Foto: Andreas Bohnenstengel · 2 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010 EDITORIAL Liebe Leserin,...

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Ausgabe 1 /201 0 Neues Denken: Inklusion Foto: Andreas Bohnenstengel

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Ausgabe

1/2010

Neues Denken: Inklusion

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2 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

E D I T O R I A L

Liebe Leserin,

lieber Leser,

das Übereinkommen der VereintenNationen über die Rechte von Men-schen mit Behinderungen, ein völker-rechtlicher Vertrag, hat der Diskussi-on um die „Inklusion“ neue Impulsegegeben. Es konkretisiert bereits be-stehende Menschenrechte für dieLebenssituation behinderter Men-schen. Das Übereinkommen wurdeam 13. Dezember 2006 am Sitz derVereinten Nationen unterzeichnet. InDeutschland gilt das Gesetz seit 26.März 2009. Es gibt einen gesell-schaftlichen Gestaltungsauftrag zurÜberwindung von Ausgrenzung.Menschen mit Handicaps soll dievolle Teilhabe am gesellschaftlichenLeben eröffnet werden. Eine Utopie?Eigeninitiative Betroffener zu för-dern, Selbsthilfe zu unterstützen,Selbstbestimmung zu forcieren, Teil-habegerechtigkeit zu schaffen – dasist weit mehr als Integration, die Men-schen mit Behinderung lediglich inein bestehendes System hereinneh-men will. Inklusion ist der Gedanke,dass alle Menschen, ob behindertoder nicht behindert, Teil einer Ge-sellschaft sind. Das stellt manche bis-

herigen Ansätze in Frage. Bewährtesund Neues müssen dabei keine Ge-gensätze bleiben.

„Neues Denken: Inklusion“ lautet dasThema dieser Ausgabe. Dr. KarinAstegger und Wolfgang Plaute zei-gen Schritte zur Umsetzung der UN-Konvention – und damit zu mehrTeilhabegerechtigkeit – auf. FürIrmgard Badura, Beauftragte derBayerischen Staatsregierung für dieBelange von Menschen mit Behinde-rung, kann Inklusion nur in einerbarrierefreien Umwelt – baulich wiegedanklich - gelingen. Inklusion be-deutet, neu zu denken. Es ist nicht mitder konsequenten Umsetzung bar-rierefreier Zugänge getan. Es gilt,Barrieren des bisherigen Denkens

und Handelns abzubauen. Eine gro-ße Herausforderung!

„Soziale Stadt – soziales Land:Sozialplanung in städtischen undländlichen Räumen Bayerns“ war dieFachtagung überschrieben, zu der dieLAG Ö/F im Dezember 2009 in dasSozialministerium eingeladen hatte.Angesichts des demographischenWandels und sich massiv verändern-der Bevölkerungsstrukturen sindsozialraumbezogene, partizipatori-sche und kooperative Planungsan-sätze gefragt. Wie sie aussehen undwohin sie führen können – darumging es bei dieser Tagung, über dieBernd Hein berichtet: „Kein ‚Natur-park Wildnis’ in Bayern“.

Ihr

Friedemann Götzger

I N H A L T

Thema:

Neues Denken: Inklusion

Die UN-Behindertenrechts-

konvention und ihre Umsetzung S. 3

Unterwegs zu einer

inklusiven Gesellschaft S. 10

Panorama S. 12

Mitgliedsorganisationen S. 14

LAG Ö/F

Kein „Naturpark Wildnis“ in Bayern:

LAG Ö/F-Fachtagung „Soziale Stadt -

soziales Land“ S. 20

Praxis

„Planen, Entwickeln und Gestalten“

60 Jahre Jugendarbeit in

den Jugendämtern Bayerns S. 24

Panorama S. 28

Die Bayerischen Sozialnachrichtenerscheinen in jährlich fünf Ausgabenmit Beilage der Zeitschrift „Pro Jugend“.

Abonnementpreisincl. Versandkosten und Mehrwertsteuer 20,45Euro pro Jahr. Kündigung des Jahresabonnementsschriftlich bis sechs Wochen zum Jahresende.Bei Abonnenten, die am Lastschriftverfahren teil-nehmen, wird der Jahresbetrag ohne Rechnungs-stellung eingezogen.

Namentlich gezeichnete Beiträge geben die Mei-nung des Verfassers wieder. Nachdruck nur un-ter Quellenangabe gestattet.

Layout und Produktion:Inge Mayer Grafik &WerbungAmundsenstr. 8,85055 [email protected]

Druck: Jugendwerk BirkeneckBirkeneck , 85399 Hallbergmoos

Bayerische SozialnachrichtenZeitschrift der Landesarbeitsgemeinschaftder öffentlichen und freien Wohlfahrtspflegein Bayern (ISSN 1617-710X)HerausgebendeRobert Scheller, VorsitzenderGisela Thiel, Stellvertretende VorsitzendeFriedemann Götzger, GeschäftsführerVerlagLandesarbeitsgemeinschaft der öffentlichenund freien Wohlfahrtspflege in BayernNördl. Auffahrtsallee 14, 80638 MünchenTelefon 089/153757- Telefax 089/15919270E-Mail: [email protected]: www.lagoefw.deRedaktion und AnzeigenFriedemann Götzger (verantwortlich)Nördl. Auffahrtsallee 14, 80638 MünchenGültig ist die Anzeigenpreisliste vom 1.1.2009.

Redaktionsschlussder Ausgabe 2/2010: 8. März 2009

Impressum

3Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

T H E M A

Nun muss die UN-Konvention zu denRechten von Menschen mit Behinde-rungen nur noch umgesetzt werden –woran können wir uns orientieren?Wir leben in einem der reichsten Län-der der Welt, was uns in die Lageversetzt, vielen Bürgern einen sehrhohen Lebensstandard zu ermögli-chen. Wir haben internationale undnationale rechtliche Verpflichtungen,die an Klarheit kaum zu überbietensind. Und trotzdem fällt es uns soschwer, dass alle Menschen (vor al-lem Menschen mit Behinderungen)in den vollen Genuss unserer gesell-schaftlichen Ressourcen kommen.Somit stellt sich die Frage, was wirkonkret tun können? Leitend für un-sere Überlegungen ist der Prozess derLebensplanung und -gestaltung (sie-he Abbildung 1 auf Seite 4)

1. Rechtliche Grundlagen

Seit einem Jahr ist in Deutschland dieUN-Konvention in Kraft. Sie nimmtBund und Länder in die Pflicht, Ge-setze anzupassen, Barrieren zu besei-tigen und alle Menschen gleich zubehandeln. Sie hat großes Innova-tionspotential, fordert sie doch diesoziale Inklusion aller Menschen indie Gesellschaft und betont die Be-deutung von Menschenwürde undEmpowerment (Aichele, 2008; Bie-lefeldt, 2009).

1.1. Staatliche VerpflichtungenDeutschland verpflichtet sich mit derRatifikation sowohl gegenüber derinternationalen Gemeinschaft, alsauch gegenüber den Bürger/innen,

die Behindertenrechtskonvention ein-zuhalten und umzusetzen. Das heißt,insbesondere die dort dargelegtenRechte zu achten, zu schützen undihre volle Verwirklichung zügig undunter Einsatz verfügbarer Ressourcenanzustrengen (Aichele, 2008). Ver-pflichtungen aus der Konventionrichten sich primär an die Trägerstaatlicher Gewalt: an die Parlamen-te auf der Ebene von Bund und Län-dern, aber auch Verwaltungsbehördenund Gerichte. Die Länder sind unmit-telbar verpflichtet, die Konvention imRahmen ihrer Zuständigkeiten umzu-setzen. Es ist dabei unbedeutend, dassDeutschland ein föderal aufgebauterStaat ist. Deutschland verpflichtetsich ausdrücklich dazu, die volleVerwirklichung aller Menschenrech-te und Grundfreiheiten für alle Men-schen mit Behinderung ohne jedeDiskriminierung aufgrund von Be-hinderung zu gewährleisten und zufördern, indem es alle geeignetenMaßnahmen einschließlich gesetz-geberischer Maßnahmen zur Ände-rung oder Aufhebung bestehenderGesetze, Gepflogenheiten und Prak-tiken trifft. Durch die Ratifikationwurde der Inhalt des Übereinkom-mens in die deutsche Rechtsordnungüberführt. Die Normen der Behin-dertenrechtskonvention sind damitgeltendes Bundesrecht und für alleGerichte und Behörden rechtsver-bindlich (Aichele, 2008).

Auch für nichtstaatliche Akteure wiebehindertenpolitische Verbände undnichtstaatliche Trägerorganisationenist die Konvention relevant im Sin-ne eines positiven Orientierungs-

rahmens für die Arbeit, aber rechtlichunverbindlich. Die Ratifikation er-hebt sie zur Leitlinie und zum Maß-stab gesellschaftlichen und politi-schen Handelns (Aichele, 2008).

1.2. Gesellschaftliche UmsetzungEntscheidend ist die Umsetzung: Diefaktische Lebenslage von Menschenmit Behinderung ist mit dem An-spruch der Konvention in Überein-stimmung zu bringen. Es handelt sichum ein längerfristiges gesamtge-sellschaftliches Anliegen, bei demsich Aufgaben zum Teil erst im Zugedes Umsetzungsprozesses verdeutli-chen, da manche Barrieren nur überSensibilisierungs- und Lernprozesseerkennbar werden. Auch das Erken-nen der Tragweite der Konvention fürdie Gesellschaft wird dauern (Ai-chele, 2008). Umso konsequentersind Information, gesellschaftlicheBewusstseinsbildung und breite Um-setzung anzugehen, um das langfris-tige Ziel zu erreichen. Zentrale Vor-aussetzung für die Umsetzung ist derpolitische (staatliche) Wille, das Po-tential zur vollen Entfaltung zu brin-gen. Der Staat muss für ein men-schenrechtsfreundliches Klima, tat-sächliche Partizipation der Betroffe-nen sowie eine breite gesellschaftli-che Unterstützung der Umsetzungsorgen.

Die Konvention setzt einen Akzentauf die Überwachung der Umset-zungsprozesse. In diesem Zusam-menhang spricht sie der Zivilgesell-schaft, insbesondere Menschen mitBehinderung und den sie vertreten-den Organisationen, eine wichtige

Neues Denken: InklusionDie UN-Behindertenrechtskonvention und ihre Umsetzung

4 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

N E U E S D E N K E N : I N K L U S I O N

Rolle zu. National gibt es für dieUmsetzung zuständige Stellen in derRegierung und die unabhängige Mo-nitoring-Stelle, die die Durchführungder Konvention überwacht. Monito-ring muss Umsetzungsleistungen er-kennen und anerkennen, aber auchUmsetzungsschwächen in allen Be-reichen benennen und konkrete Maß-nahmen einfordern. Gegebenenfallsmüssen auch die Entscheidungs- undHandlungsträger an ihre rechtlicheVerpflichtung und Verantwortung er-innert werden (Aichele, 2008).

2. Lebensqualität

Angebote erzielen Lebensqualität,wenn sie Menschen individuell darinunterstützen, als vollwertige Bürger/

fasst subjektive und objektive As-pekte. Die subjektiven Aspekte be-ziehen sich auf persönliches Wohl-befinden und Zufriedenheit. Sie sindgeprägt von Erfahrungen, Wün-schen, Erwartungen, Persönlichkeit,Werten etc. und können nur durchdie betroffene Person selbst definiertund bewertet werden (Felce, 2006;Felce & Perry, 1997; Cummins,1997). Subjektive Aspekte derLebensqualität sind der zentrale An-satzpunkt für personenzentrierteDienstleistungen, auf individuellerund organisationaler Ebene.

Bedeutsam sind aber auch objektiverfassbare Aspekte des Lebensstils(soziale Indikatoren wie z.B. Le-bensstandard, Bildung, Sicherheit,etc.), die kulturell normative Werte

Lebensqualität

� personenzentriert

� selbstbestimmt

� inklusiv

� volle Bürgerrechte

Rechtliche Grundlagen

� UN-Konventionen

� Grundgesetz

� Nationale Gesetzgebung

Adäquate

Dienstleistungen

� personenzentriert

� inklusiv

� selbstbestimmt

� vollen Bürgerrechten

verpflichtet

Abbau von

Zugangsbarrieren

� Geschwindigkeit

� Komplexität

� Kommunikation/Lesen/

Schreiben

� Stigmatisierung

Konkrete Lebensplanung

� Wahlmöglichkeiten

� Selbstbestimmung

� Anerkennung der vollen Bürgerrechte

� Vollwertigkeit i.S. der gesellschaftlichen Normalität

Evaluierung

Persönliche

Zukunftsplanung

Abb. 1: Prozess der Lebensplanung mit Umsetzung in „Konkrete Lebensführung“

Planungstool

Konkrete Lebensführung

Lokale

Teilhabeplanung

innen zu leben, anstatt zu erwarten,dass sie in standardisierte Modelle undStrukturen passen. Der Mensch mitBehinderung wird als vollwertigesMitglied der Gesellschaft anerkanntmit dem Recht, ein Leben zu führenwie andere auch. Das wird ermöglichtüber maßgeschneiderte Unterstützungin einer allgemein zugänglichen Ge-sellschaft.

2.1. KonzeptLebensqualität spiegelt die von ei-ner Person gewünschten Lebensbe-dingungen wieder und muss in Re-lation zur jeweiligen Kultur gesehenwerden (Schalock, 2000). Die zen-tralen Faktoren sind Unabhängig-keit, soziale Teilhabe und Wohlbe-finden (Schalock, Bonham &Verdugo, 2008). Lebensqualität um-

5Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

T H E M A

widerspiegeln (Felce, 2006; Felce &Perry, 1997; Cummins, 1997). Essind statistische Werte, die mit Nor-men verglichen werden können undfeststellen, ob eine Gruppe in Rela-tion zur „Allgemeinbevölkerung“benachteiligt ist. Objektive Aspekteder Lebensqualität stehen in Bezie-hung mit unserer Rolle als Bürgerund Bürgerinnen mit gleichen Rech-ten und Möglichkeiten und habengroße politische Bedeutung.

2.2. Planung und Evaluierungvon Dienstleistungen

Das Lebensqualitätskonzept wirdzunehmend als Rahmenkonzept inder Planung und Evaluierung vonDienstleistungen für Menschen mitintellektueller Behinderung verwen-det. Es ist auf allen Ebenen der Pla-nung und Bewertung bedeutsam:individuelle Ebene, Dienstleistungs-organisation, System.

� MaßgeschneiderteUnterstützungSeit Mitte der 80er Jahre hattedas Assistenz-Paradigma starkenEinfluss auf Grundsätze und Pra-xis bezüglich Menschen mit in-tellektueller Behinderung undbrachte Methoden und Konzep-te zur Anwendung zum Erzielenhöherer Lebensqualität für dieNutzer/innen: z.B. personenzen-trierte Planung, persönliche Ent-wicklungsmöglichkeiten, Inklu-sion, Selbstbestimmung und Em-powerment. Das Lebensquali-tätskonzept wird zunehmend in-tegriert in den Prozess individu-eller Unterstützungsplanung.Dieser vermehrte Abgleich be-tont die Bedeutung maßge-schneiderter Unterstützung fürdie Verbesserung der Lebens-qualität (Schalock et al., 2008).

� BenchmarksLebensqualitätsmaße fungierenals Benchmarks: man vergleichtz.B. Organisationen, Menschenmit und ohne Behinderung. Ne-braska und Maryland bieten in-

teressante Ansätze dafür, wie dasauf der Ebene eines Bundesstaa-tes erfolgreich geschieht (Keith& Bonham, 2005; Schalock etal., 2008). Sie erheben seit 1998die Lebensqualität der Nutzer/innen, publizieren die Resultate,beobachten Trends und verwen-den verschiedene Referenzwerteals Basis für Zielformulierungenzur Qualitätsverbesserung auf or-ganisationaler und Systemebene.

