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ESSAY Zusammenfassung: Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière erkennt „keinen großen intellektuellen Beitrag der deutschen Universitäten zur Frage von Krieg und Frieden“. Diese Äußerung des Ministers ruft vielfältige und widersprüchliche Reaktionen aus der Wissenschaft hervor. Im Ergebnis sind drei Reaktionsmuster erkennbar, von denen zwei auf ein Defizit in der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg und Frieden in Deutschland hinweisen. Das hiermit verbundene Nichtverstehen der Dynamiken, Praktiken, Sequenzen und Semantiken des Krieges muss auch als ein Risiko für den Frieden gesehen werden. Schlüsselwörter: Forschungslücke Krieg · Theorie des Krieges · Friedensforschung · Sicherheitspolitik · Clausewitz Does the “Research Gap on War” Pose a Risk to Peace? On the Necessity of Studying War for Security and Peace Purposes Abstract: Thomas de Maizière, German Minister of Defence, does not recognize “any signifi- cant intellectual contribution of German universities regarding the question of war and peace”. This statement has generated various and contradictory reactions within the scientific community. Three types of reaction can be distinguished. Two of them confirm a deficit in German scientific research on war and peace. The resulting lack of understanding, regarding the dynamics, prac- tices, sequences and semantics of war has to be considered as a risk to peace. Keywords: Research gap war · Theory of war · Peace research · Security policy · Clausewitz Z Außen Sicherheitspolit (2013) 6:227–248 DOI 10.1007/s12399-013-0313-8 „Forschungslücke Krieg“ – Risiko für den Frieden? Über die friedens- und sicherheitspolitische Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg Johann Schmid Online publiziert: 13.03.2013 © Springer Fachmedien Wiesbaden 2013 Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des Autors wieder. Oberstleutnant i. G. Dr. J. Schmid () Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Militärischer Anteil Beim Schlump 83, 20144 Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]

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Essay

Zusammenfassung: Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière erkennt „keinen großen intellektuellen Beitrag der deutschen Universitäten zur Frage von Krieg und Frieden“. Diese Äußerung des Ministers ruft vielfältige und widersprüchliche Reaktionen aus der Wissenschaft hervor. Im Ergebnis sind drei Reaktionsmuster erkennbar, von denen zwei auf ein Defizit in der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg und Frieden in Deutschland hinweisen. Das hiermit verbundene Nichtverstehen der Dynamiken, Praktiken, sequenzen und semantiken des Krieges muss auch als ein Risiko für den Frieden gesehen werden.

Schlüsselwörter: Forschungslücke Krieg · Theorie des Krieges · Friedensforschung · sicherheitspolitik · Clausewitz

Does the “Research Gap on War” Pose a Risk to Peace? On the Necessity of Studying War for Security and Peace Purposes

Abstract: Thomas de Maizière, German Minister of Defence, does not recognize “any signifi-cant intellectual contribution of German universities regarding the question of war and peace”. This statement has generated various and contradictory reactions within the scientific community. Three types of reaction can be distinguished. Two of them confirm a deficit in German scientific research on war and peace. The resulting lack of understanding, regarding the dynamics, prac-tices, sequences and semantics of war has to be considered as a risk to peace.

Keywords: Research gap war · Theory of war · Peace research · security policy · Clausewitz

Z außen sicherheitspolit (2013) 6:227–248DOI 10.1007/s12399-013-0313-8

„Forschungslücke Krieg“ – Risiko für den Frieden? Über die friedens- und sicherheitspolitische Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg

Johann Schmid

Online publiziert: 13.03.2013 © springer Fachmedien Wiesbaden 2013

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Meinung des autors wieder.

Oberstleutnant i. G. Dr. J. schmid ()Institut für Friedensforschung und sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Militärischer anteil Beim schlump 83, 20144 Hamburg, DeutschlandE-Mail: [email protected]

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1 Einleitung

Bundesverteidigungsminister Thomas de Maizière wünscht sich „mehr sicherheitspoli-tische Debatten in Deutschland“ und erkennt „keinen großen intellektuellen Beitrag der deutschen Universitäten zur Frage von Krieg und Frieden“ (de Maizière zit. n. Bigalke 2012, s. 6). Dies obwohl gerade Hochschulen eine „art Initialzünder für gesellschaftliche Debatten“ (de Maizière zit. n. Bigalke 2012, s. 6) sein könnten.

Wie reagiert die Wissenschaft auf diese Äußerung und Inspiration aus prominentem Munde? Wie sind ihre diesbezüglichen Reaktionen zu bewerten? Gibt es in Deutschland und an deutschen Hochschulen tatsächlich zu wenig sicherheitspolitische Debatten und intellektuelle Beiträge zu Krieg und Frieden oder werden diese nur nicht gebührend wahr-genommen? Wo liegen mögliche intellektuelle Defizite konkret? Was sind ihre Ursachen und welche Handlungsoptionen ergeben sich zu ihrer Beseitigung? Dieses Fragenspekt-rum soll im Folgenden beleuchtet und diskutiert werden.

Zielsetzung des Beitrages ist es, die verschiedenen Reaktionen aus der Wissenschaft auf die Äußerungen des Ministers darzustellen, zu kategorisieren und zu bewerten. Im Ergebnis sind drei Reaktionsmuster erkennbar, die sich zum Teil gegenseitig widerspre-chen. Zwei der drei identifizierten Reaktionsmuster aus der Wissenschaft weisen auf ein Defizit in der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg und Frieden in Deutschland hin.

Im Kern vertritt dieser Beitrag die These, dass in Deutschland der Frieden zu wenig auch von seiner „Kehrseite“, sprich vom Kriege her gedacht, verstanden und entwickelt wird, dass hierfür die Basis einer umfassenden und tiefgehenden kriegstheoretischen For-schung weitgehend fehlt und im daraus resultierenden Nichtverstehen der Dynamiken, Praktiken, sequenzen und semantiken des Krieges selbst ein Risiko für den Frieden zu sehen ist.

2 Reaktionen aus der Wissenschaft

Interessant und widersprüchlich zugleich sind die verschiedenen antworten und Reaktio-nen auf die Äußerungen des Ministers aus der Wissenschaft. Drei Reaktionsmuster lassen sich hierbei unterscheiden:

2.1 Inhaltlicher Widerspruch

Zum einen wird der Feststellung des Bundesverteidigungsministers direkt widerspro-chen und behauptet, dass sich die deutsche Wissenschaft sehr wohl und in ausreichendem Umfang mit sicherheitspolitik und Fragen von Krieg und Frieden befasse. Begründet wird dies insbesondere mit Verweis auf die Friedens- und Konfliktforschung, im Beson-deren auch die Kriegsursachenforschung.1 Es wird auf eine ganze Reihe von Lehrstühlen

1 Diese ansicht vertritt u. a. Dr. Martin Kahl, Politikwissenschaftler und Friedensforscher am Institut für Friedensforschung und sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFsH), in einem Interview am IFsH (Hamburg, 28.02.2012).

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an deutschen Universitäten verwiesen, die regelmäßig sicherheitspolitische Fragestellun-gen bearbeiteten und Ergebnisse produzierten (Müller in Götzke 2012). Darauf aufbauend wird dem Minister und seinen Beratern ein „Erkenntnis- und Leseproblem“ unterstellt und eine „Holschuld“, ein „wissen wollen“ (Müller in Götzke 2012) der Politik angemahnt. Diese (die Politik) müsse nur „rufen und fragen“ (Müller in Götzke 2012). Mögliche Forschungsdefizite, wie durch den Minister – beispielsweise hinsichtlich einer wissen-schaftlichen Befassung mit Krieg – angedeutet, werden damit verneint oder gar nicht erst zur Kenntnis genommen.

2.2 Normative ablehnung

Zum Zweiten wird der Forderung des Ministers indirekt widersprochen, indem sich bestimmte Teile der Wissenschaft – u. a. auch mit Bezugnahme auf die „besondere Ver-gangenheit Deutschlands“ oder die „Friedensverpflichtung“ des Grundgesetzes – einer weitergehenden sicherheitspolitischen Debatte und insbesondere einer wissenschaft-lichen Befassung mit Krieg verweigern oder eine solche proaktiv ablehnen. auf Kon-ferenzen, Tagungen sowie in Diskussionen und Einzelgesprächen kann mitunter der Eindruck gewonnen werden, dass eine derartige Befassung aus sicht bestimmter Teile der Politikwissenschaften in Deutschland – der Internationalen Beziehungen im allge-meinen wie auch der Friedens- und Konfliktforschung im Speziellen – weder benötigt werde, noch erwünscht sei und eine Erforschung des Friedens weitgehend als ausrei-chend erachtet wird.2 Eine weitergehende wissenschaftliche Befassung mit Krieg wird in diesem Zusammenhang insbesondere auch mit der Begründung abgelehnt, dass man keine Kriege mehr führen wolle. selbst Wissenschaftler, die eine Erforschung von Krieg als notwendigen Bestandteil der Wahrung von sicherheit und Frieden erkennen, bleiben mitunter aus Furcht vor falschen, ideologisch motivierten Verdächtigungen – u. a. der „Brandmarkung als Kriegstreiber“ (sandschneider zit. n. Bigalke 2012) – in Deckung. am deutlichsten, wenn auch nicht sehr differenziert, kommt die Forderung nach einer wissenschaftlichen Nichtbefassung mit Krieg in der sogenannten Zivilklausel-Bewegung diverser „akademischer Friedensgruppen“3 zum ausdruck (vgl. Nielebock et al. 2012). In diesen formiere sich, so der Prof. für Öffentliches Recht an der Philipps-Universität Mar-

2 Dies zeigt sich auch auf den großen wissenschaftlichen Tagungen in Deutschland, wie z. B. der 3. Offenen sektionstagung der DVPW-sektion Internationale Politik vom 06. bis zum 07.10.2011 in München. Das hierbei angebotene Themenspektrum macht deutlich, dass eine auseinandersetzung mit Krieg seinem Wesen nach und damit eine kriegstheoretische Grund-lagenforschung in der deutschen Wissenschaftslandschaft offenbar nicht stattfindet. Gleichzei-tig unterstreicht die Herangehensweise an Themenstellungen mit Schnittstellen zu spezifischen empirischen Erscheinungsformen von Gewaltkonflikt und Krieg das Defizit an kriegstheore-tischer Expertise nur allzu sehr. Wird dieses Manko thematisiert, so sorgt dies bestenfalls für Verwunderung. Einsicht gerade auch in die friedenspolitische Notwendigkeit dieser Thematik ist nur in Einzelfällen erkennbar.

