Fotografieren und Bildgebrauch um · PDF filebeobachten. Die erste Bedingung dafür war...

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Einleitung 1. Meine Erörterungen und Schlußfol- gerungen stützen sich auf die Ergebnis- se, die ich im Forschungsprogramm der Abteilung für Visuelle Kultur beim Mu- seum Herman Ottó in Miskolc (Ungarn), erworben habe. Diese Abteilung funktio- niert heute als eine Sektion der Univer- sität Miskolc und befaßt sich mit den Problemen der Kulturellen Anthropologie [1], mit dem Menschen also, der Subjekt und Objekt einer Kultur ist. Visuelle Kultur bedeutet – im Sinne dieses Forschungsgebietes – einen we- sentlichen Teil der gesamten Lebensbe- dingungen. Sämtliche Objekte, die eine Signalfunktion aufweisen, vermitteln eine gewisse visuelle Kultur. Heutzutage, wo man vom Untergang der Gutenberg- Galaxis [2] spricht, erwerben wir mehr als 75 Prozent der Informationen nicht mehr durch gedruckte Buchstaben, son- dern durch Bilder. In dieser Situation ist es die Aufgabe der Wissenschaft, deren Bedeutung im Leben des Menschen zu analysieren. Das Bild ist eine Erschei- nung, die mit der Menschheit seit ihren Anfängen sich weiterentwickelt, das menschliche Dasein widerspiegelt – im Prozeß des Schaffens wie im Gebrauch. Dementsprechend sind die grundsätzli- chen Stichwörter, auf welche wir unsere Aufmerksamkeit bei den Forschungen richten: Bild/Bildprozeß – Bildgebrauch – Bildtradition – Visuelle Kultur. Da Foto- grafien einen wesentlichen Teil der visu- ellen Informationsträger bilden, müssen wir die Rolle des fotografierten Bildes in der visuellen Kultur eingehend und aus- führlich studieren. Daraus können wir folgern, daß den Platz der Gutenberg- Galaxis eine neue Formation, die visuelle, sogar audiovisuelle, Galaxis einnehmen wird. (Denken wir hier an den Film, das Fernsehen, das Video usw.) Ich möchte mich aber nicht ins Wei- te verlieren. So viel halte ich für genug, um den Leser mit den Richtungen und Grundproblemen unserer Forschungen bekannt machen zu können. 2. Im Titel meines Vortrags ist die Zeit- bestimmung „um 1900“ zu lesen. Es han- delt sich um eine geschichtliche Periode, die wir gerne als „Jahrhundertwende“ bezeichnen. Die Zeitgrenzen – den An- fang und das Ende – kann ein jeder ei- genmächtig bestimmen. In diesem Sinne habe ich eine Spanne vom Anfang der siebziger Jahre bis zum Ausbruch des Er- sten Weltkriegs (der diesen ersten Rang erst später bekommen hat) gewählt. Die- ser Zeitraum fängt mit dem Ausklang der sogenannten „Gründerzeit“ im westli- chen Teil Europas an. Bei uns in Ungarn bedeutet er, mit einer gewissen Verspä- tung, den Anfang der Verbürgerlichung und der Industrialisierung – oder anders, „die glücklichen Friedensjahre“ unter Franz Joseph I. Diese Jahrzehnte waren in der Ge- schichte der Fotografie entscheidend, weil sie in dieser Periode charakteristi- sche Züge annahm und die Wechselwir- kungen zwischen Fotografie und Gesell- schaft deutlich wurden. 3. Es ist wohl selbstverständlich, daß ich mich überwiegend auf die Verhältnis- se der Österreich-Ungarischen Monar- chie beziehe. Ich möchte jedoch bewei- sen, daß es möglich ist, in der Zeit der Jahrhundertwende von einem einheitli- chen europäischen Antlitz der Fotografie zu sprechen. 4. In dieser Periode der Fotografiege- schichte ging eine interessante Polarisie- rung in der Branche der Fotografieren- den vor sich: In der Vielfarbigkeit der ge- sellschaftlichen Anordnung können wir uns hier und jetzt aber auf diejenigen konzentrieren, die ihr täglich Brot durch Fotografieren erwarben, also auf die Be- rufsfotografen. Die Entwicklung der Fotografie als Beruf Die Erfindung der Fotografie setzte eine neue Technik in Bewegung. Es war kein Zufall, daß diese zunächst die Maler, Holzschneider, Lithographen usw. anzog, weil die frisch erfundene Maschine das Abbild der sichtbaren Umwelt unvor- stellbar schnell und naturgetreu auf- zeichnen konnte. Diese Eigenschaft woll- ten sie für sich nutzbar machen. Louis Jacques Mandé Daguerre gab seine Er- findung im Jahre 1839 ohne Patent- schutz für die Gesellschaft frei. Das war eine der Grundbedingungen, die die schnelle Verbreitung der Fotografie er- möglichten. Durch die schnelle Entwick- lung der Technik wurde das Verfahren immer einfacher und billiger, gleichzeitig für jeden erreichbar und erlernbar. Andererseits war auch das Abwan- dern des Publikums hin zur Fotografie zu 28 Fotografieren und Bildgebrauch um 1900 Zu sozialen Aspekten der Fotografie Tarcai Béla Abb. 1: Porträts eines k.u.k.-Offiziers, aufgenommen in Budapest, Brody (Galizien) und Sarajevo.