� WirkfaktorenIn den letzten zehn Jahren habenempirische Untersuchungen sta-tistisch signifikante Prädiktorenfür Lebensqualität von Men-schen mit intellektueller Behin-derung identifiziert auf der Ebe-ne von Person, Organisation,System und Gesellschaft, z.B.Organisationskultur oder An-gebotsgröße (Keith & Bonham,2005; Schalock & Bonham,2003, Schalock et al., 2008). Siebieten Ansatzpunkte für rascheund konkrete Lebensqualitäts-verbesserung.

� QualitätsverbesserungLebensqualitätsdaten werden ef-

fektiv für systematische Quali-tätsverbesserung eingesetzt. Be-sonders bewährt hat sich die ak-tive Einbindung des Personals imSinne lernender Teams, die Ver-besserungsstrategien planen, im-plementieren und evaluieren.Transparenz, breite öffentlicheAuseinandersetzung und Diskus-sion sowie aktives Einholen vonFeedback sind ebenfalls zentral.Das ist möglich durch Publikati-on von Ergebnissen wie es inMaryland und Nebraska ge-schieht (Keith & Bonham, 2005;Schalock et al., 2008).

3. Konkrete Lebensplanung

Die Grundlagen für eine konkreteLebensplanung wurden mit denrechtlichen Rahmenbedingungenund dem Konzept der Lebensqualitätbeschrieben. Die „Übersetzung“ die-ser Inhalte auf die Situation eineskonkreten Menschen mit all seinenBedürfnissen, Wünschen und Träu-men braucht eine fachlich und me-thodisch versierte Vorgehensweise.Zwei planerische Ansätze, die die-sem Anspruch genügen und auf ganzunterschiedlichen Ebenen greifen,werden nun in gebotener Kürze dar-gestellt.

3.1. Persönliche ZukunftsplanungIm Zusammenhang mit dem inten-siven Diskurs um Selbstbestim-mung, Wahlfreiheit und gesellschaft-liche Teilhabe ist auch in Deutsch-land vermehrt die Verbreitung desAnsatzes der persönlichen Zukunfts-planung zu beobachten (Koenig,2008), ein Instrument, das v.a. Men-schen mit intellektueller Behinde-rung bei einer Lebensplanung nachdiesen drei zentralen Prinzipien un-terstützen kann.

Der Begriff persönliche Zukunfts-planung bezieht sich auf eine Fami-lie von wertgeleiteten methodischenPlanungsansätzen mit dem Ziel, ge-meinsam mit Menschen mit Behin-

Wolfgang PlautePädagoge, Leiter des Heilpädagogischen

Zentrum Berchtesgadener Land der

Katholischen Jugendfürsorge

Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg

6 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

N E U E S D E N K E N : I N K L U S I O N

derung, ihren Familien und Freun-den positive Veränderungsprozesseauf der Ebene der Person, der Orga-nisation und des Gemeinwesens zugestalten und umzusetzen (Koenig,2009).

Die Methode kommt v.a. in Über-gangsphasen sinnvoll zum Einsatz.Sie unterstützt Menschen dabei, her-auszufinden, was sie in ihrem Lebenwollen und abzuklären, welche Un-terstützung zum Erreichen der Zieleerforderlich ist. Die Unterstützungwird effektiv koordiniert für die Ziel-person (Case Management). Unter-schiedliche Menschen werden zu-sammengebracht, um gemeinsamund kreativ an Problemlösungen zuarbeiten (Networking), die Men-schen werden mobilisiert für dieZielperson (Sensibilisierung) undOrganisationen wird aufgezeigt, wiesie Menschen besser dabei unterstüt-zen können, ihre Ziele zu erreichen(Koenig, 2009).

Für den Prozess der persönlichenZukunftsplanung sind folgende Prin-zipien ganz wesentlich (Boban &Hinz, 1999; Doose, 2004):� Der Planende steuert maßgeblich

den Planungsprozess.� Der Fokus liegt auf Stärken und

Möglichkeiten statt Begrenzun-gen und Defiziten.

� Es erfolgt eine Auseinanderset-zung mit den Träumen und Wün-schen der planenden Person.

� Familie und Freunden sowie per-sönliche Beziehungen werdenals wichtige Unterstützungs-quelle einbezogen.

� Der Schwerpunkt liegt auf Le-bensräumen, Unterstützung inder Gemeinde/ im Stadtteil undnicht in spezialisierten Einrich-tungen.

� Der Planungsprozess ist ein fort-laufender Entwicklungsprozess,der auch Rückschläge und Mei-nungsverschiedenheiten toleriert.

� Der Prozess wird flexibel, dyna-misch und informell gehandhabt

� der Prozess erfordert aktions-

orientierte Teamarbeit, genaueVorbereitung, Kreativität, Zu-sammenarbeit aller Beteiligtenund Beharrlichkeit.

� Vereinbarungen für nächste kon-krete Schritte treffen und einenAktionsplan erstellen.

Studien zeigen positive Veränderun-gen durch den Einsatz der Zukunfts-planung: ein Zugewinn an Selbst-bestimmung und Wahlmöglichkei-ten, größere soziale Netzwerke undmehr Kontakt mit Freunden undFamilie, mehr und vielfältigere Ak-tivitäten außerhalb von Institutio-nen sowie generell eine Zunahmean Lebensqualität. Persönliche Zu-kunftsplanung muss immer auch ineinem größeren strategischen Kon-text gesehen werden. Sie beruht imKern nicht nur auf einer veränder-ten Sichtweise von Menschen miteiner Behinderung, sondern insbe-sondere in der Art, wie und in wel-chem Rahmen Hilfestellungen undDienstleistungen erbracht werden.

Für die erfolgreiche Umsetzung per-sönlicher Zukunftsplanung sindVeränderungsprozesse auf viermiteinander eng verbundenen Ebe-

nen notwendig: Erhöhung individu-eller Möglichkeiten, Veränderun-gen in spezialisierten Angeboten, in-klusive Strategien auf der Ebene desGemeinwesens und inklusive recht-liche Bestimmungen auf Bundes-und regionaler Ebene (Koenig,2009).

3.2. Lokale TeilhabeplanungGesetzgebung zu Gleichstellung undGleichbehandlung sowie die ratifi-zierte Behindertenrechtskonventionschaffen sozialpolitischen Hand-lungsbedarf: Für Menschen mit Be-hinderung (bzw. alle Bürger/innen)ist ein barrierefreies Lebensumfeldzu schaffen und ein bedarfsgerech-tes Unterstützungsangebot sicherzu-stellen (Rohrmann & Schädler,2004, Yalon-Chamovitz, 2009). DieUmsetzung dieser politischen Auf-gabe in einen konkreten Planungs-auftrag bereitet allerdings vielenKommunen große Schwierigkeiten,was z.T. daran liegt, dass die gesetz-lichen Grundlagen für diesen Pla-nungsbereich unklar sind und dassbisher keine anerkannte Methodiketabliert wurde (Rohrmann, 2009;Rohrmann & Schädler, 2004).

Über die Angebotsplanung hinaus-gehende Teilhabeplanung stellt diezumeist im Sozialressort angesiedel-ten Planungsverantwortlichen vorgroße Schwierigkeiten verwaltungs-interner Koordination. UmfassendeBarrierefreiheit lässt sich allerdingsnur als ressortübergreifend verwirk-lichen. Derzeit fehlen auch weitge-hend geeignete Formen der systema-tischen Einbeziehung von Menschenmit Behinderung, v.a. intellektuellerBehinderung, in die Planungspro-zesse. Das Zentrum für Planung undEvaluierung der Universität Siegenbeschäftigt sich seit längerem inForschung und Praxis mit der Ge-staltung von Prozessen der Teilhabe-planung und gibt Empfehlungendazu:

Nur eine gemeinwesen- und parti-zipationsorientierte Planungspers-

Dr. Karin AsteggerPsychologin und in der Lebenshilfe Salzburg

gGmbH zuständig für Personal & Bildung

sowie Forschung & Entwicklung

7Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

T H E M A

pektive ermöglicht, über reine An-gebotsplanung hinauszukommen.Die Überwindung ausgrenzenderVerhältnisse steht im Mittelpunkt,was eine Neuorientierung des Unter-stützungssystems für Menschen mitBehinderung erfordert. Damit verän-dern sich die Anforderungen fürSozialleistungsträger, Anbieter vonLeistungen sowie öffentliche Ein-richtungen und Institutionen grund-legend. Unterstützungsbedarf in ei-nem Lebensbereich kann nicht mehrisoliert sondern nur im Kontext aus-grenzender Bedingungen bearbeitetwerden. Zur konkreten Gestaltungvon Planungsprozessen lassen sichdrei Leitprinzipien formulieren:

� ProzessorientierungDer Anspruch, dass Menschenmit Behinderung den individuel-len Lebenslauf möglichst selbst-bestimmt gestalten sollen, be-dingt ein spezielles Anforde-rungsprofil: Gestaltung der Infra-struktur, Zugänglichkeit regulä-rer Angebote (Kindergarten,Schule, Freizeitangebote usw.)und professionelle Unterstüt-zung, um individuelle Zugängezu ermöglichen. Im Mittelpunktstehen die Bedürfnisse des Men-schen mit Behinderung.

� BeteiligungsorientierungDie Beteiligung der Betroffenenist eine Grundvoraussetzungdafür, dass Teilhabeplanung tat-sächlich nutzerorientierte undbedürfnisorientierte Ergebnissebringt. V.a. für Menschen mitintellektueller Behinderung sindVerfahren einzusetzen, die Betei-ligung an Planungs- und Evaluie-rungsprozessen ermöglicht.

� MainstreamingEs geht nicht um kommunaleFachplanung, sondern es sindPlanungsstrukturen zu gestalten,die alle politischen Akteure aufdie Perspektive der Teilhabe ver-pflichten und die breite Auf-gabenstellung von Angebots-

planung bis barrierefreier Infra-struktur zu bewältigen. Zur Um-setzung der in der Behinderten-rechtskonvention formuliertenZiele sind nicht nur mehr An-strengungen, sondern auch ge-eignete Planungsstrukturen not-wendig. Politik im Kontext vonBehinderung kann nicht nur alsSozialpolitik aufgefasst werden,sondern in erster Linie als Bür-gerrechts- oder sogar Menschen-rechtspolitik (Rohrmann, 2009).

4. Persönliche Lebensgestaltung

Wie in den vorigen Ausführungendargelegt, sind die Rahmenbedin-gungen für eine qualitative und per-sonenzentrierte Lebensplanung so-wohl in rechtlicher als auch in fach-lich-wissenschaftlicher Hinsicht ge-geben. Umso mehr stellt sich daherdie Frage, warum es in der Praxis soschlecht gelingt, diese Voraussetzun-gen auch konkret umzusetzen. DieAntworten darauf liegen auf der ei-nen Seite in Zugangsbarrieren, dieMenschen (besonders mit intellek-tueller Beeinträchtigung) in unsererGesellschaft erfahren, und dort, wosie Unterstützung in Formspezi*eller Dienstleistung benöti-gen, auch in Qualität und Quantitätder angebotenen (Dienst-)Leistun-gen (siehe Abbildung 1 auf Seite 4).Menschen mit intellektueller Beein-trächtigung erfahren in einem sehrhohen Ausmaß Zugangsbarrieren zuden Ressourcen unserer Gesell-schaft, die es ihnen erschweren oderunmöglich machen, an einem nor-malen gesellschaftlichen Leben teil-zuhaben (Yalon-Chamovitz, 2009).Dies geht zu Lasten von Selbst-bestimmtheit und Unabhängigkeitund bringt die Menschen verstärktin Abhängigkeit spezialisierter, nichtinklusiver Leistungen. Auch wennBarrieren für Menschen mit intellek-tueller Behinderung weniger „sicht-bar“ und zu einem geringeren Aus-maß erforscht sind, finden wir sie in

erster Linie hinsichtlich folgenderAspekte:� Geschwindigkeit� Komplexität� Lese- und Schreibfähigkeit (all-

gemein: Kommunikation)� StigmatisierungUm adäquate und personenzen-trierte Leistungen anzubieten, müs-sen sich private und staatliche An-bieter viel stärker in die Situation derbetroffenen Menschen versetzen.Dafür müssen grundlegende Prämis-sen verbindlich in der Angebots-konzeption berücksichtigt werden:� Maßgeschneiderte Unterstüt-

zung� Inklusion� Selbstbestimmung� Volle BürgerechteIn der folgenden Zusammenstellungintegrieren wir beide Themenberei-che, die auch in der lokalen Teilhabe-planung bearbeitet werden müssen.Wo gibt es in unserer Region Barri-eren zur inklusiven Nutzung der all-gemeinen Infrastruktur und wie kön-nen sie überwunden werden? (Tabel-le S. 8).

Welche Bedürfnisse haben die Men-schen in unserer Region und wiekönnen sie am besten darin unter-stützt werden, ihr Leben als Bürgerund Bürgerinnen möglichst qualita-tiv und selbständig zu führen?Wir wollen mit den Leitgedankenjene Fragen beantworten, die für dieUmsetzung der „Individuellen Le-bensplanung“ in eine gelungeneLebensgestaltung notwendig sind.Dazu werden Erläuterungen undBest-Practice-Beispiele gegeben, diedie Machbarkeit eindrücklich bele-gen.

Wir gehen davon aus, dass die Be-rücksichtigung dieser Aussagen eingroße Hilfe darstellen für� die Planung des Sozialraumes

(u.a. Infrastruktur und Angebote),� die konkrete Konzeption von

Dienstleistungen und� für die Schaffung einer inklu-

siven Gesellschaft.

8 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

N E U E S D E N K E N : I N K L U S I O N

Leitgedanken zur Umsetzung der Lebensplanung in eine konkrete Lebensführung i.S. einer inklusiven Gesellschaft

FazitDie Bedingungen für ein Leben mithoher Lebensqualität sind in derBundesrepublik Deutschland in ei-nem ausreichenden Ausmaß gegeben.Die rechtlichen Grundlagen sprecheneine deutliche Sprache: Wir müssendie UN-Konvention umsetzen, wennwir uns keiner Menschenrechtsver-letzungen schuldig machen wollen.Das Wissen, wie es zu tun ist, ist weit-gehend vorhanden und internationalkönnen wir uns an gelungenen Bei-spielen orientieren. Zentral sind sys-tematische Planungsprozesse wie beider „Lokalen Teilhabeplanung“, in dieBetroffene eingebunden werden undalle Zuständigen ressortübergreifendanpacken.Für konkrete Anregungen zum Um-setzungsprozess können wir uns aufder einen Seite an den Zugangs-barrieren orientieren, die es Menschenerschweren, die gesellschaftlichen

Ressourcen zu nutzen. Auf der ande-ren Seite müssen wir unsere Lebens-welten nach positiven Prinzipien ge-stalten. Daraus ergeben sich konkreteAussagen, die als Prämissen für dieUmsetzung von Planungsinhalten inkonkrete Lebensführung für alle Men-schen herangezogen werden können.Somit sollten Gesetzgeber, Sozial-planer, Anbieter von Dienstleistungen,Architekten, Städteplaner … mit die-sen Aussagen an ihre Arbeit gehen:

Geschwindigkeit� Leistungen müssen auf die per-

sönliche Geschwindigkeit abge-stimmt werden.

� Die Inanspruchnahme von Leis-tungen muss zeitlich unabhängigsein.

� Leistungen müssen so gestaltetwerden, dass Dauer und Schnel-ligkeit frei wählbar sind.

� Die Geschwindigkeit muss so

flexibel sein, dass jeder Bürgerteilnehmen kann.

Komplexität� Leistungen müssen auf die per-

sönliche Verständlichkeit abge-stimmt sein.

� Die Inanspruchnahme von Leis-tungen muss vom kognitivenNiveau unabhängig sein.

� Leistungen müssen so gestaltetwerden, dass unterschiedlicheSchwierigkeitsgrade frei wählbarsind.

� Das Schwierigkeitsniveau mussso flexibel sein, dass jeder Bür-ger teilnehmen kann.

Kommunikation� Leistungen müssen auf persön-

liche Kommunikationsform und-niveau abgestimmt sein.