3 Vgl. die aG Friedensforschung als Veranstalter des Friedenspolitischen Ratschlags unter www.agfriedensforschung.de.

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burg, Hans-Detlef Horn, die „alte Friedensbewegung […] im antimilitaristischen Reflex gegen eine Wiederkunft von ‚Kriegs- und Rüstungsforschung“ (Horn 2012, s. 808) an deutschen Hochschulen. Zielsetzung dieser Bewegung sei es, jedwede Forschungstätig-keit zu unterbinden, die auch militärisch genutzt werden könnte. Ohne Rücksicht auf das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit – Freiheit von Wissenschaft, Forschung und Lehre gemäß artikel 5 absatz 3 des Grundgesetzes – werde hierbei einer „Tendenzforschung“ (Horn 2012, s. 810) und gleichzeitig einer „Minderung des Raums forschender Freiheit“ (Horn 2012, s. 808) das Wort geredet.

Diese art normativ motivierter ablehnung einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg erfolgt im übergeordneten Kontext allgemein ideologischer Vorbehalte und aktiver ausgrenzung des Militärischen in bestimmten Kreisen der deutschen Gesellschaft. Dies findet aktuell u. a. Ausdruck in den Vorbehalten und teilweisen Verboten gegen Infor-mationsveranstaltungen der Bundeswehr an schulen und Hochschulen, Vorbehalten und Einschränkungen gegen Werbemaßnahmen zur Nachwuchsgewinnung der streitkräfte, wie auch, im akademischen Bereich, in Initiativen gegen eine Befassung von Hoch-schulen mit Fragen der Rüstung. Flankiert wird diese ideologische Grundhaltung u. a. durch entsprechende Initiativen aus dem politischen Bereich. so zum Beispiel der soge-nannten aktionswoche gegen Bundeswehr an schulen und Hochschulen der Partei DIE LINKE (Gysi 2012). Insgesamt werden die streitkräfte heute in bestimmten Teilen der deutschen Gesellschaft allenfalls unter Vorbehalten geduldet. Ein besonderes Maß der Wertschätzung, wie in anderen befreundeten Nationen – beispielsweise in den Usa – üblich, erfahren diese hierzulande nicht. Paradoxerweise wird den streitkräften aus der gleichen ideologischen Richtung aus der heraus diese ausgrenzung erfolgt, der Vorwurf mangelnder gesellschaftlicher Integration bis hin zu der für die heutige Zeit völlig abwe-gigen Unterstellung von Tendenzen zur Bildung eines „staats im staate“ gemacht. Der Idee des „staatsbürgers in Uniform“ in einer „wehrhaften Demokratie“ steht eine derart normativ-ideologische Haltung diametral entgegen. Hinzu kommt, dass mittels Namens-gebungen – „zivil“ – und entsprechender Organisationsformen, Militär mitunter indi-rekt, aber bewusst auch dort ausgeklammert wird, wo eine ganzheitliche Perspektive und Herangehensweise im sinne von „Vernetzter sicherheit“, security governance oder eines comprehensive approach gefordert wäre.

2.3 Resignative Zustimmung

Drittens erfahren die Feststellung wie auch die Forderung des Ministers grundsätzliche, jedoch resignative Zustimmung.

Die Notwendigkeit und die eigene Bereitschaft im Bereich der sicherheitspolitik sowie der Forschung zu Krieg, Frieden und strategie mehr tun zu müssen und zu wollen wird zwar betont, jedoch deutlich gemacht, dass diese art der Forschung in Deutschland, historisch bedingt und normativ aufgeladen, politisch und gesellschaftlich weder gewollt sei, noch mit ausreichend Fördermitteln unterstützt werde (Kaim zit. n. Bigalke 2012, s. 6; Krause zit. n. Bigalke 2012, s. 6). Wer auf diesem Gebiet forsche, mache sich unbeliebt und setze sich falschen Verdächtigungen aus, so der Grundtenor. Wenn dann doch ein-mal Ergebnisse produziert würden, so wolle das niemand hören, wird der Ball teilweise

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zurückgespielt (Daase zit. n. Bigalke 2012, s. 7) und ergänzend auf die Festlegungsscheu der Politik gerade im Umgang mit dem Kriegsbegriff (Brzoska zit. n. Bigalke 2012, s. 7) verwiesen. sehr klar werden die Gefahren des Expertisemangels in der sicherheitspoli-tik und der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg und Frieden betont. so habe man die anschläge des 11. septembers 2001 an den Universitäten nicht einzuordnen gewusst (Kaim zit. n. Bigalke 2012, s. 7) und man werde immer wieder überrascht werden, da man in bestimmten Bereichen, z. B. auch mit Blick auf den Iran, nicht gut aufgestellt sei (Brzoska zit. n. Bigalke 2012, s. 7) und strategische Fragen gänzlich ausgeblendet wür-den (Krause zit. n. Bigalke 2012, s. 7).

auf den Punkt bringt den Zusammenhang Klaus schlichte (Universität Bremen), indem er darauf verweist, dass es bis Mitte der 1990er Jahre in Deutschland ohnehin kaum eine Befassung mit Krieg gegeben habe. Er stellt die These auf, dass wir auch heute nicht so genau wüssten, was in Konflikt und Krieg eigentlich genau passiere. Die Prakti-ken, sequenzen und semantiken des Krieges seien ein „blinder Fleck“, insbesondere der gegenwärtigen konstruktivistischen Konfliktforschung.4

3 Bewertung der Reaktionen

Im Folgenden sollen die drei identifizierten Reaktionsmuster aus der Wissenschaft kri-tisch hinterfragt, analysiert und bewertet werden.

3.1 Forschungslücke: Theorie des Krieges

Zur ersten antwortkategorie ist zu sagen, dass auch in Deutschland im Rahmen der Internationalen Beziehungen, der Friedens- und Konfliktforschung aber auch in den Geschichtswissenschaften oder der soziologie im spektrum von Krieg, Frieden und sicherheitspolitik viel geforscht und gearbeitet wird. Von den Bedingungen des Friedens über Konfliktprävention bis hin zur Kriegsursachenforschung und Konfliktnachsorge, um nur wenige Bereiche anzusprechen, wird ein weites Feld relevanter Themenstellungen bearbeitet. Und natürlich gibt es auch in Deutschland eine Reihe von Wissenschaftlern, einige wenige Lehrstühle und Institute, die sich mit sicherheitspolitik und Fragen zu Krieg und Frieden ernsthaft befassen und hierbei verdienstvolle arbeit leisten.

Zu verweisen ist hier neben dem sehr intensiv bearbeiteten Feld der Kriegsursachen-forschung (Deutsch und senghaas 1970; senghaas 1969/1981, 1995, 2012; Gantzel 1987; siegelberg 1994; Zürn und Zangl 2003; aKUF 2011; BICC 2006), insbesondere auf die Forschung und Diskussion zu den sogenannten „Neuen Kriegen“ (Münkler 2002a; Brzoska 2004, 2012) wie auch auf die Kritiker dieses ansatzes (Gantzel 2001, 2002). Zu verweisen ist des Weiteren auf Arbeiten zu spezifischen Konfliktregionen u. a. des German Institute for Global and area studies (GIGa) (Bank 2013) oder Konfliktformen

4 So Prof. Dr. Klaus Schlichte in seinem Vortrag zu Konflikttheorie und Kriegsursachenfor-schung, am Institut für Friedensforschung und sicherheitspolitik an der Universität Hamburg am 20. 06. 2012.