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Einleitung1. Meine Erörterungen und Schlußfol-gerungen stützen sich auf die Ergebnis-se, die ich im Forschungsprogramm derAbteilung für Visuelle Kultur beim Mu-seum Herman Ottó in Miskolc (Ungarn),erworben habe. Diese Abteilung funktio-niert heute als eine Sektion der Univer-sität Miskolc und befaßt sich mit denProblemen der Kulturellen Anthropologie[1], mit dem Menschen also, der Subjektund Objekt einer Kultur ist.

Visuelle Kultur bedeutet – im Sinnedieses Forschungsgebietes – einen we-sentlichen Teil der gesamten Lebensbe-dingungen. Sämtliche Objekte, die eineSignalfunktion aufweisen, vermittelneine gewisse visuelle Kultur. Heutzutage,wo man vom Untergang der Gutenberg-Galaxis [2] spricht, erwerben wir mehrals 75 Prozent der Informationen nichtmehr durch gedruckte Buchstaben, son-dern durch Bilder. In dieser Situation istes die Aufgabe der Wissenschaft, derenBedeutung im Leben des Menschen zuanalysieren. Das Bild ist eine Erschei-nung, die mit der Menschheit seit ihrenAnfängen sich weiterentwickelt, dasmenschliche Dasein widerspiegelt – imProzeß des Schaffens wie im Gebrauch.Dementsprechend sind die grundsätzli-chen Stichwörter, auf welche wir unsereAufmerksamkeit bei den Forschungenrichten: Bild/Bildprozeß – Bildgebrauch –Bildtradition – Visuelle Kultur. Da Foto-grafien einen wesentlichen Teil der visu-ellen Informationsträger bilden, müssenwir die Rolle des fotografierten Bildes inder visuellen Kultur eingehend und aus-führlich studieren. Daraus können wirfolgern, daß den Platz der Gutenberg-Galaxis eine neue Formation, die visuelle,sogar audiovisuelle, Galaxis einnehmenwird. (Denken wir hier an den Film, dasFernsehen, das Video usw.)

Ich möchte mich aber nicht ins Wei-te verlieren. So viel halte ich für genug,um den Leser mit den Richtungen undGrundproblemen unserer Forschungenbekannt machen zu können. 2. Im Titel meines Vortrags ist die Zeit-

bestimmung „um 1900“ zu lesen. Es han-delt sich um eine geschichtliche Periode,die wir gerne als „Jahrhundertwende“bezeichnen. Die Zeitgrenzen – den An-fang und das Ende – kann ein jeder ei-genmächtig bestimmen. In diesem Sinnehabe ich eine Spanne vom Anfang dersiebziger Jahre bis zum Ausbruch des Er-sten Weltkriegs (der diesen ersten Rangerst später bekommen hat) gewählt. Die-ser Zeitraum fängt mit dem Ausklang dersogenannten „Gründerzeit“ im westli-chen Teil Europas an. Bei uns in Ungarnbedeutet er, mit einer gewissen Verspä-tung, den Anfang der Verbürgerlichungund der Industrialisierung – oder anders,„die glücklichen Friedensjahre“ unterFranz Joseph I.