� Die Inanspruchnahme von Leis-tungen muss von Kommunika-

Lesen/Schreiben

Kommunikation

Abbau von Zugangsbarrieren

Ge

sta

ltu

ng

sp

rin

zip

ien

pe

rso

ne

nze

ntr

iert

Inkl

usi

ves

Settin

g

Geschwindigkeit Komplexität Stigmatisierung

Leistungen müssen auf

die persönliche Ge-

schwindigkeit abge-

stimmt werden

� Rollstuhlfreundliche

Rolltreppe: reagiert

auf Signal des Nutzers

(Spanien)

Leistungen müssen auf

die persönliche Verständ-

lichkeit abgestimmt sein

� Unterschiedliche

Abstraktionsniveaus:

z.B. in leichter Spra-

che: Versicherungs-

formulare, Wiener

Städtische; Mitarbei-

tererhebung, Team

Styria (Ö)

Leistungen müssen

auf persönliche Kom-

munikationsform und

-niveau abgestimmt sein

Anpassung des Arbeits-

platzes: Blinder Mitarbei-

ter im Callcenter (Flüge

buchen) von Northwest

Airlines, USA mit techni-

scher Ausstattung

Persönliche Anpassun-

gen werden als positive

Leistung definiert und

nicht als etwas, das

Menschen ausgrenzt

� Nutzung des Stadtver-

kehrs durch besseres

Orientierungssystem,

um Sondertransporte

abzubauen, Reut-

lingen

Die Inanspruchnahme von

Leistungen muss zeitlich

unabhängig sein

� Ankündigungen, Signa-

le etc. verlängern

Die Inanspruchnahme

von Leistungen muss

vom kognitiven Niveau

unabhängig sein

� Gestaltung des öf-

fentlichen Raumes:

z.B. Informations- und

Orientierungssystem

Bahnhof Lüneburg,

Stadtverkehr

Reutlingen, Ämter

Graz

Die Inanspruchnahme von

Leistungen muss von

Kommunikationsform und

-niveau unabhängig sein

� Gestaltung des öffent-

lichen Raumes: z.B. E-

Card mit Braille Schrift

(Gesundheitssystem,

Ö), barrierefreie Home-

pages, z.B. CEDOS

Gemeinden (Ö)

Die Inanspruchnahme von

Leistungen ist als gleich-

wertig definiert unabhängig

vom Anpassungsbedarf

einer Person

� Barrierefreier Touris-

mus, z.B. Club 82 Has-

lach gemeinsam mit DB

� Gastgewerbe: z.B.

Speisekarten mit

Bildern, Stuttgart

� Öffentlicher Verkehr:

z.B. ÖBB Railjet,

Flughafen Brüssel

9Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

T H E M A

tionsform und -niveau unabhän-gig sein.

� Leistungen müssen so gestaltetwerden, dass unterschiedlicheKommunikationsformen und –niveaus frei wählbar sind.

� Kommunikationsformen und –niveaus müssen so flexibel sein,dass jeder Bürger teilnehmenkann.

Stigmatisierung� Persönliche Anpassungen wer-

den als positive Leistung defi-niert und nicht als etwas, dasMenschen ausgrenzt.

� Die Inanspruchnahme von Leis-tungen ist als gleichwertig defi-niert unabhängig vom Anpas-sungsbedarf einer Person.

� Leistungen müssen so gestaltetwerden, dass sie unabhängigvom Anpassungsbedarf frei wähl-bar sind.

� Leistungen müssen so flexibel

erbracht werden, dass jeder Bür-ger teilnehmen kann unabhängigvom Anpassungsbedarf.

Stigmatisierung ist eine ganz zentra-le Barriere. Solange sie aufrecht ist,wird wenig Veränderungsdruck ent-stehen. Wenn hingegen das Bewusst-sein dafür geschärft ist, dass Barrie-ren generell inakzeptabel sind, ob essich um unverständliche Fahrplänehandelt oder um Toiletten, die nichtrollstuhlzugänglich sind, ist diegrößte Hürde gemeistert.

Alle Akteure können aus ihrer Pers-pektive etwas dazu beitragen. DiePolitik ist in der Verantwortung: Ge-setzlichen Regelungen und rechtli-chen Ansprüchen ist Rechnung zutragen. Dazu gehören auch breite In-formation der Gesellschaft und Be-wusstseinsbildung. Interessenver-tretungen und Selbstvertreter sindgefragt. Der Informationsstand ist

5. LiteraturAichele, V. (2008). Das Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskonvention. Tagung „Die UN-Konvention über die Rechte vonMenschen mit Behinderung zwischen Alltag und Vision“, 16.3. 2008 Berlin. Retrieved Jannuary 22, 2009 from http://www.imew.de/index.php?id=432#c2070.Bielefeldt, H. (2009). Zum Innovationspotenzial der UN-Behindertenrechtskonvention. Retrieved December 31, 2009 from www.institut –fuer-menschenrechte.de.Boban, I. & Hinz, A. (1999). Persönliche Zukunftskonferenzen. Unterstützung für individuelle Lebenswege. Behinderte in Familie, Schuleund Gesellschaft, 22 (4/5), 13-23.Cummins, R.A. (1997a). Assessing quality of life. In R.I. Brown (ed.), Quality of life for people with disabilities: Models, research, andpractice, 2nd ed.,(pp 116-150). Cheltenham: Stanley Thornes.Cummins, R.A. (1997b). Self-rated Quality of Life Scales for People with an Intellectual Disability: A Review. Journal of Applied researchin Intellectual Disabilities. 10, 199-216.Doose, S. (2004). „I want my dream!“ Persönliche Zukunftsplanung. Neue Perspektiven und Methoden einer individuellen Hilfeplanungmit Menschen mit Behinderungen. Hamburg: Netzwerk People First.Felce, D. (2006). Comments on Quality of services …. Quality of life. Presentation at the seminar „Quality of services … Quality of Life!“Boxtel/ Netherlands, October 7th, 2006.Felce, D. & Perry, J. (1997). Quality of life: The scope of the term and its breadth of measurement. In R.I. Brown (Ed.), Quality of life forpeople with disabilities: Models, research, and practice (2nd ed., pp. 56-71). Cheltenham: Stanley Thornes.Keith, K. D., & Bonham, G. S. (2005.) The use of quality of life data at the organization and systems level. Journal of Intellectual DisabilityResearch, 49(10), 799-805.Koenig, O. (2008). Persönliche Zukunftsplanung und Unterstützte Beschäftigung als Instrumente in institutionellen Veränderungsprozessen.Behinderte Menschen, 5, 1-19.Koenig, O. (2009). Grundlagen der Persönlichen Zukunftsplanung. Workshop in der Lebenshilfe Salzburg, Salzburg, 26.5.2009.Rohrmann, A. (2009). Teilhabe planen. Ziele und Konzepte kommunaler Teilhabeplanung. Teilhabe, 48(1), 18-25.Schädler, J. & Rohrmann, A. (2004). Individuelle Hilfen und örtliche Strukturen. Probleme und Perspektiven einer kommunalenBehindertenhilfeplanung. Geistige Behinderung, 3, 219-232.Schalock, R.L. (2000). Three decades of quality of life. Focus on Autism & Other Developmental Disabilities, 15, 116-127.Schalock, R.L. & Bonham, G.S. (2003). Measuring outcomes and managing for results. Evaluation and Program Planning, 26 (3), 229-235.Schalock, R. L., Bonham, G. S., & Verdugo, M. A. (2008.) The concept of quality of life in program planning and evaluation. Evaluation andProgram Planning, 31, 181-190.Yalon-Chamovitz, S. (2009). Invisible access needs of people with intellectual disabilities: A conceptual model of practice. Intellectual andDevelopmental Disabilities, 47 (5), 395-400.

gerade auch unter den Betroffenenviel zu gering, so dass sie nichteinmal über neue (und alte) RechteBescheid wissen. Die Behinderten-rechtskonvention spricht der Zivil-gesellschaft bei der Überwachungder Umsetzung eine wichtige Rollezu; diese sollte v.a. von Betroffenenund Interessenvertretern stärker ge-nutzt werden. Dienstleister könnendie skizzierten Gestaltungsprinzi-pien für ihre Angebote bereits suk-zessive realisieren, um den richtigenWeg zu beschreiten. Die Forschungsollte spezifische Wissenslücken fül-len und damit zur Bewusstseins-bildung beitragen, v.a. bei der Über-windung von Zugangsbarrieren fürMenschen mit intellektueller Behin-derung. Ideen und Initiativen vonallen Seiten sind gefragt.Gute Beispiele sind in-spirierend und anste-ckend und können vielbewirken.

10 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

N E U E S D E N K E N : I N K L U S I O N

Die Betrachtung der Behinderten-rechtekonvention (BRK) allein ausmeinem Amt heraus ist meines Er-achtens gar nicht möglich. Ich möch-te daher vielmehr eine inklusiveBetrachtung dieser Menschenrech-te vornehmen. Dazu gehört nebenmeinem Amt auch meine persönli-che Erfahrung. Erlebnisse, die ichals Schülerin der Regel- und För-derschule, als Frau mit einer hoch-gradigen Sehbehinderung oderdurch meine Arbeit in der Selbsthil-fe beim Bayerischen Blinden- undSehbehindertenbund mitbringe.

Das vergangene Jahr, in dem ich alsBeauftragte der Bayerischen Staats-regierung für die Belange von Men-schen mit Behinderung ehrenamtlichtätig bin, hat sehr dazu beigetragen,ein noch breiteres Spektrum kennen-zulernen. Insbesondere die zahlrei-chen Berichte von Menschen, die inihrer Arbeit, bei der schulischen Aus-bildung ihrer Kinder, bei der Pflegeund Betreuung von behindertenMenschen zum Teil Menschenver-achtendes erfuhren, zeigen, dass das,was die UN-Konvention beinhaltet,noch längst nicht in unseren Köpfen

verankert ist.

Ich habe mir daher zur Aufgabe ge-macht, die Inhalte der BRK mehr indie Öffentlichkeit zu tragen, um soder darin festgeschriebenen Ver-pflichtung nach mehr Bewusst-steinsbildung nachzukommen. Mei-ner Einladung anlässlich einer Fach-tagung „Die UN-Konvention überdie Rechte von Menschen mit Be-hinderungen und die Kunst derÜber/Umsetzung“ im März 2009sind bayernweit 500 Menschen ge-folgt. In der Diskussion mit den Teil-nehmern, aber auch in zahlreichenkommunalen Veranstaltungen, dieich bislang unterstützt habe, wurdeein gesetzgeberischer und ein poli-tischer Handlungsbedarf erarbeitet.Das sind derzeit meine Grundlagenfür die zahlreichen Gespräche mitMinisterinnen und Ministern, denFraktionen im Bayerischen Landtag,aber auch mit Verbandsvertretern.

Oftmals stellt man mir die Frage,was mehr Bedeutung finden müsse.Die neue UN-Konvention oder diebestehende Rechtslage, die sich überJahrzehnte entwickelte und si-

Irmgard BaduraBeauftragte der Bayerischen

Staatsregierung für die Belange von

Menschen mit Behinderung

cherlich viele Errungenschaften her-vorgebracht hat und daher schüt-zenswürdig ist? Hier insbesonderedie Regelungen der Sozialgesetz-bücher I – XII oder für Bayern dasBayerische Behindertengleichstel-lungsgesetz mit den entsprechendenVerordnungen. Was war zuerst da?

Meines Erachtens geht es darum, diebestehenden sozialgesetzlichen Be-stimmungen den Erfordernissen der inder BRK festgeschriebenen Men-schenrechte anzupassen. Es mussnichts neu erfunden werden. InDeutschland, in Bayern haben wir imVergleich zu anderen Ländern denVorteil, dass gute Grundlagen vorhan-den sind. Diese gilt es voranzubringen.Die Baupläne gibt uns die UN-Konven-tion vor. Barrierefrei und inklusiv sollunsere Umwelt für alle werden. Wirübernehmen die Rolle der Baumeister.Unsere Aufgabe ist, den Plan in die Tatumzusetzen. Stein auf Stein, damit wirletztendlich ein Haus errichtet haben.Eine Gesellschaft, die keinen aus-schließt und Chancengleichheit bietet.Ein Haus, in dem Individualität und dasRecht auf Eigenverantwortlichkeit undSelbstbestimmung die Mauern bilden.

Unterwegs zu einer

inklusiven

Gesellschaft

„Wir sind nicht behindert, wir werden behindert.“

11Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

T H E M A

Einige dieser Grundbausteine unddie durch die BRK aufgegebenenAufträge an uns möchte ich nun nä-her beschreiben.

Doch zuerst möchte ich zwei grund-legende Begriffe erläutern, die sichdurch die Vereinbarung wie ein ro-ter Faden ziehen. Die Begriffe „Be-hinderung“ und „Inklusion“.

Im Gegensatz zu anderen Normenwird in der BRK erstmals die Be-hinderung als Zusammenspiel zwi-schen einer individuellen Einschrän-kung einerseits und den gesellschaft-lichen Rahmenbedingungen ande-rerseits gesehen. Das heißt, wir Men-schen mit Behinderung sind nichtlänger aus uns heraus behindert odereingeschränkt, weil wir dies oderjenes nicht können oder eine be-stimmte Eigenschaft haben. Nein,nun gilt es, immer die konkrete Si-tuation des Einzelnen in der Gesell-schaft zu betrachten. Die Umweltbzw. wir als Gesellschaft werdendadurch zum Gradmesser für Behin-derung. „Wir sind nicht behindert,wir werden behindert.“ Mit diesemgriffigen Satz wurde der Inklusions-gedanke bereits früher auf den Punktgebracht. In vielen Bereichen ist erallerdings nach wie vor gültig.

Inklusion bedeutet, dass derMensch, egal ob behindert odernicht, gleichberechtigter Teil derGesellschaft ist. Ausgangspunkt istdie Situation des Menschen in derGesellschaft. Im Gegensatz dazubeschreibt Integration vielmehr, dassjemand nicht Teil des Ganzen ist unddeshalb hineingeholt werden muss.Es liegt damit in der Hand der Ge-sellschaft bzw. der Umwelt, Behin-derungen zu vermeiden.

Bildung

Auf einzelne Lebensbereiche her-untergebrochen, bedeutet das im Be-reich der Bildung: Kinder, die bereits

in einer Gesellschaft aufwachsen,die ausgliedert, separiert, keine in-dividuelle Förderung zulässt, wer-den womöglich dieses Manko anDazugehörigkeit auch im Erwach-senenalter, etwa im Arbeitsleben -mangels anderer Erfahrungen - nichtvermissen. Je früher jedoch die man-nigfaltigen individuellen Fähigkei-ten eines einzelnen Kindes entdecktund entsprechend gefördert werden,umso einfacher gelingt es, den an-deren mit seiner einzigartigen Bega-bung schätzen zu lernen und ihn ge-nau so anzunehmen.

Die BRK verankert in Artikel 24 dasRecht auf Bildung ohne Diskrimi-nierung auf der Basis von Chancen-gleichheit. Lebenslanges Lernen, dieBerücksichtigung von besonderenBedürfnissen aber auch das inklusi-ve Bildungssystem sollen dies er-möglichen.

Betrachtet man unter diesen Ge-sichtspunkten das bestehende Schul-system bzw. die bestehenden unter-schiedlichen Schulsysteme, wirdschnell klar, dass hier noch ein wei-ter Weg zu gehen ist. Es gilt aber hiermit Bedacht, Schritt um Schritt, eininklusives Bildungssystem zu ver-wirklichen. Die Umsetzung der UN-Konvention bedeutet eine Vielfalt anBildungsangeboten. Ob Regelschuleoder Förderschule, beides muss fürKinder mit Behinderung möglichwerden, möglichst unter einemDach. Dazu ist die Stärkung desWahlrechts der Eltern erforderlich,aber auch die Öffnung aller Schulenund die Bereitschaft der Pädagogen,etwas Neues zu wagen. Die adäqua-te finanzielle Ausstattung um eineadäquate Aus- und Weiterbildungder Lehrer und zur Senkung derKlassenstärke sind unabdingbar.