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(Ehrhart 2012; Freudenberg 2008), auf die Befassung mit Einsatzszenarien moderner Waffensysteme im Kontext der Forschung zu Rüstungskontrolle und abrüstung (Neun-eck et al. 2011), auf die psychologisch-soziologische Gewaltforschung (sofsky 2002; Heinsohn 2003) wie auch auf die arbeiten des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr (MGFa). Was die Thematisierung von Kriegsfolgen betrifft ist insbe-sondere schivelbusch (2001) zu nennen. Vereinzelt wird auch theoretische Grundlagen-arbeit zu Krieg geleistet (Deutsch und senghaas 1970; senghaas 1969/1981, Daase 2009; Institut für sicherheitspolitik an der Universität Kiel 2012; Jung et al. 2003; souchon 2012; Bald 2008; Rotte und schwarz 2011; Herberg-Rothe 2001; Geis 2006). Neben schössler (2009) sind in diesem Zusammenhang insbesondere Jäger (2010) sowie Jäger und Beckmann (2011) mit dem Handbuch Kriegstheorien richtungsweisend. Kriegstheo-retische Reflexionen werden hierbei unter Einbeziehung der Klassiker eng mit der empi-rischen Praxis des Krieges verbunden. Zu verweisen ist des Weiteren auf einschlägige Diskussionsforen, wie die sonderhefte der DVPW, die Zeitschrift für Außen- und Sicher-heitspolitik (Zfas), die Zeitschrift Sicherheit und Frieden (s + F), das jährlich erschei-nende Friedensgutachten oder die Zeitschrift Internationale Politik (IP) der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik e. V. Gerade Letztere bot in jüngster Zeit eine Reihe interessanter Diskussionen u. a. zu „Krieg und Frieden“ aber auch zu aktuellen sicher-heitspolitischen Fragestellungen wie der Intervention in Libyen.5 Zu ergänzen sind aus sicherheitspolitisch-militärischer Perspektive Foren wie die Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), die Zeitschrift für Europäische Sicherheit & Technik wie auch die eid-genössische Military Power Review, in denen sich punktuell auch wissenschaftliche Bei-träge zu Sicherheitspolitik wie auch zu Fragen von Krieg, Frieden und Strategie finden lassen. Dies alles stellt der Bundesverteidigungsminister auch nicht in Frage.

auffällig ist jedoch, dass die Forschungsdichte wie auch die Forschungstiefe signi-fikant abnehmen, je weiter man sich im Spektrum vom Frieden über den Konflikt dem Wesenskern des Krieges als zentralem Gegenstand der Betrachtung nähert. so gibt es in Deutschland kaum substanzielle Forschung zu Kriegs- und Konfliktverläufen. Kompa-rative analysen diesbezüglich fehlen fast gänzlich. Die Eigendynamiken des Krieges, seine Regelmäßigkeiten wie auch Unregelmäßigkeiten und Friktionen erfahren genauso wenig eine wissenschaftliche Erforschung wie die im Kriege wirkenden geistigen, phy-sischen und moralischen Kräfte. Eine systematische wissenschaftliche auswertung von Kriegs- und Einsatzerfahrungen findet so gut wie nicht statt. Darüber hinaus fehlt eine wissenschaftlich fundierte, kriegs- und konfliktbezogene und auf den Frieden ausge-richtete strategieforschung, die in der Lage wäre auf praktisches Handeln ausgerichtete politikberatende Empfehlungen zur Vermeidung, Einhegung und Beendigung von Krieg und Gewaltkonflikt und damit auch zu lageangemessenem Handeln in Krieg und Kon-flikt, einschließlich des Einsatzes oder Nichteinsatzes von Streitkräften, zu erarbeiten. Das Verstehen dessen, was im Krieg passiert und wie der Krieg funktioniert bleibt wis-senschaftlich massiv unterforscht. In Konsequenz bedeutet dies, dass eine theoretische Grundlagenforschung zu Krieg und in diesem Kontext auch zu strategie in Deutschland,

5 Vgl. die ausgaben Nr. 3, 4 und 6 der Zeitschrift Internationale Politik aus dem Jahr 2011 (66. Jahr).

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von wenigen Ausnahmen (vgl. Absatz oben) abgesehen, praktisch nicht stattfindet. Der Krieg selbst bleibt daher, wie schlichte (vgl. Kap. 2.3) es ausdrückt, mit seinen Prak-tiken, sequenzen und semantiken ein „blinder Fleck“. Dass im Bereich der Friedens- und Konfliktforschung, die in Deutschland insbesondere als Kriegsursachenforschung verstanden wird, viele Themen am Rande und im Kontext von Krieg aufgegriffen und bearbeitet werden vermag dieses Manko nicht zu beheben, allenfalls zu verschleiern. Krieg wird hierbei in der Regel primär in seiner empirischen Erscheinungsform, dabei häufig reduziert auf quantifizierbare Teilelemente, oder in einer je spezifischen Situation mitbetrachtet. Dass hierbei Kriegs- und Konfliktszenare jenseits unmittelbarer deutscher sicherheitsinteressen mitunter noch die größte aufmerksamkeit erfahren, ist eine weitere horizontbeschränkende Besonderheit. Entscheidend ist, dass der Krieg selbst bei diesen überwiegend kriegsursächlichen oder primär empirischen Betrachtungen in der Regel nicht zu einem eigenständigen Gegenstand wissenschaftstheoretischer Erforschung gemacht wird. sein Wesenskern und damit die ihm immanente Grammatik, Logik und Dialektik, im sinne der oben skizzierten kriegstheoretischen Grundlagenforschung und einer daraus resultierenden Theorie des Krieges, die über die bloße Erfassung empiri-scher Spezifika hinausgehend zeit- und kontextübergreifende Grundsätze, Zusammen-hänge und Betrachtungsmethoden zum Zwecke von Urteilsschulung in Bezug auf Krieg entwickelt, bleibt im Kern unterforscht. Es wäre daher eine Untertreibung hinsichtlich der Theorie des Krieges und entsprechender kriegstheoretischer Grundlagenforschung nur von einem Forschungsdefizit zu sprechen. Sieht man von wenigen verdienstvollen Einzelakteuren6 auf diesem Gebiet ab, so handelt es sich vielmehr um eine ausgeprägte Forschungslücke.7

Ein deutliches Indiz hierfür ist die Tatsache, dass, wann immer diese Forschungs-lücke thematisiert wird, auf zwar relevante und verdienstvolle Forschung im Kontext, an Schnittstellen oder hinsichtlich spezifischer Einzelfragen zum Krieg – z. B. auf die Kriegsursachenforschung – verwiesen wird. Hierbei wird jedoch regelmäßig nicht zur Kenntnis genommen, dass auch mit noch so viel Forschung und Expertise in anlehnung an den Krieg und noch so detaillierter Erfassung losgelöster spezifischer Einzelaspekte und Fragestellungen an der schnittstelle zum Krieg, ein Verstehen des Phänomens Krieg als Ganzes und seinem Wesen nach nicht erreicht werden kann. Trotz vielfältiger For-schung im Kontext von Kriegen und intensiver, empirischer Detailforschung mit schnitt-stellen zum Krieg bleibt somit der Krieg als solcher im Kern und seinem Wesen nach „unterforscht“. Thomas Jäger und Rasmus Beckmann betonen demgegenüber die beson-dere Bedeutung des Krieges für die Entwicklung von Gesellschaften und staaten. In wis-senschaftlicher Hinsicht, so ihre weitere Folgerung, werde der Krieg damit nicht in einem Maß erfasst, das seiner lebensweltlichen Bedeutung entsprechen würde (Jäger und Beck-mann 2011, s. 9).

6 Vgl. Jäger und Beckmann (2011) und schössler (2009).7 „What is missing, then, is a scholarly project that takes war as its central object of analysis and

is adequate to it“ betonen Barkawi und Brighton (2011, s. 128) gar mit Blick auf die weltweite wissenschaftliche Nichtbefassung mit dem Wesen des Krieges. Und: „the absence not only of the institutions of war studies but of the idea of such a discipline“ (Barkawi und Brighton 2011, s. 130).

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Diese Forschungslücke schließt auch die wissenschaftlichen Einrichtungen der Bun-deswehr mit ein. so gibt es an den beiden Universitäten der Bundeswehr keinen eigen-ständigen Lehrstuhl (mehr) für sicherheitspolitik, von einer substanziellen Befassung mit strategie und der Theorie des Krieges gar nicht erst zu reden. Ein diesbezüglich früh-zeitiger Expertiseaufbau für künftige militärische Führungskräfte und Entscheidungs-träger existiert somit nicht einmal (mehr) als eine Möglichkeit auf freiwilliger Basis. Die Bundeswehr unterhält zwar auf verschiedenen Feldern zahlreiche wissenschaftliche Einrichtungen, wie z. B. das MGFa oder das sozialwissenschaftliche Institut der Bun-deswehr (sOWI)8 – zwei Einrichtungen, bei denen primär Militär bzw. die Bundeswehr der Gegenstand historischer und sozialwissenschaftlicher Betrachtungen sind. aber sie verfügt über keine wissenschaftliche Einrichtung für die explizite Befassung mit und Erforschung von Krieg, Frieden, sicherheitspolitik und strategie.9 Ein Defizit, das umso schwerer wiegt, als die „zivile“ Wissenschaft stillschweigend unterstellt, dass diese For-schungsbereiche schon „irgendwie“ durch die Bundeswehr abgedeckt würden.