Diese Jahrzehnte waren in der Ge-schichte der Fotografie entscheidend,weil sie in dieser Periode charakteristi-sche Züge annahm und die Wechselwir-kungen zwischen Fotografie und Gesell-schaft deutlich wurden.3. Es ist wohl selbstverständlich, daßich mich überwiegend auf die Verhältnis-se der Österreich-Ungarischen Monar-chie beziehe. Ich möchte jedoch bewei-sen, daß es möglich ist, in der Zeit derJahrhundertwende von einem einheitli-chen europäischen Antlitz der Fotografiezu sprechen.

4. In dieser Periode der Fotografiege-schichte ging eine interessante Polarisie-rung in der Branche der Fotografieren-den vor sich: In der Vielfarbigkeit der ge-sellschaftlichen Anordnung können wiruns hier und jetzt aber auf diejenigenkonzentrieren, die ihr täglich Brot durchFotografieren erwarben, also auf die Be-rufsfotografen.

Die Entwicklung der Fotografieals Beruf

Die Erfindung der Fotografie setzteeine neue Technik in Bewegung. Es warkein Zufall, daß diese zunächst die Maler,Holzschneider, Lithographen usw. anzog,weil die frisch erfundene Maschine dasAbbild der sichtbaren Umwelt unvor-stellbar schnell und naturgetreu auf-zeichnen konnte. Diese Eigenschaft woll-ten sie für sich nutzbar machen. LouisJacques Mandé Daguerre gab seine Er-findung im Jahre 1839 ohne Patent-schutz für die Gesellschaft frei. Das wareine der Grundbedingungen, die dieschnelle Verbreitung der Fotografie er-möglichten. Durch die schnelle Entwick-lung der Technik wurde das Verfahrenimmer einfacher und billiger, gleichzeitigfür jeden erreichbar und erlernbar.

Andererseits war auch das Abwan-dern des Publikums hin zur Fotografie zu

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Fotograf ieren und Bi ldgebrauch um 1900

Zu sozialen Aspekten der Fotografie

Tarcai Béla

Abb. 1: Porträts eines k.u.k.-Offiziers, aufgenommen in Budapest, Brody (Galizien) und Sarajevo.

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beobachten. Die erste Bedingung dafürwar zweifellos den Bürgern zuzuschrei-ben, die schneller und wirtschaftlicher,als die Maler zu produzieren in der Lagewaren, Bildnisse erhalten konnten. Auchdie schlichteren Schichten der Gesell-schaft kamen nun das erste Mal in dieLage, ihre Porträts an die Wand hängenzu können, das Privileg der Bourgeoisieund der Aristokratie an Bildnissen hörteauf; der Kleinbürger fing an, sich einiger-maßen gleichberechtigt zu fühlen.

In den siebziger Jahren des vorigenJahrhunderts wurde die Fotografie eineMassenerscheinung. Das heißt, daß dasVolk in beliebiger Anzahl und Form Bilderin Besitz nehmen konnte. In dieser Situa-tion entwickelten sich die Gewohnheitenbeim Fotografieren wie beim Bildge-brauch, die zumeist auch heute noch –mutatis mutandis – existieren.

Wenn wir nach den gesellschaftli-chen Wurzeln dieses Systems von Ge-wohnheiten suchen, fallen uns zunächstdie verschiedenen Formen der Wander-bewegungen ins Auge. Zu den gewohn-ten Figuren der Jahrmärkte gehörtenschon die Wanderfotografen, die, ihreWerkzeuge auf der Schulter tragend, dieLandstraßen fleißig durchmaßen. DenTraditionen der Gilden folgend, wander-ten auch die ausgebildeten Fotografenvon Land zu Land, um ihre Kenntnisseund Fähigkeiten zu vervollkommnen undum die Erfahrungen zu erweitern. DieMeister, die ständige Ateliers führten,stellten vielgereiste Operateure gerneein, damit sie ihren Kundenkreis erhaltenund möglichst vermehren konnten. Diesewelterfahrenen Angestellten – und oftauch die Betriebsinhaber – lernten in Pa-ris die Bildformate – Visite, Cabinet,Mignon, Boudoir, Imperial usw. -, inWien die Verzierungen der Rückseitender Fotografien, in anderen Großstädtendie Grundformen des Modellstellens undder Beleuchtung, die Einrichtung desAteliers, die Methoden der Kundenbe-handlung kennen. All diese Kenntnissewurden dann schablonenhaft verwendet.Ein Beispiel dazu: In fast allen bedeuten-den Ateliers in Europa wurde den Kundenein Musteralbum vorgelegt, in dem dieüblichen Stellungen laufende Nummernbekamen. Das Fräulein im Empfangszim-mer schrieb die gewählte Nummer auf

