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Boris Gehlen Für Köln und "den billigsten Strompreis der Welt": Konrad Adenauer und die rheinische Elektrizitätswirtschaft 1932/33 1 1. Einleitung Konrad Adenauerist der Nachwelt nicht in erster Linie als Wirtschaftspolitiker in Erinnerung geblieben. Dies gilt für seine Zeit als Bundeskanzler, dies gilt ebenso für seine Zeit als Oberbürgermeister in Köln. 2 Doch fraglos war er sich der Bedeutung der Wirtschaft für ein funktionierendes Gemeinwesen bewusst. Gute Wirtschaftspolitik war für ihn die beste Sozialpolitik, Wirtschaft hatte in diesem Verständnis eine dienende Funktion für das Gemeinwohl. Nichts wäre verkehrter, als Adenauer ökonomischen Sachverstand abzusprechen , schließlich war er schon zu seiner Zeit als Stadtoberhaupt mit zahlreichen wirtschaftlichen Problemen sowie dem Aufbau und der Kontrolle städtischer Betriebe konfron- tiert. Er saß zudem in etlichen Aufsichtsräten und war mit der rheinisch-west- fälischen Industrie vernetzt 3 1 Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 28. September 2005 auf der Tagung " Die Kommunalpolit ik ist eine Schule auch für die große Politik. Konrad Adenauer als Kommun al- und Regionalpolitiker" des Land schaftsverb andes Rhe i nl and in Verbin- dung mit der Thomas-Morus-Akademie in Köln gehalten habe . Er beruht auf Recher- chen zu meiner Arbeit "Paul Silverberg (1876-1959) . Ein Unternehmer", die im Win- tersemester 2005/06 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich- Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation an genommen wurde. V gl. zur Oberbürgermeisterzeit vor allem die einschlägigen Passagen bei Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986 , Henning Köhler, Ade- nauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a.M. 1994 sowie Hugo Stehkämper (Hg .), Konrad Adenauer. Oberbü rgermeister von Köln. Festgabe der Stadt Köln zum I 00. Geburtstag ihres Eh renbürgers am 5. Janu ar 1976 , Köln 1976 . Zur Zeit entsteht unter der Herausgeberschaft von Günther Schulz eine kommentierte Quellenpublikation zu "Konrad Adenauer 1917 bis 1933 ", di e vorau ss ichtlich 2006 erscheint. 3 V gl. dazu und zur kritischen Würdigung von Adenauers Wirtschaftskompetenz Gün- ther Schulz, Adenauer in seinem Verh ältnis zu Wirtschaft und Gesellschaft, in: An selm Doering-Manteuffel!Hans-Peter Schwarz (Hg .), Adenauer und die deutsche Ge schich- te, Bonn 2001 , S. 63-80, hi er S. 64 f., 70 ff. Ges chi c ht e im We sten (GiW ) Jahr ga ng 20 (2005), S. 136 - 15 4. © Rhein · Eifel · Mo sel · Verlag, ISSN 09 30-3 286 . 136

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Boris Gehlen

Für Köln und "den billigsten Strompreis der Welt": Konrad Adenauer und die rheinische Elektrizitätswirtschaft 1932/33 1

1. Einleitung

Konrad Adenauerist der Nachwelt nicht in erster Linie als Wirtschaftspolitiker in Erinnerung geblieben. Dies gilt für seine Zeit als Bundeskanzler, dies gilt ebenso für seine Zeit als Oberbürgermeister in Köln.2 Doch fraglos war er sich der Bedeutung der Wirtschaft für ein funktionierendes Gemeinwesen bewusst. Gute Wirtschaftspolitik war für ihn die beste Sozialpolitik, Wirtschaft hatte in diesem Verständnis eine dienende Funktion für das Gemeinwohl. Nichts wäre verkehrter, als Adenauer ökonomischen Sachverstand abzusprechen, schließlich war er schon zu seiner Zeit als Stadtoberhaupt mit zahlreichen wirtschaftlichen Problemen sowie dem Aufbau und der Kontrolle städtischer Betriebe konfron­tiert. Er saß zudem in etlichen Aufsichtsräten und war mit der rheinisch-west­fälischen Industrie vernetzt 3

1 Der Beitrag geht auf einen Vortrag zurück, den ich am 28. September 2005 auf der Tagung "Die Kommunalpolit ik ist eine Schule auch für die große Politik. Konrad Adenauer als Kommunal- und Regionalpolitiker" des Landschaftsverbandes Rheinland in Verbin­dung mit der Thomas-Morus-Akademie in Köln gehalten habe. Er beruht auf Recher­chen zu meiner Arbeit "Paul Silverberg (1876-1959). Ein Unternehmer", die im Win­tersemester 2005/06 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich­Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen wurde. V gl. zur Oberbürgermeisterzeit vor allem die einschlägigen Passagen bei Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876-1952, Stuttgart 1986, Henning Köhler, Ade­nauer. Eine politische Biographie, Frankfurt a.M. 1994 sowie Hugo Stehkämper (Hg.), Konrad Adenauer. Oberbürgermeister von Köln . Festgabe der Stadt Köln zum I 00. Geburtstag ihres Ehrenbürgers am 5. Januar 1976, Köln 1976. Zur Zeit entsteht unter der Herausgeberschaft von Günther Schulz eine kommentierte Quellenpublikation zu "Konrad Adenauer 1917 bis 1933", die vorauss ichtlich 2006 erscheint.

3 V gl. dazu und zur kritischen Würdigung von Adenauers Wirtschaftskompetenz Gün­ther Schulz, Adenauer in seinem Verhältnis zu Wirtschaft und Gesellschaft, in: Anselm Doering-Manteuffel!Hans-Peter Schwarz (Hg.), Adenauer und die deutsche Geschich­te, Bonn 2001 , S. 63-80, hi er S. 64 f., 70 ff.

Geschichte im Westen (GiW ) Jahrgang 20 (2005), S. 136 - 154. © Rhein · Eifel · Mosel · Verlag, ISSN 0930-3 286 .

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Bereits zu seiner Kölner Zeit umfassten seine persönlichen Netzwerke so bedeutende Bankiers wie Louis Hagen, den inoffizieiien "Finanzberater" der Stadt, und Robert Pferdmenges, bis in die Bundesrepublik hinein wirtschaftlicher Berater des nachmaligen Bundeskanzlers.4 Seine Kontakte in die Finanzwelt reichten jedoch über Köln hinaus, so war er etwa Mitglied im Aufsichtsrat der Deutschen Bank. Doch nicht nur im Bankwesen verfügte er über kundige Ansprechpartner, sondern auch in Unternehmen der Elektroindustrie und der Elektrizitätswirtschaft. So tauschte er sich regelmäßig mit Johann Hamspohn von der AEG und Dannie N. Heineman, dem Präsidenten der Brüsseler Beteiligungsgeseiischaft "Societe Financiere de Transports et d'Enterprises Industrieiies" (Sofina) aus .5

Diese Gespräche gingen teils über das Stadium reiner wirtschaftlicher Bera­tung hinaus. So plante Adenauer mit Beineman Ende der 1920er Jahre, ein gemeinsames Unternehmen zur Elektrizitätsversorgung zu gründen. Dies miss­lang aber aus verschiedenen Gründen.6 Köln bezog auch danach weiterhin Elektrizität vom "Rheinischen Elektrizitätswerk im Braunkohlenrevier AG (REW)", einer

4 Zu Hagen vgl. Hermann Kellenbenz, Louis Hagen (1855-1932) insbesondere als Kammerpräsident, in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Band I 0, Mün­ster 1974, S. 138-195, Werner E. Mosse, Zwei Präsidenten der Kötner Industrie- und Handelskammer: Louis Hagen und Paul Silverberg, in: Jutta Bohnke-Kollwitz u.a. (Hg.), Köln und das rheinische Judentum. Festschrift Germania Judaica 1959-1984, Köln 1984, S. 308-340. Zu Pferdmenges siehe vor allem Christoph Silber-Bonz, Pferdmenges und Adenauer. Der politische Einfluss des Kötner Bankiers, Bonn 1997, der allerdings fast ausschließlich die Zeit nach 1945 zum Gegenstand hat.

5 V gl. dazu die knappe Skizze bei Volker Frielingsdorf, Konrad Adenauers Wirtschafts­politik als Kötner Oberbürgermeister (1917-1933), Basel 2002, S. 87-93.