Wirft man einen näheren Blick auf den Teil der Debatte in Deutschland, in dem der Krieg tatsächlich zum Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung gemacht wurde, so ist festzustellen, dass diese seit beinahe einem Jahrzehnt vom schlagwort der sogenann-ten „Neuen Kriege“ beherrscht wird. so sinnvoll und relevant diese Themenstellung, insbesondere in der von Münkler (2002a)10 vorgetragenen Form auch ist, so ist doch gleichzeitig zu betonen, dass es hierbei primär um die empirische Betrachtung aktueller Erscheinungsformen von Krieg und deren Typologisierung geht.11 Tiefergehende theorie-bildende Forschung zum Wesen des Krieges im sinne kriegstheoretischer Grundlagenfor-schung ist damit primär gar nicht beabsichtigt.12 Im Kern stehen die „Neuen Kriege“ aber auch für das relativ verspätete aufgreifen einer internationalen Debatte in Deutschland, die, ausgelöst durch Martin van Creveld (1991) mit The Transformation of War, bereits seit mehr als einem Jahrzehnt im Gange war. Blickt man auf die aus dieser Richtung eingesickerten und sehr wirkmächtige Fehlperzeptionen zur Theorie des Krieges (van Creveld 1991; Keegan 1995), so kann man von Glück sprechen, wenn es gelingt diese zu korrigieren (Gantzel 2001) und der Erkenntnisstand nach der Debatte nicht schlechter ist als vorher. In einer Verzerrung und bewussten Überinterpretation der von Münkler aufgeworfenen Thesen gipfelt diese Debatte schließlich u. a. in Fragestellungen danach,

8 Beide Einrichtungen werden im Zuge der Neuausrichtung der Bundeswehr organisatorisch und räumlich zusammengefasst.

9 auch für den an der Universität Potsdam 2007 unter Mitwirkung von MGFa und sOWI eta-blierten und bewährten zivilen studiengang Military studies, der auf seinem Gebiet ein in Deutschland einmaliges und höchst relevantes studienangebot leistet, kämen ‚kriegswissen-schaftliche schwerpunkte‘ wie auch ‚Militärstrategie‘ nicht in Betracht. Dies verdeutlicht arno Meinken in seiner Bewertung des studiengangs mit Verweis auf Prof. Kroener (Meinken 2007). auch verweist Meinken (2009, s. 13), Bezug nehmend auf Volta, u. a. darauf, dass das Fehlen der Militärstrategie als Teil der sicherheitspolitik problematisch sei.

10 Vgl. van Creveld (1991) sowie Kaldor (2000).11 Zur auseinandersetzung mit dem Konzept der „Neuen Kriege“ vgl. Geis (2006).12 Jedoch hat Herfried Münkler (2002b) auch hierzu verdienstvolle arbeit geleistet.

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inwiefern die „Neuen Kriege“ wirklich „neu“ seien.13 somit steht gerade diese Debatte stellvertretend sowohl für den „Höhepunkt“ als auch – in ihrer Verspätung, ausschließ-lichkeit, Dauer und ihrer teilweisen intellektuellen Verzerrung – für die Begrenztheit der wissenschaftlichen Forschung zu Krieg in Deutschland.

Für eine angemessene wissenschaftliche Debatte und daraus resultierende Politik-beratung und gesellschaftliche Bildung ist dies, trotz der grundsätzlichen Relevanz der aufgezeigten Forschung, angesichts der Vielfalt und Dynamik sicherheitspolitischer Herausforderungen mit Bezug zu Krieg, Frieden und strategie nicht als ausreichend zu betrachten.

Dass es auch andere und weiterführende Dimensionen und sphären der intellektuellen Befassung mit Krieg gibt, verdeutlicht niemand nachhaltiger als der preußische General, Kriegstheoretiker und -philosoph Carl von Clausewitz (1780–1831). Mit seinem Werk Vom Kriege hat dieser vor ca. 200 Jahren eine der unverändert wirkmächtigsten Grund-lagen zu einem ganzheitlichen, tiefgehenden und auf das Wesen des Gegenstandes bezo-genen Verständnis von Krieg geschaffen. sein Werk stellt eine umfassende, auf die Natur und das Wesen desselben bezogene Theorie des Krieges dar und wird nicht zu Unrecht auch als „Metaphysik des Krieges“ bezeichnet. In seiner Wirkungsgeschichte hat die-ses Werk zahlreiche Fehlinterpretationen erfahren, konnte sich jedoch stets gegen seine Kritiker und den jeweiligen Zeitgeist behaupten. Dies, obwohl es unvollendet blieb und vor dem Hintergrund eines, verglichen mit der heutigen Zeit, völlig anderen empirisch-historischen Kontextes verfasst wurde. so genießt Vom Kriege auch heute international in Fragen von Krieg und Frieden allerhöchstes ansehen gerade bei den zentralen (Usa) wie auch neuen (China) strategischen akteuren unserer Zeit. Zunehmend wird das Werk auch in der Wirtschaft (Eickemeyer 2010) und von Nichtregierungsorganisationen wie Greenpeace als methodische wie auch strategische Inspirationsquelle genutzt. Es würde daher nicht nur historisch, sondern vor allem theoriebildend und für die Bewertung aktu-eller Konfliktlagen Sinn machen, auch in der deutschen Wissenschaft an das geistig-phi-losophische Reflexionsniveau dieses Werkes anzuknüpfen, um es dem eigenen Bedarf gemäß zur schulung von Denken und Urteil zu nutzen und darin enthaltene Gedanken und Methoden entsprechend zu aktualisieren und weiterzuentwickeln. Hierin könnte eine erste Konkretisierung und Richtungsbestimmung für eine auf das Wesen des Gegenstan-des bezogene Grundlagenforschung zu Krieg, Frieden, sicherheitspolitik und strategie gesehen werden.

Die wesentliche Konsequenz der in der ersten antwortkategorie zum ausdruck gebrachten Haltung ist darin zu sehen, dass durch das Nichterkennen oder Nichtbewusst-machen von Defiziten in der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg in Deutschland die Grundvoraussetzung der selbsterkenntnis für eine langfristige Behebung eben dieser Defizite fehlt. Ergänzend ist neben der „Holschuld“ der Politik in Bezug auf den Aus-tausch wissenschaftlicher Erkenntnisse insbesondere auch auf eine „Bringschuld“ der

13 In Münkler (2008) ist diese Debatte vielfältig dargestellt.

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Wissenschaft zu verweisen. Rein praktisch gesehen kann nur hier der schwerpunkt im wechselseitigen austausch zwischen Wissenschaft und Politik gesehen werden (abb. 1).14

3.2 Risiko für den Frieden

Durch die in der zweiten antwortkategorie zum ausdruck gebrachte ideologisch moti-vierte Verdächtigung und „Brandmarkung“ einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg wird dem Forschungsgegenstand Krieg und damit der Forderung des Ministers die intellektuelle wie auch die moralische Existenzberechtigung abgesprochen. Gleichzeitig werden dadurch Defizite in der wissenschaftlichen Befassung mit Krieg in Deutschland nicht nur indirekt bestätigt, sondern es wird einer wissenschaftlichen Nicht-Befassung mit Krieg gar proaktiv das Wort geredet. In Konsequenz wird damit eine „Forschungs-lücke Krieg“, so sie denn noch nicht in ausreichendem Maße bestehen sollte, geradezu eingefordert.

Hier zeigt sich eine grundsätzliche Problematik und Fragestellung von erheblicher friedens- und sicherheitspolitischer Relevanz. Wie kann die Wissenschaft fundierte Poli-tikberatung oder auch nur gesellschaftliche Bildung in Bezug auf Krieg, Frieden und

14 Die abbildung bezieht sich auf die wissenschaftliche Forschung zu Krieg in Deutschland und versteht sich als vereinfachte Tendenzbeschreibung. Durchgezogene Pfeile und dunkle Ein-färbung symbolisieren weitgehend vorhandene Forschung. Gestrichelte Pfeile und mittelgraue Einfärbung stehen für teilweise vorhandene Forschung. Gepunktete Pfeile und helle Einfär-bung kennzeichnen Forschungsdefizite und Forschungslücken. Für die grafische Gestaltung der abbildung danke ich agnieszka antowska.

Abb. 1: Forschungslücke Krieg in der deutschen Wissenschaft. (Quelle: Eigene Darstellung)

Theorie / Philosophiedes Krieges

StrategieforschungWechselwirkung: Krieg - Poli�k

Formenwandel /“Neue Kriege” Histor./ Kriegs- /

Militärforschung

Kriegsverläufe /Dynamiken des Krieges

Gewal�orschungpsycholog.

soziolog.Terrorismus /Radikalisierung

Rüstung / TechnikRüstungskontrolle / Abrüstung

KriegsursachenforchungFriedens-/ Konflik�orschung

Sicherheitspoli�k

Empirisch / Quan�ta�veForschung zu Krieg

FORSCHUNGS-LÜCKE

KRIEG

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sicherheitspolitische Fragestellungen leisten, wenn sie sich mit Krieg und Gewaltkonflikt nicht grundsätzlich befassen soll oder darf und daher gar nicht verstehen kann, wie der Krieg funktioniert? Hier wird eine Forschungsfrage deutlich, die weit über den engen Fokus der Kriegsursachenforschung weiter Teile der deutschen Friedens- und Konflikt-forschung hinausreicht, aber selbstverständlich auch für diese relevant ist. Nicht zuletzt deshalb, weil gerade der Krieg selbst in seinem Verlauf und seiner Dynamik immer neue Ursachen zu seiner Fortsetzung, Verlängerung, Entgrenzung und Erneuerung hervor-bringt. Höchste Zeit also für die Friedens- und Konfliktforschung in Deutschland, sich hierüber Gedanken zu machen und den Krieg selbst, mit seinen Regelmäßigkeiten und Besonderheiten, der Eigendynamik und Friktion seiner Verläufe, wie auch mit den in ihm wirkenden geistigen, moralischen und physischen Kräften, zu einem zentralen Gegen-stand wissenschaftlicher und damit auch theoriebasierter Betrachtung zu erheben.