Arbeit

Neben der Bildung ist auch der Be-reich der Arbeit als ein wichtiger

Baustein im Leben eines Menschennäher zu beleuchten. Mit Arbeit wirdin unserer Leistungsgesellschaftoftmals der Wert eines Menschenbemessen. Die UN-Konvention be-schreibt in Art. 27 dieses Recht aufArbeit. Jedem soll die Möglichkeitgegeben werden, seinen Lebensun-terhalt durch seine Arbeit zu bestrei-ten. Es wird ein offener, integrativer,zugänglicher Arbeitsmarkt gefor-dert. Das Arbeitsumfeld soll dabeifrei wählbar sein. In Ansätzen, etwamit der Unterstützten Beschäftigungoder dem Projekt Übergang Förder-schule/Beruf, wurden hier bereitsneue Wege beschritten. Jedoch istder Bestand der Werkstätten in derderzeitigen Form bei näherer Be-trachtung zu überdenken.

Besondere Unterstützung

Ein weiterer Fokus ist auf Menschenzu richten, die aufgrund ihrer physi-schen bzw. psychischen Situation be-sonderer Unterstützung bedürfen.

Ihnen wird unter anderem durch Ar-tikel 12 BRK die gleiche Anerken-nung vor dem Recht zuerkannt. §104 des Bürgerlichen Gesetzbucheserkennt dagegen genau dieses Rechtab. Weitere in der BRK manifestier-te Rechte sind hierbei von großer Be-deutung. Artikel 14, der die Freiheitund Sicherheit der Person festschreibt,Artikel 18, der die freie Wahl desAufenthaltsorts zuerkennt, Artikel19, der eine unabhängige Lebens-führung und die Einbeziehung in dieGemeinschaft fordert, Artikel 22, derjedem die Achtung der Privatsphärezuspricht, Artikel 23, der Wohnungund Familie explizit schützt oderArtikel 28, der das Recht auf einenangemessenen Lebensstandard undsozialen Schutz beinhaltet.

Betrachtet man dagegen die gegen-wärtige Praxis bei Entmündigung,Zwangseinweisung, Fixierung oderdas unverhältnismäßige Angebot

12 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

von stationären und ambulantenLeistungen, die Heranziehung deseigenen Vermögens bzw. der Ange-hörigen, ist auch hier das Ziel nochfern. Das Ziel der vollen Teilhabe ander Gesellschaft.

Die BRK schreibt zudem die Teilha-be behinderter Menschen am politi-schen und öffentlichen Leben (Arti-kel 29), am kulturellen Leben sowiean Erholung, Freizeit und Sport (Ar-tikel 30) fest. Darunter fällt sowohldas aktive als auch das passive Wahl-recht, die Mitgestaltung öffentlicherAngelegenheiten zum Beispiel dieMitarbeit in nicht staatlichen Orga-nisationen - zu denken ist hierbeietwa an den Heimbeirat, Werkstatt-rat und die Arbeit in den Parteien.

Die Bandbreite der Angleichung be-stehender rechtlicher und gesell-schaftspolitischer Fakten, hin zu denin der Behindertenrechtekonventionschriftlich fixierten Menschenrech-ten ist immens, tangiert sie doch alleLebensbereiche. Aus diesem Grun-de kann Inklusion nur gelingen,wenn die Umwelt sich barrierefreipräsentiert – baulich aber auch ge-danklich.

Ich habe mir in meinem Amt dasMotto „Miteinander Mittendrin“gegeben und meiner Meinung nachist dies das zentrale Anliegen: Wirmüssen miteinander an den gemein-samen Zielen arbeiten, damit alleBeteiligten ihren Platz mittendrin ineiner gleichberechtigten Gesell-schaft finden.

Es geht um die Anpassung, die Öff-nung und Erweiterung von Angebo-ten und das Zurückfahren nicht mehrerforderlicher Bereiche. Es geht umdie Zielorientierung aus der Sicht derbetroffenen behinderten Menschen.Diese Ideen, gepaart mit sozialerKompetenz und Menschlichkeit alsalte, bewährte Grundlagen, das istmeiner Meinung nach derWeg zu einer inklusivenGesellschaft.

N E U E S D E N K E N : I N K L U S I O N / P A N O R A M A

KKinderkommission nimmt Arbeit aufMünchen (dpa). Fünf Frauen küm-mern sich künftig im Landtag umdie Belange der Kleinsten. EndeNovember hat die neue Kinder-kommission ihre Arbeit aufgenom-men. Bei der konstituierenden Sit-zung wurde die Oberpfälzerin PetraDettenhöfer (CSU) zur Vorsitzendengewählt. Die Kommission will sichaller Themen annehmen, die dasWohl von Kindern im Freistaat Bay-ern betreffen. Jede Abgeordnete sollsich um bestimmte Themenbereichekümmern. Vorbild ist die Kinder-kommission des Bundestages, dieseit 1988 besteht. „Wir wollenmindestens einmal im Monat tagen“,sagte Dettenhöfer. In der Kommis-sion ist jede Fraktion gleich stark

vertreten und alle Entscheidungenmüssen einstimmig getroffen wer-den. Der Vorsitz rotiert bis zum Endeder Wahlperiode. „Ich hoffe natür-lich nicht, dass Kinder nur Frauen-sache sind“, sagte Claudia Stamm,die für die Grünen im Gremium sitzt.Immerhin ist die Kommission aus-schließlich mit Frauen besetzt. Fürdie SPD ist Simone Strohmayer, fürdie Freien Wähler Eva Gottstein undfür die FDP Brigitte Meyer entsandt.Auch im Bundestag war die Kinder-kommission lange Zeit Frauensache.Bis jetzt. Die CSU-AbgeordneteDorothee Bär, neue politische Spre-cherin der Unionsfraktion, sagte, siewerde einen Mann in die Kinder-kommission schicken.

220.000 Menschen leben auf der StraßeMünchen (KNA). In Deutschland le-ben schätzungsweise rund 20.000Menschen auf der Straße. Dies seiallerdings nur ein kleiner Teil derObdachlosen, die die Bundesarbeits-gemeinschaft Wohnungslosenhilfee.V. mit derzeit 227.000 beziffert.Deren Vorsitzender Winfried Uhrigforderte in München, der klassischeTeufelskreis, „ohne Arbeit keineWohnung und ohne Wohnung keineArbeit“, müsse endlich durchbro-chen werden. Unter den Wohnungs-losen seien etwa 56.000, die damitein Viertel aller Betroffenen bilde-ten. Unter den jungen Menschen sei-en rund 24.000 Kinder und Jugend-liche, die keine feste Bleibe hätten.Zu den Wohnungslosen kämen der-zeit 103.000 von Wohnungslosigkeitbedrohte Menschen hinzu. Von derneuen Bundesregierung erwarte dieWohnungslosenhilfe konkrete Maß-nahmen, „um Wohnungsverluste zuverhindern, Obdachlose am Arbeits-markt und an medizinischer Versor-gung“, zu beteiligen. Auch der ge-setzliche Rahmen bei der Wohnkos-tenübernahme und beim Mieter-schutz müssten erhalten bleiben. DerGeschäftsführer der Bundesarbeits-

gemeinschaft, Dr. Thomas Specht,warnte vor Etatkürzungen für sozi-ale Ausgaben. Kommunen und dieetwa 1.200 Dienste der Wohnungs-losenhilfe könnten die Obdachlosennur dann verringern oder stabil hal-ten, wenn auch die Anstrengungenbei der Überwindung und Vorbeu-gung von Wohnungslosigkeiten denSparhaushalten nicht zum Opfer fie-len.In München sei Wohnraum ein „hoch-preisiges Gut“, erläuterte der städti-sche Sozialreferent Friedrich Graffe.„Die Erstbezugsmieten sind in die-sem Jahr um sieben Prozent auf13,77 Euro pro Quadratmeter gestie-gen.“ Die Zahl der Sozialwohnun-gen sei in der Landeshauptstadt inden vergangenen fünf Jahren von60.000 auf 48.000 zurückgegangen.Als neue Herausforderung bezeich-nete Graffe die Wohnungslosenhilfefür junge Menschen: „Hier brauchenwir eine Kooperation von Jugend-,Sucht- und Wohnungslosenhilfe.“Graffe sieht München mit Blick aufdie Obdachlosenhilfe mit Not-unterbringungssystem als vorbild-lich an: „Niemand soll in Münchenwohnungslos werden“, sagte er.

13Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

P A N O R A M A

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Schuldnerberatungen „am Ende der Kräfte“Augsburg (epd). Die bayerischenSchuldnerberaterinnen und – beratersind „am Ende ihrer Kräfte“, wie sieanlässlich ihrer Jahrestagung inAugsburg vor der Presse erklärten.Die Beratungsstellen fordern mehrGeld und eine geänderte Finanzie-rung. Vertreter des FachausschussesSchuldnerberatung der Landesar-beitsgemeinschaft der öffentlichenund freien Wohlfahrtpflege in Bay-ern blickten bei ihrer Tagung daraufzurück, dass seit zehn Jahren in derBundesrepublik private Insolvenzenmöglich sind. 63.000 Verbraucherhaben in Bayern davon inzwischenGebrauch gemacht. Nur zehn bis 15Prozent der überschuldeten Haushaltekönnten aber derzeit von den bayeri-schen Schuldnerberatungsstellen be-raten werden, sagte der Vorsitzendeder Landesarbeitsgemeinschaft, Ro-bert Scheller (Würzburg). Mit War-tezeiten bis zu neun Monaten müss-ten Klienten in den etwa 120 Bera-tungsstellen rechnen. 7,8 Prozent derbayerischen Haushalte seien über-schuldet, in ihnen lebten 790.000Menschen. Der Vorsitzende des Fach-

ausschusses Schuldnerberatung,Robert Münderlein, rechnet mit einersteigenden Zahl überschuldeter Men-schen in den kommenden Monaten.„Arbeitslosigkeit und Kurzarbeitwerden viele finanzielle Kartenhäu-ser zusammenbrechen lassen“, sagteer. Die Schuldnerberatungen fordernfür die Insolvenzberatung in Bayerneine deutliche Erhöhung der staatli-chen Mittel und eine veränderte Fi-nanzierung. Derzeit würde der Staat4,2 Millionen im Haushalt zur Ver-fügung stellen. Sechs Millionen, soScheller, seien aber für eine kosten-und flächendeckende Insolvenzbe-ratung in Bayern notwendig. Auchder zuständige Fachreferent im So-zialministerium, Ministerialrat Hil-mar Mainberger, räumte „strukturel-le Probleme“ bei der Finanzierung derInsolvenzberatung ein. Die Kommu-nen sind für die einfache Schuldner-beratung zuständig, der Staat für dieInsolvenzberatung. „Das in der Pra-xis abzugrenzen ist aber nicht leist-bar“, meinte Mainberger, eine kom-binierte Beratung sei fachlich sinn-voller.

Neuer Streit um die Kosten

München (dpa). Die Zwangsunterbringung von Flücht-lingen in Sammelunterkünften kommt Bayerns Steuer-zahler nach einer Untersuchung des Flüchtlingsrates teuerzu stehen. Die Unterbringung in Wohnungen wäre nachEinschätzung des Flüchtlingsrates nicht nur humaner,sondern auch billiger. Der Freistaat könnte sich jährlichKosten von 13,6 Millionen Euro sparen, sagte SprecherAlexander Thal in München. Sozialministerin ChristineHaderthauer wirft Thal jedoch „Volksverdummung inganz großem Stil“ vor. Um die Unterbringung der abge-lehnten Asylbewerber in Sammelunterkünften gibt es seitJahren Streit. Der Flüchtlingsrat hält die Unterkünfte für„menschenunwürdig und inhuman“, wie Thal sagte. DerFlüchtlingsrat hat in seinem Gutachten die Mietkostenfür Privatwohnungen – orientiert an den staatlichen Vor-gaben für Hartz IV – in mehreren bayerischen Städtenmit einer Schätzung der Unterkunftskosten in denSammelunterkünften verglichen. Dabei sind die Kosten

für Verpflegung, Bekleidung oder Arztbesuche abgezo-gen. Ergebnis: Ein Platz in einer Sammelunterkunft –vom Flüchtlingsrat „Flüchtlingslager“ genannt – kostetmonatlich pro Person etwa 450 Euro. Die Unterbrin-gung in einer Wohnung wäre demnach je Kommune vielbilliger: In Neuburg an der Donau etwa lägen die Kos-ten für eine Ein-Personen-Sozialwohnung bei 320 Euro,in Landshut bei 331 Euro und in Augburg bei 385 Euro.Als Grund für diese Einschätzung nennt der Flüchtlings-rat die hohen Unterhalts- und Personalkosten für diestaatlichen Sammelunterkünfte, weil dort etwa Haus-meister und Wachdienste zusätzlich Kosten verursachen.Sozialministerin Haderthauer beziffert die Gesamtkostenfür die Unterbringung – einschließlich Ernährung undBekleidung – in den Sammelunterkünften auf 676 Euro:„Im Ergebnis ist die Privatwohnungsnahme für den Steu-erzahler immer die teurere Variante“, argumentierte diePolitikerin.

PProjekt „Finanzgenie“

Passau (epd). Handy, Internet undKreditverträge können Jugendli-che in Schulden stürzen. Schutzdavor will das Projekt „Finanz-genie“ bieten, das die Schuldner-beratungsstelle der Diakonie mitder Universität Passau entwickelthat. Nach Erfolgen von Haupt-und Realschulen soll es auf alleSchulen ausgeweitet werden, wiedie Diakonie Passau mitteilt. Un-terstützt wird das Projekt vomVerbraucherschutzministerium.Die Ausweitung auf alle Schul-typen findet Zustimmung, sagteAbteilungsleiter Dr. Thomas Di-ckert vom Ministerium der Justizvor Diakonievertretern. Derzeitwerde eine Richtlinie zur ökono-mischen Verbraucherbildung fürSchulen erarbeitet. Die Zahl derüberschuldeten Leute unter 20Jahren sei von etwa 53.000 imJahr 2004 auf rund 128.000 imJahr 2009 angewachsen.

14 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

M I T G L I E D S O R G A N I S A T I O N E N

Hartz IV - eine „Katastrophe“

Ehrenamtsnachweis als Anerkennung

für soziales Engagement

tenzen bzw. Fortbildungen hierfür er-forderlich waren.Engagierte junge Menschen könnenden Ehrenamtsnachweis für Bewer-bungen oder zum Nachweis von Tä-tigkeiten im Studium verwenden. DerEhrenamtsnachweis wurde von denLandesverbänden der Freien Wohl-fahrtspflege entwickelt und ist zu-nächst auf soziales Engagement be-schränkt. Er ist so angelegt, dass sichauch weitere Bereiche, wie Sport oderKultur, später anschließen können.Für die Ausstellung von Ehrenamts-nachweisen ist immer der Verbandoder die Organisation zuständig, beider ein Engagierter tätig ist. Bei so-zialem Engagement, das im Rahmenvon kommunalen Projekten geleistetwurde, können auch die Mitglied-städte und -gemeinden den Ehren-amtsnachweis ausstellen. Außerdemkönnen die Städte und GemeindenEhrenamtsnachweise subsidiär auchfür alle sozial Engagierten ausstellen,die ihr Engagement für z. B. unselb-ständige Vereinigungen oder in Bür-gerinitiativen geleistet haben.

Ausgestellt werden die Urkundenüber www.ehrenamtsnachweis.de,eine Internetplattform. Jeder Mit-gliedstadt und -gemeinde wurde mitRundschreiben vom 24. November2009 ein Zugangscode mitgeteilt. DieErstausstattung mit Urkundenvor-drucken hat das Sozialministeriumübernommen. Die Unterlagen wur-den mittels Dienstpost allen Land-kreisen, Städten und Gemeinden zu-geleitet. Einen Ehrenamtsnachweiskönnen Menschen erhalten, die sichjährlich mindestens achtzig Stundenohne Gehalt in einer sozialen Einrich-tung, einem Wohlfahrtsverband, ei-ner Pfarrgemeinde, einer kommuna-len Einrichtung oder in sozialen Pro-jekten engagieren. Von den insgesamt3,8 Millionen ehrenamtlich Engagier-ten in Bayern sind etwa 400.000Menschen für soziale Zwecke tätig.