6 Die Stadt wollte seit 1929 grundsätzlich ihre Versorgungswerke privatisieren, um frisches Kapital erhalten zu können. Hierbei sollte Heinernans Sofina behilflich sein, allerdings hatten die in der Sache interessierten Unternehmen RAG und Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG, Essen (RWE), gegen ein einseitiges Projekt Sofina-Köln gear­beitet und sich mit Heineman auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt. Da die Sofina zudem in anderen Städten (z .B. in Berlin) ähnliche Vorhaben realisierte, verfügte sie schließlich nicht über ausreichend Mittel, dies auch in Köln zu tun. Andere potentielle Kooperationspartner, um die Adenauer sich um die Jahreswende 1930/31 bemühte, konnten ebenfalls nicht genügend Kapital aufbringen. Der Oberbürgermeister wollte die städtischen Werke daraufhin ohne Partner privatisieren, um so neues Kapital er­halten zu können. Die Stadtverordneten beschlossen ein solches Vorhaben am II. Juli 1931 , doch der zwei Tage später folgende Bankenkrach verhinderte den Erfolg der Bestrebungen. V gl. dazu das Material im Historischen Archiv der Stadt Köln (HAStK) 902/219.

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Tochtergesellschaft der "Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlenberg­bau und Brikettfabrikation (RAG)". 7

Diese Verbindung wurde durch das freundschaftliche Verhältnis von Konrad Adenauer und Paul Silverberg abgesichert, der seit 1903 als Generaldirektor, ab 1926 als Aufsichtsratsvorsitzender der RAG die Unternehmenspolitik bestimmte. 8

Adenauer und Si1verberg waren Jahrgangsgenossen und ausgebildete Juristen, die sich spätestens am Kölner Oberlandesgericht, wahrscheinlicher jedoch bereits während des Studiums kennen gelernt hatten - Adenauer studierte wie Silverberg in München und Bonn sowie zudem in Freiburg.9

Der Braunkohlenindustrielle gehörte zu den einflussreichsten Unternehmern der Weimarer Republik. Er war - wie im übrigen Louis Hagen - einer jener "Netzwerkspezialisten", die über eine Vielzahl an Mandaten in Aufsichtsräten, Vereinen und Verbänden verfügten und daraus die spezifischen Vorteile zogen: lnformationsbeschaffung, Vertrauenszugewinn und Kontrollmöglichkeiten. 10

Silverberg engagierte sich als Kölner Unternehmer auch stark für die örtliche Wirtschaft, war seit 1918 Mitglied der Handelskammer bzw. der Industrie- und Handelskammer zu Köln, 1932/33 kurzzeitig ihr Präsident. Er beriet Adenauer bei den verschiedenen Projekten der Stadtentwicklung, war aber andererseits auch

7 Siehe zur Entwicklung der Unternehmen im größeren Kontext Arno Kleinebeckel , Unternehmen Braunkohle. Geschichte eines Rohstoffs , eines Reviers , einer Industrie im Rheinland, Köln 1986. Das REW ist nicht zu verwechseln mit dem RWE (Rhei­nisch-Westfälisches Elektrizitätswerk AG, Essen). Um Verwechslungen auszuschließen, werden im Folgenden nur die Abkürzungen RWE und RAG verwendet. Da die RAG gut 99 Prozent am REW hielt und es sich auch faktisch um ein Unternehmen handelte, ist dies gerechtfertigt.

8 Siehe zu Paul Silverberg bislang vor allem Franz Mariaux, Paul Silverberg. Reden und Schriften, Köln 195 l , Reinhard Neebe, Großindustrie, Staat und NSDAP 1930-1933. Paul Silverberg und der Reichsverband der Deutschen Industrie in der Krise der Weimarer Republik, Göttingen 1981, Hermann Kellenbenz, Paul Silverberg ( 1876-1959), in: Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsbiographien, Band 9, Münster 1967, S. I 03-132, Mosse (wie Anm. 4) .

9 Siehe auch Schwarz (wie Anm. 2) , S. 180. 10 V gl. dazu Martin Fiedler/Bernhard Lorentz, Kontinuitäten in den Netzwerkbeziehungen

der deutschen Wirtschaftselite zwischen Weltwirtschaftskrise und 1950. Eine quanti­tative und qualitative Analyse, in: Volker R. Berghahn/Stefan Unger/Dieter Ziegler (Hg.), Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert. Kontinuität und Mentalität, Essen 2003 , S. 51-74, hier vor allem S. 65 (Tabelle 5). - Silverberg saß 1931 in 61 Aufsichtsräten, darunter denen des RWE, der Demag, der Deutsche Reichsbahn Gesellschaft (Verwal­tungsrat), der Deutschen Bank, der Metallgesellschaft, von Siemens-Schuckert und der Vereinigten Stahlwerke. Er war seit 1930 stellvertretender Vorsitzender des Reichs­verbands der Deutschen Industrie und saß in den Vorständen des Deutschen Industrie­und Handelstages sowie der Vereinigung Deutscher Arbeitergeberverbände. Hinzu kamen zahlreiche Mandate in lokalen und regionalen Vereinigungen.

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einer der profihertesten Kritiker öffentlicher und damit auch kommunaler Ausgabenpolitik. Die öffentliche Verschuldung war fraglos eines der großen strukturellen Probleme der Weimarer Zeit.''

Vor diesem Hintergrund fällt auch die ökonomische Bilanz des Kölner Oberbürgermeisters Adenauer eher zwiespältig aus. Einerseits realisierte die Stadt unter seiner Führung zahlreiche und vor allem langfristig wirksame Infrastruk­turmaßnahmen - Niehler Hafen, Grüngürtel, Messe, Mülheimer Brücke, die Ansiedlung Fords -, andererseits war Köln in der Weltwirtschaftskrise seit 1929 erheblich ver-, ja teils überschuldet- ein Schicksal, das die Stadt aber mit vielen deutschen Kommunen teilte. 12

Das Spannungsverhältnis zwischen Adenauers Vorhaben, die Stadt zukunfts­fähig bzw. zur "Metropole des Westens" zu machen, und den geringen finan­ziellen Spielräumen zeigte sich auch 1932/33, als die rheinische Elektrizitäts­wirtschaft neu geordnet wurde. Die Rheinisch-Westfälische Elektrizitätswerke AG (RWE) übernahm die RAG.13

Diese "Fusion" 14 betraf auch die Interessen der Stadt Köln nachhaltig, und Konrad Adenauer kam in gewisser Hinsicht eine Schlüsselstellung zu, denn er saß sowohl im Aufsichtsrat der RAG als auch in dem des RWE. Sein Verhalten in den Verhandlungen um die Übernahme der RAG ist bislang noch nicht ein­gehend untersucht worden, erlaubt aber durchaus Rückschlüsse auf sein Verständ­nis von Wirtschaft.

11 Siehe dazu u.a. Harold James , Deutschland in der Weltwirtschaftskrise 1924-1936, Stuttgart 1988, S. 54-116.

12 Siehe zu den einzelnen Projekten der Stadtentwicklung Frielingsdorf (wie Anm. 5) . Zur wirtschaftlichen Situation der Stadt Köln und den städtischen Finanzen siehe u.a. Friedrich Zunkel , Die wirtschaftliche, soziale und finanzielle Entwicklung Kölns während der Weltwi rtschaftskrise, in: Geschichte in Köln (1985) , S. 35-75; Lothar Weiß , Rheinische Großstädte während der Weltwirtschaftskrise ( 1929-1933). Kommunale Finanz- und Sozialpolitik im Vergleich, Köln/Weimar/Wien 1999.

13 Vgl. zur Entwicklung des RWE Manfred Grieger, Das RWE in Wirtschaftskrise und NS-Diktatur 1930-1945, in: Dieter Schweer/Wolf Thieme (Hg.), RWE - ein Konzern wird transparent, Wiesbaden 1998, S. 117-140.

14 Es handelte sich im rechtlichen Sinne nicht um eine Fusion zwischen RAG und RWE, da die Selbständigkeit der RAG formal gewahrt blieb und sie durch Aktientausch und einen Interessegemeinschaftsvertrag mit der Roddergrube AG - einer RWE-Tochter -verbunden wurde. Da das RWE aber fortan beide Unternehmen faktisch kontrollierte, ist es durchaus gerechtfertigt, den gesamten Vorgang als "Fusion" zu bezeichnen - der Sache nach war es nichts anderes.