die Bestellkarte und schickte den Kundendamit zu dem Operateur, der sich nunden Kopf nicht mehr zu zerbrechenbrauchte: Die Stellung war ihm fast au-tomatisch vorgeschrieben.

Es kann hier auch ganz kurz das be-merkenswerte Kapitel der Wanderbewe-gung des östlichen Judentums am Endedes Jahrhunderts über Ungarn nach We-sten erwähnt werden [3]. Hinsichtlichunseres Themas können wir dieser Tatsa-che insofern Bedeutung beimessen, alseingewanderte Juden in allen Gattungender Fotografie, entweder als praktizie-rende Werkstattleiter oder als Kapitalge-ber im Hintergrund, eine wichtige Rollespielten. Ihre Rührigkeit und Sensibilitättrug dazu bei, daß die Fotografie um dieJahrhundertwende ihr europäisches Ge-sicht ziemlich schnell entwickeln konnte.

Von der Seite der Technik gesehen,öffneten Retusche und Reproduktions-technik den fast grenzenlosen Möglich-keiten der Fotografie die Tür. Retuschie-ren heißt, die originale Aufnahme zuüberarbeiten, zu übermalen, zu verbes-sern. Der Geschmack der Zeit verlangtegeschönte und idealisierte Darstellun-gen, um den Menschen von der Aus-sichtslosigkeit des alltäglichen Lebensabzulenken. Jeder wollte sich darum inwohlgefälliger Form und in anziehenderUmgebung fotografieren lassen. Was indieser Hinsicht in den Ateliers nicht zuerreichen und erfüllen war, übernahmder Retuscheur. Er schönte die abgebil-deten Personen den Träumen entspre-chend. Das „schön und glatt machenmittels Pinsel und Bleistift“ war zuersteine angebotene Möglichkeit, dann wur-de es eine neue Mode. Sogenannte„rohe“, also unretuschierte, Bilder wur-den von den Kunden nicht mehr ange-nommen. Das Fotografieren war einziemlich gutes Geschäft, und die Meisterwaren an diesem interessiert – nicht anGefühls- oder Geschmackssachen. Des-halb taten sie alles, um die modischenWünsche der Kunden zu erfüllen.

Die Reproduktionstechnik steht derRetusche nahe, weil auch sie ein neuesMedium von einer Originalaufnahmeschaffen kann. Die drucktechnische Ver-vielfältigung, die enge Zusammenarbeitdes Retuscheurs mit dem Drucktechniker,ebneten den Weg zu einer neuen Er-

scheinungsform der Fotografie, zur Foto-grafie in der Werbung. Für die Einge-weihten zerrann gleichzeitig die Über-zeugung, daß die Fotos immer „dieWahrheit“ zeigen würden. So entstandein Gewinn an Ausdrucksmöglichkeitenund ein Verlust an Glaubwürdigkeit. Esist zu bezweifeln, daß beide sich kom-pensieren konnten.

Die Fotografen strebten immer da-nach, ihre Kunden vor die Linse zulocken. Das konnten sie nicht nur durchtechnische Neuerungen, sondern auchmit anderen Raffinessen erreichen. InParis bot z.B. das Atelier „Helios“ niedri-gere Preise für Vormittags- und Sonn-tagspublikum an und eine andere Listefür die „exklusive Gesellschaft“ [4]. Dazumuß bemerkt werden, daß die Pariserelegante Welt nicht früh aufstehenmochte und deshalb nur nachmittagsoder abends zum Fotografen gehenkonnte. Um die Inanspruchnahme desAteliers ausgleichen zu können, griff„Helios“ zu diesem Mittel. Ebenso in Pa-ris erwarb man das Recht, kostenlos füreine Aufnahme im Visitformat zu sitzen,wenn man in der Kunsthandlung „Susse“für wenigstens 10 Francs einkaufte. DieAbonnenten der Illustrierten „La Vie Pari-sienne“ bekamen gratis ihre Porträts: Jelänger das Abonnement war, destogrößer war – in Zoll gemessen – das Bild,das ausgeliefert wurde.