Dass eine normative ablehnung einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg oder Militär im sinne von Zivilklauseln oder Forschungsverboten zum einen anachronis-tisch ist und zum anderen mit der freiheitlichen Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbart werden kann, verdeutlicht Horn (2012) bereits aus verfas-sungsrechtlicher sicht. Er weist darauf hin, dass Wissenschaft nicht unter einem Gesin-nungsvorbehalt stehe, sondern einem Freiheitsgebot folge. Eine Zivilklausel hingegen bewirke eine Minderung des Raums forschender Freiheit, öffne das Tor zu einer Tendenz-forschung und Tendenzuniversalität und führe zu einer verfassungswidrigen Unterbin-dung forschenden Bemühens. Einem gravierenden Missverständnis unterliege, wer aus dem Friedensgebot eine gerechtfertigte oder gar von vornherein gegebene Beschränkung der Forschungsfreiheit schlussfolgere. Dem ideologiegetriebenen unterschwellig immer wieder unterstellten vermeintlichen Gegensatz zwischen Militär und Frieden ist in die-sem Zusammenhang insbesondere durch den Hinweis auf das Leitbild der „wehrhaften Friedensstaatlichkeit“ (Gornig zit. n. Horn 2012, s. 810) des Grundgesetzes zu begegnen. Horn (2012, s. 810) verweist in diesem Zusammenhang sehr zutreffend auf „Fälle und Notwendigkeiten eines legitimen militärischen Handelns, insbesondere zum Zwecke der Landesverteidigung (art. 87a, 115a GG) wie auch – im Rahmen kollektiver sicherheits-systeme – zur Friedenssicherung in Europa und der Welt (art. 24 abs. 2 GG)“. Militär und Frieden sind daher, insbesondere auf der Basis des Grundgesetzes, nicht als Gegen-sätze zu begreifen, sondern vielmehr als die zwei seiten einer Medaille. Die streitkräfte bilden hierbei nichts anderes als ein Instrument zur praktischen sicherung, Bewahrung oder Wiederherstellung des Friedens.

aus historischer Perspektive ist anzumerken, dass jedes Land, nicht nur Deutschland, eine Vergangenheit hat. Dass aus der eigenen Geschichte Verantwortung erwächst und insbesondere auch die negativen seiten derselben aufgearbeitet werden müssen, sollte eine selbstverständlichkeit darstellen. Entscheidend ist jedoch, bei der eigenen Vergan-genheitsbewältigung auch die inhaltlich angemessenen Konsequenzen zu ziehen. Da die Verwerfungen der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gerade nicht auf einem Übermaß an kriegstheoretischer und strategischer Expertise beruhten, sondern im Gegenteil auf eklatanten Mängeln in diesen Bereichen15, kann eine ange-

15 Ein zentrales Beispiel hierfür stellt mit Blick auf die beiden Weltkriege die beständige, aber jeweils unterschiedlich geartete „Schieflage“ der Zweck-Mittel-Beziehung zwischen Politik

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messene Vergangenheitsbewältigung auch nicht in einer proaktiven wissenschaftlichen Nichtbefassung mit Krieg und strategie gesehen werden.

Von welch zentraler und entscheidender Bedeutung für die Bewahrung des Friedens wie auch für die Einhegung und Begrenzung von Krieg ein zutreffendes Urteil in Bezug auf wesensbezogene Grundsätze des Krieges und strategische Zusammenhänge sein kann, zeigt sich besonders deutlich mit Blick auf ausbruch, Dynamik und ausmaß des Ersten Weltkriegs. Die kriegstheoretisch unzutreffende Bewertung der Dialektik wie auch des stärkeverhältnisses von Offensive und Defensive am Vorabend der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (Kennan 1981, s. 12) hatte hierbei wesentlich zu dem z. T. unge-wollten oder ungeplanten Hineinschlittern in eine sich verselbständigende und eskalie-rende Kriegs- und Konfliktlage beigetragen. Die hierbei auf allen Seiten vorherrschende ausgesprochene „angriffsphilosophie“ schien eine Verteidigung schon allein aus falsch verstandenen ideologisch-mentalen Gründen nicht zuzulassen. Krieg führen wurde mit angriff gleichgesetzt, die Verteidigung nicht als eine gleichwertige Form der ausein-andersetzung anerkannt. Der Politik aller Kriegsparteien schienen damit defensive poli-tisch-strategische Optionen schon allein auf Grund einer unzutreffenden Bewertung der Dialektik von Offensive und Defensive verwehrt. ausbruch, Eskalation und ausmaß des Ersten Weltkriegs sind daher wesentlich durch diese, das damalige Denken beherr-schende kriegstheoretische Fehlperzeption um den „Kult der Offensive“ mit verursacht worden. Diese fast ausschließliche angriffsorientierung sämtlicher beteiligter Nationen und streitkräfte, galt selbst für diejenigen akteure, die politisch eher defensive und status quo-orientierte Zielsetzungen verfolgten.

Der „Kult“, der um den angriff stattfand, war hierbei, wie die Historikerin und Profes-sorin für Internationale Beziehungen an der Universität Reading (GBR), Beatrice Heuser, betont, „weder zeitlich noch räumlich begrenzt“ (Heuser 2010, s. 126). Besonders aus-geprägt, bis hin zur irrational „übersteigerten Verklärung der Offensive“ (Heuser 2010, s. 123) unter Lehrern wie Foch („Mystik der Offensive“, „angriffskult“) war er in Folge des „Wiedererwachens napoleonischen Gedankenguts“ (Heuser 2010, s. 125) in Frank-reich. Dies führte dazu, wie Heuser Bezug nehmend auf Brodie betont, dass man gar nicht auf die Idee kam „das sechste Buch des Werkes Vom Kriege zu Rate zu ziehen, in dem Clausewitz sein Verständnis von den Vorteilen der Verteidigung darlegt“ (Heuser 2010, s. 123). Krieg führen wurde stattdessen mit angriff gleichgesetzt und die Verteidigung

und Krieg dar. Während im Verlauf des Ersten Weltkrieges, insbesondere unter Ludendorff, in Umkehrung der von Clausewitz vertretenen natürlichen Hierarchieverhältnisse dieser beiden Bezugsgrößen, die Politik fatalerweise in den Dienst der Kriegführung gestellt wurde, so gene-rierte sich mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg die politische Führung als „despotischer Gesetz-geber“ (Clausewitz 1832/1980, s. 210), der in Verkennung der „Natur“ dieses Mittels, letzteres für utopische und verwerfliche Zwecksetzungen missbrauchte. Ein weiteres Beispiel stellt in diesem Kontext die Reduzierung der deutschen militärstrategischen Planung unter Moltke dem Jüngeren am Vorabend des Ersten Weltkriegs auf eine einzige Handlungsoption – den abgewan-delten schlieffen-Plan – dar, womit dynamischen und wechselnden politischen Entwicklungen nicht angemessen Rechnung getragen werden konnte. schließlich liefert die Verkennung der Wechselbeziehung und des entsprechenden stärkeverhältnisses von Offensive und Defensive mit Blick auf ausbruch und Eskalation den Ersten Weltkrieg ein weiteres Beispiel für man-gelnde kriegstheoretische und strategische Expertise aller beteiligten akteure.

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nicht als eine gleichwertige Form des Kriegführens wahrgenommen. Dies stellte eine eklatante Verkennung nicht nur der waffentechnischen, die Defensive begünstigenden, Gegebenheiten der damaligen Zeit, sondern insbesondere auch des durch die Dialektik und beständige Wechselwirkung von Offensive und Defensive geprägten Wesens des Krieges dar. Die von tiefgreifenden Interessengegensätzen geprägte politische Gesamt-lage in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde so gerade durch den „Kult der Offensive“ – d. h. durch eine kriegstheoretische Fehlperzeption – zu einer explosiven Mischung, die nur noch eines Funkens bedurfte, um zu einer maximalen Explosion zu führen.

Das in einer kriegstheoretisch fundierten, zutreffenden Bewertung des stärkeverhält-nisses von Offensive und Defensive verborgene friedenspolitische Potenzial zur mög-lichen Einhegung der „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ kann nur erahnt werden. Ganz unabhängig von den offensiven politischen Zielen, die ein Teil der Kriegsparteien verfolgte, hätte eine zutreffende Bewertung des stärkeverhältnisses von Offensive und Defensive jedoch auch diesen frühzeitig einen Eindruck von der Kraft der Verteidigung und damit von den unverhältnismäßigen potenziellen „Kosten“ und den nur begrenzten Erfolgsaussichten offensiver militärischer Kriegszielverfolgung vermitteln können. Im Rahmen entsprechender Kosten/Risiko-Nutzenabwägungen hätte diese Erkenntnis wie-derum dazu beitragen können, die politischen Eliten der Kriegsparteien von der militä-risch offensiven Verfolgung ihrer Kriegsziele abstand nehmen zu lassen. Für Deutschland hätte dies bedeuten können, nicht der strategisch offensiven und politisch fatalen aus-richtung des schlieffen-Plans mit seiner Westoffensive folgen zu „müssen“, sondern, im Vertrauen auf die Kraft der Verteidigung, den zu erwartenden angriff Frankreichs in der Defensive abwarten zu können und nicht unnötig die anzahl der eigenen Gegner sowie deren Entschlossenheit, wie durch die offensive Verletzung der belgischen Neutralität geschehen, zu vergrößern.16 Der Erste Weltkrieg hätte bezogen auf sein ausmaß nicht notwendig ein „Weltkrieg“17 sein müssen.