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2. Struktur und Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

Die großräumige Elektrizitätswirtschaft war in den frühen 1930er Jahren ein noch vergleichsweise junger Wirtschaftszweig. Im Zuge der Urbanisierung seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielte die Energieversorgung für die Städte zwar eine immer stärkere Rolle, doch es entstanden zunächst vor allem kleine Elektrizitätswerke, die meist für den lokalen Bedarf produzierten. Die großflächige Stromversorgung ist dagegen ein Phänomen des 20. Jahrhunderts. Im Rheinland waren das RWE und mit einigem Abstand die RAG die größten Elektrizitätsunternehmen. Sie verfolgten aber unterschiedliche Strategien, um sich im Markt zu etablieren. Dies hing auch mit den Spezifika des Produktes Strom zusammen: Strom war kein Produkt, das sich nur auf Grund des Preises im Markt etablieren ließ. Produktion und die Distribution bis zum Endverbrau­cher lagen nicht in einer Hand. Die Stromverteilung wurde gemeinhin von den Kommunen übernommen, die das Wegerecht zur Durchleitung von Elektrizität besaßen. Diese Konstellation führte zu einer engen und vertraglich geregelten Kooperation zwischen Stromanbietern und -konsumenten, die aber unterschied­liche Interessen verfolgten: die Unternehmen wollten Gewinne erzielen, die Städte interessierten sich für eine flächendeckende und kostengünstige Versorgung der Bevölkerung. 15

Die Versorgung mit Elektrizität war im Kaiserreich und in der Weimarer Republik allgemein eine umkämpfte Angelegenheit mit unterschiedlichen Interessenlagen. Wie bei allen Infrastrukturfragen trafen letztlich "kollektive" und "individuelle" Interessen aufeinander, die sich teils wiederum bedingten. Die Versorgung jedes Einzelnen mit elektrischer Energie konnte nicht wirtschaftlich rentabel erfolgen. Die Stromversorgung weitläufiger ländlicher und bevölkerungsarmer Gebiete war für die Anbieter deshalb nicht rentabel, weil dem vergleichsweise kosteninten­siven Aufbau des Versorgungsnetzes nicht genügend Abnehmer gegenüberstan­den. Der Anbieter hätte unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten dem Nach­frager die Versorgungsleistung nur zu einem Preis bereitstellen können, der um

15 Das Wegerecht, nach dem jede Nutzung von öffentlichem Grund, wie sie beim Trans­port von Elektrizität notwendigerweise vorkommt, vom Eigentümer, d.h. der Kommu­ne, genehmigt werden musste, bot den Ansatzpunkt, die "Elektrizitätsfrage" zu poli­tisieren und kommunale Interessen - i.e. im besonderen die Versorgung der eigenen Bevölkerung- durchzusetzen. Vgl. Bernhard Stier, Staat und Strom. Die politische Steuerung des Elektrizitätssystems in Deutschland 1890-1950, Ubstadt-Weiher 1999, S. 59. Allgemein zur Entwicklung der Elektrizitätswirtschaft siehe ebd .

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ein Vielfaches höher lag als der Preis in Gebieten mit großer Nachfrage. Aus der individuellen Perspektive machte es folglich weder für den Anbieter Sinn, strukturschwache Gebiete zu versorgen, noch für den Nachfrager in solchen Räumen, da der Marktpreis zu hoch für sein Haushaltsbudget war. Zur Lösung des Problems gab es letztlich drei Ansätze. Zum ersten den rein privatwirtschaftliehen Ansatz, die Elektrizitätsversorgung rentabel zu gestalten, der allerdings zu Versorgungs­lücken in strukturschwachen Gebieten einerseits und zu scharfem Wettbewerb in strukturstarken Gebieten inklusive des Aufbaus von Mehrfachnetzen anderer­seits geführt hätte, der aus der volkswirtschaftlichen Perspektive erhebliche Fehlinvestitionen gezeitigt hätte. Zum zweiten einen versorgungsorientierten Ansatz, der zum Zwecke der flächendeckenden Elektrizitätsversorgung dem Prinzip der Wirtschaftlichkeit nicht die höchste Priorität beimessen konnte. Zum dritten einen "gemischten Ansatz", der die beiden anderen Ansätze- privates Unternehmertum und öffentliches Interesse - miteinander verband und in Deutschland in den verschiedensten Ausprägungen im Wesentlichen bis heute fortbesteht - trotz der Liberalisierung des Strommarktes im Jahr I 998. 16

Silverberg und die RAG bevorzugten den privatwirtschaftliehen Ansatz, während das RWE den gemischten, verbundwirtschaftliehen Ansatz verfolgte, seitdem Hugo Stinnes die Führung des Unternehmens übernommen hatte. Sein - vorgebliches - Ziel war es gewesen, das Unternehmen planmäßig zu vergrößern, um durch die neu hinzukommenden Kapazitäten Rationalisierungseffekte zu erreichen, die später über niedrigere Preise den Verbrauchern im Einflussbereich zugute kom­men sollten. Diese Strategie kommt in Stinnes' Ausspruch zum Vorschein, "auch der letzte Kätner im Bergischen Land soll Licht in seiner Wohnung haben -durch möglichst billigen Strom." 17 Dahinter steckte freilich kein sozialpoliti­scher Ansatz, sondern ein privatwirtschaftlicher. "Möglichst billiger Strom" hieß nicht Abgabe zum Selbstkostenpreis, sondern Stromlieferung zum billigsten Preis, den das RWE nach Abschöpfung ausreichender Gewinne festlegte. Um möglichst frei agieren und sich ausreichende Gewinne sichern zu können, war es aus strategischer Sicht nötig, ein Monopol anzustreben und Wettbewerber aus dem Markt zu drängen. Aber Monopole gewähren gemeinhin nicht den billigsten Preis.

16 Ebd., S. 16-20. V gl. auch Gerold Ambrosius, Der Staat als Unternehmer. Öffentliche Wirtschaft und Kapitalismus seit dem 19. Jahrhundert, Göttingen 1984, S. 71 ff.

17 Zitiert nach Hans Pohl, Vom Stadtwerk zum Elektrizitätsgroßunternehmen. Gründung, Aufbau und Ausbau der "Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerk AG" (RWE) 1898-1918, Stuttgart 1992, S. 16. - Zu Hugo Stinnes siehe insbesondere Gerald D. Feldman, Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870-1924, München 1998.

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Die Unternehmensstrategie folgte demnach dem Prinzip der "Economies of Scale". 18 Dies erforderte aber von vornherein eine aggressive Expansionsstra­tegie: je größer das Versorgungs gebiet, desto niedriger die Preise. Das RWE sicherte sich Monopole für die Versorgung von Gebietskörperschaften und gewährte im Gegenzug den kommunalen Vertretern eine Beteiligung am Unternehmen und Mitspracherechte im Aufsichtsrat. Das RWE war ein verbundwirtschaftlich­gemischtwirtschaftliches Versorgungs unternehmen. 19

Bis zum Ende der 1920er Jahre versorgte das RWE bis auf wenige Ausnahmen das gesamte Rheinland. Vor allem der Kreis Bergheim und die Stadt Köln stellten aber weiße Flecken im Versorgungsgebiet des Unternehmens dar. Beide Kom­munen wurden von der RAG beliefert, die gegenüber dem Essener Konzern einen gewichtigen Vorteil hatte: das Unternehmen konnte Strom zu weit niedrigeren Preisen abgeben, als das RWE dies tat. Dies hatte zwei Gründe:

1. Die RAG produzierte Strom ausschließlich aus Braunkohle, dem damals effizientesten Rohstoff für die Herstellung von Strom in Deutschland. Das RWE nutzte dagegen unterschiedliche Energiequellen: v.a. Steinkohle, aber auch Braunkohle und Wasserkraft. Dies verteuerte die Produktion. So war etwa die Stromherstellung auf Braunkohlenbasis ein Drittel preiswerter als auf Steinkoh­lenbasis. 20

18 Unternehmen mit hohen Fixkosten müssen daran interessiert sein, diese Fixkosten auf möglichst viele produzierte Einheiten zu verteilen, so dass die Stückkosten geringer werden. Solche Skalenerträge (Economies of Scale) werden durch höhere Gesamt­produktionsmengen erzielt, insbesondere bei Produkten des Massenbedarfs. V gl. Al­fred D. Chandler, Scale and Scope. The Dynamics of Industrial Capitalism, Cambridge/ London 1990, S. 17.