Oft können wir in den zeitgenössi-schen Fachblättern lesen, daß Angehöri-ge der kaiserlichen, königlichen undfürstlichen Familien (nicht nur in derMonarchie) die Fotoateliers mit ihremBesuch auszeichneten [5]. Das Interesse,welches die hohen Stellen der Fotografieentgegenbrachten, wollten die geschick-ten Meister sich zunutze machen undbemühten sich um den Titel des „Hof-photographen“. Dieser wurde dann aufdie Geschäftspapiere und die Rückseitender Fotokartons gedruckt, um der Firmaein vornehmes Aussehen zu verleihen.Unter den ersten so Ausgezeichnetenfinden wir unter anderen Joseph Albert,den Bahnbrecher der Reproduktionstech-nik. Er bekam den Titel 1857 vom Königvon Bayern verliehen.

Im Polarisationsprozeß der Berufsfo-tografen können wir charakteristischeGruppen unterscheiden:

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– Wanderfotografen, Marktfotografenzweiter Generation, die im Gegensatz zuihren Vorgängern jetzt schon mit weni-ger Ausrüstung wanderten und auf denMarkt- oder Rummelplätzen Schnell-fotos auf Metallplatten oder Umkehrpa-pier anfertigten.– Vorstadtfotografen, die am Rand derStädte – oft in der Nähe der Kasernen –arbeiteten und die bescheidenen Bedürf-nisse eines bescheidenen Publikums be-friedigten. Sie führten meist kein richti-ges Atelier, sondern machten ihre Auf-nahmen bei Sonnenlicht in den Hinter-höfen.– Salonfotografen, welche ihre mit al-len Finessen ausgestatteten Ateliers imStadtzentrum oder in den Geschäftsvier-teln für die feine Gesellschaft betrieben.Hier konnte man elegante Kulissen, stim-mungsvolle Wintergärten, Leihkostüme,vornehme Bedienung und vor allem höf-liches Personal finden. Im Warteraumkonnte man mit anderen Kunden plau-dern und Bekanntschaft machen, Foto-alben und illustrierte Zeitungen an-schauen. Und noch eine wichtige Angabedazu: In meiner Heimatstadt, die um dieJahrhundertwende ein bedeutendes Ver-kehrs- und Geschäftszentrum war, standein eingewanderter Fotograf an der er-sten Stelle der Steuerzahlerliste.

Man darf nicht außer acht lassen,daß die Frauen in dieser Zeit als profes-sionelle Fotografinnen auf der Bühne er-schienen, die Emanzipationsbewegungenwaren eben in Aufschwung gekommen.Die Gesellschaft nahm diese Erscheinungleicht und schnell zur Kenntnis, in denFachkreisen aber wurde lange darüberdiskutiert, ob Frauen überhaupt dieFähigkeiten zum Fotografieren besitzen.

Porträtbedürfnisse als Ergebnis der Mobilität

Die Wanderbewegung war auch inden Kreisen der Bildverbraucher zu be-merken. Diese Bewegung wurde größ-tenteils vom Militär und der Verwaltung– also vom Staat – veranlaßt, die riesen-große Organisation des Staatsapparatsmobilisierte die Mengen. Die Menschennahmen ihre Gewohnheiten, Erfahrun-gen und Ansprüche mit, sie ließen sichan allen Stationsorten fotografieren undschickten die Aufnahmen für Familie und

Bekanntschaft nach Hause. So wurdennicht nur Erinnerungsbilder, sondernauch fotografische Informationen lau-fend getauscht, welche die Praxis der Fo-tografen beeinflussen konnten.