Ein etwas höheres Maß an kriegs- und strategietheoretischer Expertise hätte genügen können, um die spezifischen Stärken der Verteidigung und damit den Wert einer wehr-haften Defensive als deeskalierende politische Option zu erkennen. Ein Blick in das Clausewitzsche Werk Vom Kriege, insbesondere auf das Konzept der größeren stärke der Verteidigung hätte ausreichen können, um zu verstehen, welches Kraft- und stärkepoten-

16 Damit soll nicht unterstellt werden, dass der Kriegseintritt Großbritanniens gegen Deutsch-land hätte verhindert werden können. Die „Blockkonfrontation“ war 1914 vermutlich bereits zu vertieft und das Eigeninteresse Großbritanniens an einem militärischen „in die schranken wei-sen“ des wirtschaftlichen Rivalen auf dem Kontinent vermutlich zu ausgeprägt. Jedoch wäre zu erwarten gewesen, dass es der politischen Elite des Landes erheblich schwerer gefallen wäre die eigene Bevölkerung in einem langen, verlustreichen und kostspieligen Krieg nachhaltig poli-tisch „mitzunehmen“. Dementsprechend hätte das Kriegsengagement Großbritanniens deutlich schwächer ausfallen können und es kann vermutet werden, dass es der politischen Elite des Landes mangels offensichtlicher Legitimität nicht notwendig hätte gelingen müssen, die Usa zum offenen Kriegseintritt zu bewegen.

17 Vgl. dazu Ferguson (2001, s. 389, 399).

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zial der Verteidigung zu Eigen sein kann.18 Dieses wurde zu jener Zeit zudem sowohl durch die waffentechnischen Gegebenheiten – Maschinengewehr, stacheldrahtsperre, schnellfeuergeschütz –, die mangelnde operativ-strategische Beweglichkeit der dama-ligen armeen, als auch durch die Größe der streitkräfte und damit der Möglichkeit die gesamte Frontbreite zum Gegner19 lückenlos besetzen zu können, im besonderen Maße unterstützt. somit wäre ganz im Gegenteil gerade aus der deutschen Historie die Konse-quenz zu ziehen, den aufbau wissenschaftlicher Expertise in den Bereichen Krieg und strategie als eine Notwendigkeit für die künftige Bewahrung von sicherheit und Frieden und die Entwicklung entsprechender Friedensstrategien zu erkennen. Nicht zu Unrecht betont daher der Philosoph und soziologe Raymond aron, der gleichzeitig als renom-miertester französischer Clausewitz- und strategieforscher betrachtet werden kann, dass gerade Clausewitz mit seiner Theorie von der größeren stärke der Verteidigung eine „Theorie der Konfliktlösung“ entwickelt habe, die ihn zu einem „liberalen Theoretiker der internationalen Beziehungen“ (aron zit. n. strachan 2008, s. 23) werden lasse.

Hier könnte jedoch der Einwand erfolgen, dass kriegs- und strategietheoretische Exper-tise im Sinne einer effektiveren Kriegführung auch für verwerfliche Ziel- und Zweckset-zungen missbraucht werden könnte und daher besser gar nicht erst aufgebaut werden sollte. Dass ein Missbrauch selbst der positivsten Erkenntnisse und Errungenschaften, gleich auf welchem Gebiet, nie vollständig ausgeschlossen werden kann, versteht sich von selbst. Der einseitige Verzicht auf Expertise auf diesem Gebiet würde jedoch ins-besondere der eigenen Inkompetenz im Umgang mit sicherheitspolitischen und strate-gischen Herausforderungen von Krieg und Frieden Vorschub leisten, ohne dabei selbst friedensfördernd zu wirken. Von potenziellen Herausforderern und aggressoren könnte dies nur allzu leicht als Schwäche verstanden werden und damit insbesondere konflikt-verschärfend wirken. Ganz abgesehen davon, dass ohne kriegs- und strategietheoretische Expertise gerade auch Konfliktprävention, Eindämmung und Beendigung von Kriegen wie auch die Entwicklung von Friedensstrategien einer soliden Grundlage entbehren wür-den. Wer in dieser Logik argumentiert, dürfte letztendlich überhaupt keine streitkräfte unterhalten – es sei denn zu ausschließlich repräsentativen oder „sachfremden“ Zweck-setzungen. Denn ein sicherheitspolitisch sowie kriegs- und strategietheoretisch nicht fundierter Einsatz von streitkräften wäre weder vor der eigenen Gesellschaft, noch den Verbündeten und dem auftrag gegenüber und schon gar nicht vor den betroffenen sol-daten und Opfern eines Krieges zu rechtfertigen und zu verantworten. Das Bekenntnis zur wehrhaften Demokratie macht daher den aufbau von kriegs- und strategietheoretischer Expertise zu einer verantwortungsethischen Pflicht und Notwendigkeit. Zu guter Letzt hat insbesondere die Geschichte des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass selbst Weltkriege mit

18 Dass Clausewitz, indem er die Verteidigung zur grundsätzlich stärkeren Form des Kriegführens erhebt und hierbei zu einer einseitigen Betonung ihrer stärken bei gleichzeitiger Vernachlässig der potenziellen stärken der Offensive neigt, steht auf einem andern Blatt (vgl. schmid 2011). allein sein „argumentationsangebot“ zur Betonung der, bezogen auf den Ersten Weltkrieg tat-sächlich gegebenen, größeren stärke der Verteidigung sowohl auf taktischer als auch auf ope-rativ-strategischer Ebene, hätte die angriffsphilosophie aller Kriegsparteien am Vorabend des Ersten Weltkrieges in Frage stellen müssen.

19 am Beispiel der Westfront: von der schweizer Grenze bis zum Kanal.

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verheerendsten Folgen und Millionen von Opfern auch (oder gerade) ohne tiefergehende kriegstheoretische Grundlagenexpertise und ohne besonderen strategischen Weitblick ausgelöst und geführt werden können. Entsprechende kriegs- und strategietheoretische Kompetenz hätte dazu beitragen können, die politische Verwerflichkeit, wie auch die stra-tegische Unsinnigkeit oder militärische aussichtslosigkeit bestimmter Ziel-/ und Zweck-setzungen frühzeitig begreifbar zu machen und so zu deren Verhinderung, Begrenzung oder Beendigung beizutragen.20

Die Notwendigkeit und Verantwortung zum aufbau wissenschaftlicher Expertise in den Bereichen Krieg und strategie ergibt sich aber auch aus der Tatsache, dass der Krieg längst „von unten“ über die soldaten, die im Krieg stehen, in die deutsche Gesellschaft zurückgekehrt ist.21 Im auftrag der Politik und damit im Dienst an dieser Gesellschaft ist der Einsatz von soldaten der Bundeswehr, aber auch ziviler akteure im Kontext von Krieg, „kriegsähnlichen Verhältnissen“ und diverser Konfliktlagen zum Zwecke des Friedens längst zur Realität geworden. Mehr als 300.000 Bundeswehrangehörige haben bisher an verschiedenen auslandseinsätzen teilgenommen. Deutschland ist politisch seit beinahe anderthalb Jahrzehnten bereit, sich räumlich entgrenzt an multinationalen Ein-sätzen der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung auch im Kontext von Krieg oder kriegsähnlichen Verhältnissen zum Zwecke des Friedens zu beteiligen. Das Risiko eines Bodenkrieges wurde, auch wenn es damals nicht dazu gekommen ist, erstmals 1999 im Rahmen der Kosovointervention bewusst eingegangen. Hinzu kommt nach wie vor der grundgesetzlich verankerte auftrag an den Bund, streitkräfte zur Ver-teidigung aufzustellen.22 auch wenn dieser (unmittelbare) Verteidigungsauftrag vor dem Hintergrund diverser Konfliktlagen in aller Welt derzeit nicht besonders aktuell erschei-nen mag, so darf er weder zur Disposition gestellt noch ignoriert werden. allein die Bewertung und Interpretation dieses Basisauftrages erfordert vor dem Hintergrund einer dynamischen, sich permanent verändernden sicherheitspolitischen Lage ein erhebliches Maß an Expertise in Bezug auf Krieg, Frieden, sicherheitspolitik und strategie.