19 Feldman (wie Anm. 17), S. 44 f., 119; Stier (wie Anm. 15), S. 30 I ff. Die Kommunen hielten seit der Kapitalerhöhung 1920 sogar die Mehrheit am RWE. Camillo 1. Asriel , Das R.W.E. Rheinisch-Westfälisches Elektrizitätswerk A.-G. Essen a.d . Ruhr. Ein Beitrag zur Erforschung der modernen Elektrizitätswirtschaft, Zürich 1930, S. 170.

20 Die Kostenvorteile der Braunkohlenverstromung resultierten aus den günstigen Abbau­verhältnissen. Braunkohle wurde anders als Steinkohle nicht unter Tage, sondern im Tagebau gefördert. Vgl. Ernst Storm, Geschichte der deutschen Kohlenwirtschaft von 1913-1926, Berlin o.J. (1926), S. 58 f. , 177 ff.

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2. Die RAG belieferte nur nahe liegende Kommunen und musste keine zusätzlichen Kosten für die Stromfernübertragung aufwenden wie das RWE.21

Unter anderem hatten diese Kostenvorteile die RAG und die Stadt Köln zusammengeführt. Sie hatten 1910 einen dreißigjährigen Vertrag über Strom­lieferungen abgeschlossen, der 1912 - nach dem Aufbau des entsprechenden Kraftwerks Fortuna auf dem gleichnamigen Kohlenfeld bei Bergheim - in Kraft trat.22 Die Stadt beteiligte sich am Aktienkapital der RAG und erhielt einen Sitz im Aufsichtsrat des Unternehmens, den zunächst Oberbürgermeister Wallraf und ab 1917 dessen Nachfolger, Konrad Adenauer, inne hatte. Wohl durch seine Funktion als Vorsitzender des Provinzialausschusses der Rheinprovinz saß Ade­nauer zudem im Aufsichtsrat des RWE. Er kannte beide Unternehmen und ihre "Innenleben" daher gut.

Das RWE hatte sich vor 1910 ebenfalls bemüht, Köln mit Strom zu versorgen, musste jedoch anerkennen, dass die RAG mit der günstigen Produktionsbasis und dem langfristigen Köln-Engagement eine Stellung in der rheinischen Elektri­zitätswirtschaft innehatte, die auf lange Sicht nicht zu erschüttern war.23 Daher kooperierten RWE und RAG seit dem Ende des Ersten Weltkriegs in allen energiepolitischen Fragen. Ihr Hauptaugenmerk richtete sich darauf, den Ein­fluss des Staates auf die Energiewirtschaft zurückzudrängen. So hatte Silverberg gemeinsam mit Hugo Stinnes die Sozialisierung von Bergbau und Elektrizitäts­wirtschaft erfolgreich bekämpft. 24 Und Silverberg vermittelte 1926/27 im Interesse des RWE als es darum ging, den preußischen Anteil an der Braunkohlen Industrie

21 Silverberg hatte 1916 in einem Strategiememorandum festgelegt, dass die Zukunft der RAG nicht in der Versorgung von Kommunen, sondern von Industrieunternehmen -vorwiegend aus der Elektrochemie und der Elektrometallurgie - liegen sollte. Kom­munen verfügten über einen elastischen Elektrizitätsbedarf, für den immer auch Reserve­kapazitäten bereit zu stellen waren, wohingegen die Unternehmen einen vergleichswei­se starren Bedarf hatten. V gl. Paul Silverberg: Die Weiterentwicklung der Rheinischen Aktiengesellschaft für Braunkohlenbergbau und Brikettfabrikation. Memorandum vom 12. Juli 1916 (Typoskript), S. 7 f., enthalten in: Unterlagen über Versammlungen und Reden 1916-1933, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv (ehemals: Zentralarchiv der Rheinbraun) 210/101.

22 Vertrag vom 3. Juni 1910, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 2101143. 23 Vgl. Feldman (wie Anm. 17), S. 283. 24 "Ich denke heute noch bei jeder Gelegenheit immer mit höchster Verehrung an Hugo

Stinnes. Was uns zusammengebracht hat, war Kampf. Nach dem ersten Kriege setzte der Kampf ein, sonst- meine Herren- wären wir damals schon in englische Wirtschafts­zustände gekommen, wenn wir nicht beim Projekt- Bergbau- bis auf's Messer gekämpft hätten. [ ... ] Ich habe zwei Höhepunkte in meinem Leben gehabt: Freiheit des Bergbaus und Freiheit der Schlüsselindustrien." Ansprache Silverbergs aus Anlass der Ehrungen zu seinem 75. Geburtstag, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/201. -Als zweiten Höhepunkt bezeichnete er die Reorganisation der Bank für deutsche Industrie­obligationen.

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AG "Zukunft" (BlAG) zu erwerben, der schließlich im Jahr 1927 im Tausch gegen die RWE-Anteile an der Braunschweigischen Kohlenbergwerke AG an den Essener Konzern überging. 25

Auch die Beziehungen zwischen der Stadt Köln und der RAG waren im Großen und Ganzen kooperativ. Nur die Verhandlungen über die Anpassung der Strom­preise führten vereinzelt zu Differenzen, und Silverberg sah sich mitunter genötigt, den weitgehenden Wünschen Adenauers mit dem Hinweis entgegenzutreten, dass "die Stadt nicht nur den billigsten Strompreis in Rheinland und Westfalen, sondern der Welt" zahle.26

Nachhaltige Störungen des Verhältnisses gab es nur in der Weltwirtschafts­krise, als die Stadt Köln und ihr Oberbürgermeister unter anderem versuchten, eine weitere Reduktion der Strompreise zu erreichen. Trotz der nachweislich schwachen Verhandlungsposition, die aus der Überschuldung der Stadt resultier­te, drängte sie auf ein Entgegenkommen der RAG, ohne auf deren Wünsche eingehen zu wollen. Ein interner Kommentar der RAG aus dem November 1931 mag die Differenzen, aber auch die Zwangslage der Stadt verdeutlichen:

"Das sind wirklich schon wild-westliche Methoden. Ich hatte den Kollegen schon gesagt, dass wir nach meiner Meinung so oder so damit rechnen müssten, dass die Stadt uns im Laufe dieses Winters nicht mehr oder nicht mehr voll bezahlen kann und dass Herr A.[denauer] sich wahrscheinlich beizeiten große fiktive Gegenforderungen schaffen werde, um aufrechnen zu können. Dass er das in dieser abrupten Form und unter Verleugnung und Beiseiteschiebung alles dessen, was bisher zwischen seinen Leuten und uns verhandelt und mehr oder minder schon festgelegt worden ist, tut, ist doch ein starkes Stück und es schmeckt wirklich etwas nach Wild-West. Er fühlt sich offenbar in so verzweifelter Lage, dass er ohne jede Skrupel alles überstürzt, um sich zweifelhafte Rechtstitel zu verschaf­fen, auch uns nicht mehr zu bezahlen ... 27

Adenauers Verhalten ist durchaus kennzeichnend für sein funktionales Verständnis von Wirtschaft: Im Zweifel sollte ein Unternehmen vom marktwirtschaftliehen Gewinnprinzip abweichen, um einem höheren Ziel zu dienen - hier: der (so­zialen) Funktionsfähigkeit der Stadt Köln.

25 V gl. Stier (wie Anm. 15), S. 300 ff., 320 ff., der allerdings Silverbergs Vermittlerrolle nicht thematisiert. Silverberg stimmte sich im übrigen in dieser Frage eng mit Adenauer ab. Siehe dazu Silverberg an Adenauer vom 4. Februar 1926, HAStK 902/108, BI. 545 ff.; Silverberg an Schreiber (Preußischer Handelsminister) vom 13 . Februar 1926 (Abschrift), HAStK 902/108, BI. 557 ff.

26 Si1verberg an Adenauer vom 2. Januar 1920, HAStK 902/227/1 , BI. 43-49. 27 Brecht an Silverberg vom 20. November 1931, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentral­

archiv 220/143. Gustav Brecht ( 1880-1965) war von 1925 bis 1945 im Vorstand der RAG, seit 1926 als Generaldirektor. V gl. dazu vor allem Gustav Brecht, Erinnerungen. Privatdruck, München o.J.