Eine spezielle Form der Mobilitätentwickelte sich – infolge der existenti-ellen Probleme – im östlichen Teil Euro-pas: die Auswanderung. Die verarmtenMenschen drängten überwiegend in die„Neue Welt“, nach Amerika, wo sie dieHoffnung sicherer Lebensbedingungenerträumten. Die wirtschaftlich-gesell-schaftlichen Gründe sind wohl bekannt,die Zahlen aber weniger: Von 20 Millio-nen der ungarischen Bevölkerung wan-derten 1870 nur einige Hundert aus,1898 aber schon mehr als 270.000. DieAuswanderer trafen natürlich überall auf

findige Fotografen, zuerst im Hafen unddann an Bord. Sie ließen sich fotografie-ren, mit einem Schiff im Hintergrund –gleichgültig, ob es ein wirkliches Schiffoder nur eine armselige Imitation war.Diese Bilder wurden, als letzter Gruß vomFestland, direkt vom Schiff nach Hausegeschickt mit einfachen und dochberührenden Abschiedszeilen.

Die Auswanderung ließ ganze Lügen-gewebe entstehen. Um die Daheimge-bliebenen zu beruhigen, schickten dieAuswanderer neue Fotos nach Hause, dieoft auf der Straße in einer eleganten

Umgebung gemacht worden waren. Mansollte vermuten, daß es den kühnen Un-ternehmern gut gehe. Die Wahrheit waraber in den meisten Fällen umgekehrt:Die Erwartungen gingen nicht immer inErfüllung.

Auch die wohlhabenden Bürger be-wegten sich kreuz und quer in der Mon-archie und in fremden Ländern. Siemachten Ausflüge, suchten die modi-schen Badeorte auf, besuchten ihre Ver-wandten und Freunde, reisten geschäft-lich und vergnügungshalber. Diese Rei-sen boten günstige Gelegenheiten, neueFotos machen zu lassen, die wiederumInformationen von den Gewohnheitenund vom Geschmack fremder Länderübermittelten, die daheim eingeführt,kopiert werden konnten.

Die Spannungskräfte der Gesellschaftsetzten auch die Fotos in Bewegung.Dank der Elastizität der Fotografie wurdees in allen Schichten der Gesellschaftüblich, sich mit Porträts zu beschenken.Eine schriftliche Widmung war dabei un-entbehrlich. So entstanden Bildersamm-lungen in den Familien, die nicht nur dieGesichtszüge der Verwandten konser-vierten, sondern auch auf die ausge-dehnten Beziehungen der Familie hin-wiesen (und ihren Ort in der Gesellschaftetwa dadurch unterstrichen, daß die Por-träts von Dichtern oder Herrschern insAlbum der Verwandten, Freunde und Be-kannten aufgenommen wurden). Es istnicht selten, daß ein erhaltenes Albumeiner bedeutenden Familie Porträts undAutographen fast aller Promimenten derEpoche beinhaltet. Solche Sammlungendienen als unerschöpfliche Quellen fürsozialgeschichtliche Forschungen.

Aus dem Vorhergegangenen könnenwir zu dem Schluß kommen, daß einegewisse Uniformierung der Gebrauchsfo-tografie unvermeidlich eintreten mußte.Es ist gleichgültig, ob die Aufnahme ei-ner Person in Abbazia (Opatija), in Mila-no, Wien, Berlin oder Lemberg gemachtwurde – sie weist die selben konventio-nellen Züge auf. Von diesem Umstandwurde auch die Haltung der Bildverbrau-cher bestimmt oder beeinflußt.

Bei einem Überblick über die Haltungder Verbraucher zur Fotografie müssenwir die Kleinbürger und die Großbürgergegenüberstellen. Für den Kleinbürger

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Abb. 2: Einbanddeckel eines Familienalbumsaus Leder und Messing um 1870.