Umso defizitärer ist es vor diesem Hintergrund, dass weite Teile der Wissenschaft in Deutschland eine substanzielle und tiefgreifende wissenschaftliche Befassung mit Krieg und strategie aus weitgehend „ideologischen“ Gründen, mit dem vermeintlich überzeu-genden argument, dass man keine Kriege mehr führen und nur den Frieden wolle, ableh-nen. Einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg wird somit automatisch eine normativ kriegstreibende absicht unterstellt. Die Notwendigkeit einer Erforschung von Krieg gerade im Dienst am Frieden wird proaktiv nicht gesehen. Die Frage, ob die Wissen-schaft mit einer derart ideologisch bedingten „Forschungsverweigerungshaltung“ ihrer aufgabe einer verantwortlichen Politikberatung und gesamtgesellschaftlichen Bildung

20 Vgl. die strategischen Überlegungen von General Beck (Beck und speidel 1955).21 so Winfried Nachtwei auf einer Podiumsdiskussion im Rahmen des senatsempfangs anlässlich

des 40-jährigen Bestehens des IFsH am 14. 11. 2011: „In den letzten Jahren ist in die Bundes-republik der Krieg von unten zurück gekehrt, nämlich über die soldaten, die im Krieg stehen, Guerillakrieg, Terrorkrieg usw.“ Und an anderer stelle: „In afghanistan sind Bundeswehrsol-daten seit zwei/drei Jahren mit einem Guerilla- und Terrorkrieg konfrontiert. Erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik stehen ihre soldaten in Gefechten“ (Nachtwei 2011, s. 1).

22 Vgl. artikel 87 a des Grundgesetzes.

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gerade mit Blick auf den Frieden, den Gebrauch und auch den bewussten Nichtgebrauch militärischer Mittel sowie hinsichtlich einer Bewertung ihres Einsatzes im Dienst am Frieden gerecht werden kann, beantwortet sich damit von selbst.

Wäre Kants „ewiger Frieden“ bereits Realität geworden, so könnte man dies als eine verzeihliche Nachlässigkeit der Wissenschaft im Hinblick auf einen dann nur noch his-torisch relevanten Forschungsgegenstand betrachten. allein die Realität ist eine andere. Da der Krieg unverändert das größte Risiko für den Frieden darstellt, ist eine Befassung mit Krieg von allerhöchster Relevanz für die Förderung, Bewahrung oder Wiederherstel-lung des Friedens. Geht man von der Überlegung aus, dass sich gezielt nur verhindern, begrenzen oder beenden lässt, was man auch versteht und dass eine wissenschaftlich-theoretische Befassung mit einem Gegenstand dem Verstehen desselben förderlich ist, so wird die wissenschaftlich-theoretische (weitgehende) Nichtbefassung mit Krieg und seiner Theorie zu einem friedenspolitischen Risiko. Das Ignorieren des unliebsamen Phänomens Krieg trägt hierbei gerade eben nicht zu dessen Vermeidung, Begrenzung, Beendigung oder dem friedenspolitisch kompetenten Umgang mit diesem bei. Einer ver-antwortlichen, friedenspolitisch ausgerichteten, wissenschaftlich fundierten Politikbera-tung, die darauf abzielt, friedenserhaltende strategien zu entwickeln, Krieg zu verhindern und wo nicht möglich zu begrenzen, einzuhegen und beenden zu helfen, sowie einen ver-antwortlichen Gebrauch oder Nichtgebrauch militärischer Mittel sicherstellen zu helfen, fehlt damit eine ganz wesentliche Voraussetzung: Expertise über den Krieg auf der Basis einer entsprechenden Theorie des Krieges. Und damit ein ganzheitliches, theoretisch fun-diertes wissenschaftliches Verstehen von Krieg seinem Wesen nach.

3.3 Widersprüchliche Reaktionen

Eine Gegenüberstellung der beiden erstgenannten argumentationsmuster inhaltlicher Widerspruch und normative ablehnung zeigt, dass diese grundsätzlich nicht miteinander zu vereinbaren sind. Die aussage, dass ein relevanter Forschungsgegenstand bereits in ausreichendem Maße erforscht werde ist mit der aussage, dass eine Erforschung des betreffenden Gegenstandes nicht relevant, nicht erwünscht und darüber hinaus poten-ziell gefährlich sei, nicht widerspruchsfrei zu denken. Dies verdeutlicht, dass an den ver-schiedenen Reaktionen aus der Wissenschaft irgendetwas nicht stimmen kann und die These des Ministers offensichtlich nicht gänzlich ins Leere greift. Wird letztere durch das Reaktionsmuster normative ablehnung indirekt bestätigt so liefert das dritte Reak-tionsmuster (resignative Zustimmung) eine direkte, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven und mit verschiedener akzentuierung vorgebrachte Bestätigung vorhande-ner Defizite in der wissenschaftlichen Befassung mit Krieg in Deutschland. Diese Fest-stellung bestehender Defizite wird verbunden mit der grundsätzlichen Bereitschaft diese beheben zu wollen, wobei gleichzeitig jedoch die normativ-ideologischen, finanziellen aber auch politischen Grenzen eines solchen Unterfangens aufgezeigt werden.

Zum besseren Verständnis dieser Widersprüchlichkeiten und Dilemmata lohnt daher ein vertiefender Blick in die Friedens- und Konfliktforschung, die in diesem Zusammen-hang in besonderem Maße gefordert ist. Festzustellen ist hierbei, dass gerade führende Vertreter dieses Forschungsgebietes (Brzoska 2012) keinen Zweifel daran lassen, dass von der Friedensforschung zu Recht verlangt werde, dass diese zu „Fragen der Zukunft

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von Krieg und Frieden“ (Brzoska 2012, s. 128) arbeite. Die analyse organisierter Gewalt besonders in Form bewaffneter Konflikte („gewaltträchtiger Großkonflikte“) wird hier als Gegenstand und zentrales Feld der Friedensforschung definiert. Die Forschung zu „Details von Kriegführung und Kriegsvorbereitung“ (Brzoska 2012, s. 137) wird hierbei explizit eingeschlossen. Damit wird deutlich, dass das Reaktionsmuster der ablehnung einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg mit der Grundidee der Friedensforschung nicht kompatibel ist und es sich hierbei auch aus dieser Perspektive heraus nur um eine Fehlentwicklung handeln kann.

Wie aber erklärt sich diese Fehlentwicklung und insbesondere ihre Wirkmächtigkeit, die gerade auch in ihrer ausstrahlung auf das dritte Reaktionsmuster der resignativen Zustimmung ihren Ausdruck findet und darin gipfelt, dass wider besseren Wissens um die friedenspolitische Notwendigkeit, aus der angst heraus sich falschen Verdächtigungen und ungerechtfertigten Verunglimpfungen auszusetzen, eine wissenschaftliche Befassung mit Krieg weitgehend abgelehnt oder vermieden wird? Eine Ursache hierfür kann in der bewusst gewählten Normativität (schlotter und Wisotzki 2011, s. 9–45) der Friedens- und Konfliktforschung als einer Forschung über und insbesondere für den Frieden gesehen werden. Diese Nichttrennung von „Gegenstandsbereich und Wertbezug“ (Brzoska 2012, s. 127, 130), gegen die per se nichts einzuwenden ist, wird dann problematisch, wenn es gilt, den Frieden auch vom Kriege her zu denken. Einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg wird dann gewissermaßen automatisch unterstellt, normativ kriegsfördernd zu sein. Dass dies nicht nur ein Problem selbstkritischer Friedensforschung, sondern insbe-sondere „der öffentlichen Erwartung an die Friedensforschung“ (Brzoska 2012, s. 134) ist, macht die sache nur noch schwieriger und bildet für den Wissenschaftler ein „Minen-feld der Erwartungen“ (Wulf 2011, s. 496), dem nur schwer zu entkommen ist. Überse-hen wird hierbei die Tatsache, dass gerade die Entwicklung von Friedensstrategien, wie auch die gezielte Vermeidung, Einhegung und Beendigung von Krieg ein ganzheitliches Verstehen des zu vermeidenden Gegenstandes Krieg zwingend voraussetzen und damit eine Theorie des Krieges als Grundlage entsprechender Urteilsschulung für den Dienst am Frieden erforderlich machen. Man muss nicht Krieg führen wollen, um sich wissen-schaftlich mit Krieg befassen zu können oder zu müssen. Es gibt dafür mehr als genug friedens- und sicherheitspolitische Notwendigkeiten und Motive.

Diese Zusammenhänge zeigen, dass trotz der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre auch die Wissenschaft nicht frei von Zwängen, Beschränkungen und geistigen Blockaden ist, die sich aus Modeerscheinungen und dem konformen und proaktiv angepassten Denken im sinne des sogenannten Mainstream oder einer vermeint-lichen „politischen Korrektness“23 ergeben. „Den Krieg zu verstehen für sicherheit und Frieden“ und „Frieden auch vom Kriege her zu denken“ entspricht derzeit, trotz klarer gegenteiliger Forderungen auch aus der Friedensforschung, nicht dem wissenschaftlichen Mainstream in Deutschland.

23 so Egon Bahr auf einer Podiumsdiskussion im Rahmen des senatsempfangs anlässlich des 40-jährigen Bestehens des IFsH am 14.11.2011.