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Trotz dieser teils heftigen Auseinandersetzungen war für die Stadt die Ver­bindung mit der RAG grundsätzlich günstig. Dies zeigten auch die Vorgänge der Jahreswende 1932/33. Das RWE hatte aufverschlungenen und zumindest moralisch fragwürdigen Wegen die Option erhalten, die Aktienmehrheit der RAG zu übernehmen. Die RAG war seinerzeit wohl das rentabelste deutsche Großunter­nehmen28 , verfügte über enorme Rohstoffressourcen und liquide Mittel in Höhe von 30 Millionen RM, passte aber vor allem vorzüglich in die Strategie des RWE. Zudem war die Konstellation so, dass das RWE effektiv keine Mittel aufbringen musste, um die RAG zu übernehmen, sondern die Aktienpakete mit den Ver­mögenswerten der RAG selbst bezahlen konnte. Das Unternehmen von Paul Silverberg finanzierte somit faktisch die eigene Übernahme. 29

Das RWE hatte die Optionen auf die Aktienpakete der RAG-Großaktionäre Friedrich Flick und Fritz Thyssen Ende 1932 erhalten, die Unternehmen infor­mierten die Öffentlichkeit am 31. Dezember 1932 und am 3. Januar 1933. Die Übernahme der RAG durch das RWE war damit aber noch nicht besiegelt. Die Protagonisten versuchten hinter den Kulissen, eine Lösung im jeweils eigenen Interesse durchzusetzen: Silverberg wollte die Selbstständigkeit der RAG erhal­ten, Albert Vögler, der Aufsichtsratsvorsitzende des RWE, war an einer gütlichen Einigung über eine Fusion interessiert, und Friedrich Flicks Interesse richtete sich auf die Beteiligung der RAG an der Harpener Bergbau AG - dem größten selbstständigen deutschen Steinkohlenunternehmen.

Bis Mitte Februar 1933 einigten sich die maßgeblichen Akteure in wechsel­vollen Verhandlungen insofern, als die Übernahme der RAG durch das RWE grundsätzlich feststand. Danach ging es um die Details des Fusionsvertrages, den die RAG aber nicht mit dem RWE, sondern mit der Roddergrube AG abschließen sollte. Die Roddergrube war das zweite Großunternehmen im rheinischen Braun­kohlenberghau und im Mehrheitsbesitz des RWE. 30

28 RAG-Lagebericht (Brecht). Zusammenfassende Darstellung zur Lage der RAG 1932/ 33 , RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/713 , S. 4. - Die RAG erwirtschaftete demnach auch in der Wirtschaftskrise beständig Gewinne und zahlte den Aktionären jährlich zehn Prozent Dividende.

29 V gl. bislang zu den Vorgängen RAG-Lagebericht (Brecht). Zusammenfassende Darstel­lung zur Lage der RAG 1932/33, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/713 , Neebe (wie Anm. 8), S. 189 ff. ; Günther Ogger, Friedrich Flick der Große, Bern/München 1971 , S. 122-126, Franz Mariaux, Gedenkwort zum hundertjährigen Bestehen der Harpener Bergbau-Aktien-Gesellschaft, Dortmund 1956, S. 373-381. - Weil RAG und RWE bis dahin eng miteinander kooperiert hatten, wurde der Vorgang in der zeitge­nössischen Presse als "Überfreundung" bezeichnet. V gl. etwa "Um Braunkohle, Strom und Geld", in: Frankfurter Zeitung o.Nr. , o.D. (18 ., 19. oder 20. Januar 1933), ent­halten in: Roddergrube AG - Zeitungsausschnitte, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentral­archiv 310/920.

30 Zur Geschichte der Roddergrube siehe Kleinebeckel (wie Anm. 7) , u.a. S. 135, 145 ff., zur Beteiligung des RWE siehe auch Feldman (wie Anm . 17), S. 639 f.

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3. Adenauer und die Fusionsverhandlungen

Konrad Adenauer opponierte seit Bekanntwerden des Vorhabens gegen die Übernahme der RAG. Er tat dies nicht aus alter Verbundenheit zu Silverberg, sondern im wohlverstandenen Eigeninteresse bzw. im Interesse Kölns. Die Stadt hatte neben ihren reinen Interessen als Aktionär zwei weitere Beweggründe, die Fusion mit großer Skepsis zu betrachten - einen fiskalischen und einen stand­ortpolitischen.

1. Der Stromliefervertrag mit der RAG sicherte der Stadt stets günstigere Stromkonditionen, als das RWE bieten konnte. Er lief zwar auch im Falle einer Fusion der Unternehmen noch bis 1942, doch war abzusehen, dass die Stadt danach einen relativ höheren Strompreis zahlen musste, nämlich den nivellierten RWE­Strompreis. Mit Blick auf das ohnehin instabile Budget der Stadt war dies langfristig ein Problem, das keineswegs zu vernachlässigen war.

2. Die Hauptverwaltung der RAG hatte ihren Sitz in Köln, das RWE saß in Essen. Mittelbar schien es möglich, dass die Verwaltung in Köln aufgegeben, weniger Bauaufträge an Kölner Unternehmen vergeben und weniger KölnerBanken an der Unternehmensfinanzierung beteiligt wurden.31

Die Stadt musste also fürchten, mittelfristig nicht mehr "den billigsten Strom­preis der Welt" zu erhalten sowie Arbeitsplätze und Investitionen zu verlieren. Es lag daher im elementaren Interesse der hochverschuldeten Kommune darauf zu achten, dass sie zumindest die für sie bestmöglichen ökonomischen Kondi­tionen aushandelte, wenn es ihr schon nicht gelingen sollte, die Transaktion insgesamt noch zu verhindern.

Adenauer entwickelte daher eine rührige Oppositionstätigkeit, als feststand, dass sich der Vorstand der RAG den veränderten Mehrheitsverhältnissen stellte und mit dem RWE in Verhandlungen über die künftige Zusammenarbeit eintrat. Dies war seit der wegweisenden Aufsichtsratssitzung der RAG vom 14. Januar 1933 der Fall. Diese Sitzung war in äußerst angespannter Atmosphäre verlaufen. Es kam gar zu persönlichen Anfeindungen zwischen einer Gruppe um Silverberg und Adenauer einerseits und dem Triumvirat Flick, Thyssen und Vögler ande­rerseits, in deren Folge Albert Vögler sein Mandat im Aufsichtsrat der RAG erbost niederlegte. Dies lag in erster Linie an der Verhandlungsführung Adenauers, wie die Berliner Börsenberichte vermeldeten:

"In der Hauptsache Oberbürgermeister Adenauer, der sich in ganz Deutschland durch [ .. . ] die Finanzgebarung der Stadt Köln, die ja erst vor kurzem zur Nichteinlösung von Schatzanweisungen führte, einen Namen gemacht hat, rich-

31 Ygl. dazu den Forderungskatalog der Stadt: Aktennotiz o.Y. , o.D., HAStK 902/227/ 2, BI. 385 sowie Aktennotiz vom 3. März 1933, HAStK 902/219, BI. 569 f.

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Für Köln und "den billigsten Strompreis der Welt"

tete schärfste Angriffe gegen die Mitglieder der R.W.E.-Verwaltung, die er beschuldigte, durch den Kauf der Rheinischen Braunkohlen-Aktien , sozialisti­sche' Ideen gefördert zu haben." 32

In der Tat war Adenauers Verhalten nicht ganz unproblematisch, ganz abge­sehen davon, dass er aufgrund der im Bericht genannten "Finanzgebarung" nicht über den besten Leumund in wirtschaftlichen Fragen verfügte. Der Vorwurf, das RWE fördere sozialistische Ideen, war der Sache nach absurd. Das wusste auch Adenauer nur zu genau, denn das RWE war zwar mehrheitlich in staatlichem bzw. kommunalem Besitz, doch es wurde nach privatwirtschaftliehen Grund­sätzen geführt. 33

Adenauer ging es mit seinem Angriff offenbar darum, die Debatte zu emo­tionalisieren, indem er sich gegen Staatsinterventionismus und Monopolbildung wandte und zugleich der freien Marktwirtschaft das Wort redete. So führte er unter anderem auf der Aufsichtsratssitzung am 8. März 1933 aus : "Zwei Teile sind immer besser als ein Teil, auch wenn die beiden Teile gleichwertig sind oder einer besser als der andere ist. "34

Seine Parteinahme für die RAG entsprach aber keineswegs den Konventionen. Es hätte den - freilich ungeschriebenen - Regeln für Aufsichtsratsmitglieder entsprochen, wenn er neutral geblieben wäre, da er in den Aufsichtsräten beider Unternehmen saß. Die zeitgenössische Auffassung war so, dass ein Aufsichts­ratsmitglied stets die Interessen des Unternehmens vertreten sollte, dessen Gremium es angehörte.35 Adenauer aber stellte sich explizit gegen die Interessen des RWE.