Bayerischer Städtetag. „Jetzt wirdzerschlagen, was eigentlich zusam-mengehört – das ist eine Katastro-phe!“ sagt der Vorsitzende des Bay-erischen Städtetages, Oberbürger-meister Hans Schaidinger. Der Koa-litionsvertrag von Union und FDPsetzt auf die Trennung der Arbeits-gemeinschaften. Statt der Fortset-zung der erfolgreichen Zusammen-arbeit von Kommunen und Bundes-agentur hat sich die Koalition fürmehr Bürokratie und weniger Bür-

gernähe entschieden. Was fünf Jah-re lang gemeinschaftlich erledigtwurde, muss jetzt wieder getrenntwerden. Einen Teil erledigt dieBundesagentur für Arbeit, einen an-deren Teil das kommunale Sozial-amt. Arbeitslose und Hilfeempfän-ger erhalten getrennte Bescheide,haben unterschiedliche Ansprech-partner und müssen Einsprüche beiunterschiedlichen Stellen einlegen.Schaidinger: „Das wird umständli-cher und bürokratischer. Hilfe aus

einer Hand war Konsens und ist nochimmer der richtige Weg. Wenn diePraxis funktioniert und die Rechts-lage nicht stimmt, dann wäre es rich-tiger gewesen, die Verfassung zuändern.“ Überdies eilt es, eine neueOrganisationsstruktur aufzubauen.Schaidinger: „Es ist nur noch einknappes Jahr Zeit. Die Bundesregie-rung muss sich ranhalten, damit 6,5Millionen Hartz IV-Bezieher inDeutschland - davon 450.000 in Bay-ern - wissen, wie es weiter geht.“

Bayerischer Städtetag. Die Landes-wohlfahrtsverbände haben unter Be-teiligung der kommunalen Spitzen-verbände und des Bayerischen So-zialministeriums eine landesweit ein-heitliche Dankesurkunde geschaffen,die ehrenamtlich und freiwillig En-gagierten im sozialen Bereich vonden Einrichtungen der Wohlfahrt undden Kommunen verliehen werdenkann.Hierzu wurde die Internetplattformwww.ehrenamtsnachweis.de zum In-ternationalen Tag der Freiwilligenund Ehrenamtlichen am 5. Dezem-ber 2009 freigeschaltet. Der „Ehren-amtsnachweis Bayern: Engagiert imsozialen Bereich“ ist ein Beitrag zurStärkung der Anerkennungskultur fürTätigkeiten im Rahmen eines ehren-amtlichen, freiwilligen oder bürger-schaftlichen Engagements. Danebenwird bayernweit erstmals eine Urkun-de auf der Basis einheitlicher Krite-rien eingeführt. In der Urkunde wirddokumentiert, in welcher Zeit welcheTätigkeiten im sozialen Bereich er-bracht wurden und welche Kompe-

15Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

M I T G L I E D S O R G A N I S A T I O N E N

Der Hintergrund: Zum Januar 2005ist mit den Arbeitsgemeinschaftenzwischen kommunalen Sozial-verwaltungen und Bundesagenturfür Arbeit eine Stelle für Hilfe auseiner Hand geschaffen worden. Am20. Dezember 2007 hat das Bundes-verfassungsgericht die Arbeitsge-meinschaften für nicht vereinbar mitdem Grundgesetz erklärt. Das Ge-richt sieht eine unzulässige Misch-verwaltung zwischen Bund undKommunen. Den Arbeitsgemein-schaften wurde eine Übergangsfristbis Ende 2010 gewährt. Der Bayer-ische Städtetag hatte im Sommer2008 eine Verfassungsänderung vor-geschlagen. Der Bundesarbeits-minister und alle 16 Länderministerhatten sich Anfang 2009 auf dieVerfassungsänderung geeinigt. DieUnionsfraktion im Bundestag hatdas im April abgelehnt.

Probleme stellen sich auch beimPersonal in den Arbeitsgemeinschaf-ten. Allein in Bayern sind rund 2.400kommunale Mitarbeiter in den Ar-beitsgemeinschaften beschäftigt.Das kommunale Personal ist auchfür Aufgaben der Bundesagentureingesetzt. Schaidinger: „Bei derBundesagentur wird sich das Pro-blem stellen, ob genügend Personalfür die Bewältigung der Arbeit undfür die Umstellung der Verwaltungzur Verfügung steht. Für die Städtestellt sich die Frage, wie das freige-setzte Personal wieder in die städti-sche Kernverwaltung integriert wer-den kann“. Der Umbau der Struktu-ren und die komplette Umkrem-pelung der Verwaltung führen zuProblemen bei der Umstellung derEDV; die Kommunen rechnen mitMehrkosten. Schaidinger: „DieseEntflechtung sorgt für unsinnigenDoppelaufwand und kostet die Kom-munen richtig viel Geld. Wir hoffen,dass trotz dieser kompliziertenVerwaltungsprobleme die Betroffe-nen verlässlich rechtzeitig zu ihrerHilfe kommen werden.“

Fünf Jahre Hartz IV – ein „Armutszeugnis“

beim Fordern stecken“, bilanziertMarkert. Dass dann auch noch vieleBescheide fehlerhaft sind oder, wieim Jahr 2008, etwa zwei Drittel derwegen abgeblichen Fehlverhaltensder Betroffenen verhängten Sankti-onen wieder aufgehoben werdenmussten, hält der Diakoniepräsidentschlicht für „unzumutbar“. Eine wei-tere Verschlechterung der Zuständein Richtung „Bürokratie-Chaos“drohe, wenn tatsächlich die Arbeits-gemeinschaften (Argen) zwischenStädten und der Agentur für Arbeitzerschlagen würden. Markerts Be-fürchtung: „Die Hauptleidtragendenwerden auch in diesem Fall dieEmpfängerinnen und Empfängervon Leistungen nach dem SGB IIsein.“

Die Diakonie Bayern fordert unteranderem die Anhebung der Regel-sätze, einen eigenständigen Be-rechnungsmodus für den Bedarfvon Kindern und einen generellenStopp der Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfän-ger, bis die enorm hohe Fehlerquoteder Bescheide abgestellt ist. Wei-terhin fordert der Wohlfahrtsver-band die Beibehaltung der engenZusammenarbeit von Arbeitsagen-turen und Kommunen bei der Be-treuung der Betroffenen. „Werdendie Argen zerschlagen, droht eineBürokratisierung auf Kosten derLeistungsempfängerinnen und -empfänger“, warnt der Diakonie-präsident.

Diakonie. Am 1. Januar jährte sichdie Einführung von Hartz IV zumfünften Mal. Für Sozialexpertenund Wohlfahrtsverbände, vor allemaber für die Betroffenen, war die-ses kleine Jubiläum kein Grund zumFeiern. „Zusammen mit anderen ge-sellschaftlichen Veränderungen hatdie Reform Armut und Perspek-tivlosigkeit zementiert und dieDurchlässigkeit in dieser Gesell-schaft verschlechtert“, kritisierteDr. Ludwig Markert, Präsident desDiakonischen Werkes Bayern. DieDiakonie Bayern mahnt deshalb er-neut weitreichende Korrekturen amHartz-IV-System an. „Abgesehendavon, dass der derzeitige Regelsatzbei weitem nicht für ein menschen-würdiges Leben mit der Möglichkeitzur gesellschaftlichen Teilhabe aus-reicht, ist Hartz IV viel zu oft eineEinbahnstraße in die Armut“, sagtMarkert. Dieser Prozess beginneschon mit dem erzwungenen Ab-schmelzen der eigenen Rücklagen,die dann im Rentenalter fehlten.

Die jüngste Hartz-IV-Studie des In-stituts für Arbeitsmarkt- und Berufs-forschung (IAB) bestätigt, dassLangzeitarbeitslose nur in sehr sel-tenen Fällen den Wiedereinstieg insBerufsleben schaffen. Auch die vonden Vermittlern ausgewählten För-derinstrumente erweisen sich lautIAB häufig als untauglich zur Lö-sung der Probleme von Erwerbslo-sen. „Was zu kurz kommt, ist dasFördern, vielfach bleibt die Beratung

16 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

M I T G L I E D S O R G A N I S A T I O N E N

Menschenrechte sind umfassend

Diakonie. Am 10. Dezember, demTag der Menschenrechte, hat vornunmehr 61 Jahren die Generalver-sammlung der Vereinten Nationendie Allgemeine Erklärung der Men-schenrechte verabschiedet. Die Di-akonie erinnerte an diesem Tag auchdaran, dass Menschenrechte mehrumfassen als beispielsweise die Frei-heit von Folter. „Auch Teilhabe istein zentrales Menschenrecht“, be-tonte Dr. Ludwig Markert, Präsidentdes Diakonischen Werkes Bayern.Es werde hierzulande nur sehr un-zureichend umgesetzt. „Aus christ-licher Sicht muss gewährleistet sein,dass Menschen genug Geld haben,um gut zu wohnen, sich gesund zuernähren und an der Gesellschaftteilzuhaben. Dazu gehören auch füralle gleiche Chancen auf Bildungund auf die Entwicklung der persön-lichen Gaben und Talente“, fordertMarkert. Doch die Realität siehtauch in der reichen Bundesrepubliknoch immer – oder immer mehr –anders aus: Die Zahl der Armennimmt zu und die Leistungen desStaates für diese Gruppe reichen bei

weitem nicht dafür aus, einegleichberechtigte Teilhabe an denErrungenschaften und zentralen An-geboten dieser Gesellschaft zu er-möglichen. Leidtragende dieserEntwicklung sind vor allem Kinderund Jugendliche. Derzeit leben inDeutschland mehr als zwei Millio-nen Kinder und Jugendliche inHaushalten, die auf ALG II oder So-zialhilfe angewiesen sind. „UnserSystem ist immer noch so gestal-tet, dass diese Kinder schon früh dasGefühl haben müssen, chancenloszu sein und nicht dazuzugehören“,erklärte Markert. „Die DiakonieBayern tritt zusammen mit anderenWohlfahrtsverbänden und den Kir-chen bei Politik und Wirtschaft dafürein, dass diese Missstände beseitigtwerden.“

Zu Menschen, die unter mangelnderTeilhabe leiden, gehören auch Mi-granten und Flüchtlinge. Als aktuel-les Beispiel nennt Markert den Be-schluss der Innenministerkonferenzzur Altfallregelung für Ausländerin-nen und Ausländer, die seit langem

in Deutschland leben, aber bisher nurDuldungsstatus haben. „Die vonKirchen und Diakonie gefordertedauerhafte Regelung ohne Restrik-tion, die auch humanitären Anforde-rungen genügt, ist einmal nicht mehrzustande gekommen.“ Die beschlos-sene Verlängerung der bisherigenRegelung sei zwar besser als nichts,aber tausende Betroffener, dieaufgrund der schwierigen wirtschaft-lichen Situation und weil sie jahre-lang mangels Arbeitserlaubnis zumNichtstun verurteilt waren, ohneArbeit sind, müssten ebenso wei-terhin in ständiger Angst vor Ab-schiebung leben wie diejenigen, diewegen seelischer Schädigungennicht arbeiten können. „Es geht hiernicht um die Verhinderung von Zu-wanderung in unsere Sozialsysteme,wie der bayerische InnenministerHerrmann meint, sondern einfachum ein Stück Solidarität und Barm-herzigkeit mit Menschen, die dasPech hatten, nicht in einem reichen,friedlichen und prosperie-rendem Land geboren zuwerden“, sagte Markert.

17Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

M I T G L I E D S O R G A N I S A T I O N E N

Mehr Kontakt mit Budweis

Warnung vor Sozialkürzungen

Mehr Förderung für

gesetzliche Betreuung

Caritas. Eine Förderung von 25Prozent ihrer Personalkosten for-dern die Betreuungsvereine vomFreistaat. Hintergrund ist die wach-sende Zahl betreuungsbedürftigerMenschen. Diese Situation be-herrschte die Arbeitstagung derBetreuungsvereine in Bayern am10. Dezember in Nürnberg, orga-nisiert vom Sozialdienst katholi-scher Frauen. Von 136.000 im Jahr2000 auf 185.000 im Jahr 2008stieg in Bayern die Zahl gesetzli-cher Betreuungen. Wegen der hö-heren Lebenserwartung erkrankenimmer mehr Senioren an Demenz.Häufiger werden auch die psychi-schen Erkrankungen. Für die Men-schen, die Entscheidungen nichtmehr selbst treffen können, handeltder vom Gericht bestellte Betreu-er. Eine verantwortungsvolle Auf-gabe: Mitunter muss der Betreuertief in die Persönlichkeitsrechte desBetreuten eingreifen – zum Bei-spiel wenn dieser in ein Heim ein-gewiesen wird. Das Gesetz bevor-zugt den ehrenamtlichen Betreuer,der sich unentgeltlich für den Be-treuten einsetzt. Unterstützen sollihn der Betreuungsverein. Auchsoll er Bürger für dieses ehrenamt-liche Engagement gewinnen. Dochfür seine gesetzlich vorgeschriebe-nen Leistungen – Information überVorsorgevollmacht und Betreu-ungsverfügung zählt auch dazu –erhält ein Verein vom Freistaat imSchnitt 2.400 Euro jährlich. NurBrandenburg zahlt noch schlechter.

Caritas. Die bayerische Caritas willihre Kontakte zur Caritas in Tsche-chien verstärken. Das gab Landes-Caritasdirektor Prälat Karl-HeinzZerrle (München) bei einer Konfe-renz in Passau bekannt. In den letz-ten Jahren hätten sich bereits guteBeziehungen insbesondere zur Ca-ritas in der Diözese Budweis entwi-ckelt, sagte Zerrle. Man habe Prak-tikanten ausgetauscht und gegensei-tig Konzepte der sozialen Arbeit dis-kutiert. Auf diesem Weg wolle man

weitergehen. Die Budweiser Diöze-san-Caritasdirektorin MichaelaÈermáková berichtete in Passau, ihreCaritas habe 400 Mitarbeiter fest an-gestellt. Das Caritas-Netz in der Di-özese Budweis umfasse rund 70 Ein-richtungen, darunter Beratungsstel-len, häusliche Pflegedienste, Heimefür Senioren und Obdachlose, Hei-me für Opfer häuslicher Gewalt,Hilfe in Familien, für Menschen mitBehinderung und Migranten sowieFreiwilligendienste.

Caritas. Zur Bewahrung und zumAusbau des Sozialstaates hat Bay-erns Landes-Caritasdirektor Prä-lat Karl-Heinz Zerrle die Bayer-ische Staatsregierung aufgerufen.In einer Erklärung zum Jahres-wechsel sagte Prälat Zerrle, erbefürchte, dass der Sozialstaat imGefolge der Finanz-und Wirt-schaftskrise unter die Räder käme.„Die Zeichen stehen auf Sturm.Ich fürchte, dass uns zumindest ab2011 eine massive Sozialkür-zungswelle vor allem bei Leistun-gen des Bundes und der Kommu-nen bevorsteht. Die Armen, Pfle-gebedürftigen und sozial Schwa-chen müssen dafür büßen, dasssich Banker verzockt haben undnun nicht einmal finanziell zurRechenschaft gezogen werden“,sagte Zerrle. Der Freistaat haltesich mit Kürzungen im Sozial-bereich noch zurück. Es sei er-freulich, „dass der bayerische Mi-nisterpräsident und CSU-Vorsit-zende Horst Seehofer den Sozial-bereich vor Kürzungen bewahrenwill.“ Seehofer habe den Ausbauder Hospizbewegung in Bayern

zur Chefsache erklärt, das lassehoffen, dass Manches in diesemso wichtigen Bereich schnellergehe. Dass Seehofer die geplanteKopfprämie in der Krankenversi-cherung als unsozial und unfi-nanzierbar kritisiere, zeige, dasser sich treu geblieben sei. Dass erschließlich gesagt habe, in Bay-ern werde es keine unsozialenKürzungen geben, sei „für pfle-gebedürftige und behinderte, fürsozial schwache und suchtkranke,für obdachlose und arbeitsloseMenschen, für Kinder und Fami-lien eine ebenso gute Nachrichtwie für die Wohlfahrtsverbände,die Einrichtungen und Hilfsange-bote für sie vorhalten.“ Dennochist der Landes-Caritasdirektorskeptisch. „Das Wort unsozial istsehr interpretationsfähig. Was dieWohlfahrtsverbände 2004 bei derDebatte um Stoibers Sparpaket als„unsoziale Kürzung“ brandmark-ten, sah die Staatsregierung alsverzichtbare Staatsleistung“, sag-te Zerrle und kündigte „für denFall der Fälle heftigen Wider-stand“ an.