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4 Fazit und Handlungsempfehlung

ausgehend von den Äußerungen des Bundesverteidigungsministers hat sich der Beitrag zum Ziel gesetzt, die verschiedenen Reaktionen aus der Wissenschaft auf die angesproche-nen Defizite in der wissenschaftlichen Befassung mit Krieg und Frieden in Deutschland darzustellen, zu kategorisieren und zu bewerten. Im Ergebnis sind drei Reaktionsmus-ter erkennbar: 1) inhaltlicher Widerspruch, 2) normative ablehnung und 3) resignative Zustimmung. Diese Reaktionsmuster stehen wechselseitig in deutlichem Widerspruch zueinander, wobei zwei der drei identifizierten Reaktionsmuster – zum einen indirekt die normative Ablehnung zum anderen direkt die resignative Zustimmung – auf ein Defizit in der wissenschaftlichen Erforschung von Krieg und Frieden in Deutschland hinweisen.

als Fazit kann festgehalten werden, dass die durch Verteidigungsminister Thomas de Maizière angesprochen Defizite der deutschen Wissenschaft in Bezug auf substan-zielle Beiträge zu Krieg und Frieden und entsprechende sicherheitspolitische Debat-ten, von wenigen Einzelakteuren einmal abgesehen, im Kern zutreffend sind und durch die Reaktionen aus der Wissenschaft selbst bestätigt werden. Die aufgezeigten Defizite treffen in umso höherem Maße zu, je mehr man sich von allgemeinen friedens- oder sicherheitspolitischen Fragestellungen dem Wesen des Krieges und seiner wissenschaft-lich-theoretischen Erforschung nähert. Was im Kern fehlt, ist eine kriegstheoretische Grundlagenforschung, die:0 über die engen Grenzen der Kriegsursachenforschung und der gegenwärtigen kons-

truktivistischen Konfliktforschung hinausgehend den Krieg selbst zu einem zentra-len und eigenständigen Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung und Forschung erhebt und hierbei die Dynamiken, Praktiken, sequenzen und semantiken des Krie-ges und im Kriege erforscht,

0 über die rein empirische Betrachtung des Phänomens hinaus das zeit- und kontext-übergreifende Wesen des Krieges mit der ihm eigenen immanenten Logik und Dialek-tik erfasst und

0 dadurch zu aufbau, aktualisierung und Weiterentwicklung einer universalen Theorie des Krieges im sinne von Grundsätzen, Logiken sowie Methoden des Denkens und der Urteilsschulung im Dienst am Frieden beiträgt.

Damit fehlt der Friedens- und Konfliktforschung wie auch der Sicherheitspolitik in Deutschland weitgehend die ausgangsbasis, um den Frieden auch von seiner „Kehr-seite“, sprich vom Kriege her, wissenschaftlich fundiert denken, verstehen und im sinne von Friedensstrategien entwickeln und befördern zu können. Die besondere Notwendig-keit einer wissenschaftlichen Befassung mit Krieg, Frieden, sicherheitspolitik und stra-tegie ergibt sich aktuell insbesondere aus vier Faktoren:

1. Zum einen durch die Vielzahl, Dynamik und Unterschiedlichkeit von Kriegs- und Konfliktszenaren in denen Deutschland, Europa und der Westen heute engagiert und gefordert sind. Räumlich vom Balkan über das Horn von afrika und afghanistan bis in die sphären von Weltraum und Cyber. Inhaltlich von staatsaufbau und stabilisierung, über die auseinandersetzung mit Terroristen und Piraten bis hin zu Luftkampagnen im Kontext von responsibility to protect und Regimewechsel und schließlich dem Kampf-einsatz gegen Aufständische. Der grundgesetzlich definierte Auftrag der (Landes-) Ver-

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teidigung wird hierbei zumeist noch gar nicht mit bedacht. Dies führt, verglichen mit der Zeit des Kalten Krieges, zu einem erheblichen Mehrbedarf an sicherheitspolitischer sowie kriegs- und konfliktbezogener Analysefähigkeit und Expertise, die zudem einer kontinuierlichen dynamischen anpassung und aktualisierung bedarf. Gleichzeitig erfor-dert gerade auch die Positionierung im Bündnisrahmen und in diesem Zusammenhang ganz besonders die gezielte Nichtbeteiligung an Bündniseinsätzen eine solide strategi-sche sowie sicherheits- und friedenspolitische Begründung.

2. Zum Zweiten durch die Methode der „Vernetzten sicherheit“, des comprehensive approach bzw. diverser Governance-ansätze, für die das Fehlen hierarchischer bzw. oft-mals jeglicher klarer Führung charakteristisch ist und mit der ein Großteil aktueller Her-ausforderungen, u. a. staatsaufbau in externen Regionen, angegangen wird. Dies bedingt die Notwendigkeit und damit auch die Fähigkeit zur horizontalen Zusammenarbeit unter-schiedlichster akteure auf nahezu allen Ebenen, sowohl zivil-militärisch, interdisziplinär, wie auch international. Ohne ein zumindest minimales gemeinsames Grundverständnis, eine gemeinsame Philosophie und Methode der Betrachtung von Krieg, Gewaltkonflikt und strategie ist ein solcher ansatz bereits rein gedanklich zum scheitern verurteilt.

3. Zum Dritten ergibt sich ein besonderer Bedarf an kriegstheoretischer und strate-gischer Expertise insbesondere auch aus der Verortung neuartiger, u. a. durch den tech-nologischen Wandel neu erschlossener Räume und sphären wie dem Weltraum oder dem sogenannten Cyberspace und damit verbundenen waffentechnologischen Dynami-ken von der Raketenabwehr, über antisatellitenwaffen bis hin zu angriff und Verteidi-gung im Cyber-Raum. Gleichzeitig gilt es die Reichweite vorhandener Machtmittel in einem stets dynamischen und globalisierten Umfeld kontinuierlich neu zu bewerten. Die auswirkungen der Nutzung unbemannter systeme, von Robotik und Miniaturisierung bedürfen hierfür genauso einer kriegstheoretischen, strategischen sowie friedens- und sicherheitspolitischen Verortung wie die Frage der Wirksamkeit bisheriger strategischer Machtmittel.24

4. schließlich entsteht gerade auch durch eigene ab- und Rückrüstungsdynamiken der Bedarf an sicherheitspolitischer, strategischer wie auch kriegstheoretischer Begleitung, Einordnung und steuerung, um damit einhergehende mögliche destabilisierende und friedensgefährdende Nebeneffekte, die auch aus eigener schwäche oder Handlungsun-fähigkeit resultieren können, zu vermeiden. Hierbei darf nicht übersehen werden, dass insbesondere die Bewertung und Entwicklung von Friedensstrategien ohne eine solide kriegs- und strategietheoretische Grundlage auf tönernen Füßen steht.

Um die bestehende „Forschungslücke Krieg“ nicht zu einem Risiko für sicherheit und Frieden werden zu lassen, gilt es daher diese schnellstmöglich und nachhaltig mit geeigneten Maßnahmen zu beheben. Grundvoraussetzung hierfür ist die Erkenntnis und Bewusstmachung bestehender Defizite und damit verbundener Risiken. Ein erster Schritt könnte darin bestehen, im Rahmen einer ressortübergreifenden, interdisziplinären Kon-

24 Etwa die Bewertung der Wirksamkeit und Überlebensfähigkeit von Flugzeugträgerverbänden angesichts neuer Herausforderungen wie u. a. weitreichender antischiffsraketen („Carrier Kil-ler“).

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ferenz25 eine Lagefeststellung bezüglich des aktuellen standes der wissenschaftlichen Befassung mit Krieg und strategie in der deutschsprachigen wissenschaftlichen Debatte vorzunehmen. Hierbei käme es darauf an, vorhandene Fähigkeiten, Kapazitäten und Motivlagen zu identifizieren, eine wissenschaftliche wie auch eine friedens- und sicher-heitspolitische Bedarfsermittlung, insbesondere in Form relevanter Themenfelder und Forschungsfragen, vorzunehmen und den möglichen Wirkungsradius und das Wirkungs-spektrum kriegs- und strategiewissenschaftlicher Forschung im Kontext der Bewahrung von sicherheit und Frieden praxisbezogen und zukunftsorientiert anzudenken und zu diskutieren.26

Im Kern bleibt festzuhalten, dass in Deutschland der Frieden zu wenig auch von seiner „Kehrseite“, sprich vom Kriege her gedacht, verstanden und entwickelt wird, dass hier-für die Basis einer umfassenden und tiefgehenden kriegstheoretischen Forschung und Grundlage weitgehend fehlt oder – wo vorhanden – ungenügend genutzt wird und im dar-aus resultierenden Nichtverstehen der Praktiken, sequenzen und semantiken des Krieges selbst auch ein Risiko für den Frieden zu sehen ist. Das von Karl W. Deutsch und Dieter senghaas bereits 1970 angemahnte Fehlen einer „Theorie von Krieg und Frieden“ behält somit auch heute, jedenfalls mit Blick auf den Krieg, seine „unheilvolle Relevanz“:

Bisher gibt es keine einzige größere vorläufige Theorie von Krieg und Frieden, die diesen anforderungen insgesamt entspräche. Die aufgabe, eine Reihe zusam-menhängender und verhältnismäßig umfassender Theorien von Krieg und Frieden mit einem kumulativ wachsenden Wahrheitsgehalt und mit zunehmenden anwen-dungsmöglichkeiten zu erarbeiten, steht noch an ihrem anfang – in ganz unheilvol-lem Gegensatz zu der Dringlichkeit unseres Bedarfs an solchem Wissen (Deutsch und senghaas 1970, s. 4).

Literatur

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26 Bezüglich weiterführender Vorschläge und anregungen vgl. schmid (2012, s. 7).

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