32 Vgl. "Schwere Differenzen", in: Berliner Börsen-Berichte (o . Nr.) vom 17. Januar 1933, enthalten in: Roddergrube AG - Zeitungsausschnitte, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 310/920. V gl. auch Adenauer an Pferdmenges vom 16. Januar 1933, HAStK 9021159, BI. 71 f. , der euphemistisch mitteilte, dass Vögler, Thyssen und Flick von seinen Ausführungen "weniger erbaut" gewesen seien.

33 "Das größte gemischtwirtschaftliche Unternehmen der Welt, das Rheinisch-Westfäli­sche Elektrizitätswerk, ist nach der Besitzerseite sozialistisch, nach der Führungsseite kapitalistisch." Paul Silverberg, Unternehmertum und Kapitalismus ( 1928), in : Mariaux, Silverberg (wie Anm. 8) , S. 105 f., hier S. 106.

34 Stenographische Niederschrift der 119. Aufsichtsratsitzung der RAG vom 8. März 1933, S. 22. RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/102 .

35 V gl. exemplarisch die Ausführungen Silverbergs auf der 2. Sitzung des Aktienrecht­sauschusses des vorläufigen Reichswirtschaftsrates vom 22. September 1932, in : Werner Schubert/Peter Hammelhoff (Hg.) , Die Aktienrechtsreform am Ende der Weimarer Republik. Die Protokolle der Verhandlungen im Aktienrechtsausschuss des Vorläufigen Reichswirtschafsrats unter dem Vorsitz von Max von Hachenburg, Berlin/New York 1986, S. 161-215, S. 208: "Ich habe für Gesellschaften [ ... ] nie anerkannt, dass ir­gendein Aufsichtsratsmitglied die Interessen einer anderen Gesellschaft bei der Gesell­schaft zu vertreten hätte . Ich habe nie anerkannt, dass ein Bankdirektor als Aufsichts­ratsmitglied in einer Gesellschaft die Interessen seiner Bank zu vertreten hätte."

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Sein Regelverstoß war aber zumindest nachvollziehbar, denn er befürchtete insbesondere, dass es auf Dauer kaum möglich sei, die Substanz der RAG- immerhin das rentabelste deutsche Großunternehmen der Zeit- zu erhalten. Adenauer monierte auch mit Blick auf die städtischen Einnahmen, dass durch den Fusionsvertrag "die durch den Besitz der Rheinischen Braunkohle, durch ihre sparsame und solide Wirtschaft für viele Jahrezehnte sicher fundierten Gewinnaussichten der Aktio­näre [und damit der Stadt Köln, BG] geradezu verschleudert werden."36 Er war entschlossen, nach Maßgabe seiner Möglichkeiten gegen den Vertrag vorzugehen und warf insbesondere die aktienrechtliche Frage auf, ob ein solcher Vertrag überhaupt mit einfacher Mehrheit geschlossen werden könne und "inwieweit die an dem Abschluss eines solchen Vertrages direkt interessierten Aufsichtsratsmit­glieder teilnehmen und abstimmen dürfen" - gemeint waren die Aktionäre RWE, Thyssen und FlickY

Hierzu holte er den Rat seines Bruders, Justizrat Dr. August Adenauer, ein, der diese und weitere aktienrechtliche Fragen der Transaktion prüfte. Seine Ergebnisse bargen einigen Sprengstoff in sich. Die Rechtslage war keineswegs eindeutig. August Adenauer war der Meinung, dass der Vertrag den Gesellschafts­zweck der RAG ändere und daher eine %-Mehrheit erfordere, über die das RWE nicht verfügte. Ebenfalls bezweifelte August Adenauer, dass ein Aktionär stimm­berechtigt sei, der - wie das RWE - formal nur mittelbar, der Sache nach aber unmittelbar an dem Rechtsgeschäft beteiligt war. Er schlussfolgerte daraus, dass die RWE-Stimmen nicht gültig seien, wenn die Generalversammlung über den Vertrag abstimmte. 38

36 Adenaueranden Vorstand der RAG vom 16. Januar 1933, HAStK 902/227/2, BI. 325-331.

37 Ebd. 38 August an Konrad Adenauer vom 24. Januar 1933, HAStK 902/219, BI. 271 ff. sowie

die Anlage zum Schreiben, HAStK 902/219, BI. 275-281. In der Frage des Stimm­verbots kamen die Gutachter für die RAG, Flechtheim und Friedländer, zu einem ähnlichen Ergebnis. Eine zweifelsfreie Beurteilung der Frage sei nicht möglich. Eine Veränderung des Gesellschaftszwecks verneinten sie dagegen. Stenographische Nieder­schrift der 119. Aufsichtsratsitzung der RAG vom 8. März 1933, S. 7 f. RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 21 Oll 02 . V gl. auch Rechtsgutachten zum Garantievertrag 1933, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/140. Zu den rechtlichen Risiken und ihren möglichen Folgen siehe RAG-Lagebericht (Brecht). Zusammenfassende Darstellung zur Lage der RAG 1932/33, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/ 713, S. 8 f.

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Für Köln und "den billigsten Strompreis der Welt"

Konrad Adenauer begnügte sich nicht mit juristischen Fragen, sondern ver­suchte auch, einflussreiche RAG-Aufsichtsräte für seine Opposition zu gewin­nen. Ziel war dabei unter anderem, Silverbergs Haltung zu beeinflussen, der die Transaktion persönlich zwar ablehnte, aber bis dahin im Einklang mit den geltenden Konventionen nur moderierend eingegriffen hatte. Obwohl sein Lebenswerk auf dem Spiel stand, konnte er sich nicht entschließen, offen gegen das RWE-Vorhaben zu opponieren: Da er dort selbst stellvertretender Aufsichts­rats vorsitzender war, verhielt er sich sowohl im Aufsichtsrat des RWE als auch dem der RAG neutraJ.39

Adenauer bat Oscar Wassermann, den Vorstandssprecher der Deutschen Bank, um Vermittlung, da er wusste, wie viel Wert Silverberg gerade auf dessen Urteil legte. Er führte aus, dass man alles tun müsse, um den schwankenden Silverberg "in seinem Kampfe und Widerstande zu bestärken". Falls er sich kampflos füge, sei er bei der momentanen Lage auch in Köln - als Präsident der IHK - kaum zu halten.40 Wassermann antwortete Adenauer nach einer Unterredung mit Silverberg, dass dieser nun wisse, was er persönlich zu tun habe. Silverberg könne die Transaktion des RWE "unter keinen Umständen" mitmachen und werde die persönlichen Konsequenzen ziehen.41

Adenauer konnte ebenfalls Robert Pferdmenges zumindest informell für seine Opposition gewinnen.42 Doch an den klaren Mehrheitsverhältnissen war nicht zu rütteln. Weder das RWE noch Flick ließen sich von ihrem Weg abbringen. Dies wussten auch die freien Aktionäre und an ihrer Spitze Konrad Adenauer. Ihre Taktik war daher nicht auf Fundamentalopposition ausgerichtet. Ein solches Vorgehen war angesichts der Mehrheitsverhältnisse auch nicht ratsam. Wenn der Vertrag als solcher schon nicht verhindert werden konnte - dies war weiterhin der primäre Wunsch der Opposition-, dann sollte er doch für die freien Aktionäre günstiger gestaltet werden. Hierzu war zweierlei erforderlich: zum ersten musste die Vielzahl der freien Aktionäre möglichst mit einer Stimme sprechen, d.h. ihre Interessen mussten abgestimmt werden. Zum zweiten mussten die Verbesserungs­forderungen substantiell und argumentativ unterfüttert werden. Zur Abstimmung der Interessen bildete sich eine "Schutzvereinigung freier Rheinbraunaktionäre",

39 Vgl. exemplarisch Brecht (wie Anm. 26), S. 46 f.: "Silverberg hielt sich bei den Abschlussverhandlungen betont zurück - schließlich hatte er im AR des RWE für den Erwerb der Rheinbraunaktien mitgestimmt - , war aber im Herzen bei der Opposition (die im AR von Adenauer geführt wurde) ." (Hervorhebung im Original, dort gesperrt.)