18 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

M I T G L I E D S O R G A N I S A T I O N E N

Diskriminierung von Sozialhilfeempfängern in der Pflege beendet

Bayerische Verfassungsmedaille in Gold für Seban DönhuberArbeiterwohlfahrt. Der Ehrenvor-sitzende der Arbeiterwohlfahrt inBayern, Seban Dönhuber, wurde imNovember 2009 mit der BayerischenVerfassungsmedaille in Gold für sei-ne Verdienste um den Freistaat Bay-ern ausgezeichnet. Im Rahmen einerFeierstunde im Bayerischen Land-tag überreichte LandtagspräsidentinBarbara Stamm die Auszeichnung.Dönhuber, viele Jahre Landrat vonAltötting und von 1989 bis 2004Landesvorsitzender der AWO inBayern, wurde für sein Lebenswerkausgezeichnet, das davon geprägtwar, sozialem Unrecht entgegen zutreten und sich für Chancengleich-heit einzusetzen. Dem BayerischenLandtag gehörte Dönhuber als Ab-geordneter der SPD von 1966 bis1970 an. 1990 wurde er als einer derfünf Vertreter der Wohlfahrts-verbände in den Bayerischen Senatberufen und war dort ab 1994 Vor-sitzender des Sozialausschusses.Auch in dieser Funktion war esDönhuber ein Herzensanliegen, sichfür soziale Gerechtigkeit einzuset-zen. Immer vor Augen stand ihm dieAufgabe, ein Aushöhlen des Sozial-staates nicht zuzulassen. Dazu ge-

hörte auch, dass er dafür einstand,die Sozialpolitik nicht von der jewei-ligen Kassenlage des Staates diktie-ren zu lassen, sondern von den Be-dürfnissen der Betroffenen auszuge-hen. Ein Problem, das in Bayern bisheute aktuell ist. Die Triebfeder sei-nes außerordentlichen und beispiel-haften sozialen Engagements fassteer selbst einmal mit den Worten zu-sammen: „Die im Dunkeln sieht man

nicht. Es ist daher unsere Aufgabedafür zu sorgen, dass auch Licht zuden Schwachen kommt und dass siemit ihren Schwierigkeiten nicht all-eine gelassen werden.“„Dönhuber ist und bleibt ein Vorbildfür die Wohlfahrtspflege und für dieArbeiterwohlfahrt in Bayern“ so seinNachfolger, der jetzige Landesvor-sitzende der bayerischen Arbeiter-wohlfahrt, Dr. Thomas Beyer.

Arbeiterwohlfahrt. Der Landesvor-sitzende der Arbeiterwohlfahrt inBayern, Thomas Beyer, begrüßt ei-nen Erfolg im Kampf für eine bes-sere Betreuung demenzkrankerSozialhilfeempfänger. Im Juni 2009hatte die AWO Alarm geschlagen,dass die bayerischen Bezirke als Trä-ger der „Hilfe zur Pflege“ Sozialhil-feempfängern, die nicht pflegever-sichert sind, den mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz einge-führten Anspruch auf zusätzlicheBetreuungsleistungen durch sog.„Betreuungsassistenten“ verwei-

gern. Beyer hatte diese Vorgehens-weise als „schlicht skandalös“ be-zeichnet und den Bezirken vorgewor-fen, dies „stemple demenzkrankeSozialhilfeempfänger zu Bürgernzweiter Klasse“. Der Druck der AWO,diese Ungleichbehandlung von Men-schen mit besonderem Betreuungs-bedarf schnellstmöglich zu beenden,hatte Erfolg. Auch die Sozialaus-

schüsse der Bezirke Mittelfrankenund Oberbayern haben nun Entschei-dungen dahingehend getroffen, dieZuschläge für die Leistung vonBetreuungsassistenten gemäß § 87 bSGB XI auch für nicht pflege-versicherte Leistungsberechtigte zuübernehmen. „Dieses Ergebnis imInteresse von Menschen, die in be-sonderer Weise auf Betreuung ange-wiesen sind, zeigt, welche Bedeutungdie Anwaltsfunktion der Wohlfahrts-pflege auch und gerade in der heuti-gen Zeit besitzt“, so die Bewertungdes AWO-Landesvorsitzenden.

Landtagspräsidentin Barbara Stamm überreicht dem Ehrenvorsitzenden der Arbei-terwohlfahrt in Bayern, Seban Dönhuber, die Bayerische Verfassungsmedaille in Gold.

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M I T G L I E D S O R G A N I S A T I O N E N

Kommunaler Finanzausgleich 2010

Arbeiterwohlfahrt. Für weite-re drei Jahre als StellvertretendeVorsitzende hat die Mitglieder-versammlung der Landesar-beitsgemeinschaft der öffentli-chen und freien Wohlfahrtspfle-ge in Bayern (LAG Ö/F) bei ih-rer Herbsttagung 2009 in Nürn-berg Gisela Thiel, Landesver-band Bayern der Arbeiterwohl-fahrt, bestätigt. Gemäß Satzungder LAG Ö/F wird „der/die Vor-sitzende der LAG Ö/F aus denVertretern/Vertreterinnen derkommunalen Spitzenverbändegewählt und der/die Stellvertre-ter/in aus den Vertretern/Vertre-terinnen der Spitzenverbändeder Freien Wohlfahrtspflege“.Das zum dritten Mal erneuerteMandat der Freien Wohlfahrts-pflege für das Amt der Stellver-tretenden Vorsitzenden der LAGÖ/F nimmt Gisela Thiel bereitsseit 2000 wahr. Robert Scheller,Vorsitzender der LAG Ö/F, gra-tulierte ihr zur einstimmigenWiederwahl, die er als deutlichesZeichen für die Wertschätzungdes bisherigen Engagements vonGisela Thiel in und für die LAGÖ/F bezeichnete.

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Bayerischer Landkreis-tag. Die vier kommunalenSpitzenverbände in Bayernhaben an der bisherigenÜbung festgehalten, denBayerischen Staatsministerder Finanzen in einem ge-meinsamen Schreiben, dasvom Vorsitzenden des BayerischenStädtetages, OberbürgermeisterSchaidinger, Regensburg, dem Prä-sidenten des Bayerischen Gemein-detages, Erster Bürgermeister Dr.Uwe Brandl, Abensberg, dem Präsi-denten des Bayerischen Landkreis-tages, Landrat Theo Zellner, Cham,und dem Präsidenten des Verbandesder bayerischen Bezirke, Bezirks-tagspräsident Manfred Hölzlein, un-terzeichnet wurde, ihre Forderungenzum Finanzausgleich mitzuteilen.Zur Frage der Zuweisung an dieBezirke nach Art. 15 FAG schreibensie:„Die Bezirke haben im Haushaltsjahr2009 trotz der weiter merklich zuneh-menden Leistungen in der Ein-gliederungshilfe, auch bedingt durchdie Übernahme der ambulanten Ein-gliederungshilfe, bis auf einen Bezirkdie Bezirksumlage nicht erhöhenmüssen. Es steht jedoch jetzt schonfest, dass diese moderate Hebesatz-politik bei einigen Bezirken durch dieknapp kalkulierten Haushaltsansätzezu nicht unerheblichen Defiziten imEinzelplan 04 führen wird.Die Bezirke rechnen im kommen-den Jahr 2010 mit einem weiteren

spürbaren Zuwachs ihrerAusgaben als überörtlicheSozialhilfeträger. Vor allemaufgrund der von den Be-zirken nicht beeinfluss-baren steigenden Fall-zahlen in der Einglie-derungshilfe werden selbst

bei vorsichtigster Schätzung dieNettoausgaben in der Sozialhilfe umrd. 140 Mio. Euro ansteigen. DieFallzahlen nehmen aufgrund derLangzeitversorgung Behinderter zu;insbesondere weil die Hilfeempfän-ger auf soziale Hilfe für einen län-geren Zeitraum angewiesen sindaufgrund der fortschreitenden medi-zinischen Entwicklung. Außerdemkönnen die Bezirke einen Großteilder Kostenfaktoren der Leistungennicht beeinflussen, z.B. wegen Per-sonalkostensteigerungen. Dieserdramatischen und konjunkturunab-hängigen Entwicklung im Aus-gabenbereich steht landesweit eineäußerst geringe Umlagekraftstei-gerung von 1,77 Prozent (rd. 37 Mio.Euro) gegenüber. Trotz der den Be-zirken bekannten Tatsache, dass derFinanzausgleich für 2010 im Rah-men eines Nachtragshaushaltes zubehandeln ist, bitten wir um zusätz-liche staatliche Unterstützung, umaufgrund der zu erwartenden, abernicht beeinflussbaren Entwicklungnotwendige Hebesatzsteigerungender Bezirksumlage im Interesse derUmlagezahler weitgehend zu mini-mieren.“

Gisela Thiel weiterhin

Stv. Vorsitzende

der LAG Ö/F

20 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

L A G Ö / F

Kein „Naturpark Wildnis“ in BayernLAG Ö/F-Fachtagung „Soziale Stadt - soziales Land“

Robert Scheller gab die Richtung vor. „Natur-park Wildnis darf und wird es in Bayern nichtgeben.“ Naturpark Wildnis, so ganz absurd

ist das allerdings nicht mehr, mitten in Deutschland.Wenn, wie im Osten Deutschlands, ganze Dörfer undLandstriche entvölkert werden, weil die Menschenmangels Arbeit wegziehen, dann können Planer schonmal auf solche Ideen kommen: Lassen wir die Naturzurückholen, was ihr vor Zeiten eh gehörte. Und zei-gen wir, gegen Eintritt versteht sich, den erschauerndenBesuchern, wie unsere Erde einmal unberührt undunkultiviert von Menschen aussah. Vielleicht nur we-nige Kilometer entfernt vom eigenen warmen unddurchgestylten Wohnzimmer. Das ist keine Vision fürBayern, meinte der Vorsitzende der Landesarbeits-gemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrts-pflege in Bayern (LAG Ö/F), der Würzburger Sozial-referent Robert Scheller, bei einer Fachtagung seinerOrganisation am 9. Dezember 2009 in München. „So-ziale Stadt - soziales Land“ hieß das Thema, und manwollte Wege erkunden, um durch eine integrierte

Sozialplanung in den städtischen und ländlichen Räu-men Bayerns genau diese Wildnis zu verhindern. Drohtsie denn tatsächlich? Erste Anzeichen für regionalenBevölkerungsschwund, für ökonomische und sozialeLücken, für eine zunehmende ungleiche Entwicklungvon Lebenschancen und Lebensmöglichkeiten, für einNord-Süd und West-Ost-Gefälle gibt es auch im Frei-staat. Ministerialdirigent Werner Zwick, Leiter derGrundsatzabteilung im Bayerischen Staatsministeriumfür Arbeit und Gesundheit, Familie und Frauen, ver-fiel darüber nicht in Panik, aber er sah auch die dro-henden sozialen Probleme. Die ländliche Bevölkerungsinkt, die Ballungsräume erhalten Zuzug. Die Zahl al-ter Menschen steigt, die Zahl jüngerer Menschen sinkt,absolut und proportional. Diese Trends schlagen vollauf die Kommunen durch. Statistik wird genau dortganz konkret, wo die Menschen leben. „Lebensqualitätentscheidet sich und wird gespürt vor Ort. Gibt es inmeinem Wohnort ein Pflegeheim? Eine Apotheke?Einen Arzt? Ein Lebensmittelgeschäft?“ fragte Zwickund gestand ein: „Auf dem Land gibt es Ortschaften,

Veranstalter und Akteure der Fachtagung: Robert Scheller (rechts) und Gisela Thiel (links) begrüßen die Referenten Alois Glück (2.v.l.) undEgon Endres.

21Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

L A G Ö / F

wo es das alles nicht mehr gibt.“ Auch in Bayern.Scheller und Zwick waren sich einig: Es ist höchsteZeit für eine integrierte Sozialplanung. Aber wie gehtdie?

Soziale Stadt - soziales Land.

Sozialplanung in städtischen

und ländlichen Räumen Bayerns

Der demographische Wandel und die dadurch beding-ten nachhaltigen Veränderungen in der Bevölkerungs-struktur: ein Zukunftsthema! Bei der Gestaltung ei-ner bedarfsgerechten Infrastruktur und Versorgungs-struktur stehen die Kommunen vor immensen Heraus-forderungen. Es bedarf einer Neuausrichtung, umkommunale soziale Hilfefelder weiter finanzierbar undbedarfsgerecht zu gestalten. Kleinräumig undkleinteilig denken ist in Städten, Landkreisen und Ge-meinden angesagt. Das ist das Gegenteil vonKleinkariertheit! Mehr denn je sind sozialraumbe-zogene, partizipatorische und kooperative Planungs-ansätze gefragt, nachhaltig wirkend und prozess-orientiert ausgerichtet. Es geht um neue gesellschafts-politische Wege. Der Fürsorgegedanke hat ausgedient.Inklusion heißt das neue Stichwort. Das gilt für Kin-derbildung und Kinderbetreuung, für die Unterstüt-zung und Pflege alter und hoch betagter Menschen,für die Integration von Menschen mit Migrations-hintergrund, für Menschen mit Behinderung.Als Instrumentarium einer Strategieentwicklung, dieüber Einzelaspekte hinausgeht, bietet sich integrierteSozialplanung an. Mit der Fachtagung „Soziale Stadt– soziales Land: Sozialplanung in städtischen undländlichen Räumen Bayerns“ greift die Landesarbeits-gemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrts-pflege in Bayern ein in die Zukunft gerichtetes Themaauf. Sie besinnt sich damit auf die Grundlagen einesgelingenden Gemeinwesens, nimmt neueste Daten undFakten zur Kenntnis und begibt sich auf die Suche antragfähigen und nachhaltigen Lösungsansätzen.Soweit die Ausschreibung.

Erst die Werte, dann die Planung

Hier kam bei der Fachtagung zunächst der CSU-Vor-denker und Landtagspräsident a. D. Alois Glück insSpiel. Sein Credo landauf, landab: erst die Werte, danndie Instrumente. Denken beginnt mit der Festlegungeines Zieles für den Weg, den man gemeinsam zu-rücklegen will. Und dieses Ziel besteht nicht in immer

mehr Konsumgütern oder gar dem shareholder value.Glück nannte Werte, die auch und gerade einer Sozial-planung zu Grunde gelegt werden müssen. Erstens dieWürde des Menschen, ein Gebot der Menschlichkeitund des Grundgesetzes. Den hehren Anspruch desGrundgesetzes gilt es durchzubuchstabieren für alleLebensbereiche. Was heißt, zum Beispiel, Würde desMenschen für schwerstkranke und sterbende Men-schen? Hier geht es um Sozialplanung und Finanzen,nicht um Sonntagsreden. Zweitens, meinte Glück,brauchen wir wieder eine Kultur der Verantwortung.Verantwortung für sich selbst, die Mitmenschen, dasGemeinwesen, die künftige Generation. Selbstver-wirklichung ohne Verantwortung, Profit ohne Rück-sicht auf die Folgen: das war vor der Finanzkrise undihre eigentliche Ursache. Zu dieser Verantwortungmüssen junge Menschen erzogen werden und der Staatmuss die Rahmenbedingungen setzen, um die Aus-wüchse auszuschließen. Drittens, wir brauchen einelebendige Sozialkultur. Innovationskraft ist auch imSozialsektor gefragt, gerade da. Jeder ist hier gefor-dert. Glück zitiert den Münchner WirtschaftsethikerKarl Ho-mann:„Niemand ist so schwach, dass er nichtfür andere eine Bereicherung sein kann. Niemand istso stark, dass er nicht andere braucht.“

Welche drängenden Zukunftsaufgaben sind vor demHintergrund dieser Werte zu lösen? Zunächst ist diealles entscheidende Frage die Integration. Glück meintdamit keineswegs nur die Integration von Migran-tinnen und Migranten. „Bevor wir darüber reden,müssen wir uns klar darüber sein, was unsere Gesell-schaft zusammenhält. Was die soziale Statik ist. Wasuns soziale Gerechtigkeit bedeutet.“ Zweitens geht esum den Umgang mit der demographischen Entwick-lung: „Der Single von heute ist der Einsame von mor-gen.“ Welche sozialen Netzwerke setzen wir dagegen?Drittens, wie verbinden wir Bürgerengagement undInstitution, Staat und freie Initiativen? Viertens, Glückwar sich sicher, dass uns schwerste Verteilungskämpfeum knappe Ressourcen in vielen Bereichen bevorste-hen. Wie definieren wir Gemeinwohl? Wo geht Ge-meinwohl vor Individualität? Das war Stoff für meh-rere Fachtagungen. Aber nun ging es erst einmal vonder Werteebene in die Praxis.

