kreis wieder mit dem

Tischbeispiel: Gegen den Tisch zu stoßen beweise, daß sowohl der Stoßende als auch der

Tisch wirklich seien - was konkret ist, ist allerdings der Zusammenstoß, nicht der Tisch

oder das Individuum. Postmodernes erleben beschreibt Flusser als Konkretisierung der

den Menschen umgebenden Möglichkeiten zum Erleben, Handeln wird zunehmends re-

lativistisch. Objekt und Subjekt im klassischen Sinne sind relativ zueinander stehende

Begriffe, und als solche auch steigerbar: der Mensch beginnt, Techniken der Simulati-

on dieser konkreten Ereignisse zu basteln, die immer objektivere alternative Welten und

subjektivere alternative Subjekte herstellen.

Mit dieser These schließt Flusser den Text auch ab: Die neue, postmoderne Weltsicht ist

im Kern immer noch ein Realismus der Formen, nur daß sich die Formen verändern: Wir

beginnen, [...] das Formale im Erlebnis konkret zu erleben. Statt uns als die Subjekte

und die Welt als Objekte beginnen wir die Welt formal zu erleben: wir und die Welt sind

gleichsam Inhalte von Formen.

Page 37: Flusser - Medienkultur

Kapitel 5. Die Welt als Oberfläche 32

5.3 Digitaler Schein

Die provokant gestellte Frage Warum trügt der Schein? bildet die Einleitung für die Fort-

setzung der im vorigen Text und früheren Kapiteln angefangene Anthologie der Denksys-

teme, hier jedoch unter dem Gesichtspunkt des Computers als Apparat-Artefakt, dessen

Existenz den Menschen zwingt, die Frage nach dem Ursprung und Inhalt des Scheins

neu zu definieren.

Wiederum führt Flusser aus, daß das formale Denken zwar bereits seit der Bronzezeit

bekannt, erst aber dem magischen und dann dem prozessuralen Denken untergeordnet

war. Erst zu Beginn der Neuzeit gewann es die Oberhand und begründete die moder-

ne Wissenschaft. Dem formalen Denken liegt die Idee zu Grunde, daß sich die Welt als

Ganzes und alles Perzipierbare in ihr mittels Zahlen beschreiben ließe (Flusser nennt

hier wiederum die Differentialgleichungen als Beispiel). Das praktische Problem, daß die

Methode zwar bekannt, die Ausführung aber zu aufwendig war, wurde durch die Ent-

wicklung des Computers gelöst - die Fähigkeit des Computers, nicht nur zu kalkulieren,

sondern auch zu komputieren, also nicht nur die Wirklichkeit zu beschreiben, sondern

auch neue Welten aus der Basis des formalen Denkens zu synthetisieren ist aber für

Flusser viel relevanter: Diese Synthese, das Zurückholen oder Projizieren von Bildern

aus dem formalen ins prozessurale Denken bezeichnet Flusser als den Digitalen Schein.

Mit dieser Fähigkeit einher geht allerdings das erkenntnistheoretische Problem, daß wir

nicht mehr beantworten können, ob vielleicht alles was wir perzipieren, ‘digitaler Schein’

sei - ja, mehr noch als erkenntnistheoretisch bezeichnet Flusser dies als das neue Existenz-

problem des Menschen. Unter diesem Gesichtspunkt jedoch wird die anfangs und auch

in den letzten Texten gestellte Frage nach der Realität des wahrgenommenen Scheins

irrelevant: die Erkenntnis müsse nunmehr sein, das alles digital wäre, also eine [...] mehr

oder weniger dichte Streuung von [...] Bits.

Von dieser theoretischen und ausgesprochen abstrakten Überlegung ausgehend exerziert

Flusser nun vor, daß eine solch neue Ontologie der Wirklichkeit auch eine neue Anthro-

pologie folgen muß, die er anhand vierer Forderungen an die Gesellschaft ausdrückt:

I) Das Selbstverständnis des Menschen muß abkommen von der Selbstwahr-

nehmung als Individuum oder stofflichem Wesen - der Mensch muß beginnen,

sich selbst als Krümmung oder Ausbuchtung im Feld sich kreuzender, zwi-

schenmenschlicher Relationen zu sehen. Mit dieser Forderung erinnert uns

Flusser an die Texte Die Stadt als Wellental in der Bilderflut und Häuser

bauen, in der das Bild des ähnlich einer Gravitationskurve gekrümmten so-

zialen Raums eingeführt wurde.

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Kapitel 5. Die Welt als Oberfläche 33

II) Die Selbstverwirklichung als Ziel des Menschen muß durch das Verwirkli-

chen der Möglichkeiten im sozialen Raum und durch schöpferisches Gestalten

als immer dichteres Raffen dieser Relationen angestrebt werden.

III) Statt Subjekten müssen die Menschen anfangen, sich selbst als Projekte

in der objektiven Welt zu sehen - Flusser selbst schreibt hier (ein wenig

peripathetisch):

“Aus der unterwürfigen subjektiven Stellung haben wir uns ins Pro-

jizieren aufgerichtet. Wir sind erwachsen geworden. Wir wissen, daß

wir träumen.”

IV) Die Wissenschaft muß eine Kunst werden, deren Werke an Hand von

Ästhetik bewertet werden, und nicht wie bisher durch formale Kriterien auf

ihre Richtigkeit überprüft werden.

Alle diese Ziele sieht Flusser als erreichbar nur durch und mittels des Computers an,

der Computer wird somit als Apparat das neue Werkzeug, mittels dessen der Mensch

sich innerhalb dieser Netzstruktur verwirklichen kann. Flusser faßt die Funktion von

Computern folgendermaßen zusammen:

“Computer sind Apparate zum Verwirklichen von innermenschlichen, zwi-

schenmenschlichen und außermenschlichen Möglichkeiten dank des exakten

kalkulatorischen Denkens”.

5.4 Die Welt als Oberfläche: Conclusio

Der Schreib- und Argumentationsstil Flusser’s im vierten und letzten Kapitel von Me-

dientheorie läßt anklingen, wie kompliziert die behandelten Thematiken im Laufe der

Zeit geworden sind: gespickt mit Referenzen auf Philosophie und Linguistik, weit aus-

holend und weit weniger klar als in den früheren (sowohl früher im vorliegenden Buch,

als auf aus früheren Jahren) fällt es immer schwerer, den Zusammenhang zu den vorigen

Kapiteln herzustellen. Der Kern der vorliegenden Texte ist jedoch zweifelsohne die immer

schneller voranschreitenden Entwicklung der Computertechnologie und dem beginnenden

Einfließen derselben in den privaten Bereich: ausgehend von seinen eigenen Prognosen für

die telematische Gesellschaft versucht Flusser, die Rolle des Computers in dieser utopi-

schen Gesellschaft zu umreißen. Sein argumentatives Ringen mit abstrakten Konzepten

scheint beispielhaft für das persönliche Ringen des Autors und das allgemeine Ringen

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Kapitel 5. Die Welt als Oberfläche 34

einer ganzen Gesellschaft im Laufe der 90er Jahre bis heute, diese Computertechnolo-

gien in eine Weltsicht, eine soziokulturelle Gesellschaftssicht und eine Technologiekritik

einzubetten.