40 Adenauer an Wassermann vom 14. Februar 1933, HAStK 902/159 , BI. 73 f. 41 Wassermann an Adenauer vom 17. Februar 1933, HAStK 902/219 , BI. 293 ff. Zu

Wassermann siehe Avraham Barkai, Oscar Wassermann und die Deutsche Bank. Ban­kier in schwieriger Zeit, München 2005.

42 V gl. Adenauer an Pferdmenges vom 16. Januar 1933, HAStK 902/159 , BI. 71 f.

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die am Tage der wegweisenden Sitzung des Aufsichtsratsausschusses, dem 23. Februar, über die Presse alle freien Aktionäre aufforderte, ihre Interessen durch die Schutzvereinigung kostenlos vertreten zu lassen. Der Aufruf war unterzeich­net von Franz Proenen, Vizepräsident der IHK Köln, Dr. Knott, Rechtsanwalt am Oberlandesgericht und Justizrat August Adenauer.43 Dahinter stand jedoch zweifelsohne Konrad Adenauer, der von der Kölner Stadtverwaltung auch das Material zusammenstellen ließ, mit dem die Forderungen unterfüttert werden sollten. Er ließ- neben den genannten rechtlichen Gutachten- zum einen Expertisen anfertigen, die die seinerzeitige und künftige Ertragslage von RAG und RWE analysierten44 und er stellte zum anderen einen Forderungskatalog auf, der die Interessen der Stadt Köln festhielt Dieser sah etwa vor, dass die RAG ihren Sitz in Köln und ihre Selbstständigkeit behalten sollte, und dass sie insbesondere Aufträge im Kölner Wirtschaftsgebiet vergeben und mit Kölner Kreditinstituten kooperieren sollte. Hieran sollte auch eine etwaige vollkommene Fusion mit dem RWE bzw. der Roddergrube nichts ändern. Zudem verlangte die Stadt Köln einen Sitz im Aufsichtsrat von RWE und Roddergrube.45

Die wirtschaftlichen Expertisen ließen den Schluss zu, dass das vorliegende Vertragsangebot für die bisherigen RAG-Aktionäre nicht günstig war. Die RAG­Aktien sollten mit 200 Prozent bzw. dem Anderthalbfachen der RWE-Aktie bewertet werden46

, doch Ertragslage und Ertragsfähigkeit der Unternehmen ließen - in den Augen der Stadtverwaltung - Bewertungen von 250 Prozent bzw. zwei zu eins gerechtfertigt erscheinen.47 Die Bewertung von zwei zu eins konnte die Opposition schließlich auch durchsetzen. Ebenso verblieb der Sitz der RAG in

43 Der Aufruf war z.B. abgedruckt in der Frankfurter Zeitung Nr. 144/145 vom 23. Februar 1933, enthalten in : Roddergrube AG - Zeitungsausschnitte, RWE-Power, Abt. PFM­IB Zentralarchiv 310/920.

44 Vgl. Aktennotiz "Der Mammutbetrieb des R.W.E." vom 31. Januar 1933, HAStK 902/ 219, BI. 325-333; Aktennotiz "RWE-Rheinbraunkohle", o.D., HAStK 902/219, BI. 393-399.

45 Vgl. Aktennotiz o.V., o.D., HAStK 902/227/2, BI. 385 sowie Aktennotiz vom 3. März 1933, HAStK 902/219, BI. 569 f.

46 Dividenden-Garantievertrag zwischen Rheinbraun und Roddergrube/RWE. Unterlagen zu den Ausführungen von Brecht in der außerordentlichen Generalversammlung der RAG am 31. März 1933, S. 8, enthalten in: Unterlagen über die Entwicklung des Kaufs von Harpener Aktien 1924-1933, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/041.

47 Aktennotiz vom 3. März 1933, HAStK 902/219, BI. 569 f.

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Für Köln und "den billigsten Strompreis der Welt"

Köln, die Stadt erhielt die gewünschten Aufsichtsratsmandate. Insofern war Adenauers Opposition erfolgreich.48

Diese und weitere Einzelheiten des Vertrags, den seit Ende Februar 1933 auch Silverberg und die Gruppe um Adenauer nicht mehr grundsätzlich bekämpften, wurden auf zwei Sitzungen des Aufsichtsrates im März 1933 besprochen, ge­nauer am 8. und am 16. März. Zwischen diesen beiden Terminen lag zwar gerade eine Woche, doch die politischen Ereignisse dieser Woche in Köln wirkten auch nachhaltig auf die RAG. Am Tag nach der Kommunalwahl vom 12. März 1933 wurde Konrad Adenauer als Oberbürgermeister durch die Nationalsozialisten abgesetzt.49 Ebenfallsam 13. März 1933 versuchte- offensichtlich bestärkt durch Adenauers Amtsenthebung - der Bankier Kurt Freiherr von Schröder, Paul Silverberg aus dem Amt des !HK-Präsidenten zu verdrängen. Sein Vorstoß scheiterte zwar vorerst, ist aber deutliches Indiz für die geschwächte Position Silverbergs - von der Adenauers ganz zu schweigen.50

Damit war die Opposition gegen den Vertrag nachhaltig geschwächt. Zwar nahm Adenauer noch an der Sitzung vom 16. März teil, hielt sich aber auffallend zurück, wohlwissend, dass er nicht mehr die Macht besaß, Entscheidungen zu beeinflussen. Als die Abstimmung darüber anstand, ob der Aufsichtsrat der Generalversammlung die Annahme des Fusionsvertrags empfehlen solle, verließ er demonstrativ den Saal und beteiligte sich so nicht an einer Entscheidung, die er für falsch hielt, umging aber auch das durchaus heikle Problem, gegen den Vertrag zu stimmen. Ein solches Verhalten hätte die künftige Zusammenarbeit der Stadt Köln mit RWE/RAG fraglos beeinträchtigt.51

48 Dividenden-Garantievertrag zwischen Rheinbraun und Roddergrube/RWE. Unterlagen zu den Ausführungen von Brecht in der außerordentlichen Generalversammlung der RAG am 31. März 1933, S. 6-9 , enthalten in: Unterlagen über die Entwicklung des Kaufs von Harpener Aktien 1924-1933, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/ 041.

49 Zu Hintergründen, Verlauf und Begründungen siehe Schwarz (wie Anm. 2), S. 343-357 und Rudolf Morsey, Adenauer und der Nationalsozialismus, in: Stehkämper (wie Anm. 2), S. 447-497, hier S. 464-468 .

50 Zu diesen Vorgängen siehe Neebe (wie Anm. 8), S. 191 ff. und Ulrich Soenius, Die Zeit des Nationalsozialismus (1933-1945), in: Die Geschichte der Unternehmerischen Selbstverwaltung in Köln 1914-1997, Köln 1997, S. 119-225, hier S. 159 ff.

51 V gl. Stenographische Niederschrift der 120. Aufsichtsratssitzung der RAG vom 16. März 1933, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 2101102, S. 57 . - Ähnlich verhielt er sich im "Dreimännerkollegium" - bestehend aus dem Ministerpräsidenten sowie den Präsidenten von Landtag und Preußischem Staatsrat (Adenauer) -, als dieses im Februar 1933 die Auflösung des preußischen Landtags beschließen sollte. Auch dort verließ er die Sitzung vor der Abstimmung . Vgl. Konrad Adenauer, Konrad Adenauer als Präsident des Preußischen Staatsrats, in : Stehkämper (wie Anm. 2), S. 355-404, hier s. 397 .