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bedeutete die Fotografie nicht nur dasErlebnis eines Zusammentreffens mitseinem authentischen Bildnis, sondernauch das Gefühl seiner Wertsteigerungin der Gesellschaft. Er wurde mit Hilfeder Fotografie verewigt – wie es die neuerfundene Redewendung plastisch ver-anschaulichte – und konnte dadurch ausder Unbekanntheit und Bedeutungslo-sigkeit ausbrechen. Für ihn war dasFotografieren immer eine der festlichenHandlungen des Lebens. Deshalb zog ersein Festkleid, oft die geschonte Volks-tracht an – wenn er solches nicht hatte,konnte er es im Atelier ausleihen – undstellte sich vor der Kamera in einerselbstbewußten Pose auf. Der verachteteInfanterist guckte anläßlich seines Aus-gangs am Sonntagnachmittag auf demRummelplatz begeistert durchs Gesichts-loch der primitiven Figur eines Rittmei-sters, seine Freundin konnte sich in derPosition einer Herzogin fühlen, der stra-pazierte Kaufmannsgehilfe stand inFrack und Claque mit einem silberbe-knauften Stock vor dem kitschig gemal-ten Schloßturm. Auf den gleichzeitigenAnsichtskarten beliebiger Straßenzügeoder Bauwerke können wir immer zwei,drei Passanten und noch einen Polizistenentdecken, die in einer nicht zufälligenPose zur Kamera starren.

Man könnte meinen, daß die Aristo-kraten und Großbürger kein besonderes

Interesse an der Fotografie bekundethätten. Im Gegenteil: auch sie waren ei-tel und auch sie wollten die Vorteile derneuen Erfindung ausnutzen. Sie brauch-ten jedoch keine fremden Attitüden an-nehmen. Ihre Gewohnheiten erschienenauf standesgemäßem Niveau. Die ferti-gen Bilder wurden für sie elegant ge-rahmt, ihre Fotoalben bekamen eine im-posante Form durch Metallbeschlag undFamilienwappen. Der wesentliche Unter-schied, das fotografische Erlebnis betref-fend, liegt darin, daß die Großbürger essich erlauben konnten, leichte Spiele-reien vor der Kamera zu treiben. Oft zo-gen sie Masken oder Volkstracht an,ließen inszenierte, groteske Situationenaufnehmen, und bei geselligen Zusam-menkünften durften die Musikanten undder Fotograf nicht fehlen.

Vielfalt der fotografischen ProdukteDie vielseitigen Fotografen konnten

aber das Interesse der Kunden neben derPorträtfotografie auch auf andere Pro-dukte lenken. So lesen wir im „Jahrbuchfür Photographie und Reproduktions-technik“, Jahrgang 1889, unter anderemdas Angebot des Münchner Unterneh-mers Franz Hanfstaengl (dem Erfinderder Negativretusche) von Reproduktio-nen nach Gemälden alter und modernerMeister sowie von Fotoporträts der be-liebtesten Zeitgenossen.

Es lohnt sich daher, hier einen kurzenBlick auf die Vielfalt der fotografischenProdukte zu werfen:– Die Meister brachten Landschafts-und Städtebilder im Lichtdruck auf denMarkt, welche aber in den Wohnungender Bürger höchstens an die Wand desVorzimmers gelangen durften und diegemalten Bilder nicht ersetzen konnten[6].– Die Visitkarte, welche ursprünglichals tatsächliche Besuchskarte fungierte,verlor ihre Rolle und wurde als Foto zumVerschenken verwendet.– Das Fotoalbum, die häusliche Bilder-sammlung, übernahm die Funktion derFamilienbibel. Wurden bisher die wich-tigsten Geschehnisse vom Familienvaterin die Bibel eingetragen, so dokumen-tierten von nun ab Fotografien die er-freulichen oder traurigen Ereignisse.– Das Foto fungierte als Bildbotschaftfür die Zeitgenossen und Nachfolger. Inder Zeit, als die Institution der Großfami-lie anfing sich aufzulösen, konnte dasZusammengehören der Familienmitglie-der durch die Fotografien zum Ausdruckgebracht werden.– Es war Mode geworden, fotografierteMiniaturen in Metallfassungen alsSchmuck zu tragen. Die Vervollkomm-nung der Technik ermöglichte es, mit Hil-fe der Retuschetechnik nach solchen Mi-niaturbildern sogar lebensgroße Kopienanzufertigen. Fast in jedem Haus hingeine dieser „künstlerischen“, sauberenVergrößerungen, aber Fotografien warensie schon nicht mehr. – Gegen Ende des 19. Jahrhunderts er-lebte die fotografierte Ansichtskarte ihreerste Blütezeit. Daß diese einen großenInformationswert trugen und tragen, istnicht zu bezweifeln.– Gruppenbilder machten einen bedeu-tenden und charakteristischen Teil derFotoproduktion aus. Die beruflichen undgesellschaftlichen, die ständigen und ge-legentlichen Vereinigungen ließen sichgerne fotografieren. Dabei ist eine spon-tane, jedoch feste Zeremonienordnungzu bemerken. Um die Rangordnung zubetonen, saßen die wichtigsten Persön-lichkeiten in der Mitte und neben ihnenordneten sich – sitzend, stehend, kniendoder liegend – die Mitglieder der Ge-meinschaft. Bei diesen Aufnahmen kam