Good Governance in der Kommune

Hartmut Brocke, Direktor der Stiftung Sozialpädago-gisches Institut „Walter May“ in Berlin, hatte bewährteStrategien von Good Governance parat, wie das Ge-meinwesen zukunftsfähig gemacht werden kann. Esbrauche integrierte Handlungsstrategien, Bürgerinnen

22 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

L A G Ö / F

und Bürger weder als Untertanen noch als Kunden,sondern als Co-Produzenten sozialer Arbeit, sozial-räumliche Planung und die institutionelle Verankerungvon angezielten Beteiligungsprozessen. Die auf denpolitischen Wettbewerb und damit einseitig interessen-geleitete parteiorientierte Kommunalpolitik müsse, umbürgerfreundliche Lösungen zu erreichen, durch ergän-zende institutionelle Formen wie Bürgerforen, Fach-ausschüsse und Expertengremien aufgebrochen wer-den. Die Un-Kultur des Neben- oder sogar Gegenei-nander von öffentlichen und privaten Hilfeangeboten,von zusammenhanglosen oder gar konkurrierendenRessorts in Ämtern und Behörden, müsse überwun-den werden. In einer Multi-Kulti-Kommune sei inter-kulturelle Sensibilität und Kompetenz selbstverständ-lich. Neu zu denken seien Wohlstand und soziale Ko-häsion. „Wohlstand ist nicht mehr nur an eine bloßeMenge von Gütern gebunden, sondern meint das Wohl-befinden mit Gütern und das Wohlbefinden mit demGut Zeit sowie dem Gut Raum zum Atmen, Gehen,Spielen und Wohnen, saubere Luft, nicht zu viel Lärm,nicht zu dichte Besiedlung. Schlicht: Lebensqualitätund Lebensgenuss, das Gegenteil von sozialerAusgrenzung, Elend und Gewalt.“ Soziale Projektemüssten konzeptionell, ergebnisorientiert, ressourcen-orientiert und bürgerorientiert angegangen werden. WieGlück warnte Brocke vor den bevorstehendenVerteilungskämpfen und mahnte die Kommunen, alsGemeinwohlverantwortliche dafür zu sorgen, dassSchwächere nicht auf der Strecke blieben.

Best Practice aus Wetzlar,

Bayreuth und Starnberg

Nach so viel Theorie war die Praxis angesagt. Zuerstder hessische Lahn-Dill-Kreis, Kreisstadt Wetzlar, 23Gemeinden, 230.000 Einwohnerinnen und Einwohner.Die Sozialplanerin Meike Menn berichtete über fünfJahre partizipative Sozialplanung. Am Anfang standder politische Wille des Kreistages mit einem formel-len Beschluss, partizipative Sozialplanung ernsthaft zuwollen. Ziel war es, durch eine bedarfs-, regional-,beteiligungs- und ressourcenorientierte kommunaleSozialplanung die soziale Situation der Menschen zuverbessern, wo dies nötig erscheint. Zwischen Land,Landeswohlfahrtsverband und den Kommunen warbereits ein Rahmenvertrag über die Grundsätze derNeustrukturierung und Kommunalisierung sozialerHilfen in Hessen geschlossen worden, den es unter Be-rücksichtigung regionaler Gegebenheiten und Notwen-digkeiten umzusetzen galt. Ein Lenkungsausschuss mitVertretungen des Landratsamtes, des Kreistages und

der Projektleitung (letztere braucht es natürlich!) bringtdas Projekt in Gang. Eine Steuerungsgruppe Sozial-planung mit Mitgliedern des Lenkungsausschusses,den Wohlfahrtsverbänden, der Agentur für Arbeit, derARGE und anderen Institutionen koordiniert den Pro-zess, gewährleistet eine kontinuierliche Sozialbe-richterstattung und die Umsetzung der Rahmen-vereinbarung und bringt die Ergebnisse in die politi-schen Entscheidungsprozesse ein. In der konkretenArbeit nahm man sich die Schwangerenkonflikt-beratung, die Erziehungs- und Familienberatung, dieAltenhilfeplanung und die geschlechtergerechte Ju-gendarbeit vor. Ziel war es, die Förderstruktur zu über-prüfen und zu optimieren, Doppelstrukturen abzubau-en und den Vorrang präventiver Angebote zu schaf-fen. Der gesamte Prozess wurde durch eine wissen-schaftliche Begleitforschung evaluiert. Die Sozial-berichterstattung in Form eines Sozialberichtes wur-de eingeführt. Im Landratsamt wurde eine feste Stabs-stelle Sozialplanung eingerichtet. Alle Beteiligten, soMeike Menn, akzeptieren das neue Vorgehen und sindangetan vom respektvollen und fachlich anspruchsvol-len Umgang miteinander.

Der Sozialreferent der Stadt Bayreuth, Carsten Hill-gruber, berichtete über neue Versuche einer integrier-ten Sozialplanung in seiner Kommune mit ihren 73.000Einwohnerinnen und Einwohnern. Als Bausteine fürein angezieltes Gesamtkonzept dienen die Fach-planungen für bestimmte soziale Bereiche, die auchmit Bürgerbeteiligung und Expertenrunden erstelltwurden. Mit einbezogen sind u. a. Städtische Beauf-tragte (Jugendpfleger, Senioren-, Ausländer-, Gleich-stellungs-, Behindertenbeauftragte), das Jugend-parlament sowie der Senioren- und Behindertenbeirat.

Hartmut Brocke berichtete über bewährte Strategien von GoodGovernance.

23Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

L A G Ö / F

So versucht man, ressortübergreifend von Einzel-aktionen zu einem Gesamtkonzept zu kommen. Diewichtigste Erkenntnis der bisherigen Arbeit auch fürdie einzelnen Fachbereiche heißt: Stadtentwicklungbraucht immer eine zielgruppenübergreifende Sicht(„Eine Stadt für alle“), in der aber auch besonderenBedürfnissen der jeweiligen Zielgruppe Rechnung ge-tragen werden muss. Jede Sozialplanung braucht denBlick für das Ganze, hat folglich Querschnittscharakter.Im Interesse des Ganzen sind die zahlreichen bereitsvorhandenen Initiativen, Fachkonzepte und Bedarfs-planungen in eine übergreifende Betrachtung zu inte-grieren. Grundlage einer sozialverträglichen Stadtpla-nung waren in Bayreuth externe Fachgutachten zumStädtebau, zur Wirtschaft und zum Sozialraum. Darauserwuchs ein „Integriertes Stadtentwicklungskonzept“(ISEK). Wichtig ist dessen politische Verankerung: DerStadtrat hat im Mai 2009 den Grundlagen des ISEKzugestimmt. Die Umsetzung eines solchen Konzeptesberuht auf dem Dialog mit allen Akteuren und denBürgerinnen und Bürgern. Das Sozialreferat hat dieKoordination und Moderation übernommen.

„Integrierte Sozialberichterstattung und Sozialplanungan Isar und Loisach.“ Darüber berichtete der Leiterder Abteilung für Soziale Angelegenheiten MichaelKumetz vom Landratsamt des Landkreises Bad Tölz-Wolfratshausen (120.000 Einwohner, 21 Gemeinden).Das Ziel: „Gemeinsam wollen wir die soziale Land-schaft des Landkreises erhalten und optimieren undso für morgen sorgen.“ Da man nicht alles auf einmalmachen kann, setzte die Projektgruppe im Landrats-amt Schwerpunkte bei der Prävention und „einem ver-stärkten Miteinander“. 2009 wurde zunächst ein eige-ner Fachbereich Senioren mit einem Seniorenbüro zurEngagementförderung gegründet. Die Kinder- und Ju-gendhilfe arbeitet an einer sozialräumlichen Um-strukturierung. In beiden Bereichen arbeitet man,teilweise mit externer wissenschaftlicher Unterstüt-zung, an Gesamtkonzepten. Das bedarf natürlich derKoordinierung und ganzheitlichen Steuerung, wenn esnicht wieder in Einzelkonzepten enden soll. Basis al-ler künftigen Planung wird ein Sozialbericht sein, derbis auf die Ebene der einzelnen Kommunen die Le-benslagen und Bedürfnisse der Menschen, die sozia-len Angebote und die Versorgungslage, gegebenenfallsoffenen Bedarf und Überversorgung, darstellt. Al-lerdings soll der Sozialbericht keine neuen Erwartungs-haltungen für neue Projekte wecken, sondern die Steue-rungsgrundlage für den effektiven und effizienten Ein-satz der vorhandenen Ressourcen sein. Wichtig für dasGelingen wird sein, dass eine faire und effizienteBeteiligungsstruktur aufgebaut wird. Dazu wurde einepolitische Steuerungsgruppe eingerichtet, der der Land-

rat, sein Sozialabteilungsleiter als Moderator, Vertreter-innen und Vertreter der Bürgermeister und der FreienWohlfahrtspflege angehören.

Alle Referenten waren sich einig, dass sie noch nichtals „best practice“ gelten wollen, sie seien erst am An-fang. Aber es gab doch einige ganz wichtige Paralle-len. Die Initiative zu den Prozessen liegt bei den Land-kreisen und Kommunen. Sie wissen aber, dass sie ohneBeteiligung der Bürgerinnen und Bürger und allerSozialakteure scheitern werden. Dabei ist die Ein-beziehung der Bürger schwer. Von einer „Bürger-kommune“ seien alle noch weit entfernt, meinte dennauch Hartmut Brocke. Man müsse sich andere Wegeals die üblichen schlecht besuchten Bürgerversamm-lungen überlegen, um in die Breite zu kommen, mein-te Hillgruber. Einigkeit bestand über die politische Ver-ankerung: Am Anfang steht der politische Wille zurintegrierten Sozialplanung, der durch Beschlüsse derGremien legitimiert werden muss. Dann muss eine sys-tematische Sozialanalyse die Ist-Situation mit Stärkenund Schwächen aufzeigen. Für alle gilt auch die Devi-se: Das Ganze ist das Wahre. Grenzen sah man beiden finanziellen Ressourcen, der Prozess der Planungmuss in der Regel mit vorhandenen Budgets bewältigtwerden. Grenzen der Planung werden auch durch über-örtliche Kostenträger wie die Bezirke im Behinderten-bereich deutlich.

Epilog

Professor Dr. Egon Endres, Präsident der KatholischenStiftungsfachhochschule München, analysierte zumAbschluss der Fachtagung die Bedeutung des Sozial-kapitals für Städte und Regionen. An der großen Be-deutung des Sozialkapitals zweifle heute niemandmehr, sagte Endres. Aber es falle weder vom Himmelnoch liege es explizit vor, „sondern schlummernd“.Es müsse über Netzwerke erschlossen werden. Netz-werke aber seien kein Selbstzweck, sie müssten ei-nem definierten Ziel dienen. Die Stärke von Netzwer-ken sei bekannt: schneller Informationsaustausch seimöglich, es entstünden Synergien, unterschiedlicheWerte und Sichtweisen träfen aufeinander, Lernpro-zesse würden begünstigt. Allerdings ließen sich Netz-werke auch schwer steuern, sie neigten zum Konsensstatt zu kreativem Konflikt. Hier sei kluges und kom-petentes Management nötig. Auch um eine integrierteSozialplanung zu initiieren und zu stärken, empfahlEndres die Gründung von kommunalen Innovations-foren „entlang von sozialen Problemlagen und Status-passagen“.

Bernd Hein

24 Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

P R A X I S

60 Jahre Jugendarbeit in

den Jugendämtern Bayerns

„Planen, Entwickeln

und Gestalten“

Foto: Evangelische Jugend Ingolstadt

25Bayerische Sozialnachrichten 1/2010

P R A X I S

schule des Bayerischen Jugendrings an. Heute arbei-ten 150 kommunale Jugendpflegerinnen und Jugend-pfleger in den 96 Landkreisen und kreisfreien Städtenin leitender Position an der Koordinierung und Ent-wicklung der Jugendarbeit.

Besondere Rolle des

Bayerischen Jugendrings

Der Bayerische Jugendring war nicht nur am Auf- undAusbau der Kommunalen Jugendarbeit von Anfang anmaßgebend beteiligt, sondern auch unmittelbar mitStruktur und Aufgabenfeld der Jugendpfleger und derKommunalen Jugendarbeit verwoben. Auf diese Wei-se entwickelten sich von Anfang an die engen Verbin-dungen und Verflechtungen zwischen der kommuna-len Jugendpflege und den Jugendringen, die in Bay-ern bis heute charakteristisch geblieben sind. Nicht nurdie Aus- und Fortbildung war dem BJR übertragen, erkonnte in den Anfangsjahren neben den Städten undLandkreisen auch selbst Anstellungsträger der Kreis-jugendpfleger sein. Heute trägt dem die Anmerkungzum Art 23 AGSG und der Art 32 AGSG Rechnung:Die Artikel besagen, dass die kommunalen Ju-gendpflegerinnen und Jugendpfleger nicht notwen-digerweise in der Verwaltung des Jugendamtes ange-siedelt sein müssen, sondern dass einzelne - aber auchalle - Aufgaben der Kommunalen Jugendarbeit aufJugendringe delegiert werden können. Mit dieser or-ganisatorischen Aufgabendelegation verwirklicht sicheine historisch gewachsene „Klammerfunktion“ derKommunalen Jugendarbeit zwischen den Trägern deröffentlichen und freien Jugendhilfe.

Der gewachsenen Zusammenarbeit im Bereich derJugendarbeit auf der Ebene der Stadt- und Landkreiseentspricht eine Zuständigkeit des Bayerischen Jugend-rings für Aufgaben und Belange öffentlicher wie frei-er Träger der Jugendarbeit auf Landesebene. Seit demJahr 1993 sind dem Bayerischen Jugendring durchRechtsverordnung für den Bereich der Jugendarbeitdie Aufgaben des überörtlichen Trägers der Ju-gendhilfe nach § 85 Abs.2 SGB VIII zur Besorgungim Auftrag des Staates übertragen. In Bayern ist somitder Bayerische Jugendring mit den Aufgaben desLandesjugendamtes auf dem Gebiet der Jugendarbeitbetraut. Der Bayerische Jugendring übernimmt damitals überörtlicher Träger für die Jugendarbeit in Bay-ern gegenüber den Jugendämtern und der Kommuna-len Jugendarbeit die Aufgaben der Beratung, Koor-dinierung, Planung und Fortbildung. Und er unterstützt

Die Kommunale Jugendarbeit in Bayern beging imJahr 2009 ihren 60. Jahrestag. 1949 war der Neubeginnfür einen zentralen Aufgabenbereich der Jugendäm-ter in den Landkreisen und kreisfreien Städten Bay-erns: Es war die Geburtsstunde der „öffentlichen“Kinder- und Jugendarbeit der „örtlichen Träger deröffentlichen Jugendhilfe“. Seit dieser Zeit, also nochvor dem Entstehen eines Bayerischen Jugendamts-gesetzes, gibt es in den Verwaltungen der kreisfreienStädte und der Landkreise ein ausgewiesenes Arbeits-gebiet für die „Kinder- und Jugendarbeit“.