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Die nachhaltige Schwächung der Opposition führte dann auch dazu, dass die strittigen rechtlichen Fragen in der außerordentlichen Generalversammlung am 31. März 1933 auf wenig Gehör stießen. Es war durchaus befürchtet worden, dass die Problematik in der Generalversammlung mit unabsehbaren Folgen aufgeworfen würde.52 Einige Vertreter der Schutzvereinigung der freien Aktio­näre, unter ihnen Justizrat August Adenauer und Handelsgerichtsrat Franz Pro­enen, Vizepräsident der IHK Köln, brachten zwar insbesondere ihre ökonomi­schen Bedenken gegen den Vertrag zum Ausdruck, andere, vor allem Rechts­anwalt Knott, schnitten die genannten rechtlichen Fragen an . Doch die Kritik verhallte ohne nennenswerte Resonanz. Knott musste schließlich resignierend festzustellen, dass es allmählich langweilig werde, wenn sich nur die kleineren Aktionäre gegen den Vertrag aussprächen, die "Herren mit den ganz großen Paketen" sich jedoch gar nicht äußerten und die kleinen Aktionäre gleichsam "erwürgen" wollten. Die Opposition beantragte, die Beschlussfassung über den Vertrag zu vertagen, da ihn "die meisten Aktionäre erst heute bekommen haben - andere schon vorher ... ". Eine Prüfung sei daher nicht möglich gewesen. Der Antrag wurde abgelehnt, der darauf eingebrachte (und in der Folge wirkungslose53)

Widerspruch der Kleinaktionäre zu Protokoll gegeben. Der Vertrag zwischen RAG und Roddergrube AG wurde schließlich mit 167.729 gegen 19.652 Stimmen bei einer ungültigen Stimme und 8.163 Enthaltungen durch die Generalversamm­lung angenommen.54

52 "Soweit bekannt wollen die Schutzvereinigungen der Aktionäre der Rheini schen Braun­kohle den außerordentlich komplizierten Streit darüber aufwerfen , ob nicht auch die Abstimmung dieser Aktionäre [Flick und Thyssen, BG] schon in eigener Sache ge­schieht, was dem natürlichen Menschenverstand durchaus glaubhaft erscheint. Jeden­falls kann aus den mannigfachen juristischen Zweideutigkeiten und Unklarheiten, die ein solches Riesengeschäft mit sich bringt, ein Sammelsurium von Rechtsstreitigkeiten entstehen, die für beide Teile, die Rheinische Braunkohle wie das R.W.E., in der Zukunft unnötige Belastungen mit sich bringen, andererseits natürlich einen interessanten Beitrag zum deutschen Aktienrecht liefern werden." RAG-Lagebericht (Brecht). Zusammenfas­sende Darstellung zur Lage der RAG 1932/33, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 2101713, S. 8 f. Der Bericht wurde demnach auf jeden Fall vor der Generalversamm­lung, vermutlich auch schon vor der Aufsichtsratssitzung am 16. März verfasst.

53 "Nur ein Aktionär erhob Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage, zog sie aber später zurück." Bericht (Brecht) an Liebrecht (Aufsichtsratsmitglied der RAG) über die dauernden Beteiligungen der RAG vom I . September 1934, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentral­archiv 2101713 .

54 In der Generalversammlung waren 105 Aktionäre anwesend, die 59.120.100 RM Aktien bzw. 197.067 Stimmen vertraten. V gl. Stenographischer Bericht über die Außerordent­liche Generalversammlung der RAG am 31. März 1933 (wörtliche Zitate S. 40, 43). RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 2101102.

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Für Köln und "den billigsten Strompreis der Welt"

Dieses Ergebnis überraschte freilich niemanden mehr, am allerwenigsten Adenauer, dertrotzseiner Bedenken gegen die Fusion städtische Beamte angewiesen hatte, mit dem Generaldirektor des RWE, Henke, zu verhandeln, und die be­stehenden Verträge zugunsren der Stadt zu modifizieren. Diese Verhandlungen liefen parallel zur entscheidenden Hauptversammlung der RAG.55

Dies war aber nur scheinbar eine endgültige Kapitulation des Realpolitikers Adenauer vor dem Faktischen, denn in seiner kurzen Amtszeit 1945 versuchte er gemeinsam mit den RAG-Aufsichtsräten Robert Pferdmenges und Waldemar von Oppenheim, die RAG wieder aus dem RWE-Verbund herauszulösen. Of­fenbar dachte Adenauer auch daran, Silverberg, der Ende 1933 in die Schweiz emigriert war, für eine Mitarbeit zu gewinnen. Er äußerte ihm gegenüber im Juli 1945 die "dringende Bitte, doch wenigstens für kurze Zeit herüber zu kommen", um am Wiederaufbau der rheinischen Braunkohlenwirtschaft mitzuarbeiten, schließ­lich handele es sich um Silverbergs Lebenswerk.56 Doch Silverberg konnte sich nicht zu einer Rückkehr ins Rheinland entschließen.57 Die Gelegenheit, die RAG wieder zu einem selbständigen Unternehmen zu machen, war dennoch günstig, da nach Kriegsende und dem Ausscheiden der bisherigen RWE-Führung eine Reorganisation des Energiekonzerns möglich schien. In der undurchsichtigen Situation war es Adenauer zunächst gelungen, den neu gewählten Aufsichtsrat des RWE nach seinen Wünschen zu besetzen. Doch eine nachhaltige Umgestal­tung des Konzerns war ihm nicht mehr möglich, da er am 6. Oktober 1945 von der britischen Besatzungsmacht als Oberbürgermeister von Köln wieder abge­setzt wurde, wodurch auch sein Anspruch auf das Mandat im RWE-Aufsichtsrat verfiel. Das RWE knüpfte schließlich unter maßgeblicher Beteiligung von Hermann Josef Abs an seine alte Geschäftspolitik an.58

55 Brecht (wie Anm. 26), S. 47. 56 Adenauer an Silverberg vom 21. Juli 1945, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv

210/201. Siehe dort auch die Schreiben ähnlichen Inhalts vom 27. Mai , 5. Juli und 21. August 1945.

57 Das Schreiben Silverbergs ist nicht erhalten, seine Beweggründe gehen aber aus einem Schreiben Adenauers hervor. Adenauer an Silverberg vom 21. August 1945, RWE-Power, Abt. PFM-IB Zentralarchiv 210/201.

58 Zu Adenauers Versuchen, das RWE zu reorganisieren, siehe Lothar Gall , Der Bankier Hermann Josef Abs. Eine Biographie, München 2004, S. 126 f. Zu Adenauers zweiten (bzw. dritten) kurzen Amtszeit als Oberbürgermeister von Köln (4. Mai bis 6. Oktober 1945) siehe Toni Diederich, Adenauer als Kölner Oberbürgermeister von Mai bis Oktober 1945, in : Stehkämper (wie Anm . 2), S. 499-530.

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4. Fazit

Es ist zweifellos eine jener Unwägbarkeiten der Geschichte, dass gleich zwei Mal die Absetzung Konrad Adenauers als Oberbürgermeister von Köln (mit) dazu führte, dass die RAG im RWE-Verbund blieb. Ob ihre Unternehmensgeschichte anders verlaufen wäre, wenn Adenauer im Amt geblieben wäre und etwa 1932/ 33 sämtliche juristischen Mittel ausgeschöpft hätte, ist eine ebenso spannende wie hypothetische Frage.

Doch es lassen sich auch ganz konkrete Erkenntnisse aus Adenauers Aktivi­täten in der rheinischen Elektrizitätswirtschaft gewinnen:

1. Wirtschaft war für Adenauer kein Selbstzweck, sondern sie hatte eine dienende Funktion. Er war nicht bereit, freien Unternehmerentscheidungen Folge zu leisten, wenn er deren Auswirkungen für schädlich hielt. Dies war bei der Frage der Strompreise in Köln der Fall, dies war ebenso in den Fusionsverhandlungen zwischen RWE und RAG der Fall. Beide Male befürchtete Adenauer negative Auswirkun­gen für die Stadt Köln.

2. Er war sogar bereit, gängige Konventionen zu missachten, um die befürchteten negativen Auswirkungen für Köln abzuwehren. Die Reaktionen der RAG 1931, die ihm Wild-West-Methoden unterstellte, wie auch der Rücktritt V öglers sind dafür mehr als Indizien.

3. Adenauer war Pragmatiker genug, um seine Vorstellungen nicht dogma­tisch durchsetzen zu wollen. Ganz im Stile eines Realpolitikers reagierte er auf veränderte Verhandlungskonstellationen und wandte sich einer konstruktiven Auseinandersetzung zu, als er erkannte, dass er seine Maximalforderungen nicht durchsetzen konnte. So gelang es ihm, elementare Verbesserungen für Köln zu erzielen.

4. Die Kunst des symbolischen Aktes beherrschte Adenauer auch in den Fusionsverhandlungen. Indem er der Abstimmung im Aufsichtsrat der RAG über den Fusionsvertrag fernblieb , bezog er deutlich Stellung, ohne sich aber zu kompromittieren.

Dies alles entspricht durchaus dem Bild, das vom späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer überliefert ist, und insofern fand zumindest für Adenauers Rolle in der rheinischen Elektrizitätswirtschaft 1932/33 das Motto der Tagung Bestäti­gung, nach dem die Kommunalpolitik auch eine Schule für die große Politik gewesen sei.

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