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Abb. 3: Gedenktableau der Ingenieure einer ungarischen Eisenfabrik um 1900.

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die Mentalität der Epoche aufs schönstezum Ausdruck [7].– Um eine kunsthistorische Seltenheitnicht außer acht zu lassen, möchte ichbemerken, daß auch die akademischenMaler die Fotografie oft zu Hilfe riefen,um sich damit die Bildgestaltung zu er-leichtern. Das heißt, daß eine Genresze-ne auf der Bühne mit lebenden Personen– meist Schauspielern dritter Klasse –gestellt, fotografiert und später im Ate-lier gemalt wurde. Ein schönes Beispieldieser Methode ist das berühmte Gemäl-de „Armsünderhaus“ von MunkácsyMihály, zu welchem das Foto in Ungarnaufgenommen wurde, während das Werkaber in Düsseldorf, im Atelier von Knaus,entstand [8]

Vom Uniformismus der Gebrauchsfo-tografie haben wir schon früher gespro-chen. Um der historischen Gesetzmäßig-keit zu entsprechen, traten auch diesmalvernünftige Neuerer hervor, die eine Re-volte gegen Konvention und Langweileankündigten. Unter anderen möchte ich

hier den Hamburger Rudolph Dührkooperwähnen, der die bisherige Gewohn-heitsordnung auf den Kopf stellte: Erempfing seine Kunden nicht mehr in derisolierten Welt des Ateliers, sondern ersuchte sie in ihren Häusern auf, um sie ineinem überzeugenden Milieu abzubilden.Es gab mehrere Meister, die über dieSensibilität und Tatkraft zur Erneuerungder Gebrauchsfotografie verfügten, wieNicola Perscheid, Hugo Erfurth, HelmarLerski. Sie führten nicht nur neue Me-thoden ein, sondern erhoben auch denAnspruch, den Menschen nicht als Ob-jekt, sondern als Individuum darzustellen.Ihre Wirkung strahlte in die ganze Weltaus, und wenn der Weltkrieg nicht aus-gebrochen wäre ... Aber das ist eine an-dere Geschichte.

Anmerkungen[1] Die Grundbegriffe wurden in der schrift-lichen Zusammenfassung der III. Internationa-len Tagung des Volkskundlichen Bildfor-schungskomitees bei SIEF/UNESCO in Mis-

kolc 1988 definiert: Ernö Kunt (Hg.): Bild-Kun-de / Volks-Kunde, Miskolc 1989, ISBN 963-7221-29-8. Vgl. auch Ernö Kunt: Fotografieund Kulturforschung. In: Fotogeschichte (Frank-furt a.M.), H. 21, 1986, S. 13 – 31.[2] Marshall McLuhan: The Gutenberg Ga-laxy, Toronto/London 1962. [3] Nach dem Tode des russischen ZarsAlexander II. (1881) mußten Juden aus denöstlichen Teilen des Reiches massenweise vorden zunehmenden Pogromen flüchten.[4] Photographische Correspondenz 1864,S. 1–6.[5] Photographische Correspondenz 1894,S. 551.[6] Jahrbuch für Photographie und Repro-duktionstechnik 1891, S. 30–32.[7] Ein charakteristisches Beispiel ist abge-bildet und beschrieben in Rundbrief FotografieN.F.0, (1993), S. 3.[8] Munkácsy Mihály: Armsünderhaus, Ölauf Leinwand, 1869; direkt angekauft vomPark Museum Philadeplhia.

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