Geburtsstunde der Kommunalen

Jugendarbeit in Bayern

Die öffentliche Jugendpflege ist ein Kind des frühenvergangenen Jahrhunderts. Es waren zuerst die Kir-chen, welche sich die Pflege und Förderung der Ju-gend - in einem zunächst eher fürsorglich verstande-nen Sinne - zur Aufgabe machten. Erst der „Preußi-sche Jugendpflegeerlass“ vom 18.1.1911 enthält erst-malig den Begriff „Jugendpflege“. Hierbei wollte derpreußische Minister regelnd und fördernd auf die Ju-gendpflege Einfluss zu nehmen. Der Erlass enthälteine Aufforderung an die Behörden auf den verschie-denen Verwaltungsebenen, „Ausschüsse für Jugend-pflege“ zu schaffen und sogenannte „Turn- und Spiel-pfleger“ anzustellen. Die staatlichen Kräfte sollten dortmobilisiert werden, wo individuelle und gesellschaft-liche Hilfsmaßnahmen nicht mehr reichten. Erstma-lig wurden staatliche Finanzmittel für die Jugendpfle-ge in den Staatshaushalt eingestellt.

Es war ein historischer Markstein für die kommunaleJugendpflege in Bayern, dass sich der BayerischeLandtag bereits 1949 - noch lange vor einer Etablie-rung eines Jugendwohlfahrtsgesetzes - für die Ein-setzung von hauptamtlichen Jugendpflegern in denStadt- und Landkreisen aussprach. Dies geschahbereits zu einem Zeitpunkt, in dem das Jugend-wohlfahrtsgesetz noch suspendiert war. Die Geburts-stunde der Kommunalen Jugendarbeit, damals nann-te sich das Aufgabegebiet noch „Jugendpflege“, waram 13. Oktober 1949 mit einem Beschluss des Bay-erischen Landtages. Der Bayerische Jugendring (BJR)fungierte als Initiator dieser Befassung. Der junge BJRhatte in einer Eingabe an das Parlament die „Einset-zung hauptamtlicher Jugendpfleger zur Behebung derJugendnot in den Stadt- und Landkreisen“ gefordert.Bereits 1950 meldeten sich ca. 20 Bewerber für dieAusbildung zum Jugendpfleger an der Jugendleiter-

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durch Empfehlungen und Vorschläge die Tätigkeit derJugendämter. Dies ist ein bundesweit einzigartigesPrivileg für einen Landesjugendring, das ein großesMaß an Verantwortung, fachliches Verständnis undKompetenz voraussetzt. Diese historische „bayerischeLösung“ hat sich auf allen Ebenen bewährt. Sie findetihre Begründung im gesetzlich fundierten Subsi-diaritätsprinzip mit dem Grundsatz der partner-schaftlichen Zusammenarbeit aller Bereiche der Ju-gendarbeit in Bayern.

Aufgaben- und Profilentwicklung

der Kommunalen Jugendarbeit

Die Anfänge der öffentlichen Jugendpflege waren starkdurch die unmittelbare Tätigkeit mit den Jugendlichengeprägt. In der parlamentarischen Antragsbegründungfür die Einsetzung von Jugendpflegern wurde emp-fohlen, dass eine möglichst enge persönliche Bindungzu den Jugendlichen herzustellen sei, um die „gesun-den Kräfte der Jugend zu entwickeln und eine vorbeu-gende Fürsorge zu leisten“. So standen Jugendschutz,erste Seminare zur Weiterbildung von Jugendleitern,Jugendfilmarbeit, Betreuung von Zeltlagern und Wand-ergruppen - in den 50er und in der ersten Hälfte der60er Jahre - nach den wichtigsten Aufgaben zur Behe-bung der unmittelbaren „Jugendnot“ - im Mittelpunktder Arbeit der Jugendpflege.

Die Geburtsstunde einer Jugendarbeit im modernenSinn wurde erst 1964 mit einer „Theorie der Jugend-arbeit“ eingeläutet. Seit diesem Zeitpunkt löste sichauch die Jugendpflege aus den Mustern der bis dahinüblichen „Verwahrungs- und Behütungspädagogik“und bemühte sich um ein eigenständiges, an den Be-dürfnissen der Jugendlichen aufbauendes Profil. Dieemanzipatorischen Begriffe Selbstbestimmung, Selbst-organisation, Freiwilligkeit, Bedürfnisorientierungwurden zu theoretischen Grundpfeilern einer, ab Endeder 60er Jahre rasant wachsenden professionellen, aus-differenzierten, und zunehmend auch kommunalisier-ten Jugendarbeit. Nicht zuletzt finden sich die damalsformulierten Prämissen zu „Eigeninitiative, Interes-sensorientierung, Mitbestimmung und Selbstbestim-mung“ als definitorischer Grundpfeiler der Jugendar-beit im § 11 und § 12 des heutigen Kinder- undJugendhilfegesetzes (KJHG).

Durch diese gesetzlichen Vorgaben des KJHG war das„Arbeitsfeld Jugendarbeit“ spätestens seit den 90er

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Jahren breit legitimiert und anerkannt. ZeitgemäßeJugendarbeit war ab hier längst mehr als nur „Freizeit-angebot“. Oftmals - auch mit Personalkostenüber-nahme durch die Landkreise - entwickelten sich dieLeistungen der Jugendarbeit zu einem allgemein an-erkannten, öffentlich finanzierten Regelangebot derKommunen. 1989 vermeldete die Fortschreibung desJugendprogramms der Bayerischen Staatsregierung:„Einrichtungen und Dienste der offenen Kinder- undJugendarbeit sind heute anerkannter Maßen ein Be-standteil der sozialen Infrastruktur von Städten und Ge-meinden.“

Seit den 90er Jahren konnte in der Jugendarbeit von„Infrastrukturen der Einrichtungen und Diensten derJugendarbeit“ gesprochen werden. Spätestens zu die-sem Zeitpunkt waren die Jugendämter und mit ihnendie Kommunale Jugendarbeit mit den neuen Anforde-rungen der Jugendhilfeplanung des neuen KJHG be-fasst. Und spätestens zu diesem Zeitpunkt mussten sichrichtig aufgestellte kommunale Jugendpfleger zu Plan-ern, Gestaltern und Koordinatoren dieser sich entwi-ckelnden und ausdifferenzierenden Infrastrukturen derJugendarbeit und auch mit ihr zusammenhängenderTeile der Jugendsozialarbeit entwickeln. KommunaleJugendarbeit ist seither wichtige Fach-, Planungs-, Ent-wicklungs- Beratungs- und Vermittlungsstelle für eineVielzahl von Methoden und Arbeitsansätzen der Ju-gendarbeit.

Das Bild des Jugendpflegers, der persönlich Freizeit-und Bildungsarbeit mit Jugendlichen betreibt, also dieausschließliche unmittelbare pädagogische Tätigkeitder kommunalen Jugendpfleger, gehört spätestens seitAnfang der 90er Jahre endgültig der Vergangenheit an.Der sich abzeichnende Trend hin zu Konzep-tionierung, Planung, Verwaltung war festgeschrieben.Nicht mehr Laienspiel, Musizieren, Fahrten durchfüh-ren, Filme vorführen waren Arbeitsstandard der kom-munalen Jugendpflege, sondern ein modernisiertes,infrastrukturell orientiertes Aufgabenprofil mit demVorrang der planerischen, koordinierenden anregen-den und vernetzenden Aufgaben. In den Mittelpunktrückte seither die Aufgabe der Schaffung von fördern-den Bedingungen für die Strukturen der Jugendarbeit.

In Zusammenhang mit dieser Profilentwicklung wer-den auch erstmals die Aufgaben der Kommunalen Ju-gendarbeit „im Sinne der Gesamtverantwortung fürJugendarbeit in der Kommune“ erörtert und präzisiert.Als „Ziele der Jugendpflege in einem konkretem Sin-ne“, wurde die „Gesamtverantwortung... d.h. auch diePlanungsverantwortung für die Bereitstellung der er-forderlichen Einrichtungen, Personal und Angebote der

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Jugendarbeit“, genannt. Kommunale Jugendarbeit istSystemmanagement in einem vielfältigen Nebenein-ander von Trägern, Einrichtungen und Veranstaltun-gen der Jugendarbeit. In der Tat lässt sich an vielengut entwickelten Infrastrukturen der Jugendarbeit inden Kommunen Bayerns manch glückliches und ge-konntes Wirken der Kommunalen Jugendarbeit ver-folgen.

Herausfordernde Perspektiven

In den vergangenen Jahren gab es in Bayern einen,durchaus vorhersehbaren, Zuwachs des „Dienstleis-tungssystems Jugendarbeit“. Insbesondere die Gemein-den haben ihre Angebote ausgebaut – und werden diesweiter tun. Gegenwärtig erleben wir eine Expansionder professionalisierten Dienstleistungen derJugend(sozial)arbeit in Form eines starken Wachstumsder sozialpädagogisch orientierten Arbeitsbereiche anden Schulen. Viele, oftmals unmittelbar mit der Ju-gendarbeit zusammenhängende, jedoch mindestensmittelbar mit der Jugendarbeit verwandte, Arbeitsfelderhalten Einzug in den ehemals klassischen Wirkungs-bereich an den Schulen. Sei es nun die „Jugend-sozialarbeit an Schulen“, der Arm des Jugendamtesan die Schulen, oder die vielfältigen Arbeitsformen derNachmittagsbetreuung und -begleitung. Auch unter denZeichen der demographischen Entwicklung des Frei-staates werden Verschiebungen, aber auch Neu-entwicklungen das Bild der Jugendarbeit bestimmen.Die Kommunen sind an diesen Entwicklungen direktbeteiligt, sei es in Form finanzieller Transfers oderdurch das Angebot unmittelbarer Betreuungsdienstean den Schulen selbst. Diese Entwicklung wird sichfortsetzen.

Es gilt als sicher, dass die Veränderungen, die jetztund in Zukunft an den Schulen stattfinden, Auswir-kungen auf Teile der Kinder- und Jugendarbeit, aufdie Vereinsarbeit und auf weitere kommunale Betreu-ungseinrichtungen und Bildungsangebote (wie z.B. dieMusikschulen, u.a.) haben werden. Die in der Vergan-genheit oftmals getrennten Sphären der Schulpolitikund der Jugendarbeit werden sich stärker als vormalszu verständigen haben. Es gilt, die fachliche Kommu-nikation und Zusammenarbeit zwischen Schule, Ju-gendhilfe und Jugendpolitik zum beiderseitigen Nut-zen zu verstärken und zu verstetigen. Von diesen An-forderungen sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbei-ter der Kinder- und Jugendarbeit ebenso betroffen, wiedie Fachkräfte und Verantwortlichen an den Schulen.

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In einer Zeit, in der von Teilen der Öffentlichkeit immerdeutlicher die nachhaltige Unterstützung der traditio-nellen Erziehungsinstanzen Elternhaus und Schuleeingefordert wird, haben sich nicht nur die Fachkräf-te in den Jugendämtern, sondern auch die Schulbe-hörden der Aufgabe zu stellen, kommunale Planungs-und Gestaltungsleistungen an den Schnittstellen vonJugendarbeit, Jugendsozialarbeit, Schule, Ganztages-betreuung, Angeboten außerschulischer und berufli-cher Bildung und Familienpolitik zu entwerfen undsicher zu stellen.

Konzeptionell planendes Handeln ist damit künftig inder kommunalen Jugendpolitik mehr denn je angesagt.Die kommunalen Jugendpflegerinnen und Jugendpfle-ger sind im Rahmen dieses Dialogs zentral in ihrerRolle der Gestaltung und Entwicklung von sozialenInfrastrukturen für Kinder und Jugendliche angefragtund herausgefordert. Denn bei den zu erwartenden Ver-änderungen werden die zentralen Aufgaben der Ju-gendämter, die Gesamt- und Planungsverantwortung,unmittelbar angefragt. Kompetente Gestaltungs-, Ent-wicklungs-, Beratungs- und Unterstützungsleistungender Jugendämter und der kommunalen Jugendpfleger-innen und Jugendpfleger werden in diesem Prozessmehr denn je notwendig sein.

Es gilt nicht nur, erprobte und bewährte Leistungender Kinder- und Jugendarbeit zu sichern und weiter zuentwickeln. Wie in der Vergangenheit auch, wird Kom-munale Jugendarbeit in Bayern im umfangreichen Feldder klassischen Kinder- und Jugendarbeit, der Jugend-sozialarbeit, des erzieherischen Kinder- und Jugend-schutzes, aber auch im Feld der gemeinwesenorien-tierten Leistungen der sozialen Arbeit sowie im Feldder schulorientierten Arbeit sinnvolle Impulse setzenmüssen, realitätsgerechte Entwicklungen anregen undnotwendige gemeinwesenorientierte Infrastrukturenfür Kinder, Jugendliche und deren Eltern gestalten.

Winfried PletzerReferent beim

Bayerischen Jugendring

Landesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien Wohlfahrtspflegein Bayern, Nördliche Auffahrtsallee 14 - 80638 MünchenPostvertriebsstück Deutsche Post AG - „Entgelt bezahlt“ - B1610

VVdK: Armut wird noch steigen

HHartz-IV-Satz für KinderMünchen. Die Arbeits- und Sozialminister der Länder haben die Bun-desregierung aufgefordert, schnell einen eigenen und damit höherenHartz-IV-Satz für Kinder zu ermitteln. Dabei sollen auch Bildungs-kosten einberechnet werden, etwa Gebühren für Sport- oder Musikver-eine. „Kinder sind eben nicht einfach kleine Erwachsene“, sagte diebayerische Ressortchefin Christine Haderthauer.

Osnabrück (epd). Der SozialverbandVdK befürchtet, dass sich die Armutin Deutschland weiter verfestigt undsogar noch steigt. Die unveränderthohe Zahl der von staatlicher Hilfeabhängigen Menschen sei als Alarm-zeichen zu werten, sagte VdK-Prä-sidentin Ulrike Mascher der „NeuenOsnabrücker Zeitung“. Sie begrün-dete dies mit der Wirtschaftskrise,die sich mehr und mehr in der Sta-tistik niederschlagen werde. NachAngaben des Statistischen Bundes-amtes war im Jahr 2007 jeder zehn-te Bundesbürger auf soziale Min-destsicherung angewiesen. Da 2007ein wirtschaftlich vergleichsweise

gutes Jahr gewesen sei, erwarte siefür das Krisenjahr 2009 und für 2010noch deutlich höhere Zahlen hilfe-bedürftiger Menschen, sagte Ma-scher. Die Vdk-Präsidentin forderte„mehr ordentlich bezahlte Arbeit, ei-nen wirksamen Kampf gegen Alters-armut sowie eine Anhebung derRegelsätze für Arbeitslosengeld II“und des daran orientierten Sozial-geldes für Kinder. Mit Blick auf dieRentner verwies die VdK-Präsiden-tin auf die wieder steigende Ar-beitslosenzahlen und betonte: „ProJahr Bezug von Arbeitslosengeld IIsteigt die Rente nur um 2,19 Euro.Da ist Altersarmut programmiert.“

KKommunen fordern

Reform der JobcenterBerlin (dpa/AP). Im Ringen mit denBundesländern um eine Lösung inder Jobcenter-Reform sieht Bundes-arbeitsministerin Ursula von derLeyen kaum Kompromissmöglich-keiten. Zur „Feinabstimmung“ wol-le sie das Gespräch mit den Arbeits-und Sozialministern der Länder su-chen, so von der Leyen. Einige derBedenken der Länderminister nann-te sie „berechtigt“. Man erwarte, dassvon der Leyen „die Chance einer ef-fektiven Kooperation mit den Kom-munen“ nutze, sagte Gert Landsberg,Geschäftsführer des Deutschen Städ-te- und Gemeindebundes. Er erneu-erte den Vorschlag, Jobcenter als„Zentrum für Arbeit“ zu organisieren.Von der Leyen verwies auf die Fest-legungen durch Bundesverfassungs-gericht und Koalitionsvertrag. DasBundesverfassungsgericht hatte Job-center, in denen Sozialamt undArbeitsagentur Hartz-IV-Empfängerzusammen betreuen, als grundgesetz-widrig beanstandet. Bis Ende 2010muss es eine Neuregelung geben.